Über das Buch:
Die junge Südstaatlerin Carolin hat in ihrem kleinen Kosmos allen Menschen liebevoll ihren Platz zugewiesen. Auch den schwarzen Sklaven, die für ihren Daddy arbeiten. Sie sind ihr ans Herz gewachsen und fügen sich problemlos in ihr Weltbild ein. So sehr, dass es erst Risse bekommt, als einem ihrer Freunde, einem Sklavenjungen, übel mitgespielt wird.
Die Risse vertiefen sich, als sie am Vorabend des Bürgerkriegs eine längere Reise in den Norden der Vereinigten Staaten macht. Die Forderungen der „Yankees“ nach Einhaltung der Menschenrechte und Sklavenbefreiung beeindrucken sie zutiefst.
Zu dumm, dass sie – zurück auf den Baumwollfeldern des Südens – ihr Herz ausgerechnet an Charles verliert. Er ist überzeugt von der feudalen Lebensart des „Großen Südens“. So kann es auch nicht bei harmlosen Diskussionen mit ihm und ihrer Familie bleiben. Nur zu bald bricht der Krieg aus – die Feuertaufe für ihre Liebe, ihre Überzeugungen und ihren Glauben ...

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist ebenso Aufgabe wie Inspiration für sie. Wenn ihr nach dem Tagesgeschäft noch Zeit bleibt, ist sie als Vortragsreisende unterwegs und widmet sich der Schriftstellerei.

Kapitel 6

Richmond, Oktober 1856

In Richmond kehrte mein Leben schnell in seine alten Bahnen zurück. Ich konnte nicht alles vergessen, was ich erlebt hatte, aber es gelang mir, das meiste zu verdrängen, indem ich meine beunruhigenden Gedanken und meinen Kummer beiseite legte wie die Puppen und anderen Spielzeuge, für die ich zu alt geworden war. In den nächsten zwei Jahren schien sich der Zustand meiner Mutter langsam zu bessern. Sie verbrachte zunehmend mehr Zeit unten im Salon, anstatt in ihrem Schlafzimmer, und gelegentlich gab sie sogar eine Dinnerparty. Eines Nachmittags, als ich von der Schule nach Hause kam, rief Ruby mich ins Zimmer meiner Mutter.

Mutter lächelte, und ihre Vorhänge und Fensterläden waren geöffnet, aber sie schien nicht still sitzen zu können. Unruhig huschte sie durch den Raum, ihre Reifröcke wirbelten herum, ihre nervösen Hände griffen erst nach einem Gegenstand, dann nach einem anderen, nur um ihn schnell wieder fortzulegen.

„Ich habe wundervolle Neuigkeiten, die ich mit dir besprechen möchte, Caroline. Unter vier Augen.“ In ihrer Stimme lag diese fieberhafte Atemlosigkeit, die ich zu fürchten gelernt hatte. „Damen reden über solche Dinge nicht in Gesellschaft, weißt du.“

„Was für Dinge?“

„Du darfst es niemandem erzählen, Caroline, aber ich erwarte endlich wieder ein Baby. Ich habe damit gewartet, es dir zu erzählen, bis der Arzt sagte, er sei sich sicher, dass der kritische Zeitpunkt vorüber sei. Er sagte, das Baby sei stark und gesund, und ich würde es wahrscheinlich nicht verlieren. Aber um ganz sicher zu gehen, muss ich den Rest der Zeit das Bett hüten. Ich darf nicht einmal in die Kirche gehen.“

Ich versuchte so zu tun, als freue ich mich, aber die Nachricht jagte mir Angst ein. Ich erinnerte mich an den schrecklichen Kummer, den ich gefühlt hatte, als die Babys in Hilltop gestorben waren, und ich machte mir Sorgen darüber, was mit Mutter geschehen würde, wenn ihr Baby starb. Ich versuchte zu beten und all meine Sorgen in die Hände Jesu zu legen, wie Eli es mir beigebracht hatte, aber meine Sorge und Angst wuchsen in mir wie das Baby im Leib meiner Mutter.

*****

An einem kalten Februartag parkte die Kutsche des Arztes vor unserem Tor, als ich von der Schule nach Hause kam. Die Angst packte meinen Magen wie eine Faust und ließ ihn nicht mehr los. „Ist Mutter wieder krank?“, fragte ich Eli.

