Für L.
Der Mann in der dunkelblauen Hose und dem tannengrünen Sporthemd wartete ungeduldig in der Schlange.
Das Mädchen an der Kasse war dämlich, dachte er, hatte noch nie flink kassiert. Er legte seinen dicken Kahlkopf in den Nacken und las die Schriftzüge Neu im Kino: ›Eine Frau für gewisse Stunden‹ über dem Eingang, betrachtete desinteressiert das Plakat, auf dem eine halbnackte Frau ihren Oberschenkel zeigte, und blickte hinter sich, um zu sehen, ob er einen Bekannten in der Schlange ausfindig machen konnte. Nein. Aber er hätte keinen besseren Moment aussuchen können, dachte er. Gerade rechtzeitig für die 8-Uhr-Vorstellung. Er schob seinen Dollar durch die Öffnung des Kassenhäuschens.
»Tag«, sagte er lächelnd zu dem blonden Mädchen.
»Tag.« Ihre ausdruckslosen blauen Augen belebten sich. »Wie geht es Ihnen?«
Es war keine Frage. Und er gab keine Antwort.
Er trat in das Kino mit dem leicht muffigen Geruch und hörte die hektische Fanfare der Wochenschau, die gerade begann. Er ging an dem Stand mit Süßigkeiten und Popcorn vorbei, und als er das Kino durchquert hatte, drehte er sich – graziös trotz seiner Massigkeit – um und ließ seinen Blick schweifen. Tony Ricco war da. Er ging schneller und erreichte Tony, als sie beide den Mittelgang betraten.
»Hallo, Tony!« sagte der Mann in dem etwas herablassenden Ton, in dem er immer mit Tony sprach, wenn der ihn im Lebensmittelgeschäft seines Vaters bediente.
»Oh, Mr. Kimmel!« Tony lächelte. »Ganz allein heute abend?«
»Meine Frau ist vorhin nach Albany gefahren.« Er winkte Tony zu und bog in eine Sitzreihe ab.
Tony ging weiter, näher zur Leinwand.
Der Mann drückte sich an die Rückenlehnen und murmelte »Verzeihung« und »Danke«, während er sich weiterbewegte; alle mußten aufstehen oder sich halb erheben, um ihn durchzulassen. Er ging so lange weiter, bis er die Sitzreihe passiert hatte. Er ging zu der Tür mit der roten Aufschrift Ausgang, trat durch zwei Metalltüren und gelangte in die warme, stickige Luft auf dem Gehweg. Er ging in die dem Kinoeingang entgegengesetzte Richtung und überquerte die Straße. Er ging um die Ecke und stieg in seinen schwarzen zweitürigen Chevrolet.
Er fuhr bis auf einen Häuserblock an den Cardinal-Lines-Busbahnhof heran, wartete etwa zehn Minuten in seinem Wagen, bis ein Bus mit der Aufschrift Newark–New York–Albany den Bahnhof verließ, und folgte dem Bus.
Er folgte dem Bus durch den zähflüssigen Verkehr vor dem Holland-Tunnel und schlug in Manhattan den Weg nach Norden ein. Er hielt zwei Autos Abstand zu dem Bus, auch nachdem sie die Stadt verlassen hatten und der Verkehr flüssiger wurde. Der erste Halt, dachte er, würde auf der Höhe von Tarrytown sein, vielleicht schon früher. Wenn der Ort sich nicht eignete, würde er weiterfahren müssen. Und wenn es keinen zweiten Halt gab, dann eben in Albany, in irgendeiner Gasse. Seine breiten, fleischigen Lippen verzogen sich, während er sich auf das Fahren konzentrierte, doch der Blick seiner braunen Augen, die von den dicken Brillengläsern vergrößert wurden, veränderte sich nicht.
Der Bus hielt vor einer Ansammlung beleuchteter Lebensmittelläden und einem Café; er fuhr vorbei und hielt an, parkte so nahe am Straßenrand, daß die Zweige eines Baums die Wagentür berührten. Er stieg schnell aus, lief los und ging erst dann langsamer, als er den Lichtkegel an der Bushaltestelle erreichte, wo der Bus angehalten hatte.
Die Fahrgäste verließen den Bus. Er sah die Frau aussteigen, sah die linkischen, abrupten Bewegungen ihres untersetzten Körpers, als sie die wenigen Stufen herunterkam. Er war neben ihr, bevor sie ein paar Meter gegangen war.
»Du!« sagte sie.
Ihr grau und schwarz meliertes Haar war zerzaust, und ihre dummen braunen Augen starrten zu ihm hoch mit animalischer Überraschung, animalischer Furcht. Ihm war, als stritten sie noch immer in ihrer Küche in Newark. »Ich habe noch ein paar Dinge zu sagen, Helen. Laß uns da rübergehen.« Er nahm ihren Arm, führte sie zur Straße.
Sie riß sich los. »Der Bus hält hier nur zehn Minuten. Sag jetzt, was du zu sagen hast.«
»Er hält zwanzig Minuten. Ich habe mich erkundigt«, sagte er gelangweilt. »Laß uns hier entlanggehen, wo man uns nicht belauschen kann.«
Sie kam mit ihm. Er hatte bereits bemerkt, daß es rechts der Straße, wo sein Wagen stand, hohe Bäume und dichtes Gebüsch gab. Nur ein paar Meter weiter die Straße entlang –
»Wenn du denkst, ich würde mir die Sache mit Edward noch einmal überlegen«, sagte sie furchtsam und stolz, »dann hast du dich getäuscht. Ich bleibe dabei!«
Edward! Ganz die edle Dame in stolzer Liebe, dachte er angewidert. »Aber ich habe es mir überlegt«, sagte er leise in zerknirschtem Ton, während seine Finger sich unwillkürlich in ihren schlaffen Arm krallten. Er konnte es kaum abwarten. Er drehte sich auf der Straße zu ihr um.
