Herausgegeben von
Ulrich Raulff & Stephan Schlak
ZUM THEMA
Ulrich Raulff, Stephan Schlak: Zum Thema
DROGE THEORIE
Jan Bürger: Die Stunde der Theorie
Ulrich Raulff: Foucaults Versuchung
Matthias Kroß: Bachmanns Wittgenstein
Liliane Weissberg: Gershom Scholem stellt sich vor
Morten Paul: Vor der Theorie.
Jacob Taubes als Verlagsberater
Philipp Felsch: Der Leser als Partisan
Moritz Neuffer: Das Ende der «Alternative»
ESSAY
Roger Chartier: Das Phantom Cardenio
DENKBILD
Jost Philipp Klenner: Suhrkamps Ikonoklasmus
ARCHIV
Ernst-Peter Wieckenberg/Barbara Picht: «Elemente der Bildung».
Ein unveröffentlichtes Buch von Ernst Robert Curtius
KONZEPT & KRITIK
Alexandra Kemmerer: Der Zweck im Völkerrecht
Tim B. Müller: Schweden als Lebensform
Nicolas Berg: Auslöschung und Geisterinseln.
David Kettler verteidigt das intellektuelle Exil
Thomas Thiemeyer: Ästhetik des Schreckens.
Das neue Militärhistorische Museum in Dresden
Die Autorinnen und Autoren
Im nächsten Heft: Namen! Mit Beiträgen von Andreas Kilcher, Alexander Košenina, Ulrich Raulff und einem Gespräch mit Bruno Latour.
Dieser Stoff kickte – auch wenn er aus sperrigem Vokabular zusammengebraut war. In den Sechzigerjahren stieg die Zahl der Abhängigen rasend schnell. Erst zirkulierte der Stoff in kleinen autonomen Gruppen, später wurde er in großen Mengen vornehmlich an den Universitäten feilgeboten. Extravenös wurde er eingenommen – durch reine Begriffsarbeit, durch die Exerzitien der Lektüre. Der Wirkung tat das keinen Abbruch. Die Droge hieß Theorie. Von ihr ging ein betörender Sirenengesang aus. Es war gerade der heruntergedimmte, asketische Sound, der einen Rausch entfaltete. Zwar schimmerte durch das aus dem Griechischen stammende Wort «theoria» schon immer die göttliche Signatur (theos). Aber erst in der Nachkriegszeit hat der Begriff seine alte unschuldige «Anschauung» verloren. Theorie war die Prämie, die höhere Erkenntnis versprach. Die Heilsvokabel in den Geisteswissenschaften.
Dabei wirkten die abstrakten Theoriegebilde mit ihren formalen Modulen (‹Diskurs›, ‹Dispositiv›, ‹Struktur›, ‹Medien›) erst einmal wie eine Ausnüchterungsmaschine. Sie standen quer zum intuitiv Erlebten, waren frei von expressiven Energien. Es war das Einüben einer neuen, kalten Sprache, die das Verfahren der Argumentation der Sache selbst vorzog. Das Genre für eine statisch empfundene Zeit, in der die Geschichte zum Stillstand gekommen schien. Was der Begriffstheoretiker Reinhart Koselleck für die soziale Semantik seit der Aufklärung insgesamt nachzeichnete, könnte man im Kleinen auch an dem akademischen Grundbegriff «Theorie» zeigen: wie er seit den Sechzigerjahren demokratisiert und ideologisiert wurde. Bis man sich bei jeder Doktorarbeit in den Sozialwissenschaften zuerst durch den Hirsebrei des Methodenkapitels fressen musste. Wie Theorie zu einem modernen, umkämpften Parteibegriff wurde, mit allen Monopolisierungen und Diskriminierungen – «Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie» (Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1971) –, die die Karriere eines solchen Begriffes mit sich bringt.
