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In der Schule schwirrten die Gerüchte durch die Klassen. Die Kinder scharten sich in den Pausen immer wieder um Hermine Schyffers und Sigi Waldhoff. Das Bekannte war schnell erzählt. Jean war gegen elf zum letzten Mal gesehen worden. Er hatte im Pfortenweg gespielt. Von da an blieb er verschwunden. Zuerst hatte die Mutter geglaubt, er sei bis an die Landstraße gegangen. Dort waren die süßen Kirschen reif. Die Kinder der Stadt betrachteten diese Bäume seit eh und je als ihr Eigentum.
Der Polizist, ein zugewiesener Preuße, mochte anderer Meinung sein, aber ihm gingen sie aus dem Wege. Schließlich hielt er nicht den ganzen Tag Kirschenwache. Es war jedenfalls nichts Neues, dass diese Ernte nie versteigert werden konnte, weil zum festgesetzten Termin Kinder und Stare nur so wenig Kirschen übrig gelassen hatten, dass es sich nicht einmal lohnte, eine Leiter herbeizuschaffen.
Aber bei den Kirschen war Jean nicht. Als die Mutter ihn bei den Nachbarn suchte, da fand er sich weder bei Schyffers noch bei Nigges und nicht bei Huymanns. Auch bei Mehlbaums und Waldhoffs hatte niemand ihn nach elf Uhr gesehen.
Schließlich durchstreiften seine Geschwister die Straßen. Die Vermutung kam auf, er sei wegen der Hitze mit zum Rhein gegangen, doch niemand wusste Genaueres. Auch wollte dieser oder jener zwei Landstreicher in der Mühlenstraße gesehen haben, doch die waren gekommen und gegangen, wie das bei fahrendem Volk eben ist.
Die schreckliche Nachricht von dem Tod des Jungen hatte all diesen Gerüchten ein schnelles Ende bereitet. Aber gleich blähten sich neue auf. Wer war der Täter? Nach mancherlei Erwägungen kamen am ehesten die Landstreicher in Betracht. Die Kinder ließen ihrer Fantasie freien Lauf, zumal Hermine Schyffers wenig berichtete. Ihr Vater und der Lehrer hatten ihr den Mund verboten. Umso begehrter war das, was Sigi wusste, der als einer der ersten die Nachricht vernommen hatte und der in unmittelbarer Nachbarschaft der Fruchtscheune wohnte, in der Nora den kleinen Jean gefunden hatte.
Sigi hatte einmal, zweimal berichtet, was ihm zu Ohren gekommen war, doch als die Gier nach seiner Geschichte nicht nachließ, kam er auf den Gedanken, nur noch gegen Bezahlung zu wiederholen, was sich in den Abendstunden des vorangegangenen Festtages ereignet hatte.
So glitt in den Pausen allerlei Kindergut in seine Hände: weißer und brauner Kandiszucker, eine Handvoll Kirschen, frisch an der Landstraße gepflückt, ein beinahe neuer Lederriemen, ein gepresstes vierblättriges Kleeblatt …
Diese begehrten Schätze machten Sigis Bericht von Mal zu Mal farbiger. Das blühende Geschäft fand erst seinen unrühmlichen Abschluss, als Lehrer Coudenhoven davon erfuhr und Sigi wegen dummen Geschwätzes mit seiner fingerdicken Haselrute drei Streiche über den Hosenboden zog. Von da an schwieg auch Sigi. Erst auf dem Heimweg, als sich sein Freund Karl zu ihm gesellte, besprach er mit ihm noch einmal die ganze Geschichte, aber einen Täter fanden auch sie nicht.
»Wo bleibst du so lange?«, fuhr ihn die Mutter an, als er in den Laden trat.
»Ich war bei Karl.«
»Warte hier. Der Bürgermeister ist im Hause. Er will mit dir sprechen.«
»Der Bürgermeister?«
»Sag ihm alles, was du weißt. Aber denk nach, bevor du sprichst.«
Im hinteren Zimmer brummten die Stimmen der Männer, doch was gesprochen wurde, war nicht zu verstehen. Endlich wurde Sigi gerufen. Waldhoff hatte einen roten Kopf und eine steile Falte saß zwischen den Augen.
»Es ist ein Skandal«, schimpfte der Bürgermeister. »Am helllichten Tage wird ein Kind umgebracht, und keiner hat etwas bemerkt.« Er wandte sich dem Jungen zu.
