Dr. Norden Bestseller – 2 – Staffel

Dr. Norden Bestseller
– 2–

Staffel

11-20

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-95979-003-1

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Du darfst nicht verzweifeln

Ein komplizierter Fall für Dr. Norden

»So, Evi, das hätten wir«, sagte Dr. Daniel Norden zu dem kleinen Mädchen, das vor ihm auf dem Stuhl saß. »Tut es noch weh?«

Die Kleine betrachtete ihren verbundenen Finger. »Ein bisschen nur. Was sage ich denn Mami? Wenn ich sage, dass Baffy mich gebissen hat, bringt sie ihn wieder weg, aber er wollte ja gar nicht beißen, Onkel Doktor. Er wollte nur spielen, und da hat er ein bisschen zugezwickt. Baffy ist noch so klein. Er versteht es doch nicht.«

Aber Evis Mutter, Frau Bernau, war leicht erregbar, und wie Dr. Norden wusste, war sie ohnehin dagegen gewesen, dass Evi von ihrem Vater einen Hund zum Geburtstag bekam. Wie sollte man ihr erklären, dass Baffy gar nicht beißen wollte?

Baffy war ein kleiner Rauhaardackel und frech, wie die meisten seiner Rasse. Er hatte es sich auf Mollys Schoß bequem gemacht, während Evi im Sprechzimmer war.

Molly, mit vollem Namen Helga Moll und alles andere als mollig, Dr. Nordens Sprechstundenhilfe, liebte Kinder und Hunde und überhaupt alle Tiere, von Schlangen und stechenden Insekten abgesehen. Gegen Insekten war sie allergisch, Schlangen waren für sie die Verkörperung der Falschheit.

Schließlich war es eine Schlange gewesen, die Eva verführt hatte, von dem Apfel zu essen, und das hatte der Menschheit dann das ewige Paradies gekostet. Molly, eine durch und durch romantische Natur, gab nicht etwa Eva die Schuld an diesem traurigen Ereignis, sondern dieser falschen Schlange. Frauen waren nun mal bestechlich. Damals war es ein schöner rotbackiger Apfel gewesen und heutzutage waren es halt verlockende Schaufensterauslagen, bei denen man schwach werden konnte.

Molly hatte das an diesem Morgen gerade durchgemacht, denn sie hatte ein ganz bezauberndes Kleid in einem Schaufenster gesehen, von dem sie auch jetzt noch träumte. Natürlich war es viel zu teuer. Sie konnte es einfach nicht vor ihrem Gewissen verantworten, mehr als dreihundert Mark für ein Kleid auszugeben, aber es spukte eben doch in ihren Gedanken herum.

Baffy dagegen hatte nicht mal Respekt vor ihrem weißen Kittel. Molly sprang auf, als ihr rechtes Bein feucht wurde. Erschrocken war Baffy zu Boden geplumpst und begann nun auch noch keck zu bellen.

»Baffy, du bist ein Ferkel«, sagte Molly. »Schau mal, was du da gemacht hast.«

Baffy legte den Kopf schief und die Ohren an. Sein treuherziger Hundeblick verriet keinerlei Schuldgefühle.

Aber vielleicht war ein solches doch in ihm, denn als es jetzt läutete und Molly den elektrischen Türöffner betätigte, raste er wie ein Blitz an der jungen Frau, die durch diese Tür hereingetaumelt kam, vorbei, und Molly konnte nichts tun, denn sie sah nun nur noch ein angstverzerrtes Gesicht und hörte eine tonlose Stimme immer wieder sagen: »Helfen Sie doch, ich habe ihn umgebracht, ich habe ihn umgebracht.«

Und dann kam die kleine Evi aus dem Sprechzimmer gelaufen und rief nach ihrem Baffy. Die nächsten Sekunden waren für Molly nur noch ein Albtraum, ein ganz wirres Durcheinander von Stimmen, Schluchzen, Kinderweinen und schließlich noch dem fröhlichen Gebell von Baffy, der sich zur Rückkehr entschlossen hatte.

Doch Dr. Daniel Norden konnte sich keine Gedanken mehr darüber machen, wie man Evis Mutter beibringen sollte, dass Baffy das Kind in den Finger gebissen hatte, und er konnte auch die aufgeregte Molly nicht beschwichtigen. Er hatte die schwankende Frau aufgefangen und auf die Liege gebettet. Dort lag sie stocksteif mit aufgerissenen Augen und murmelte noch immer: »Ich habe ihn umgebracht.«

Seine Hände umschlossen ihre Schultern. Er schüttelte sie heftig.

»Wen haben Sie umgebracht?«, fragte er laut.

»Meinen Vater! Papi, Papi, lieber Papi.« Und dann wurde der schmale Mädchenkörper von einem jammervollen Schluchzen hin und her geworfen.

*

»Was soll ich denn bloß machen, Molly, was soll ich machen?«, jammerte Evi. »Ich traue mich nicht nach Hause mit dem verbundenen Finger. Mami wird schrecklich böse sein.«

»Ich kann dir jetzt auch nicht helfen, Evi«, murmelte Molly.

»Warum schreit die Dame so? Wen hat sie umgebracht?«, fragte Evi neugierig.

Molly war nur froh, dass niemand mehr im Wartezimmer saß und auch noch neugierige Fragen stellen konnte.

»Geh jetzt nach Hause, Evi«, sagte sie zu dem Kind.

»Aber wenn Mami nun meinen Baffy weggibt?«, jammerte die Kleine wieder. »Ich will ihn doch behalten. – Hat er etwa die Pfütze gemacht?«, fragte sie dann kleinlaut, auf den Teppich blickend.

»Ja, das hat er gemacht, aber das ist nicht so schlimm. Ich muss jetzt dem Onkel Doktor helfen, Evi. So rasch wird deine Mami Baffy schon nicht weggeben.«

Betrübt schlich Evi mit ihrem Baffy von dannen. Mollys Herzklopfen legte sich noch immer nicht. Sie hatte einen entsetzlichen Schrecken bekommen, als dieses Mädchen hereingetaumelt kam, und sie sah schon wieder unendliche Schwierigkeiten auf ihren Doktor zukommen.

Im ersten Augenblick und in der Aufregung um Baffy hatte sie die junge Dame nicht gleich erkannt, aber jetzt wusste sie wieder, wer das war. Beatrix Jakoby!

Erschrocken zuckte sie zusammen, denn im gleichen Augenblick sagte Dr. