Martin Suter

Allmen und die
Dahlien

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2013

im Diogenes Verlag

 

 

Für Toni

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24301 7 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60337 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Erster Teil

1

Es war einer dieser Morgen, an denen er die Krawatte dreimal binden musste, bis die Längen stimmten.

Allmen hatte schlecht geschlafen. Er hatte sich von der langweiligen Eröffnungsfeier eines plüschigen Clubs abgesetzt und war mit ein paar anderen Abtrünnigen in der Goldenbar und anschließend im Blauen Heinrich hängengeblieben. Als er endlich im Bett lag, war er kurz nach dem Einschlafen durch eine nächtliche Skype-Konferenz von María Moreno mit Kolumbien wieder wach geworden.

Auch Carlos konferierte häufig mit seiner Familie in Guatemala, aber er tat dies immer diskret. Bei María dagegen klang es im hellhörigen Gärtnerhaus, als hätte sie das Zimmer voller kolumbianischer Partygäste.

Gleich nach dem erfolgreichen Abschluss des Falles »Rosa Diamant« wollte er María Moreno fest [6] anstellen. Es schien ihm nur logisch. Geld war jetzt vorhanden, Allmen liebte Personal, und Carlos liebte María Moreno.

Aber er hatte wieder einmal nicht mit dessen Knauserigkeit gerechnet. Auch jetzt, wo Carlos’ Bankguthaben das seines patrón bei weitem überstieg, drehte er jeden Rappen um. Er hatte sich geweigert, Allmens Angebot anzunehmen, ihn statt Teilzeit gegen Kost und Logis voll zu beschäftigen, und zwar mit einem guten Gehalt. Er zog es vor, halbtags als Gärtner und Hauswart bei K, C, L & D Treuhand weiterzuarbeiten, der Firma, die die Villa Schwarzacker gekauft und Allmen das Gärtnerhaus auf Lebzeiten überlassen hatte. »Nunca se sabe«, hatte er gesagt, man könne nie wissen. Allmen wusste sehr wohl, was gemeint war: Man könne nie wissen, wann Don John wieder pleite sein würde. Und wie sich bald herausstellte, war dieser Fall schon beinahe eingetroffen.

Auch die Festanstellung seiner María hatte er hintertrieben. Er riet ihr, weiterhin im Stundenlohn zu arbeiten und ihre übrige Kundschaft bei der Stange zu halten. Nunca se sabe.

Was ihre Wohnsituation anging, war Carlos weniger strikt. Der Einzug von María Moreno war in Etappen erfolgt. Zuerst waren es gelegentliche Damenbesuche bei Carlos, die Allmen als Mann von [7] Welt selbstverständlich tolerierte. Wenn auch ein wenig peinlich berührt, denn María Moreno war nicht nur bei ihren Videokonferenzen mit Kolumbien laut. Bald blieb sie das Wochenende über, was ihn nicht weiter störte, denn sie war ein erfreulicher Anblick. Auch als Carlos bei ihm vorsprach und auf seine umständliche Art erklärte, dass María vorübergehend ohne Wohnung sei, hatte er nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass sie eine Zeitlang bei ihnen im Gärtnerhaus Unterschlupf fand. Und als sie Carlos eines Abends plötzlich im schwarzen Kleid mit weißem Schürzchen beim Servieren assistierte, wusste Allmen, dass er den Moment zum Eingreifen verpasst hatte. Von nun an beherbergte er zwei illegale Einwanderer. Nicht nur »por mientras«, also provisorisch, wie Carlos sagte.

Allmen zog seinen doppelten Windsorknoten fest und warf einen letzten Blick in den Vergrößerungsspiegel. Der Alaunstift, mit dem er das Blut des Rasierschnitts über dem rechten Mundwinkel gestillt hatte, hatte eine weiße Spur hinterlassen, die er jetzt mit einem angefeuchteten Waschlappen vorsichtig entfernte.