»Mel, ich will mich nicht so weit von den anderen –«
Er sprang sie an, warf sie tief in das Gebüsch am Straßenrand. Fast wäre er selbst gestürzt, doch mit der Linken hielt er ihr Handgelenk umklammert. Mit der Rechten schlug er ihr gegen den Kopf, fest genug, um ihr das Genick zu brechen, dachte er, doch ihr linkes Handgelenk hielt er weiter umklammert. Das war erst der Anfang. Sie lag auf dem Boden; seine linke Hand fand ihre Kehle, schloß sich um sie, würgte ihren Schrei ab. Mit der anderen Faust hieb er auf ihren Körper ein; er schlug mit der Handkante wie mit einem Hammer auf den harten Brustkorb zwischen den schwabbeligen, schützenden Brüsten. Dann schlug er sie mit den gleichen hammerartigen Schlägen auf die Stirn und auf das Ohr, und zuletzt schlug er ihr mit der Faust unter das Kinn, wie er es bei einem Mann getan hätte. Dann langte er in die Tasche, nahm sein Messer, klappte es auf und stieß damit zu – dreimal, viermal, fünfmal. Er konzentrierte sich auf ihren Kopf, weil er ihn zerstören wollte, traf immer wieder mit dem Rücken seiner geschlossenen Finger die Wange, bis seine Hand im Blut ausrutschte und ihre Kraft verlor, ohne daß er sich dessen gewahr wurde. Er empfand nichts als blanke Freude, ein glorreiches Gefühl der Gerechtigkeit, gerächter Kränkungen, Jahre der Beschimpfung und der Schande, der Langeweile, des Stumpfsinns, vor allem des Stumpfsinns, die er ihr heimzahlte.
Er hielt erst inne, als er keine Luft mehr bekam. Er merkte, daß er auf ihrem Oberschenkel kniete, und wich voller Ekel zurück. Sehen konnte er nur den hellen Umriß ihres Sommerkleids. Lauschend spähte er in die Dunkelheit. Er hörte nichts außer dem rhythmischen Surren der Insekten, dem schnellen Brummen eines Wagens, der auf der Straße vorbeifuhr. Er sah, daß er sich nur wenige Schritte von der Straße entfernt hatte. Er war sich ziemlich sicher, daß sie tot war. Ganz bestimmt. Plötzlich hätte er gern ihr Gesicht gesehen; seine Hand fuhr automatisch zu seiner Tasche mit der Taschenlampe, doch er wollte nicht riskieren, daß das Licht gesehen wurde.
Er beugte sich vorsichtig vor, streckte eine seiner großen Hände mit gespreizten Fingern aus, auf die Berührung gefaßt, und spürte, wie sein Abscheu wuchs, als seine Hand sich näherte. Sobald er mit den Fingerspitzen die glitschige Haut berührte, schnellte seine andere Faust vor, zielte auf die Stelle direkt unterhalb der Fingerspitzen. Dann richtete er sich auf, kurz heftig atmend und ohne nachzudenken, nur mit Lauschen beschäftigt. Dann begann er zur Straße zu gehen. Im gelben Licht der Straßenlaternen untersuchte er sich auf Blutspuren und fand keine bis auf das Blut an seinen Händen. Geistesabwesend rieb er im Gehen die Hände, die dadurch noch klebriger und ekelerregender wurden, und wünschte sich, er könne sie waschen. Es ärgerte ihn, daß er sein Lenkrad berühren mußte, bevor er sich die Hände waschen konnte, und mit pedantischer Sorgfalt malte er sich aus, wie er zu Hause den Lappen unter dem Wasserhahn naß machen und das ganze Lenkrad abwischen würde. Sogar scheuern würde er es.
Er sah, daß der Bus fort war. Er hatte keine Ahnung, wie lange er gebraucht hatte. Er stieg in seinen Wagen, wendete und fuhr nach Süden. Auf seiner Armbanduhr war es Viertel vor elf. Sein Hemdärmel war zerrissen; er dachte sich, daß er das Hemd verschwinden lassen mußte. Er nahm an, daß er kurz nach ein Uhr wieder in Newark sein würde.
Es begann zu regnen, während Walter im Wagen wartete.
Er blickte von seiner Zeitung auf und nahm den Arm aus dem Fenster. Dunkelblaue Regenflecken sprenkelten den blauen Leinenärmel seines Jacketts.
Die großen Sommerregentropfen trommelten lauter auf das Wagendach, und innerhalb von Sekunden glänzte der gewölbte Teer der Straße vor Nässe und spiegelte die Neonreklame des einen Häuserblock entfernten Drugstores als langgezogenen roten Streifen. Die Dämmerung brach herein, und der Regen hatte unversehens einen dunklen Schatten über die Stadt geworfen. Die adretten Häuser im Neuengland-Stil, die die Straße säumten, wirkten in dem grauen Licht noch weißer, und die niedrigen weißen Zäune der Raseneinfassungen zeichneten sich so gestochen scharf ab wie die Fäden eines Stickmusters.