Heute hat der Begriff der Theorie längst seine Abendröte hinter sich. Die Zeiten, in denen Theorie die härteste Währung in den Geisteswissenschaften war, sind vorbei. Auch wenn Einzelne noch an der Nadel hängen, scheint die Theoriebedürftigkeit der Nachkriegsjahre selbst in den Zustand der Historisierung übergegangen zu sein. Was theoriesicher lange Jahre als naive Zugänge zur Wirklichkeit verspottet wurde, infiltriert heute wieder die Sachbücher – das Tagebuch, die Autobiographie, überhaupt die bunte, stimmungsvolle Welt der Narrationen. So sehr man es begrüßen kann, dass Theorie ihren alten Einschüchterungsgestus verloren hat, so bleibt auch ein wehmütiger Blick zurück. An Theorie als eine Schule des Denkens, an Texte, die Intensität verströmten und existentiell gelesen wurden. Was ist geblieben vom coolen Gestus der Weltbemächtigung im schwarzblauen Anzug? Was war Theorie?
Seit 2009 wird das Archiv des Suhrkamp Verlages im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbereitet. Das Haus in der Lindenstraße in Frankfurt war lange Jahre die erste Theorieadresse des Landes. Kein Verlag hat die Theorieemphase so befeuert wie Suhrkamp mit seinen legendären Theorie-Reihen und seit 1973 mit den stw-Taschenbüchern. Und so stehen am Anfang dieser Ausgabe über Aufstieg und Fall einer mächtigen Vokabel auch Fundstücke aus dem Archiv dieses Verlages.
Ulrich Raulff
Stephan Schlak
Der 6. Mai 1973 war ein folgenreicher Sonntag für die Geschichte der Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik: An diesem Tag bat Siegfried Unseld zu Buchhändlergesprächen über sein jüngstes Vorhaben. Die Agenda des Verlegers war in dieser Woche außerordentlich dicht – auch für einen Workaholic, der er nach heutigen Maßstäben sicher war: Am Freitag nahm er im Berliner Ensemble an der Trauerfeier für Elisabeth Hauptmann teil, der engen Freundin, Mitarbeiterin und Herausgeberin Brechts. Von Ost-Berlin ging es zurück nach Düsseldorf, wo der Designer Willy Fleckhaus am Samstag zu einem Empfang eingeladen hatte. Von ihm stammten die Gestaltungsentwürfe für Unselds Buchreihen, auch für die suhrkamp taschenbücher wissenschaft, kurz stw, das neue Produkt der Suhrkamp-Palette, um das es dann einen Tag später mit den Buchhändlern gehen sollte, eben an jenem 6. Mai, vormittags in Frankfurt und nachmittags in Königstein im Taunus. (Abb. 1)
Die Originalität der Reihe, die lange Zeit aus dem geisteswissenschaftlichen Studium kaum noch wegzudenken war, bestand in der Idee, anspruchsvolle wissenschaftliche Texte in einer für jeden Studenten erschwinglichen Form zu vertreiben. Der Titel des ersten Bandes, den Jürgen Habermas beisteuerte, sollte dabei durchaus programmatisch verstanden werden: Erkenntnis und Interesse. Ein Werbeprospekt klärte zukünftige Kunden darüber auf, dass Habermas mit seiner Untersuchung «die Idee der Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie entwickeln und helfen möchte, ‹die vergessene Erfahrung der Reflexion zurückzubringen›».[1]
Reflexion als Erfahrung – mit solchen Formeln konnte man wohl nur in den siebziger Jahren großes Aufsehen erregen, in einer Zeit, in der das schwer Verständliche und Verstiegene geradezu als erotisch galt. Die ‹Generation stw› suchte weniger nach einer Theorie des Pop, vielmehr wurde Theorie selbst als Pop rezipiert: je anspruchsvoller, desto besser! Zwar spürte der Geschäftsmann Unseld diesen Trend, die einhellige Zustimmung überraschte ihn dann aber offenbar doch, als er in Königstein mit 25 Buchhändlern in «Klausur» ging. «Das war eine runde Unternehmung, die nicht ohne Folge bleiben wird», hielt er in seiner Chronik fest. «Erstaunlich die Bereitschaft, die dem Suhrkamp Verlag entgegengebracht wird.»[2]
Erkenntnis und Interesse – Jürgen Habermas lieferte das Motto. Nach eigenem Bekunden wollte der Verlag mit den neuen Taschenbüchern wissenschaftliche Orientierung bieten: «Standardwerke unserer Zeit von Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Rudolf Bilz, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Siegfried Kracauer, Niklas Luhmann, Jean Piaget, Gershom Scholem, Ludwig Wittgenstein und anderen bilden den Kern eines ersten Programms.»[3] Das Prädikat Klassiker blieb vorerst Hegel vorbehalten und wurde ansonsten mit guten Gründen vermieden. Mit Klassikern konnte man unter jungen Akademikern in den siebziger Jahren nicht punkten, und Kanonisierungen jeglicher Couleur wirkten abschreckend.