Er schlüpfte in sein Jackett und betrat das kleine, übermöblierte Wohnzimmer. Vor einem der sechs Art-déco-Stühle des Esstischs war für eine Person gedeckt. Es roch nach Kaffee und Toast. Noch ehe [8] sich Allmen gesetzt hatte, kam María Moreno aus der Küche.

»Muy buenos días, Señor John.« María war eine unabhängige Frau und hatte sich von Carlos nicht dazu überreden lassen, Allmen mit dem altmodischen »Don John« anzureden.

»Muy buenos días, María«, antwortete er und setzte sich. Sie schenkte ihm Kaffee ein und ging zurück in die Küche, um sein Ei zuzubereiten.

María Moreno arbeitete nur an den Nachmittagen in anderen Privathaushalten. Vormittags stand sie im Gärtnerhaus für Haushaltsarbeiten und Einkäufe zur Verfügung. Das brachte ein paar entscheidende Verbesserungen von Allmens Lebensqualität mit sich. Zum Beispiel in der Frühstücksfrage.

Früher brachte ihm Carlos um sieben einen early morning tea ans Bett und ging dann seiner Tätigkeit nach. Allmen, der kein Frühaufsteher war, begab sich zwischen zehn und elf zu einem späten Frühstück ins Viennois. Das tat er zwar nach Möglichkeit noch immer, aber die Gründung von Allmen International Inquiries (»The Art of Tracing Art«) zwang ihn bisweilen zu einem etwas geregelteren Tagesablauf. Es kam vor, dass er auch vormittags Termine wahrnehmen musste und für das Frühstück auf María Morenos Hilfe angewiesen war. Nicht, dass er damit nicht allein zurechtgekommen [9] wäre, aber Selbstzubereitetes schmeckte Allmen nicht.

Heute war ein solcher Tag, an dem er fürs Viennois keine Zeit hatte. Er war bereits auf zehn Uhr fünfzehn zu einem Termin bestellt.

Am Vortag hatte eine Frau Talfeld angerufen und um einen Termin mit »Herrn von Allmen persönlich« gebeten. »Dringend«, hatte sie hinzugefügt, am liebsten gleich am nächsten Vormittag.

María Morenos Anwesenheit hatte einen weiteren Vorteil: Sie sprach neben Spanisch auch recht gut Deutsch und Englisch und war eine begabte Telefonistin und lernfähige Vorzimmerdame. Sie bat Frau Talfeld um Geduld, tat, als würde sie Allmens Agenda konsultieren und zu ihrer eigenen Überraschung auf eine Lücke am nächsten Morgen stoßen. Man verabredete sich auf zehn Uhr fünfzehn im Schlosshotel. Allmen solle an der Rezeption nach Frau Talfeld fragen.

María brachte ihm ein Spiegelei, denn es war Donnerstag. Allmen aß an jedem Morgen, an dem er zu Hause frühstückte, ein Ei, jedes Mal in einer anderen Zubereitung. Der Einfachheit halber hatte er den Wochentagen ihr Ei zugeteilt: dem Montag sein Rührei, dem Dienstag sein Ei im Glas, dem Mittwoch sein pochiertes Ei auf Toast, dem Donnerstag sein Spiegelei, dem Freitag sein weiches Ei, [10] dem Samstag sein Kräuteromelett und dem Sonntag seine huevos rancheros. Letztere waren zwei am Schluss kurz gewendete Spiegeleier mit einer pikanten Tomatensauce. Eine guatemaltekische Spezialität, in der es Carlos zur Meisterschaft gebracht hatte, weshalb Allmen sie dem Sonntag zugeteilt hatte.

 Allmen aß sein Ei und blätterte mit der Linken in der Zeitung. Nichts, was ihn auch nur im Geringsten interessierte. Auch das ein Zeichen dafür, dass es kein guter Tag war. Er schob Zeitung und Teller beiseite, schenkte sich Kaffee nach und sah über die dichtgedrängte Sitzgruppe hinweg durch das Fenster in den Park.