Ideal, ideal, dachte Walter. Genau die Art Ortschaft, in der man ein gesundes und gutmütiges Mädchen heiratet, mit dem man in einem weißen Haus lebt, samstags angeln geht und die Söhne zum gleichen Lebensstil erzieht.
Grauenhaft, hatte Clara nachmittags gesagt und auf das Miniaturspinnrad neben dem Kamin des Gasthauses gedeutet. In ihren Augen war Waldo Point ein Touristenkaff. Walter hatte den Ort mit Vorbedacht und nach langem Überlegen ausgesucht, weil er die am wenigsten touristische unter einer langen Reihe von Städten auf Cape Cod war. Walter erinnerte sich, daß Clara sich in Provincetown sehr wohl gefühlt und sich nicht darüber beklagt hatte, daß der Ort touristisch sei. Aber das war im ersten Jahr ihrer Ehe gewesen; jetzt war es das vierte Jahr. Der Inhaber des Spinndrift Inn hatte Walter gestern erzählt, daß sein Großvater das Spinnrad für seine kleinen Töchter zum Üben gebaut hatte. Wenn Clara in der Lage wäre, sich nur für eine Minute an die Stelle –
Eine Bagatelle, weiter nichts, dachte Walter. So verhielt es sich mit all ihren Streitigkeiten. Gestern zum Beispiel – der Streit darüber, ob ein Mann und eine Frau unweigerlich nach zwei Jahren Ehe einander körperlich überdrüssig waren. Walter hielt das nicht für zwingend. Clara war der lebende Beweis, obwohl sie besonders zynisch und unschön behauptet hatte, daß es zwingend so sei. Walter hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihr zu sagen, daß er sie körperlich genausosehr liebte wie früher. Wußte sie es nicht sowieso? Und war das nicht der einzige Zweck ihrer Argumentation gewesen – ihn zu irritieren?
Walter setzte sich anders hin, fuhr sich mit den Fingern durch das dichte blonde Haar und versuchte, sich zu entspannen und sich auf die Zeitung zu konzentrieren. Mein Gott, dachte er, und das soll Urlaub sein.
Seine Augen überflogen eine Spalte über amerikanische Soldaten in Frankreich, doch seine Gedanken beschäftigten sich noch immer mit Clara. Er dachte an den Mittwochvormittag nach dem frühmorgendlichen Ausflug im Fischerboot (zumindest dieser Ausflug mit Manuel hatte ihr Vergnügen gemacht, weil sie dabei etwas gelernt hatte), als sie auf ihr Zimmer gegangen waren, um sich auszuruhen. Es war einer der seltenen Momente gewesen, in denen Clara blendender Laune war. Sie hatten über irgend etwas gelacht, und ihre Arme hatten sich enger um seinen Hals geschlossen …
Das war am Mittwoch vormittag gewesen, vorvorgestern, doch schon am nächsten Tag hatte ihre Stimme eisig geklungen – das ewiggleiche Muster des Abstrafens nach erwiesener Gunst.
Es war zehn Minuten nach acht. Walter blickte aus dem Wagenfenster zum Eingang des Gasthauses etwas weiter hinten. Noch nichts von ihr zu sehen. Er sah wieder auf die Zeitung und las: Frauenleiche bei Tarrytown, N.Y., aufgefunden.
Die Frau war brutal erstochen und zusammengeschlagen worden, aber nicht ausgeraubt. Die Polizei tappte im dunkeln. Sie war Fahrgast in einem Bus von Albany nach New York gewesen, war nach einer Rastpause nicht wiedergekommen, und der Bus hatte ohne sie weiterfahren müssen.
Walter überlegte, ob diese Geschichte Material für einen seiner Essays hergab, ob der Mörder in einer besonderen Beziehung zu der Frau gestanden haben mochte. Er erinnerte sich an einen anscheinend ohne Motiv begangenen Mord, von dem er gelesen hatte und der später durch die ungleiche Freundschaft zwischen Mörder und Opfer erklärt worden war, eine Freundschaft wie die zwischen Chad Overton und Mike Duveen. Die Geschichte des Mordes hatte Walter dazu verholfen, einzelne potentiell gefährliche Elemente der Freundschaft zwischen Chad und Mike herauszuarbeiten. Die kleine Meldung über die Frau aus Newark riß er am Rand der Zeitung ab und steckte sie in die Tasche. Ein paar Tage lang wollte er sie aufbewahren und abwarten, ob etwas über den Mörder herausgefunden werden würde.
Die Essays waren seit zwei Jahren Walters Hobby. Unter dem Titel Unwürdige Freundschaften sollten es insgesamt elf Texte werden. Fertig war erst einer, der über Chad und Mike; für mehrere andere hatte er Entwürfe geschrieben, und sie beruhten allesamt auf Beobachtungen an seinen eigenen Freunden und Bekannten. Seine These war die, daß die meisten Menschen mindestens eine Freundschaft zu einem Menschen unterhielten, dem sie überlegen waren und zwar aufgrund bestimmter Bedürfnisse und Mängel, die sie in dem minderwertigen Freund entweder gespiegelt oder komplementiert sahen. Chad und Mike beispielsweise: Beide entstammten wohlhabenden Familien und waren verwöhnt, doch Chad hatte sich aus freien Stücken für eine Tätigkeit entschieden, während Mike noch immer Playboy war, allerdings einer, den seine Familie an die kurze Leine gelegt hatte. Mike war ein Trinker und ein Tunichtgut und scheute sich nicht, seine Freunde auszunutzen. Allerdings war Chad inzwischen Walters einziger Freund. Chad war offenbar der Ansicht, in Mike das Schicksal verkörpert zu sehen, das ihm selbst erspart geblieben war, und er half Mike immer wieder aus der Patsche. Mike war als Freund nicht viel wert. Walter hatte nicht die Absicht, sein Buch einem Verlag vorzulegen. Die Essays verfaßte er nur zum eigenen Vergnügen, und es interessierte ihn nicht einmal, sie zu Ende zu schreiben.