Vielleicht war dieser Aspekt noch wichtiger für den dauerhaften Erfolg der stw als Fleckhaus’ zeitloses Design und der günstige Verkaufspreis: Während Lektürelisten nach und nach aus den Seminaren verbannt wurden, nahm der Suhrkamp Verlag akademische Neulinge als Kunden an die Hand und einigte sich mit ihnen auf das Programm der stw. Sie dienten nun fast im antiken Sinne als Kanôn – in der altgriechischen Musik war der harmonische Kanon ein Gerät, mit dessen Hilfe die Tonintervalle nach der Saitenlänge bestimmt wurden.[4] Ähnlich sollte das geisteswissenschaftliche Studium mindestens ein Vierteljahrhundert lang auf die stw-Reihe gestimmt bleiben. Die signalgelben Reclamhefte blieben als Arbeitsinstrument erfolgreich, die dunklen stw-Bücher hingegen waren Maßstab und Muss. Sie schaffte man sich aus Überzeugung an, aus Interesse.
Für den Verlag erwiesen sie sich so als schwarzblaues Gold. Die «Folge», die Unseld in seiner Chronik erhoffte, bestand zum Beispiel darin, dass die seinerzeit marktführende Berliner Buchhandlung Kiepert an der Freien und an der Technischen Universität 10.000 stw-Prospekte verteilte und Assistenten und Professoren persönlich auf die neuen Bücher aufmerksam machte. (Abb. 2) Der erste offizielle Verkaufstag war der 11. Mai. Schon nach einer Woche übertraf der Erfolg, wie die Buchhandlung in einem Brief an Unseld vom 18. Mai 1973 versicherte, alle Erwartungen, auch ohne Werbung.
Ein Coup war geglückt. Auf einmal lernte die Theorie, bislang das verlegerische Sorgenkind, laufen und wurde lukrativ, allerdings nur im Taschenbuch. Die unter dem Schlagwort Theorie firmierende ältere Buchreihe, die von Habermas, Jacob Taubes und Dieter Henrich herausgegeben wurde, bereitete dem Verlag weiterhin Probleme. Auch das hing mit dem verpönten Kanonischen zusammen, das durch die stw-Reihe unter der Hand reanimiert worden war. Besonders deutlich wurde das bei einer gründlich vorbereiteten Strategiesitzung der Theorie-Herausgeber am 1. Juli 1974, die Unseld in seiner Chronik ausführlich dokumentierte. Das Treffen fand abends in Unselds Frankfurter Villa in der Klettenbergstraße statt, und neben Habermas, Henrich und Taubes war auch der Lektor Günther Busch anwesend.
Ausgangspunkt der Debatte war die Frage, wie «sich der Suhrkamp Verlag angesichts einer Änderung im öffentlichen intellektuellen Haushalt» verhalten sollte. «Die Änderung ist so zu beschreiben, daß diejenigen, die durch die antiautoritäre Bewegung hindurchgegangen sind, sich weigern, antiautoritäre Theorien autoritär von oben herab verabfolgt zu bekommen. Das heißt: auf dem ganzen Buchmarkt ist ein drastisches Nachlassen der Nachfrage nach politischer und soziologischer Theorie zu verspüren.»[5] Als Waren gerieten die Suhrkamp-Bücher also in Konflikt mit ihren Inhalten, mit den Lehren ihrer Autoren. Auf bizarre Weise lief die vielbeschworene Suhrkamp-Kultur Gefahr, dem eigenen Erfolg zum Opfer zu fallen.