„Fragen Sie lieber Tessie. Sie weiß es.“

„Ist es Zeit für Mutters Baby?“

„Sch! Über so etwas spricht man nicht.“

Als ich zur Tür hereinkam, wartete Tessie schon auf mich. „Wo ist Mutter? Kann ich sie sehen?“

„Sie warten am besten hier unten, Kindchen, bis das Baby kommt.“

Ich glaubte, meine Mutter hin und wieder stöhnen zu hören, während ich nervös im Salon wartete. Schließlich nahm Tessie mich mit in die Küche, um mich abzulenken. Esther hatte wie immer alle möglichen Töpfe und Kessel auf dem Herd stehen, und der himmlische Duft verschlang schon bald einen Teil meiner Angst. Ich setzte mich gegenüber von Eli an den Tisch und beobachtete, wie der kalte Schneeregen draußen am Fenster herunterlief.

„Wie ist es, wenn man ein Baby bekommt?“, fragte ich schließlich.

Esther verdrehte die Augen. „Es ist kein Spaziergang, das kann ich Ihnen sagen.“

„Warum schreit Mutter denn so?“

Eli sprang von seinem Stuhl auf und floh aus der Küche.

„Still jetzt“, warnte Tessie.

„Warum will es mir denn niemand erzählen?“, fragte ich.

„Weil man über solche Dinge nicht spricht“, schalt Tessie. „Sie werden es schon erfahren, wenn es so weit ist. Und mehr sage ich dazu nicht, also hören Sie auf zu fragen.“

Als ich Papas Kutsche kommen hörte, rannte ich durch den kalten Schneeregen ins Haus zurück. Er ging sofort nach oben, um mit dem Arzt zu sprechen, dann kam er wieder herunter und bat Gilbert, ihm etwas zu trinken einzuschenken. Ich ging in die Bibliothek, um mit ihm zu sprechen, aber Papa setzte sich gar nicht wie gewohnt auf seinen Stuhl. Er durchquerte nervös das Zimmer, ging zum Fenster, blickte zur Kutsche des Arztes hinaus, die mit Schneematsch bedeckt war, ging wieder zu seinem Schreibtisch, und das wiederholte sich immer wieder. Ich war schon allein vom Zusehen ganz erschöpft.

„Geht es Mutter gut?“, fragte ich, als ich es nicht mehr länger aushielt.

„Der Doktor sagt, ja.“

Ich hatte Angst, nach dem Baby zu fragen.

Keiner von uns aß viel von dem Abendessen, das Esther zubereitet hatte, aber ich sah, dass Ruby ein riesiges Tablett für den Arzt hi-nauftrug. Das Baby war immer noch nicht gekommen, als es für mich Zeit war, zu Bett zu gehen. Ich schlief schlecht und hörte selbst in meinen Träumen noch das Stöhnen meiner Mutter.

Am nächsten Morgen setzte sich Tessie an mein Bett und strich mir sanft übers Haar. „Ihre Mama hat gestern Nacht einen kleinen Jungen bekommen“, sagte sie leise. „Aber er war ganz blau, genau wie die anderen. Er ist jetzt im Himmel, bei den Engeln.“

„Und was ist mit Mutter?“

„Ihr geht es gut.“

„Wird sie … wird sie sterben?“

„Nein, der Doktor sagt, sie wird nicht sterben. Aber ich glaube, sie würde es am liebsten.“

Der Arzt irrte sich. Noch vor Sonnenuntergang war meine Mutter tot.

*****

Mutters ältere Schwester Martha, die in Philadelphia lebte, kam mit dem Zug zur Beerdigung angereist. Tante Anne und Onkel William kamen von Hilltop hergefahren. Jonathan, der inzwischen aufs College ging, traf mit einem Raddampfer aus Williamsburg ein. Er legte den Arm um meine Taille, um mich zu stützen, als ich auf dem Friedhof an Mutters offenem Grab stand. Das gähnende Loch in der Erde, die nackten Äste der Bäume, die schwarze Trauerkleidung der Anwesenden; all das wirkte vor dem gefrorenen weißen Boden ganz starr. Ich war gerade sechzehn geworden, und mein erstes Erwach-senenkleid mit langen Ärmeln und richtigen Reifröcken war ein schwarzes Trauergewand.