Walter ließ sich in den Sitz zurücksinken und schloß die Augen. Er dachte an das 50000-Dollar-Grundstück in Oyster Bay, das Clara verkaufen wollte. Walter betete insgeheim, daß einer der zwei Interessenten es kaufen würde, um Claras willen und seinetwegen. Gestern hatte sie den Großteil des Nachmittags mit dem eingehenden Studium der Grundrisse von Haus und Garten verbracht. Ihren Schlachtplan für die nächste Woche vorbereiten, so hatte sie es genannt. Sie würde wie eine Furie in die Schlacht ziehen, das wußte er. Es war verblüffend, daß sie ihre Kunden nicht abschreckte, daß die Kunden ihr etwas abkauften. Aber so war es. Bei Knightsbridge Brokerage betrachtete man sie als Topimmobilienhändlerin.
Wenn er sie nur dazu bringen könnte, etwas entspannter zu sein. Ihr die richtige Art Sicherheit zu vermitteln, daran hatte er früher geglaubt. Gab er sich nicht genug Mühe? Liebe, Zuneigung und auch Geld. Aber es nützte alles nichts.
Er hörte ihre Schritte – die hohen Absätze klapperten beim Laufen –, setzte sich schnell auf und dachte: Verdammt, ich hätte bis zum Eingang zurückfahren sollen, weil es regnet. Er beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete ihr die Tür.
»Warum hast du nicht vor der Tür gewartet?« fragte sie.
»Tut mir leid. Ist mir eben erst eingefallen.« Er wagte zu lächeln.
»Hast du etwa nicht mitbekommen, daß es regnet?« sagte sie und schüttelte fassungslos ihren kleinen Kopf. »Runter mit dir, Süßer, du bist naß!« Sie schubste ihren Foxterrier Jeff vom Sitz, doch er sprang wieder hinauf. »Jeff, Schluß jetzt!«
Jeff kläffte freudig, als wäre es ein Spiel, und zum drittenmal war er wieder oben wie ein Schachtelteufel. Clara ließ ihn gewähren und nahm ihn zärtlich in den Arm.
Walter fuhr zum Stadtzentrum. »Wie wäre es mit einem Drink im Melville, bevor wir essen gehen? Es ist unser letzter Abend.«
»Ich will keinen Drink, aber wenn du unbedingt einen haben mußt, gehe ich mit.«
»Okay.« Vielleicht konnte er sie zu einem Tom Collins überreden. Oder wenigstens zu einem süßen Vermouth mit Soda. Aber wahrscheinlich konnte er sie nicht überreden, und lohnte es sich, sie zu nötigen, ihm bei seinem Drink Gesellschaft zu leisten? Und meistens hatte er Lust auf einen zweiten Drink. Walter erlebte einen Augenblick der Ambivalenz, der Willensschwäche, und konnte sich nicht entscheiden, ob er einen Drink wollte oder nicht. Er fuhr an dem Hotel vorbei, ohne anzuhalten.
»Ich dachte, wir wollten ins Melville gehen«, sagte Clara.
»Ich habe es mir anders überlegt. Wenn du sowieso nichts trinken willst.« Walter legte seine Hand über ihre Hand und drückte sie. »Wir fahren zum Lobster Pot.«
Am Ende der Straße bog er nach links ab. Das Lobster Pot lag auf einem kleinen Felsvorsprung oberhalb des Strandes. Die Meeresluft strömte in den Wagen, kühl und salzig. Walter fand sich plötzlich in völliger Dunkelheit wieder. Er suchte mit dem Blick nach der Kette blauer Lichter, die zum Lobster Pot gehörte, konnte sie aber nirgends erkennen.
»Am besten fahre ich zur Hauptstraße zurück und orientiere mich an der Tankstelle, wie ich es sonst immer tue«, sagte Walter.
Clara lachte. »Du warst ja auch erst höchstens fünfmal hier, wenn nicht öfter!«
»Na und?« sagte Walter mit bemühter Indifferenz. »Wir sind schließlich nicht in Eile, oder?«
»Nein, aber es ist schwachsinnig, Zeit und Energie zu verschwenden, wenn du mit ein bißchen Grips von Anfang an den richtigen Weg hättest nehmen können!«
Walter verzichtete darauf, ihr zu sagen, daß sie mehr Energie verschwendete als er. Die angespannte Haltung ihres Körpers, das verbissen zur Windschutzscheibe gereckte Gesicht schmerzten ihn, weckten in ihm den Eindruck, daß die ganze Woche Urlaub vergebens gewesen war, so vergebens wie der herrliche Vormittag nach dem Angeln. Schon am nächsten Tag vergessen wie die anderen herrlichen Nächte, Vormittage, die er im vergangenen Jahr an den Fingern abzählen konnte, kleine verstreute Oasen. Er versuchte sich etwas Nettes einfallen zu lassen, das er zu ihr sagen konnte, bevor sie ausstiegen.