Habermas erklärte sich das folgendermaßen: «[…] der Suhrkamp Verlag hat ein Aufklärungsprogramm gemacht. Dieses basierte auf einer Erfahrung des Faschismus, seine moralische Glaubwürdigkeit war das Engagement und die These, gegen den Faschismus wirken zu wollen. In der universitären Bewegung wurden nun System-Alternativen artikuliert: ein Verlag muß eine Art Konkordanz mit intellektuellen Strömungen bringen.» Bis 1968 sei das Profil des Suhrkamp Verlags klar erkennbar gewesen: «Die Aufklärungsproblematik war vorhanden; sowohl im philosophischen wie im literaturkritischen Bereich war eine Wendung gegen den Positivismus zu beobachten: Danach wurde diese Haltung einfach überrollt.»
Was Habermas nicht offen aussprach, war die Beobachtung, dass es sich bei den Orientierungsschwierigkeiten, die der Verlag bei der Gründung der stw-Reihe für die studentische Zielgruppe diagnostizierte, sechs Jahre nach 68 nicht mehr um ein Anfängerproblem handelte, sondern um ein generelles. Mit Hilfe von Taschenbüchern konnte man in dieser Situation zwar Geschäfte machen, aber ein tragfähiges inhaltliches Programm war damit noch lange nicht formuliert. Die Zeit der großen Schulen war vorbei, und auch im Suhrkamp-Kosmos diversifizierten sich die theoretischen Deutungsangebote. Auffällig war, dass neben dem linken Mainstream an den Universitäten wieder gegenläufige Tendenzen spürbar wurden. Hierzu Habermas: «[…] die Studentenbewegung hat sich festgefahren, die Jusos sind erledigt. Auf Verlagsebene bedeutet das neue Reaktionsphänomene. […] Von der Zeitgeschichte her hat der Suhrkamp Verlag eine privilegierte Position, eine zeitgeschichtliche Rolle. Doch es ist ein back lash zu beobachten. Der Suhrkamp Verlag 1974 ist nicht mehr so in Einklang mit einem einzigen politischen Impuls, so wie es 1966 bis 1970 war.»
In dieser Zeit schien das Suhrkamp-Programm kurz davor, selbst historisch zu werden. «Was tun», fragte der Verleger angesichts des Umstands, dass «die kritische Theorie, so wie sie tradiert ist, nicht mehr lehrbar und nicht mehr anwendbar» sei?
Habermas fiel dazu nichts Besseres ein als eine «Überwinterungsstrategie». Er wollte die Theorie-Reihe auf die politische Soziologie reduzieren, also auf seine eigene theoretische Lebenswelt eichen. Jacob Taubes hielt dagegen und ging mit quasi vitalistischen Argumenten in die Offensive: «[…] im Suhrkamp Verlag fehlt das Existenzielle, nicht der Existenzialismus, ihm fehlt das Religiös-Anthropologische, das Subversive des anthropologischen Denkens».
Darauf reagierte Habermas wiederum mit strategischen Vorschlägen, die eher auf die Sicherung von wirtschaftlichen und wissenschaftspolitischen Positionen abzielten als auf neue Forschungsgebiete und Programmbereiche. Unseld hielt sie stichwortartig fest:
«1. Integration des konservativen Erbes in der Linken.
2. Differenzierung der bisherigen linken Position
a) Anspruchsniveau
b) Wir haben ein zu enges politisches Spektrum
c) Wir haben uns zu sehr um Schüler und Studenten bemüht. Was aber machen die 26–45 Jährigen?
d) Die Frage des Interdisziplinären; andere Disziplinen müssen in die Frage einbezogen werden.»
Rückblickend irritiert Habermas’ unerschütterliche Selbstsicherheit angesichts der begründeten Furcht, ins intellektuelle Abseits zu driften. Die eigenen Positionen scheint der Theorie-Herausgeber keinen Moment lang in Frage gestellt zu haben. Die so grundlegende «Erfahrung der Reflexion», die mit der stw-Reihe gefördert werden sollte, setzte die permanente Selbstreflexion ihrer programmatischen Köpfe offenbar nicht unbedingt voraus. Die Theorie-Reihe entwickelte sich mehr und mehr zum Auslaufmodell, auch wenn Unseld sie noch ein Jahrzehnt lang alimentierte; Mitte der achtziger Jahre wurde sie endgültig eingestellt. Die stw hingegen öffneten sich für Autoren, die sich deutlich von der Kritischen Theorie absetzten. Mit der Konjunktur des Poststrukturalismus und der Systemtheorie bekam sie neuen Aufwind. Die akademischen Stars der achtziger Jahre kamen vor allem aus Frankreich.