Es war ein stürmischer Apriltag. Der Wind streute die weißen Blütenblätter der Magnolien in den frischgemähten Rasen. Noch am Vortag war das Thermometer auf über zwanzig Grad gestiegen, und Allmen konnte zum ersten Mal einen der Anzüge ausführen, die er sich für diesen Sommer von seinem römischen Schneider hatte anfertigen lassen. Jetzt trug er schon wieder einen seiner englischen Kaschmiranzüge für die Übergangszeit.

Er hörte die Klingel und den kurzen Dialog durch die Gegensprechanlage von María Moreno mit Herrn Arnold, seinem Lieblingstaxifahrer mit dem achtundsiebziger Cadillac Fleetwood. Er hätte jetzt [11] aufstehen und seinen Mantel holen können, aber er zog es vor, die Form zu wahren und zu warten, bis María das Zimmer betrat und sagte: »Su carro, Señor John.« Ihr Wagen.

Allmen wischte sich den Mund, erhob sich vom Stuhl und knüpfte das Jackett zu. »Muchas gracias, María.«

»Buen provecho«, antwortete sie, folgte ihm in die kleine Diele und wartete, bis er seine Erscheinung ein letztes Mal im Garderobenspiegel überprüft hatte. Dann half sie ihm in den Mantel.

Am Gartenweg entlang wuchsen Primeln und Schlüsselblümchen. Er führte durch den nützlicheren Teil des parkähnlichen Gartens zum repräsentativen und an einem exakt geschnittenen Buchs zu der Stelle, wo der schmale Weg in den breiteren mündete, der die verzierte Eingangstür der Villa mit dem schmiedeeisernen Tor verband.

Vor dem Haus stand der gepflegte Fleetwood. Herr Arnold wartete neben der rechten hinteren Tür.

Als Allmen sich auf die weinrote Sitzbank sinken ließ, fühlte er sich etwas besser. Es roch nach Lederöl und Holzpolitur, und Herr Arnold fuhr schweigsam und umsichtig durch die Dreißigkilometerzonen des Villenviertels hinunter in die Stadt und am Seeufer entlang bis zum Schlosshotel.

[12] 2

Das Haus hatte einst zu den ersten der Stadt gehört, aber man hatte während all der Jahre nichts für die Anpassung an die Standards seiner Kategorie getan, so dass es seinen fünften Stern verloren hatte. Auf die Preispolitik hatte dieser Rückschlag keine Auswirkungen, das Schlosshotel blieb in der höchsten Preisklasse. Dadurch war es bald für Viersternegäste zu teuer und für Fünfsternegäste zu verstaubt. Und die alten, treuen Stammgäste starben dem Hotel langsam weg.

Ein doorman in taubengrauer Uniform öffnete die Tür. »Willkommen im Schlosshotel.«

Allmen steckte Herrn Arnold ein Trinkgeld zu und bat ihn zu warten.

Seit Carlos, der sich auch um die Buchhaltung von Allmen International kümmerte, ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, welche Summen durch diese Wartezeiten zusammenkamen, beglich Allmen dieses Detail seiner Lebensqualität lieber selbst.

Eine breite Marmortreppe wand sich um die Aufhängung eines Messingleuchters in die runde Eingangshalle hinunter. Rechts von der Drehtür befand sich das Pult des Concierge, ihm gegenüber das der Rezeption.

Zwei Rezeptionistinnen standen lächelnd hinter [13] dem Empfangstresen, beide gleich bereit, seine Frage zu beantworten. Allmen hasste diese Situation. Sie zwang ihn, sich gegen eine der beiden zu entscheiden. Weshalb konnten sich die Empfangsdamen dieser Welt nicht absprechen und jeweils deutlich signalisieren, wer in diesem Augenblick für den ankommenden Gast zuständig war?