»Mit diesem Schal gefällst du mir«, sagte er und lächelte. Sie trug den Schal lose um die nackten Schultern und über die Unterarme geworfen. Er hatte ihren Geschmack bei der Auswahl und bei der Zusammenstellung ihrer Garderobe immer geschätzt.
»Es ist eine Stola«, sagte sie.
»Eine Stola. Ich liebe dich, Schatz.« Er neigte den Kopf, um sie zu küssen, und sie hielt ihm die Lippen hin. Er küßte sie behutsam, um ihren Lippenstift nicht zu verschmieren.
Clara bestellte kalten Hummer mit Mayonnaise, ein Gericht, das sie liebte, und Walter bestellte gegrillten Fisch und eine Flasche Riesling.
»Ich hatte gehofft, du würdest heute abend Fleisch bestellen, Walter. Wenn du schon wieder Fisch ißt, bekommt Jeff heute gar nichts!«
»Schon gut«, sagte Walter. »Ich nehme ein Steak. Dann kann Jeff sich satt essen.«
»In was für einem Märtyrerton du das sagst!«
Die Steaks im Lobster Pot waren nicht bemerkenswert. Walter hatte erst kürzlich wegen Jeff Steak bestellt. Jeff fraß keinen Fisch. »Es macht mir nichts aus, Clara. Laß uns am letzten Abend keinen Streit anfangen.«
»Wer fängt denn damit an? Du suchst doch schon wieder Streit!«
Aber das Steak war bestellt worden. Clara hatte sich durchgesetzt; sie seufzte und ließ den Blick schweifen, offenbar mit den Gedanken woanders. Eigenartig, dachte Walter, daß Claras Sparsamkeit auch Jeffs Futter betraf, obwohl Jeff in jeder anderen Hinsicht nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Wie kam das? Welcher Umstand in Claras Herkunft hatte sie zu jemandem werden lassen, der jeden Pfennig umdrehte? Ihre Familie war weder arm noch reich. Ein weiteres Rätsel, das Clara ihm aufgab und das er wohl nie lösen würde.
»Kits«, sagte er liebevoll. Es war sein Kosename für sie, den er selten benutzte, damit er kostbar blieb. »Heute abend wollen wir es uns gutgehen lassen. Es wird sicher eine ganze Weile dauern, bis wir wieder Zeit für einen gemeinsamen Urlaub haben. Wie wäre es mit einem Tänzchen im Melville nach dem Essen?«
»Von mir aus«, sagte Clara. »Aber vergiß nicht, daß wir morgen um sieben rausmüssen.«
»Ich vergesse es nicht.« Die Fahrt nach Hause dauerte nur sechs Stunden, doch Clara wollte nachmittags zeitig zurück sein, um sich zum Tee mit den Philpotts zu treffen, ihren Chefs bei Knightsbridge Brokerage. Walter legte behutsam seine Hand über ihre, die auf dem Tisch lag. Er liebte ihre Hände. Sie waren klein, aber nicht zu klein, wohlgeformt und ziemlich kräftig. Ihre Hand paßte genau in seine Hand.
Clara sah ihn nicht an. Sie blickte ins Leere, nicht verträumt, sondern konzentriert. Sie hatte ein kleines, hübsches Gesicht, obwohl ihre Miene kühl und geistesabwesend war und ihr Mund traurig wirkte. Es war ein Gesicht mit unauffälligem Mienenspiel, an das man sich schlecht erinnern konnte.
Walter warf einen Blick hinter sich, um nach Jeff zu sehen. Clara hatte ihn von der Leine gelassen, und er trottete durch den großen Raum, schnüffelte an den Füßen der Leute und ließ sich von ihnen füttern. Von den Tellern anderer Leute frißt er Fisch, dachte Walter. Es war Walter peinlich, denn der Kellner hatte sie erst kürzlich gebeten, den Hund anzuleinen.
»Der Hund stört niemanden«, kam Clara ihm zuvor.
Walter probierte den Wein und bedeutete dem Kellner mit einem Nicken, daß er in Ordnung sei. Er wartete, bis Claras Glas gefüllt war, bevor er seines hob. »Auf glückliche Sommertage und einen guten Oyster-Bay-Abschluß«, sagte er, und er sah, daß ihre braunen Augen bei der Erwähnung von Oyster Bay aufleuchteten. Als Clara einen Schluck Wein getrunken hatte, sagte er: »Wärest du einverstanden, wenn wir einen Termin für die Party festlegen?«
»Was für eine Party?«
»Die Party, über die wir vor unserer Abreise aus Benedict gesprochen hatten. Du sagtest, Ende August sei dir recht.«
»Schon gut«, sagte Clara leise und widerwillig, als habe sie einen Wettkampf verloren und müsse nun wohl oder übel ein Zugeständnis machen. »Vielleicht Samstag, den achtundzwanzigsten.«
Sie begannen die Gästeliste zusammenzustellen. Es gab keinen besonderen Grund für die Party, nur den, daß sie seit ihrem Silvesterbuffet keine richtige Einladung mehr gegeben hatten und mittlerweile zu einem Dutzend gegangen waren. Ihre Freunde in und um Benedict gaben häufig Parties, und obwohl Clara und Walter nicht immer eingeladen wurden, waren sie es doch oft genug, um sich nicht übergangen zu fühlen. Die Iretons mußten selbstverständlich eingeladen werden, die McClintocks, die Jensens, die Philpotts, Jon Carr und Chad Overton.