Bildnachweis: Abb. 1 und 2: Chris Korner/Siegfried Unseld Archiv/DLA Marbach
1 Werbeprospekt für die suhrkamp taschenbücher Wissenschaft, Mai 1973, ohne Seitenzahl, DLA.
2 Siegfried Unseld: Chronik für das Jahr 1973, Einträge vom 6. und 7. Mai, unveröffentlicht, DLA.
3 Werbeprospekt für die suhrkamp taschenbücher Wissenschaft, Mai 1973, ohne Seitenzahl, DLA.
4 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 21997, besonders S. 103–129.
5 Alle folgenden Zitate aus Siegfried Unseld: Chronik für das Jahr 1974, Eintrag vom 1. Juli, unveröffentlicht, DLA.
Michel Foucault an Anneliese Botond
3. Januar 1966
Chère Madame,
mir scheint, es wäre die beste Lösung, die Versuchung zu illustrieren, nicht mit den Lithos von Redon – wie das bereits geschehen ist –, sondern mit den Stichen, derer Flaubert sich selbst bedient hat, um seinen Text zu schreiben.
Tatsächlich wissen wir aus seiner Korrespondenz, dass er sich von einem Gemälde des jüngeren Breughel und einem Stich Callots hat inspirieren lassen. Überdies hat man unter seinen nachgelassenen Papieren die Liste der Bücher gefunden, die er sich für seine Dokumentation aus den Bibliotheken ausgeliehen hatte. Mir ist aufgefallen, dass mehrere dieser Bücher illustriert waren und dass bestimmte Passagen – wenigstens fünfzehn, vielleicht auch um die zwanzig – in Flauberts Text nur die genauen Beschreibungen dieser Illustrationen sind. Ich denke, es wäre interessant, diese Stiche gegenüber den Texten abzudrucken, die darauf antworten: auf einen Blick sähe der Leser, wie Flaubert ein dokumentarisches Bild in eine Vision verwandelt hat. Diese Arbeit ist in Frankreich noch nie getan worden.
Finanziell gesehen würde eine solche Ausgabe Mehrkosten bei den Ablichtungen und ihrem Abdruck bringen sowie natürlich eine gewisse Erweiterung des Bandes. Ich könnte mir vorstellen, dass sich ein französischer Verleger für das Unternehmen interessiert und sich im Hinblick auf eine Veröffentlichung in Frankreich entweder an den Kosten für die Ablichtungen beteiligt oder anschließend die Rechte daran erwirbt.
Bleibt die Frage nach dem Zeitbedarf: Ich rechne damit, dass ich Ihnen meinen Einleitungstext in ein oder zwei Wochen senden werde. Sehr viel mehr Mühe bereiten mir natürlich die Illustrationen: man muss dieselben Bücher konsultieren wie Flaubert, aber auch die Bände, auf die in jenen ersten Werken hingewiesen wird … Ich werde sicherlich noch vierzehn Tage lang von früh bis spät auf die Bibliothèque Nationale gehen müssen. Hinzu kommt der Zeitverzug durch die Ablichtung: also gut ein Monat.
Ich hoffe, dass sich der Verleger von diesen Schwierigkeiten nicht abschrecken lässt. Mit dem Ausdruck meiner Hochachtung
Michel Foucault
… Ich habe soeben den Band erhalten, den Sie mir freundlicher Weise zusenden ließen und danke Ihnen vielmals.