Er entschied sich wie immer ritterlich für die weniger attraktive, nannte seinen Namen und fragte nach Frau Talfeld. Sie ging zum Telefon und wählte eine kurze Nummer.

Offenbar meldete sich sofort jemand, die Rezeptionistin sagte nur: »Herr von Allmen ist da«, und legte wieder auf.

»Sie möchten doch bitte in die Lobby gehen, Frau Talfeld wird gleich bei Ihnen sein.«

Die Lobby war ein großer behaglicher Raum mit Blick auf die Uferstraße. Die Gardinen und die Glasmalereien über den Fenstern ließen so wenig Tageslicht herein, dass bei den Sitzguppen, die nicht direkt an den Fenstern standen, die Tisch- und Ständerlampen brannten.

Allmen setzte sich in einen Polstersessel mit Blick auf den Eingang, schlug die Beine übereinander und wartete.

Es musste vor kurzem gelüftet worden sein, die abgestandene Luft war kühl. Am entferntesten Ende [14] der Lobby befand sich eine Bar. Ein älterer Barmann war dort in die undurchschaubaren Verrichtungen vertieft, mit denen sich unbeschäftigte Barkeeper beschäftigen. Er bewegte Flaschen von einem Ort zum anderen, polierte saubere Gläser und wischte über die makellose Oberfläche des Tresens. Er ließ sich Zeit, bis er mit einem Silbertablett an Allmens Tisch kam und ihm ein Schälchen mit Mandeln und eines mit Chips und zwei Glasuntersätze brachte. Sein Smoking war etwas abgetragen, aber die Ärmel hatten die richtige Länge, und der Kragen stand trotz des etwas runden Rückens seines Trägers nicht vom Nacken ab.

Allmen bestellte einen Milchkaffee und sah von weitem zu, wie der Barmann sich hinter dem Tresen an einer kleinen Espressomaschine zu schaffen machte. Es stand zu befürchten, dass er sie eben erst eingeschaltet hatte.

Eine große Frau erschien am Eingang zur Lobby. Sie sah sich kurz um und steuerte auf seinen Tisch zu. Allmen war leicht zu erkennen, er war der einzige Gast.

Er erhob sich. Frau Talfelds schwarzes Haar war zu einer altmodischen Frisur getürmt, mit der sie ihn ein Stück überragte. Sie war hart geschminkt – schwarze Augenbrauen, breiter Lidstrich, dunkelrote Lippen, helles Make-up – und mochte [15] etwas über fünfzig sein. Sie gab ihm ihre knochige, kräftige Hand und bat ihn, wieder Platz zu nehmen.

Allmen wartete, bis sie sich gesetzt hatte, nahm Platz und winkte den Barmann heran. Bis er ihren Tisch erreicht hatte, musterte sie ihn mit einem schmalen Lächeln und sagte: »Schön, dass Sie sich persönlich Zeit genommen haben.«

Der Barmann stellte den Milchkaffee vor Allmen hin. »Guten Morgen, Frau Talfeld. Was darf ich Ihnen bringen?«

»Nichts, danke, Bert. Wir bleiben nicht lange.«

Bert zog sich zurück.

Frau Talfeld schlug die Beine übereinander. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte sie und nahm ein Zigarettenetui aus Schildpattimitat aus ihrer großen Handtasche.

»Wenn es das Hotel nicht stört.« Allmen zog ein Feuerzeug aus der Tasche und gab ihr Feuer. Sie nahm einen Zug und bot ihm eine Zigarette an.

»Danke, ich rauche nicht.«

»Und wozu das Feuerzeug?«, wunderte sie sich.

»Zum Feuergeben.«

»Ach so.«

Von der Bar her erklang jetzt leise Pianomusik, Bert hatte die Anlage eingeschaltet. Frau Talfeld konzentrierte sich auf den Gesprächseinstieg.