»Chad?« sagte Clara.
»Ja. Warum nicht? Ich finde, das sind wir ihm schuldig, findest du nicht auch?«
»Er ist uns etwas schuldig – ein Entschuldigung, wenn du mich fragst!«
Walter nahm sich eine Zigarette. Chad war eines Abends zufällig vorbeigekommen, auf dem Rückweg von Montauk, und irgendwie – Walter wußte nicht mehr, wie es gekommen war – hatte er so viele Martinis getrunken, daß er auf ihrem Sofa in tiefen Schlaf gefallen war. Alle Erklärungen, daß Chad von der langen Fahrt in der Hitze erschöpft gewesen war, hatten nichts genützt. Chad war auf der schwarzen Liste. Und dabei hatten sie mehrmals in Chads Wohnung übernachtet, wenn sie in New York ins Theater gegangen waren, und Chad hatte die Nacht bei einem Freund verbracht, damit sie die Wohnung für sich allein hatten.
»Kannst du das nicht endlich vergessen?« sagte Walter. »Er ist ein guter Freund, Clara, und außerdem ein intelligenter Bursche.«
»Ich bin mir sicher, daß er sich wieder hemmungslos betrinkt, wenn er eine Flasche in die Hände bekommt.«
Es war sinnlos, Clara zu erklären, daß Chad weder vor noch nach diesem Zwischenfall jemals die Kontrolle über sich verloren hatte. Oder sie daran zu erinnern, daß Walter seine derzeitige Stelle zufällig Chad verdankte. Walter hatte nach dem Jurastudium in der Anwaltskanzlei Adams, Adams & Branower als Chads Assistent gearbeitet. Er hatte die Firma verlassen und war nach San Francisco gezogen, wo er eine eigene Kanzlei eröffnen wollte, doch dann hatte er Clara kennengelernt und geheiratet, und Clara sah ihn lieber wieder in New York und als Syndikus, was mehr Geld einbrachte. Chad hatte ihn einer Rechtsberatungsfirma namens Cross, Martinson & Buchman in höheren Tönen angepriesen, als er verdient hatte. Chad war mit Martinson gut befreundet. Die Firma zahlte Walter das Gehalt eines erfahrenen Topanwalts, obwohl er erst dreißig war. Ohne Chad, dachte Walter, säßen sie jetzt nicht im Lobster Pot und tränken importierten Riesling. Walter dachte sich, daß er Chad in nächster Zeit in Manhattan zum Lunch einladen würde. Oder Clara belügen und einen Abend mit ihm verbringen. Oder ihr lieber nichts vorlügen, sondern ankündigen, was er vorhatte. Walter zog an seiner Zigarette.
»Mußt du beim Essen rauchen?«
Das Essen wurde serviert. Walter drückte seine Zigarette betont gelassen im Aschenbecher aus.
»Findest du etwa nicht, daß er uns etwas schuldet? Wenigstens einen Blumenstrauß?«
»Schon gut, Clara, ist schon – gut.«
»Warum dieser übellaunige Ton?«
»Weil Chad mein Freund ist, und wenn wir ihn weiterhin so vergraulen, wird er uns fallenlassen. So wie wir die Whitneys vergrault haben.«
»Wir haben die Whitneys nicht vergrault. Du scheinst in dem Glauben zu leben, du müßtest anderen Leuten die Stiefel lecken und dir alles von ihnen gefallen lassen, um mit ihnen befreundet zu bleiben. Ich kenne niemanden, der sich mehr zu Herzen nimmt, was Krethi und Plethi von ihm denkt!«
»Laß uns nicht streiten, Schatz.« Walter hielt sich die Hände vor das Gesicht, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. Es war eine alte Gewohnheit, die er sich nur zu Hause, ohne Zuschauer, erlaubte. Er konnte es nicht ertragen, seinen Urlaub damit enden zu lassen. Er drehte sich um und hielt Ausschau nach Jeff. Jeff war am anderen Ende des Raums und versuchte, den Fuß einer Frau zu bespringen. Die Frau begriff nicht, was er tat, und tätschelte ihm den Kopf. »Ich glaube, ich gehe ihn besser holen«, sagte Walter.
»Er tut niemandem was. Beruhige dich.« Clara zerlegte ihren Hummer geschickt und aß schnell, wie sie es immer tat.
Doch im nächsten Augenblick trat ein Kellner an den Tisch und sagte lächelnd: »Wären Sie so freundlich, Ihren Hund an die Leine zu nehmen, Sir?«
Walter stand auf und ging durch den Raum zu Jeff; in seiner weißen Hose und dem blauen Jackett kam er sich entsetzlich auffällig vor. Jeff mühte sich noch immer mit dem Fuß der Frau ab, sein schwarzgetupftes Gesicht mit gebleckten Zähnen abgewandt, als mache er nur Spaß, doch es fiel Walter nicht leicht, die strammen kleinen Hundebeine von dem Knöchel der Frau zu lösen. »Es tut mir sehr leid«, sagte Walter zu ihr.
»Ach, ich finde ihn süß!« sagte die Frau.