»Sigi, wann hast du den kleinen Jean zum letzten Male gesehen?«
»Es war zu der Zeit, als die Leute aus dem Hochamt kamen. Da spielte er auf unser Straße.«
»Hast du mit ihm gespielt?«
»Er ist klein, Herr Bürgermeister. Ich musste auch zu Schloters.«
»Zu Schloters?«
»Ja, ich sollte ihm das restliche Geld bringen.«
Waldhoff schaltete sich ein: »Ich hatte Streit mit Schloters. Er hilft mir in der Werkstatt, die Grabsteine für die Juden zu schlagen.«
»Warum gab es Streit?«
»Ihm war es zu viel, an drei Tagen nichts verdienen zu können. Am Sabbat wird bei mir nicht gearbeitet, am Sonntag will ich es auch nicht. Gestern war Peter und Paul. Drei Ruhetage waren ihm zu lang. Er hat sein Geld verlangt. Sigi hat es ihm gebracht.«
»Warum schickten Sie Ihren Sohn?«
»Sigi hat sich mit Schloters gut vertragen. Der Junge will Steinmetz werden, und Schloters hat ihm manchen Griff gezeigt.«
»Soso, Steinmetz. Aber den Jean, Sigi, den Jean hast du später nicht mehr gesehen?«
»Nein, als ich zurückkam, war gar kein Kind mehr auf der Straße.«
»Woher weißt du das noch so genau?«
»Ich dachte mir: Die sind alle zu den Kirschen gegangen.«
»Am liebsten hättest du sicher auch Kirschen gestohlen?«, fragte der Bürgermeister. Doch dabei spielten ihm die Lachfältchen um die Augen. Sigi antwortete nicht.
Der Bürgermeister blätterte in einer Akte, seufzte, schlug den Deckel plötzlich zu und sagte: »Das andere weiß ich bereits. Ihre Frau und Ihre Tochter Ruth haben es ja berichtet.« Dann trat er näher an Waldhoff heran, der aus seinem Sessel aufgestanden war, und sagte: »Es ist eine scheußliche Sache, Waldhoff. Der Mehlbaum macht mit dummem Gerede die Leute wild. Überlegen Sie genau, wie Sie den gestrigen Tag verbracht haben, und schreiben Sie es auf. Sie wissen ja, wie leicht einer ins schiefe Licht geraten kann.«
Damit griff er nach seinem Hut, grüßte Frau Waldhoff und trat auf die Straße. Verwundert blieben einige Frauen stehen, die gerade vom Markt kamen.
»Was sucht der Bürgermeister beim Juden Waldhoff?«, fragte eine.
Waldhoff schloss ärgerlich die Tür und sagte: »Da geht es schon los. Der Mehlbaum streut aus, dass wir Juden das Blut von Christenkindern brauchen. Sein Sohn, der Medizinstudent, habe es ihm gesagt.«
»Blut? Wozu Blut, Vater?«, fragte Ruth.
»Ach, weiß der Kuckuck. Dummes Geschwätz. Es wird gemunkelt, dass wir Juden das Blut benützen, um daraus Wein zu machen, den wir beim Passah-Fest trinken.«
»Pfui! Eklig!«, rief Ruth und schüttelte sich. »Wie kann Mehlbaum sich so etwas Scheußliches nur ausdenken?«
»Er hat sich das nicht selbst ausgedacht. Eine alte, schaurige Lüge ist es, die er da ausgräbt. Oft und oft ist sie erzählt worden. So sollen Juden am 19. April 1287 in der Gegend von Oberwesel am Rhein ein Kind namens Werner gequält und um seines Blutes willen schließlich zu Tode gebracht haben. Dabei ist dies nur eine von vielen ähnlichen Geschichten.«
»Wenn Mehlbaum das wirklich glaubt, dann kann ich mir erklären, warum er und manche Menschen uns verachten«, sagte Ruth.
Heftig antwortete Sigi: »Ich weiß nicht, was 1287 wirklich geschehen ist. Aber selbst wenn die schrecklichsten Lügen Wahrheit wären, was hat das mit uns zu tun? Hier kennen uns doch alle. Keiner wird uns einen Mord zutrauen.«
»Ich hoffe das auch«, sagte Waldhoff.
Später liefen Sigi und Karl zu den Kirschen.
»Ist er weg?«, flüsterte Karl seinem Freund zu.
»Ja, er geht zur Stadt zurück.« Die Jungen schoben die Zweige des Gebüsches ein wenig zur Seite und blickten dem Polizisten nach, der nach den Kirschbäumen gesehen hatte. Ein Knecht hatte die beiden gewarnt, und sie waren rechtzeitig in die Büsche geschlüpft.
»Warum ist der Neue eigentlich so scharf hinter uns her, wenn wir in die Kirschbäume steigen?«, fragte Karl.
»Mein Vater sagt, er habe nichts Rechtes in unserem Städtchen zu tun. Hier leben eben anständige Leute.«
»Meiner sagt, dass die Kirschen den Kindern gehören, solange er denken kann.«
»Soll er doch die beiden Landstreicher fangen.« Sigi saß bereits wieder im Baum und ließ sich die dicken Früchte gut schmecken.