[16] »Gibt es in Ihrer Branche so etwas wie ein Klientengeheimnis?«

»Selbstverständlich. Was Sie mir sagen, bleibt unter uns, und alle involvierten Mitarbeiter sind zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet.«

»Und das geben Sie uns schriftlich?«

»Der Punkt ist natürlich Vertragsbestandteil.«

»Haben Sie einen dabei?«

Allmen nahm seine dünne Schweinsledermappe, die am Boden neben ihm am Sessel lehnte, zog den dreiseitigen Mustervertrag heraus und reichte ihn ihr.

Sie zog eine schwarze Hornbrille aus der Handtasche und begann zu lesen.

Allmen nahm einen Schluck Kaffee und sah seine Befürchtung bestätigt: Er schmeckte nach Kaffeemaschine.

Frau Talfeld las konzentriert. Die senkrechten Falten zwischen den Brauen vertieften sich und die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln auch. Allmen studierte ihr strenges Gesicht und versuchte, es sich zwanzig Jahre jünger vorzustellen. Es geriet ihm etwas glatter, aber nicht viel entspannter.

Sie schien bemerkt zu haben, dass er sie beobachtete. Plötzlich hob sie den Blick und sah ihm in die Augen.

»Verzeihen Sie«, sah er sich gezwungen zu sagen.

[17] Sie richtete ihren Blick wieder auf den Vertrag. Allmen versuchte, in eine andere Richtung zu blicken.

Als sie geendet hatte, gab sie ihm das Papier zurück. »Der Vertrag bezieht sich auf eine Honorarvereinbarung. Haben Sie die auch dabei?«

Allmen reichte sie ihr. Sie überflog sie und händigte sie ihm wieder aus. »Ich nehme an, das liegt im Rahmen des Branchenüblichen.«

»An dessen oberer Grenze.«

Frau Talfeld steckte ihre Brille zurück ins Etui, lehnte sich zurück und musterte ihn. »Wie sind Sie zu Ihrem seltsamen Beruf gekommen, Herr von Allmen? Liebe zum Geld, Liebe zur Kunst oder Liebe zur Gerechtigkeit?«

»Zur Kunst, Frau Talfeld. Die anderen beiden bedeuten mir wenig.«

Sie lachte kurz auf, dann sah sie ihn wieder prüfend an. Plötzlich griff sie nach ihrer Handtasche und erhob sich. »Ich werde Sie jetzt jemandem vorstellen.«

Allmen stand auf und winkte dem Barmann.

»Das geht in Ordnung, kommen Sie.«

[18] 3

In dem antiken Fahrstuhl wechselten sich Spiegel ab mit Vitrinen, in denen ein Juwelier, eine Parfümerie und ein Optiker ausstellten. Frau Talfeld steckte einen Schlüssel in ein Schloss über dem Knopf zum dritten Stockwerk. Der Lift setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.

»Sagt Ihnen der Name Dalia Gutbauer etwas?«, fragte sie.

Der Name Gutbauer war Allmen natürlich ein Begriff. In seiner Kindheit stand er – mit einem stilisierten Sämann als Markenzeichen – auf jedem Kanaldeckel und Hydranten des Landes. Es war der Name eines Industrieunternehmens, das in den sechziger Jahren von dessen Hauptaktionär, Gustav Gutbauer, an einen multinationalen Maschinenkonzern verkauft worden war, welcher es aufgeteilt und sich einverleibt hatte. Gutbauer war kurz nach dem Verkauf gestorben, und das Erbe – es war die Rede von über einer halben Milliarde Schweizer Franken – ging an seine einzige Tochter, Dalia Gutbauer.

Diese hatte nach dem Krieg bis in die späten fünfziger Jahre ein aufsehenerregendes Gesellschaftsleben geführt und war von einem Tag auf den anderen aus den Klatschspalten und [19] Gesellschaftsnachrichten verschwunden. Ein wenig wurde noch über ihren Aufenthaltsort spekuliert – Chile, Kenia, Singapur –, aber bald richtete sich das Interesse wieder auf die Anwesenden, und der Name Dalia Gutbauer wäre vollends vergessen worden, wenn er nicht alljährlich in den obersten Rängen der Liste der hundert Reichsten des Landes aufgetaucht wäre. Mit einem Fragezeichen anstelle eines Fotos.