Walter unterdrückte den Impuls, den Hund zu zerdrücken. Er trug ihn so zurück, wie es ihm eingeschärft worden war, eine Hand unter dem heißen, zuckenden kleinen Brustkorb, die andere stabilisierend auf dem Rücken, setzte ihn äußerst behutsam neben Clara auf den Boden und legte ihm die Leine an.
»Du haßt den Hund, stimmt’s?« sagte Clara.
»Ich finde, daß er verzogen ist, weiter nichts.« Walter beobachtete Claras Miene, als sie Jeff auf den Schoß nahm. Wenn sie den Hund streichelte, wurde ihr Gesicht schön, weich und liebevoll, als liebkoste sie ein Kind, ihr eigenes Kind. Claras Gesicht zu betrachten, wenn sie Jeff verwöhnte, war das größte Vergnügen, das Walter dem Hund abgewinnen konnte. Er haßte ihn, weiß Gott. Er haßte seine freche, selbstsüchtige Art, seinen dümmlichen Gesichtsausdruck, der Walter zu signalisieren schien: »Ich lebe wie ein Fürst, und du?« Er haßte den Hund, weil der Hund in Claras Augen nichts falsch machen konnte und er, Walter, nichts richtig.
»Findest du wirklich, daß ich ihn verziehe?« fragte Clara, die mit einem schwarzen Schlappohr des Hundes spielte. »Ich hatte den Eindruck, daß er heute morgen am Strand ganz brav gehorcht hat.«
»Ich wollte nur sagen, daß du dich für einen Foxterrier entschieden hast, weil sie als besonders intelligent gelten, und daß du dir nicht die Mühe machst, ihm die einfachsten Manieren beizubringen.«
»Darf ich fragen, ob du damit auf das anspielst, was er eben dort drüben angestellt hat?«
»Das auch, ja. Er ist inzwischen fast zwei Jahre alt, und solange er sich so aufführt, können wir ihn nicht mehr in Restaurants herumlaufen lassen. Es ist kein besonders angenehmer Anblick.«
Clara hob die Augenbrauen. »Er hat sich nur amüsiert und niemandem etwas getan. Du redest, als würdest du ihm das mißgönnen. Diese Haltung wundert mich – bei dir«, sagte sie kühl und spöttisch.
Walter lächelte nicht.
Am Nachmittag darauf kamen sie nach Hause. Clara erfuhr, daß der Oyster-Bay-Verkauf sich noch einen Monat lang hinziehen konnte, und in ihrem angespannten Zustand kam eine Party nicht in Frage, bis der Handel abgeschlossen oder gescheitert war.
Die nächsten vierzehn Tage über wurde Chad brüskiert, wenn er anrief und vorbeikommen wollte; Clara wimmelte ihn einfach ab oder legte den Hörer auf, bevor Walter das Telefon erreichte. Jon Carr, Walters bester Freund, wurde am Samstag vormittag vor Walters Augen und Ohren am Telefon abgefertigt. Clara erklärte Walter, Jon habe sie beide zu einem Abendessen in der kommenden Woche einladen wollen, doch sie sei der Ansicht, daß es sich nicht lohne, deshalb eigens nach Manhattan zu fahren.
Manchmal träumte Walter, einer oder mehrere oder alle seiner Freunde hätten ihn fallenlassen. Es waren trostlose, herzzerreißende Träume, von denen er jedesmal mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust erwachte.
Fünf Freunde hatte er bereits verloren – schlicht und einfach deshalb, weil Clara sie nicht im Haus haben wollte, obwohl Walter ihnen noch immer schrieb und sich mit ihnen traf, wenn er es bewerkstelligen konnte. Zwei von ihnen lebten in Pennsylvania, Walters Heimatstaat. Ein weiterer wohnte in Chicago, die beiden anderen lebten in New York. Und wenn er ehrlich war, mußte Walter sich eingestehen, daß Howard Graz in Chicago und Donald Miller in New York ihm so böse waren, daß er sich gar nicht mehr traute, ihnen zu schreiben. Oder sie hatten keine Lust mehr, ihm zu schreiben.
Walter erinnerte sich an Claras Lächeln, ein unverhüllt triumphierendes Lächeln, als er von einer Party hörte, die Don in New York gegeben hatte, ohne ihn, Walter, einzuladen. Obendrein war es ein reiner Männerabend gewesen. Clara war überzeugt gewesen, daß sie ihn und Don auseinandergebracht hatte, und das hatte sie genossen.
Damals, vor etwa zwei Jahren, hatte Walter zum erstenmal begriffen, daß er mit einer Neurotikerin verheiratet war, mit einer Frau, die in gewissen Belangen tatsächlich geisteskrank war, und daß er diese Neurotikerin auch noch liebte. Er erinnerte sich immer wieder an das wunderbare erste Jahr mit ihr, daran, wie stolz er auf sie gewesen war, weil sie intelligenter war als die meisten (inzwischen verabscheute er das bloße Wort, weil Clara die Intelligenz zu einem Fetisch erhoben hatte), wieviel sie gelacht hatten, wieviel Spaß es ihnen gemacht hatte, das Haus in Benedict einzurichten, und noch immer hoffte er, daß die Clara jener Zeit wie durch ein Wunder wiederkommen werde. Schließlich war sie dieselbe Person, derselbe Körper. Den Körper liebte er noch immer.