An diesem Abend, nachdem alle anderen schlafen gegangen waren, kroch ich aus meinem Bett und ging den Gang hinunter zum Zimmer meiner Mutter. Ruby saß allein auf der Kante von Mutters ordentlich gemachtem Bett, und eine einzelne Kerze warf von der Kommode aus ein gespenstisches Licht in den Raum. Ruby blickte auf, als ich eintrat, und ich sah, dass sie geweint hatte.

„Ruby …“ Meine Stimme klang merkwürdig laut in der stillen Nacht. „Ruby, es gibt etwas, das ich wissen muss.“

„Sie sind genauso schön, wie sie es immer war“, murmelte Ruby, als ich einen Schritt näher kam. Ich räusperte mich, um den Knoten der Angst aus meiner Kehle zu vertreiben.

„Der Arzt sagte, es gehe meiner Mutter gut, nachdem das Baby geboren wurde … aber Mutter ist gestorben.“

Ruby sagte nichts. Ich wollte die Frage nicht laut aussprechen, aber sie machte es mir nicht leicht.

„Wie … wie ist meine Mutter gestorben?“

Ruby schüttelte den Kopf, als wolle sie, dass ich und meine Frage verschwanden. Ich kniete mich vor sie auf den Boden, sah ihr direkt ins Gesicht und nahm ihre Hände in meine.

„Ich war nach der Geburt des Babys hier, um Mutter zu sehen. Sie hatte kein Fieber. Sie war nicht krank …“ Ich wartete. „Bitte sag es mir, Ruby.“

„Es sieht so aus … als ob sie vielleicht einen Fehler gemacht hat“, sagte sie mit einem winzigen Stimmchen. „Sie hat nicht viel geschlafen, wissen Sie … und vielleicht wollte sie schlafen. Laudanum-Tabletten haben ihr immer geholfen zu schlafen, aber vielleicht … vielleicht hat sie diesmal zu viele genommen … aus Versehen.“

„Glaubst du das, Ruby? Dass es ein Versehen war?“

Sie schloss die Augen. Im Kerzenschein sah ich, wie Tränen über ihre Wangen rollten. Als sie die Augen wieder öffnete, lächelte sie. „Ich bin froh, dass sie das Baby zusammen mit ihr begraben haben. Jetzt wird der Kleine nicht so allein sein in der kalten Erde. Ihre Mama hat sich solche Sorgen darum gemacht. Sie sagte, ein Kind brauche seine Mama.“ Sie drückte meine Hände ganz fest und ihre Augen flehten mich an, bettelten um Verständnis. „Ihre Mama wollte ihr Kind nicht alleinlassen, Missy Caroline.“

Ich wollte es verstehen, aber es gelang mir nicht. Ich war auch ihr Kind. Ich brauchte meine Mutter auch. Und mich hatte sie alleingelassen.

*****

Mein Vater schien über Nacht zwanzig Jahre gealtert zu sein. Er aß nicht, schlief nicht und verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek, wo Gilbert sein Glas unentwegt auffüllte. Papa und Onkel William hatten sich am Abend zuvor mit lauten Stimmen angeschrien, bevor mein Onkel nach Hilltop zurückgekehrt war, aber ich hatte nicht gehört, was gesagt worden war. Als es für Tante Martha Zeit wurde, nach Philadelphia zurückzufahren, riefen sie und Papa mich in die Bibliothek. Beim Anblick seines vom Kummer gezeichneten Gesichts traten mir die Tränen in die Augen.

„Ich muss geschäftlich nach Übersee, Caroline“, sagte Papa unvermittelt. „Ich steche Ende dieser Woche in See. Tante Martha hat angeboten, dich nach Philadelphia mitzunehmen. Du wirst also eine Weile bei ihr wohnen.“

Ich fand nicht die Worte, um ihm zu sagen, dass ich keine weitere Veränderung wollte, dass sich ohnehin schon zu viele Dinge geändert hatten. Ich fühlte diesen neuen Verlust, als hätte ich ihn schon erlebt. „Ich möchte hierbleiben, Papa“, sagte ich verzweifelt. „Bei dir.“

„Ich kann nicht bleiben, Caroline.“ Er blickte zu mir hoch und wandte dann schnell den Blick ab. Ich wusste, dass ich ihn an Mutter erinnerte. Ich sah die Ähnlichkeit selbst jeden Morgen im Spiegel. „Ich werde mehrere Monate fort sein“, fuhr er fort. „Deine Tante Martha findet, du solltest nicht allein hierbleiben.“

„Ich bin doch nicht allein. Ich habe Tessie und Eli und Esther …“

„Kommt nicht in Frage“, sagte Papa schroff. „Wenn du in Richmond bleibst, wirst du im Pensionat wohnen müssen.“

Seine Worte machten mir Angst. Ich hatte schon meine Mutter verloren, und jetzt verlor ich auch noch meinen Vater und mein Zuhause. Tante Martha trat neben mich, legte den Arm um meine Schultern und nahm meine Hand.

„Internate sind furchtbar einsame Orte, Caroline. Meinst du nicht, es wäre nach all dem, was du durchgemacht hast, besser, eine Weile in einem richtigen Zuhause zu leben, bei deiner Familie? Ich habe zwei Töchter, die ungefähr so alt sind wie du. Sie werden dir Gesellschaft leisten.“

„Die einzige andere Alternative“, sagte Papa, „ist die, dass du bei meinem Bruder in Hilltop wohnst.“

Keine dieser Möglichkeiten gefiel mir. Ich wusste, dass ich das Internat hassen würde – die kalten grauen Flure und nackten Räume, das Anstehen für alles. Ich hatte dort keine Freundinnen – die anderen Mädchen waren ganz anders als ich. Und ich konnte auch nicht nach Hilltop zurückkehren, zu einer Tante und einem Onkel, die meinten, ich gehöre in eine Anstalt. Mein Cousin Jonathan war auf das College zurückgekehrt, und ich glaubte nicht, dass ich es ohne ihn in Hilltop aushalten würde. Wie könnte ich ein Leben mit Tapeten und reichhaltigem Essen auf dem Tisch führen, während die Sklaven in zugigen Baracken mit Lehmböden und Maisstrohmatratzen lebten. Ich würde mich nie daran gewöhnen zu sehen, dass wundervolle Kinder wie Caleb und Nellie hungrig oder krank waren, und zu wissen, dass ihre Mütter beteten, sie mögen sterben. Somit war Philadelphia meine einzige Option – und ich hatte keine Ahnung, was mich dort erwartete. Tante Martha war rund und schlicht wie Esthers Brötchen. Sie hatte weder die Schönheit meiner Mutter noch ihre Launen. Sie schien nett zu sein.

Jetzt drückte sie tröstend meine Hand. „Komm mit mir nach Philadelphia, Caroline.“

„Wie lange würde ich denn dortbleiben?“

„So lange du magst. Du kannst die gleiche Schule besuchen wie meine Mädchen.“

„Kann ich wieder heimkommen, wenn es mir dort nicht gefällt?“

„Du müsstest aber bereit sein, es eine Weile zu probieren“, sagte mein Vater. „Es ist nicht so einfach, hin und her zu reisen. Vor allem, wenn alles mit der Schule arrangiert ist.“

„Warum sagen wir nicht … mindestens bis zum Ende des Schuljahres im Juni“, schlug Tante Martha vor. „Das sind nur noch vier Monate. Danach können wir ja sehen, ob du noch länger bleiben willst.“

Schließlich willigte ich ein, mit ihr zu fahren. Wie es schien, hatte ich keine andere Wahl. Tante Martha wollte Ende der Woche aufbrechen, sodass Tessie nicht mehr viel Zeit hatte, unsere Sachen zu packen.

*****

„Ich bin noch nie mit dem Zug gefahren, und du?“, fragte ich Tessie am Abend vor unserer Abreise.

„Nein, ich bin auch noch nie Zug gefahren.“ Ihre Stimme klang gedämpft, weil sie sich über den großen Überseekoffer gebeugt hatte.

„Bist du aufgeregt, Tessie?“

Sie richtete sich auf, einen Stapel gefalteter Wäsche in der Hand. Sie sah mich erstaunt an. „Aufgeregt? Ich fahre nicht mit Ihnen in dem Zug, Missy.“

„Was?“

„Ach, Kindchen … haben sie Ihnen das nicht erzählt? Ich bleibe hier. Ich dachte, Sie wüssten das.“

Ich rannte aus dem Zimmer und die geschwungene Treppe hi-nunter und stürmte ohne anzuklopfen in Vaters Bibliothek.