Und jetzt tauchte er in diesem ruckelnden Aufzug auf.

Allmen hatte sich schon als Junge für die High Society interessiert. Das mysteriöse Untertauchen der legendären Dalia hatte ihn fasziniert, auch wenn es vor seiner Geburt geschah. Dass jemand freiwillig auf ein Leben verzichtete, wie er es immer hatte führen wollen, war ihm schleierhaft gewesen.

»Wenn ich mich richtig erinnere, war sie die untergetauchte Gutbauer-Erbin.«

»Falsch.« Der Aufzug stoppte brüsk. »Sie ist es noch immer.«

Die Lifttür glitt auf, und sie betraten eine Halle. Ein älterer Herr in einem Stresemann erwartete sie und bat sie, ihm zu folgen.

Er führte sie in einen Salon, der Allmen, dem Art-déco-Sammler, die Sprache verschlug.

»Madame Gutbauer wird gleich bei Ihnen sein«, sagte der Mann, »was darf ich Ihnen bringen?«

[20] »Für mich einen Espresso, bitte, Monsieur Louis«, sagte Frau Talfeld. Und mit einem Lächeln zu Allmen gewandt: »Der Kaffee hier oben ist nicht zu vergleichen mit der Brühe unten in der Lobby.«

Allmen bestellte ein Perrier mit zwei Stück Eis und einem Schnitz Zitrone.

»Hat sie all die Jahre hier gelebt?«, fragte Allmen, während sie warteten.

Außer einem geheimnisvollen Lächeln erhielt er keine Antwort. Beide schwiegen, bis Monsieur Louis mit den Getränken zurückkam. Er schenkte Allmen ein und zog sich zurück.

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Frau Talfeld sprang auf. Allmen erhob sich und knöpfte das Jackett zu.

Dalia Gutbauer betrat den Raum. Sie war eine sehr kleine Frau und stützte sich auf ein Gehgestell, das wohl eigens für ihre Körpergröße angefertigt worden war. Sie hob es bei jedem Schritt ruckartig an und ließ es geräuschvoll wieder fallen. Dicht hinter ihr folgte konzentriert eine weißgekleidete Pflegerin, die Hände etwas vorgestreckt, um ihren Schützling jederzeit auffangen zu können.

Die alte Frau beachtete Allmen erst, als die Pflegerin und Frau Talfeld ihr behutsam in den Polstersessel geholfen hatten. Als sie saß, sagte sie mit einer für eine so zerbrechliche alte Dame [21] überraschend tiefen Stimme: »Sie haben wieder geraucht, Cheryl.«

»Ihr Näschen möchte ich haben, Frau Gutbauer«, antwortete Frau Talfeld in scherzhaftem Ton.

»Da braucht es keinen besonderen Geruchssinn. Sie stinken gegen den Wind.« Jetzt sah sie zu Allmen empor. »So setzen Sie sich doch, ich habe einen steifen Nacken.«

Allmen gehorchte, und sie musterten sich gegenseitig.

Dalia Gutbauer hatte einen dichten Wusch weißer Haare, der so frisiert war, dass er einen großen Teil des zerknitterten Gesichts verbarg. Sie trug eine geschwungene diamantenbesetzte Brille, die ihre tiefblauen Augen etwas vergrößerte. Die faltigen Lippen waren im Scharlachrot ihrer Nägel geschminkt. Sie sahen aus wie frisch aus dem Nagelstudio und bildeten einen scharfen Kontrast zu den gekrümmten, fleckigen Händen. Sie trug ein Chanel-Kostüm aus hellgrauem Tweed mit schwarzer Bordüre und eine schwarze Seidenbluse mit Schlingkragen.