***
Zwischen Januar 1966 und März 1967 entspinnt sich ein kurzer Briefwechsel zwischen Michel Foucault und der Insel-Lektorin Anneliese Botond.[1] Er dreht sich im Wesentlichen um die deutsche Edition von Flauberts Versuchung des heiligen Antonius. Genauer gesagt geht es um das Nachwort, das Foucault dazu beisteuert – ein Originalbeitrag, der in der Insel-Ausgabe der «Versuchung» im Sommer 1966 erstmals erscheinen wird. Für Foucault, der damals noch in Clermont-Ferrand unterrichtet, ist es die Zeit des beginnenden Ruhms. Seit dem Erscheinen von Folie et déraison im Jahr 1961 und Naissance de la clinique zwei Jahre später gehört er zum kleinen Kreis der vier oder fünf Apostel des Strukturalismus. Les mots et les choses, das im April 1966 herauskommt, wird ihn mit einem Schlag zum Starautor machen. Von Louis Althusser bis Claude Lévi-Strauss arbeiten sie alle auf verschiedenen Feldern. Bei Foucault ist es die Geschichte der Wissenschaften, daneben glänzt er mit Aufsätzen zur Literatur und zur Malerei. Auch in seinen großen Büchern erteilt er gelegentlich dem Bild das Wort, so namentlich in Les mots et les choses (1967), an dessen Beginn die berühmte Analyse der Meniñas von Velazquez steht.
Zu dem Zeitpunkt, als der Briefwechsel zwischen Foucault und Botond einsetzt, im Januar 1966, liegt der Plan für die Flaubert-Edition im Insel Verlag in großen Zügen fest. Die Übersetzung des Flaubertschen Texts kommt von Robert und Barbara Picht[2], das Nachwort wird auf Wunsch des deutschen Verlages Michel Foucault liefern. Am 3. Januar 1966 wendet sich dieser an seine deutsche Lektorin und macht ihr einen Vorschlag für eine Bebilderung des Bandes, die zunächst gar nicht vorgesehen war. (Abb. 1 und 2) Damit enthüllt der Autor zugleich die Hauptachse seiner Deutung: Die «Versuchung» ist keineswegs das Produkt einer ausschweifenden Phantasie, sie ist ein Phantasma der Bibliothek: Flaubert hat keine grotesken Figuren und Szenen erdacht; er hat sie anhand von Bildern beschrieben. Dem Text der dramatischen Erzählung liegen Zeichnungen und Stiche zugrunde, die gelehrte Werke der Religions- und Mythenforschung des frühen 19. Jahrhunderts illustrierten. Die meisten von ihnen stammen aus dem berühmten, auch ins Französische übersetzten Werk des deutschen Altphilologen Georg Friedrich Creuzer Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen von 1812.
Auf diesen Nachweis dezidierter Sekundarität Flauberts – der Künstler hat keineswegs aus dem Nichts geschaffen, sondern sich aus der Bibliothek bedient – wird Foucault seine Schätzung des Autors der «Versuchung» gründen. Flauberts Modernität beruht darauf, dass er seiner Erfindung nicht nur die Tradition der Belletristik, sondern den gesamten Raum des bereits Geschriebenen und Gedruckten – die deutsche Übersetzung spricht von «Schrifttum» – zugrunde legt. Flaubert ist gerade darin originell, dass er auf Originalität verzichtet, dass er, wie die Helden seines letzten Romans, als Kopist auf die Welt der geprägten Formen, die Texte, Zeichen, Bilder, zugreift: «Flaubert hat mit der ‹Versuchung› zweifellos das erste literarische Werk geschrieben, das seinen Ort einzig und allein im Umkreis der Bücher hat: nach ihm wird Mallarmés BUCH möglich, Roussel, Kafka, Pound, Borges.»[3]
Indem Foucault das Schicksal der «Versuchung» innerhalb des Flaubertschen Werks verfolgt, kann er zeigen, dass diese Welt eines grotesken, monströsen Götterhimmels gleichsam das Negativ der anderen Flaubertschen Werke und ihrer immer stärker beherrschten, ausgeglühten Sprache darstellt. So als habe Flauberts Helligkeit, an der sich Generationen von späteren Romanciers und Historikern schulen sollten, dieses dunklen Hintergrunds der huschenden Schimären und der Albträume bedurft: «Das ganze Werk Flauberts ist die Brandstätte dieser ersten ‹Rede›: ihre kostbare Asche, ihre schwarze, harte Kohle.»[4]
In dem Brief an seine Lektorin spricht Foucault von 15 bis 20 Stichen, nach denen der Autor der «Versuchung» geschrieben habe, und schlägt vor, sie sehr sichtbar zu platzieren: Man soll sie en face, also gegenüber den Stellen, die auf sie Bezug nehmen, in den Flaubertschen Text einrücken. So könne der Leser unmittelbar verfolgen, wie Flaubert eine gelehrte Illustration in eine literarische Vision übersetzte – eine Morgengabe an den deutschen Leser: «Diese Arbeit ist in Frankreich noch nie getan worden.» Die Botond ist sogleich überzeugt und kann eine Woche später melden, dass auch der Verleger gewonnen sei. (Abb. 3)
Da die Herstellung der Aufnahmen mit Hilfe der Bibliothèque Nationale zeitraubend zu werden droht, macht Foucault praktische Vorschläge und nimmt schließlich die Bildbeschaffung ganz in die Hand. Am 18. März schickt er die ersten 18 Abzüge; vier weitere, darunter der Stich von Callot, folgen wenige Tage später. Unterdes hat die Botond, die auf die Schnelle keinen guten Übersetzer fand, sich selbst an die Übersetzung gemacht; Foucault, des Deutschen mächtig, lobt deren Qualität als «remarquable» und findet nichts zu beanstanden. Am 20. Juni 1966 gehen die ersten druckfrischen Exemplare der «Versuchung» an den Verfasser des Nachworts ab. Anders als die Lektorin es wünschte, ist Foucaults Text ohne eigenen Titel geblieben.[5]
Schwerer wiegt ein anderes Defizit. Es betrifft die Bilder. Von den insgesamt 22 Abzügen, die Foucault nach Frankfurt gesandt hat, gelangen nur 20 zum Abdruck (obwohl Botond in ihrem Brief vom 20. Juni nur den Wegfall eines Stiches beklagt), und die Bilder sind nicht, wie von Foucault vorgesehen, in den Text eingeschaltet, sondern ihm einigermaßen lustlos nachgestellt. Dem Verlag, das liegt auf der Hand, ist die von Foucault entdeckte Textgenese aus den Tiefen der gelehrten Ikonographie fremd geblieben.
Der Autor kann sich freilich über diese Gleichgültigkeit nicht beklagen. Dafür schenkt er seiner Entdeckung selbst zu wenig Aufmerksamkeit. Weder interessieren ihn Stil und Form der Stiche noch ihre Provenienz aus dem Geist romantischer Religions- und Mythenforschung oder gar ihre ältere Überlieferungsgeschichte. Einzig der Wiederholungsstruktur am Grund der Literatur gilt seine Beweisabsicht; von ihr aus entwickelt er, was man einen der frühesten und prägnantesten Texte zur Poetik des Poststrukturalismus nennen muss. Für die Bilder ist in dieser Poetik kein Platz. Foucault bemerkt sie, aber er kann sie nicht lesen, es sei denn als Text. Über eine eigene episteme der Bilder verfügt er nicht. Einen Augenblick lang hat er das Fenster geöffnet, durch das die Wildheit der Bilder und das Leben der Götter im Exil sichtbar wurden: eine andere, nicht-klassizistische Antikerezeption. Eine Sekunde lang stand sein Text offen für die Fragen von Heinrich Heine und Aby Warburg. Dann hat er ihn wieder geschlossen. Im Raum der Theorie rauschen die Diskurse: Eintritt für Bilder verboten.
Bildnachweis: Abb. 1, 2, 3: Chris Korner/Siegfried Unseld Archiv/DLA Marbach
1 Der Briefwechsel umfasst sechs Briefe von Foucault an Botond und acht von dieser an jenen sowie einen Aktenvermerk vom 27.1.1966 über die Zahlung von 300.– DM an Foucault als Honorar für sein Nachwort.
2 Der Soziologe und Romanist Robert Picht (1937–2008) war der älteste Sohn des Philosophen und ehemaligen Schulleiters des Landschulheims Birklehof, Georg Picht, die Romanistin Barbara Picht seine Frau.