»Rot wie Blut«, sagte Karl. »Du, sie sagen, ihr Juden brauchtet Kinderblut.«
»Quatsch! Großer Quatsch! Wozu sollten wir es wohl brauchen?«
»Sie erzählen überall, dass ihr es für euren Passah-Wein nötig habt. Der kleine Jean soll einen Schächterschnitt gehabt haben. Was ist das überhaupt?«
»Wenn Vater schlachtet, dann sticht er das Tier so ab, dass es ganz ausblutet. Wir dürfen kein Blut verwenden. So sagen es unsere Gesetze. Keinen Tropfen Blut, verstehst du! Deshalb haben wir unsere eigene Art, Tiere zu schlachten. Und das nennt man schächten.«
»Metzger, das ist ein scheußlicher Beruf. Das wäre nichts für mich. Polizist ist gut, Sigi, was meinst du? Polizist möchte ich schon werden.«
»Ich nicht. Ich werde Steinmetz.«
»Auch gut. Vater will, dass ich irgendetwas studiere. Aber ich habe keine Lust, dauernd zu büffeln. Polizist, das ist schon besser. Mutter sagt auch, Beamter ist Beamter.« Sie pflückten und aßen.
»Hörst du nichts, Karl?«
»Was soll ich hören?«
»Ich glaube, es gibt ein Gewitter. Es brummelt schon in der Luft.«
»Das wird ein Wagen gewesen sein.«
»Nein, hör nur, da donnert es wieder.«
Karl kletterte ein wenig höher in die Baumkrone. Von dort oben aus konnte er weit in die Ebene sehen. Ein Kranz von sanften Hügeln schließt die Stadt von drei Seiten her ein. Dicht drängen sich die Häuser in einer Mulde, die sich zum Strom hin weit öffnet.
»Der Himmel ist hinter den Bäumen ganz schwarz, Sigi.«
Doch Sigi kümmerte sich nicht um das Gewitter und pflückte weiter. Die Steine spuckte er im Bogen in die Tiefe.
»Wir müssen nach Hause, Sigi.«
»Ja. Doch warte, ich will mir ein paar Kirschen mitnehmen.« Schnell zupfte Sigi reife Früchte und sammelte sie in ein Taschentuch.
Da zuckte ein Blitz auf, fern noch, aber Sigi fuhr zusammen.
»Los, Karl, wir rennen nach Hause.«
Wind rüttelte die Wipfel. Sie rauschten auf. Über der Straße wirbelte eine Staubwolke hoch. Eilig kletterten sie aus dem Baum und machten sich auf den Weg.
Doch die Wolken flogen schnell. Die Jungen waren noch inmitten der Kornfelder, weit vor der Stadt, als die ersten Tropfen schwer herniederschlugen.
»Wir schaffen es nicht mehr«, keuchte Sigi. »Komm, wir laufen dort auf unseren Friedhof. Da weiß ich einen trockenen Platz.«
Einen Augenblick zauderte Karl. Zum Judenfriedhof? Ihm fielen die grausigen Geschichten ein, die ihm sein Onkel Bartel von den Gespenstern dort und vom Ewigen Juden erzählt hatte. Aber Sigi schien keine Angst zu haben. Er war schon ein Stück weit weg. Wenn Sigi keine Angst hatte, dann konnte es nicht so schlimm sein.
Der Regen prasselte herab. Wie eine düstere Insel ragten die alten Bäume des Judenfriedhofes aus den Feldern auf. Eine hohe Hainbuchenhecke umschloss ihn wie eine Mauer. Sigi schaute sich um und wartete, bis Karl ihn erreicht hatte.
»Hier ist ein Durchschlupf.«
Er schob die Blätter auseinander. Ein Spalt tat sich auf. Karl erkannte, dass ein Weg innerhalb des Friedhofes rundum führte. Doch Sigi überquerte den Weg und auch einen zweiten Wegkreis, wich einigen Grabsteinen aus und strebte dem Baumriesen zu, der genau die Mitte des kreisrunden Totenackers bildete.
»Hier hinein«, sagte er.
Der Stamm war aufgerissen und hohl. Karl zwängte sich durch den Spalt. Der Innenraum war größer, als er vermutet hatte. Schon drängte Sigi nach. Es wurde eng. Aber als sie sich zurechtgesetzt hatten, reichte der Platz für zwei.
»Das ist eine sichere Höhle«, sagte Sigi.
Durch den Spalt gleißte das Blendlicht der Blitze. Die Donnerschläge überschlugen sich. Die Jungen rückten dicht zueinander.