»Sind Sie ein ehrlicher Mann?«, fragte sie.

»Nach Möglichkeit.«

»Kommt es oft vor, dass es nicht möglich ist?«

»Doch, schon. Berufsbedingt.«

Sie nickte verständnisvoll. »Aber wenn auch nicht immer ehrlich, so doch stets gesetzestreu?«

[22] Allmens Intuition, auf die er ein wenig stolz war, gab ihm die folgende Antwort ein: »Stets. Es sei denn, es würde unserer Klientel zum Nachteil gereichen.«

Dalia Gutbauer wechselte einen Blick mit Frau Talfeld und wandte sich an die Pflegerin: »Ich rufe Sie dann, Schwester.«

Die Pflegerin verließ den Raum.

Frau Gutbauer richtete sich wieder an Allmen. Es schien ihm, als habe er die Prüfung bestanden. »Sagt Ihnen der Name Henri Fantin-Latour etwas?«

Allmen kannte ihn. Es war ein Maler, der mitten im Impressionismus realistische Blumenbilder und Porträts gemalt hatte, die heute auf dem Kunstmarkt hohe Preise erzielten. Vor allem die Blumenbilder waren zauberhaft. Wenn auch nicht ganz nach seinem Geschmack. Er nickte.

»Es handelt sich um ein Werk von ihm. Bitte, Cheryl.«

Frau Talfeld zog ein Mäppchen aus der Handtasche, entnahm diesem ein Foto und reichte es Allmen.

Es zeigte einen Strauß Dahlien in verschiedenen Rot- und Weißtönen in einer schlichten, weißen, taillierten Vase. Warmes Licht fiel auf ein paar davon, andere lagen im Schatten, dahinter waren im geheimnisvollen Dunkel weitere Blüten zu erahnen.

[23] Das Bild kam Allmen bekannt vor. »Könnte es sein, dass ich es kenne?«

»Fantin-Latour hat viele Dahlien gemalt«, antwortete Dalia Gutbauer. »Aber das sind seine schönsten.«

Jetzt erst fiel Allmen das Detail mit dem Namen auf. Dalia, Dahlien. Er zog ein ledergebundenes Notizbuch mit Goldschnitt und den goldenen Initialen J. F. v. A. aus dem Jackett – er eröffnete für jeden Fall ein neues – und schrieb den Titel »Dahlien« hinein. »Und seit wann vermissen Sie das Bild?«

»Vermissen? Wie könnte ich es vermissen! Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, dass es weg ist. Es begleitet mich seit sechzig Jahren. Verstehen Sie?«

Allmen verstand. Er wandte sich an Frau Talfeld. »Seit wann ist das Bild verschwunden?«

Sie sah ihre Chefin an. Die hob die Schultern. »Erst gestern haben wir entdeckt, dass es fehlt. Es befand sich in einem Raum, der nicht täglich betreten wird.«

»Darf ich ihn sehen?«

Wieder konsultierte Frau Talfeld ihre Chefin mit einem Blick. Diese nickte. »Ich warte hier.«

Das Schlafzimmer, in das Allmen geführt wurde, war mit ausgesuchten Stücken aus dem amerikanischen Art déco eingerichtet. Allmen erkannte viele [24] seiner Lieblinge wieder: Donald Deskey in dem Schlafzimmerset aus tropischem Furnier, schwarzem Lack und Messing; Kem Weber in den stromlinienförmigen Sesseln aus Leder und Chrom; Wolfgang Hoffmann in dem fast schwerelosen Schminktischchen aus spiegelndem Lack und schmalen Nickelbändern.

An den Wänden hingen vier Porträts derselben Frau. Eines sah nach Allmens Gefühl nach Niklaus Stoecklin aus. Eines hätte von Rudolf Schlichter stammen können, eines war unverkennbar ein Meredith Frampton, das vierte konnte er niemandem zuordnen.

»War sie nicht eine Schönheit?«