3 Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius. Mit zwanzig Bild-Dokumenten. Nachwort von Michel Foucault, Frankfurt/M. 1966, S. 224.
4 Ebda., S. 218.
5 Foucault hatte in seinem Brief vom 18. März zwei Vorschläge gemacht: «La tentation des livres» oder «La tentation par les livres», aber der Verlag beließ es beim schlichten «Nachwort». Erst bei seinem zweiten Erscheinen im deutschen Sprachraum im Jahr 1974 (in: M. F.: Schriften zur Literatur, Sammlung dialog 67, Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, München) trägt Foucaults Essay einen eigenen (französischen) Titel: Un «fantastique» de bibliothèque. Dafür wurde auf die begleitenden Bilder vollständig verzichtet.
In seinem Brief vom 12. November 1987 an Hans Blumenberg sah sich Siegfried Unseld genötigt, auf eine maliziöse Bemerkung des Philosophen über die Aufnahme Wittgensteins in das Suhrkamp-Programm zu reagieren. Blumenberg hatte Unseld zwei Wochen zuvor brieflich wissen lassen: «Ich bin, wie Sie und andere wissen, ein entschiedener Gegner Wittgensteins»; allein «an dem Unbehagen, mit dem dieser Autor im Verlag ‹kultiviert› worden ist, habe ich mich immer getröstet». Unseld retournierte knapp: «Vom ‹Unbehagen› kann man nicht sprechen. Ich glaube, es ist geistesgeschichtlich wichtig, daß Wittgenstein bei uns erschienen ist.»[1]
Dass Ludwig Wittgenstein von 1960 an, als der erste Band der Schriften bei Suhrkamp herauskam, zu einem Aushängeschild des damals wohl bedeutendsten deutschsprachigen Zeitgeist-Verlages geworden war, war jedoch nicht allein Unselds Verdienst. Hinter dem Projekt der Schriften steckte ganz wesentlich die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.
Bachmann war 1949 von Victor Kraft mit einer Arbeit über Heidegger promoviert worden. Am Ende ihrer Dissertation hatte sie auf Wittgensteins Tractatus hingewiesen, dessen berühmter Schlusssatz 7 angemessener als Heideggers «Halbrationalisierungen» das Mystische, das «tatsächlich irgendwie im Menschen lebendig» sei, zu bezeichnen vermöge.[2] Sie hatte schon damals geahnt, welches Potential die Logisch-Philosophische Abhandlung über die formale Logik für eine neue, authentische und zugleich utopische Poesie enthielt. Durch Victor Kraft, prominentes Mitglied und Historiker des «Wiener Kreises»[3], dürfte sie schon damals genauere Kenntnis von Wittgensteins Wirkung in Wien und danach in Cambridge gehabt haben.
Die stark verwitterten Seiten aus dem Unseld-Archiv dokumentieren Bachmanns Vorarbeiten für das Beiheft 1 zu den Schriften Wittgensteins, die zwischen 1960 und 1982 auf sieben Bände sowie zwei Bände mit Vorlesungsmitschriften und einer Brief-Auswahl anwachsen sollten; die Beiheft-Reihe wurde mit dem dritten Heft 1979 eingestellt.
Für ihren eigenen Beitrag hat Bachmann auf ihren in den Frankfurter Heften 1953 publizierten Aufsatz über Ludwig Wittgenstein zurückgegriffen, in dem sie den Autor des Tractatus vehement gegen die Vereinnahmungsversuche durch die Logischen Positivisten des Wiener Kreises verteidigt hatte.[4] Wie ihre vielen Randbemerkungen zeigen, hat sie ihren Aufsatz stark redigiert (Abb. 1 und 2), wobei sie allerdings Passagen unverändert beließ, die 1960 anachronistisch wirken mussten, etwa die Bemerkung, dass «eben» ein «zweites, bisher unbekanntes Werk» erschienen sei – gemeint sind die 1953 publizierten Philosophischen Untersuchungen![5]
Die anderen Autoren des Beihefts(Abb. 3)Philosophischen Untersuchungen