»Ist es nicht gefährlich, beim Gewitter in einem Baum zu sitzen, Sigi?«
»Ich weiß es nicht. Aber diese Linde ist sicher dreihundert Jahre alt. Nie ist der Blitz hineingeschlagen. Warum also gerade heute?«
»Trocken ist es ja hier«, gab Karl sich zufrieden.
Sie schwiegen. Schwere Wolken hatten den Himmel ganz überzogen. Es war fast dunkel.
Jedes Mal, wenn ein Blitz aufzuckte, sah Karl durch den Spalt einen Grabstein. Er wollte nicht an das Gewitter denken und versuchte, die Schrift zu entziffern. Seltsame Zeichen zeigte der Stein. Ähnliche waren ihm auch in Waldhoffs Werkstatt aufgefallen. Eine gespreizte Hand erkannte er. Karl versuchte, seine Hand auch so zu halten: Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger beieinander und Ringfinger und kleiner Finger eng zusammen, aber weit abgespreizt von den andern. Er versuchte es vergeblich. Sigi sah es und machte es ihm vor. Für ihn schien es leicht zu sein. Karls Finger gehorchten nicht.
»Bei euch ist alles anders«, sagte er. »Ihr habt eine eigene Schrift, eure Toten beerdigt ihr abseits der Stadt, die Gräber sind düster, ohne Blumen, am Samstag haltet ihr euren Sonntag. Warum ist das eigentlich so?«
»Wir glauben eben anders«, antwortete Sigi. Nach einer Weile fuhr er fort: »Vater sagt, unser Volk kommt von weit, weit her und ist nun in der ganzen Welt zerstreut.«
»Ach, ihr wohnt doch schon immer hier.«
»Lange wohl. Aber immer?«
»Ist das etwa nicht so?«
»Nein. Die meisten jüdischen Familien, die in diesem Städtchen leben, sind im Mittelalter aus Köln hierher geflohen.«
»Geflohen?«
»Ja. Es ging damals auf Leben und Tod. Das Leben haben wir übrigens einem der Euren zu verdanken, dem Erzbischof von Köln.«
»Woher weißt du das alles?«
»Wir vergessen nicht schnell. Damals war in Köln eine Pest ausgebrochen. Die Juden lebten in einem Stadtteil eng beieinander. Sie sollten das Unheil herbeigezogen haben.«
»Wie kann jemand eine Krankheit herbeiziehen?«
»Die Leute dachten, die Pest sei als Gottes Strafe dafür gesandt worden, weil in der Stadt nicht nur Christen lebten. So fielen sie über die Juden her, steckten ihre Häuser in Brand und trieben unsere Vorfahren durch die Straßen. Einige kamen im Feuer um oder starben unter Steinwürfen und Stockschlägen. Da erfuhr der Erzbischof davon, eilte mit Soldaten in unser Wohnviertel und wollte die wilde Menge zur Ruhe mahnen. Doch viel fremdes Volk, das sich zu einem Kreuzzug rüstete, hielt sich damals in der Stadt auf. Es hätte nicht viel gefehlt, da hätte sich die Masse in ihrem blinden Zorn sogar gegen den eigenen Erzbischof gewandt. Der sah das Leid unseres Volkes und erinnerte sich wohl, wie häufig ihm Juden mit der Judensteuer, Geschenken und Darlehen in Geldnöten geholfen hatten, und er versprach uns eine neue Heimat. Die Kölner Juden entkamen mit seiner Hilfe in andere Städte des Bistums. Doch nur wenige konnte er retten. Aufgehetzte Menschen glaubten, es sei ein gutes Werk, einen Juden zu töten. So ist unsere Familie hier in diese Stadt gekommen.«
»Warum müssen die Menschen sich eigentlich so wehtun?« Weder Karl noch Sigi wussten darauf eine Antwort.
Dann tröstete sich Karl: »Aber das ist ja lange, lange her. So etwas kommt sicher nie wieder.«
»Wer weiß das?«, fragte Sigi. Er dachte an all das dumme und böse Geschwätz, das gerade an diesem Tag wieder über die Juden verbreitet wurde.
»Was hast du, Sigi? Sind wir nicht Freunde?«
»Ja, Karl. Ich bin dein Freund.«
»Und ich bin deiner, Sigi.«
Das Donnern und Blitzen hatte nachgelassen, aber der Regen legte immer noch einen dichten Vorhang vor den Baumspalt.
Da hörten sie das Geläut von der Großen Kirche her. »Es hat eingeschlagen. Es brennt!«
Dumpf und bang klang der tiefe Ton der Glocke bis hierher zum Berg. »Wir müssen nach Hause!«
Sie sprangen aus dem bergenden Stamm hinaus und eilten der Stadt zu.