„Ich habe meine Meinung geändert“, erklärte ich ihm. „Ich will nicht nach Philadelphia fahren.“

Es dauerte einen Augenblick, bis er sich von meinem Ausbruch erholt hatte. Er sah verwirrt und zerzaust aus, das Glas in seiner Hand war beinah leer. Sein Hemd war zerknautscht und fleckig, sein sonst so adrettes Haar ungepflegt und sein Gesicht gerötet. „Dafür ist es jetzt zu spät. Ich habe deine Fahrkarte gekauft, die Reise organisiert und der Schule Bescheid gegeben. Du fährst nach Philadelphia.“

„Du hast mir nicht gesagt, dass Tessie nicht mitkommt. Ich will nicht ohne Tessie gehen.“

Er wandte den Blick ab. „Es tut mir leid, aber Tessie kann nicht mitfahren. Das kommt gar nicht in Frage.“

„Warum? Warum kann sie nicht mitkommen?“

Er versuchte, seine Zigarre anzuzünden, aber seine Hände zitterten so sehr, dass es ihm nicht gelang ein Streichholz zu entflammen. „Die Leute im Norden haben andere Gewohnheiten. Sie haben keine Negermammys. Und sie machen sich nichts aus Menschen, die welche haben. Die Leute, die die Sklavenhaltung abschaffen wollen, und die freien Neger würden ihr einreden, dass sie weglaufen soll.“

„Tessie würde nie von mir weglaufen.“

„Sei dir da mal nicht so sicher. Da oben ist alles anders, das wirst du schnell merken. Tessie wäre dort fehl am Platz, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hast du schon mal gesehen, was passiert, wenn man einen Fisch aus dem Wasser holt?“

„Ich brauche Tessie –“

„Nein! Ich brauche sie hier!“ Er griff nach der Whiskeyflasche und verschüttete die Hälfte, als er sich mit zitternden Händen das Glas füllte. Dieser Mann war nicht mein Papa. Ich konnte es nicht ertragen zu sehen, wie er den Kopf in den Nacken legte und das Glas in einem Zug leerte. Ich stapfte zur Tür.

„Du bist jetzt sechzehn“, sagte er, als ich an der Tür war. „Es ist höchste Zeit, dass du dich daran gewöhnst, ohne deine Mammy zu sein.“

Ich stolperte die Treppe hinauf und versuchte nicht zu weinen. Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr würde aufhören können, wenn ich einmal damit anfing. Ich würde mich nie daran gewöhnen, ohne meine Mammy zu sein. War Ruby nicht auch Mutters Mammy gewesen, bis sie starb?

Tessie kam zu mir, sobald ich ins Zimmer trat. Ihr schönes Gesicht war von Sorge gezeichnet. Sie rieb meine Schultern, strich mir übers Haar und murmelte: „Ich dachte, Sie wüssten es, Kleines. Ich dachte, sie hätten es Ihnen gesagt.“

„Wärst du wie ein Fisch auf dem Trockenen, wenn du mit mir mitkämst?“, fragte ich, während ich weiter gegen die Tränen ankämpfte.

„Hat Ihr Papa das gesagt?“

„Ja. Und er sagte, er brauche dich hier.“ Ihre Hände erstarrten. Sie sah mich mit einem merkwürdigen Blick an, aber bevor ich ihn näher einordnen konnte, war er schon wieder aus ihren Augen verschwunden.

„Ihre Cousinen in Philadelphia haben keine Mammys“, sagte sie, während ihre Hände wieder meine Schultern streichelten. „Sie wären eifersüchtig, wenn ich da wäre, um Sie zu verwöhnen. Das Beste für Sie ist, wenn Sie sich anpassen und das machen, was die Leute im Norden machen.“

„Aber ich werde dich so vermissen!“

Tessie zog mich in ihre Arme und umarmte mich so fest, dass ich kaum atmen konnte. Ich hörte ein Schniefen und wusste, dass sie auch weinte.

„Sie sind wie mein eigenes Kind, waren es von dem Tag an, als Sie geboren wurden. Ich könnte Sie auch nicht mehr lieben, wenn Sie mein eigen Fleisch und Blut wären. Aber Sie sind jetzt fast erwachsen. Irgendwann wollen Sie einen Ehemann haben, der Ihr Zimmer mit Ihnen teilt, nicht eine alte Sklavenfrau wie mich.“

Ich drückte sie ebenso fest, und jetzt fielen meine Tränen doch. „Du bist gar nicht alt. Und ich werde dich immer bei mir haben wollen, für immer und ewig.“

Aber die Erwähnung eines Ehemannes erinnerte mich daran, dass Tessie insgeheim mit Josiah verheiratet war. Sie sahen einander nur selten, aber vielleicht wollte sie nicht nach Philadelphia gehen, wo sie ihn nie sehen konnte.

„Ich habe mich entschieden“, sagte ich bestimmt. „Ich habe beschlossen, nach Hilltop zu gehen, anstatt nach Philadelphia. Ich werde es Papa gleich sagen. Er kann nichts dagegen haben, dass du mit mir nach Hilltop kommst.“

Sie fasste mich gerade noch rechtzeitig am Arm, um mich zurückzuhalten. „Hören Sie zu, Kindchen. Dorthin wird Ihr Papa mich auch nicht gehen lassen. Da bin ich mir sicher.“

„Aber warum denn nicht?“ Tessie antwortete nicht. Ich hob ihr Kinn hoch, damit ich ihr ins Gesicht blicken konnte. „Ist es wegen Josiah? Ich weiß, dass ihr heimlich geheiratet habt –“

„Still!“ Tessie starrte mich mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an. „Sagen Sie so etwas niemals in diesem Haus!“

„Hat Papa Josiah deshalb nach Hilltop verkauft … damit ihr nicht zusammen sein könnt?“

Sie zog mich in ihre Arme und erstickte meine Worte, als wollte sie Flammen ersticken. „Kind, Sie dürfen keine Türen öffnen, die besser zu und verschlossen bleiben. Das bringt nur Schwierigkeiten – vor allem für Josiah. Vergessen Sie, dass Sie das alles gefragt haben. Lassen Sie alles so, wie es ist. Versprochen?“

Ich nickte.

„Fahren Sie mit Ihrer Tante nach Philadelphia. Wenn es Ihnen dort nicht gefällt, können Sie immer noch hierher nach Hause, nach Richmond kommen. Ich werde hier auf Sie warten.“

*****

Ich sah Eli am nächsten Morgen dabei zu, wie er meinen Koffer die Treppe hinunter und zur Kutsche trug, und fragte mich, wem ich in Philadelphia all meine Sorgen anvertrauen würde. Gilbert sollte uns zum Bahnhof fahren, das bedeutete, dies war das letzte Mal, dass ich Eli sehen würde. Der Gedanke, mich von ihm zu verabschieden, ließ mir das Herz schwer werden, aber als er mit der letzten Ladung aus meinem Zimmer kam, wusste ich, dass ich es versuchen musste.

„Ich wünschte, ich müsste nicht nach Philadelphia fahren“, sagte ich.

Er nickte, sein graues Haupt vor Kummer gebeugt. „Ich weiß … ich weiß. Es wird jedenfalls nicht dasselbe sein ohne meine kleine Missy. Niemand, der mir die ganze Zeit über Fragen stellt … niemand, den ich zur Schule fahren kann …“

Ich war eine erwachsene junge Frau von sechzehn Jahren, zu alt für eine Mammy, zu alt, um auf Elis Schoß zu sitzen und seinen Geschichten zuzuhören. Aber als er schließlich den Blick hob und ich die Liebe und die Tränen in seinen Augen sah, war ich plötzlich wieder ein Kind. Ich warf mich in seine Arme. Er drückte mich genauso fest, wie Tessie es getan hatte.

„Ich werde dich schrecklich vermissen, Eli!“

„Ich Sie auch, kleine Missy … ich Sie auch.“ Als er mich schließlich losließ, wischte er meine Tränen mit seinem Daumen fort. „Denken Sie daran, all die Worte, die ich Ihnen gesagt habe, in Ihrem Herzen zu verstecken … hören Sie?“

Ich nickte und tippte mir auf die Brust, wie Grady es immer getan hatte. „Sie sind hier drin, Eli.“

„Und alles, was für Sie zu groß ist, können Sie einfach zu Massa Jesus bringen.“

„Das werde ich machen.“ Ich dachte an Elis schreckliches Geheimnis – das Geheimnis, das ihn töten könnte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um seine bärtige Wange zu küssen, und flüsterte: „Sei vorsichtig, Eli.“ Dann wandte ich mich ab, damit ich nicht sehen musste, wie er ging.