Als Clara vor acht Monaten die Stelle bei Knightsbridge antrat, hatte Walter gehofft, die Arbeit werde ein Ventil für ihre Ellbogenmentalität sein, für die Eifersucht, die sie sogar ihm gegenüber zutage legte, weil seine Karriere als erfolgreich angesehen wurde. Doch ihre Arbeit hatte sie in ihrem Ehrgeiz und der unerklärlichen Unzufriedenheit mit sich selbst nur bestärkt, als hätte die neuaufgenommene Tätigkeit einen Vulkan zum Ausbruch gebracht, der vorher nur geschwelt hatte. Walter hatte ihr sogar vorgeschlagen, wieder aufzuhören. Davon wollte Clara nichts hören. Die naheliegendste Beschäftigung für sie wären Kinder gewesen, und Walter wünschte sich Kinder, aber Clara nicht, und er hatte sie nur halbherzig zu überzeugen versucht. Clara hatte kein Verständnis für kleine Kinder, und Walter bezweifelte, daß eigene Kinder eine Ausnahme gewesen wären. Und schon mit sechsundzwanzig, als sie heirateten, hatte Clara damit kokettiert, zu alt für Kinder zu sein. Clara vergaß nie, daß sie zwei Monate älter als Walter war, und er mußte immer wieder beteuern, daß sie viel jünger aussehe als er. Jetzt war sie dreißig; Walter wußte, daß das Thema Kinder ein für allemal erledigt war.
Es kam vor, daß Walter mit einem zweiten Highball in der Hand auf dem Rasen irgendwelcher Freunde in Benedict stand und sich fragte, was er eigentlich unter diesen netten, selbstzufriedenen, wohlhabenden und letzten Endes langweiligen Leuten zu suchen hatte, was er aus seinem Leben gemacht hatte. Ständig beschäftigte ihn der Wunsch, bei Cross, Martinson & Buchman aufzuhören; er beabsichtigte, zusammen mit seinem engsten Arbeitskollegen Dick Jensen eine eigene Kanzlei zu eröffnen, und Dick wünschte es sich nicht weniger inbrünstig als er. Sie hatten sich eines Abends und eine ganze Nacht hindurch über die Idee unterhalten, in Manhattan ein kleines Büro zu eröffnen, auf Fälle spezialisiert, mit denen die großen Kanzleien sich nicht abgaben. Die Honorare würden niedrig sein, aber zahlreich. In Dicks Junggesellenwohnung voller Bücher hatten sie Blackstones Commentaries und Wigmores Legal Systems hervorgezogen und über Blackstone gesprochen, seinen beinahe religiösen Glauben an Gesetze als Mittel zum Erschaffen einer idealen Gesellschaft. Für Walter war es eine Zeitreise zurück zum Enthusiasmus seiner Studienzeit gewesen, als er sich innerlich noch als junger Ritter sah, der auszog, den Schwachen zu helfen und den Gerechten beizustehen, und als die Rechtsprechung noch ein unbeflecktes Instrument war, das er zu benutzen lernte. In jener Nacht hatten er und Dick beschlossen, bei Cross, Martinson & Buchman am Ersten des Jahres auszuscheiden. Irgendwo in Midtown Manhattan wollten sie ein Büro mieten. Walter hatte mit Clara darüber gesprochen; obwohl sie nicht begeistert gewesen war, hatte sie wenigstens nicht versucht, es ihm auszureden. Das Geld war kein Problem, denn es sah ganz danach aus, daß Clara mindestens fünftausend Dollar im Jahr verdiente. Das Haus war bezahlt: ein Hochzeitsgeschenk von Claras Mutter.
Die einzige positive Antwort auf die Frage, was aus Walters Leben werden sollte, war die Anwaltskanzlei, die er mit Dick eröffnen wollte. Er stellte sich eine blühende Kanzlei vor, aus der zufriedene Mandanten strömten. Doch er stellte sich die bange Frage, was wäre, wenn die Kanzlei seine Erwartungen nicht erfüllte, wenn Dick die Begeisterung verlöre? Walter wußte, daß hundertprozentige Erfüllung selten eintrat. Menschen machten Gesetze, setzten sich Ziele und scheiterten. Seine Ehe war nicht geworden, was er sich erhofft hatte; Clara war es nicht, und vielleicht hatte er umgekehrt ebenso ihre Erwartungen enttäuscht. Aber er hatte sich bemüht und bemühte sich noch immer. Eine der wenigen unumstößlichen Gewißheiten, die er hatte, war die, daß er Clara liebte und daß es ihn glücklich stimmte, es ihr recht zu machen. Und er besaß Clara und hatte es ihr recht gemacht, indem er diese Stelle angetreten hatte und inmitten dieser netten und langweiligen Leute lebte. Und wenn Clara ihr Leben auch weniger genoß, als sie sich erhofft hatte, wollte sie dennoch nicht irgendwo anders hinziehen und irgend etwas anderes tun als das, was sie tat. Walter hatte sie gefragt. Mit dreißig war Walter zu dem Schluß gelangt, daß Enttäuschung etwas Normales sei. Er nahm an, daß das Leben für die meisten ein knappes Scheitern an einem Ideal nach dem anderen bedeutete, was dadurch wettgemacht wurde, daß man mit jemandem zusammen war, den man liebte. Doch er konnte den Gedanken nicht verdrängen, daß Clara, wenn sie so weitermachte, Gefahr lief, seine letzten Hoffnungen in sie zu töten.
Vor einem halben Jahr, im Frühjahr, hatten er und Clara zum erstenmal eine Scheidung in Erwägung gezogen und hatten sich später mehr schlecht als recht versöhnt.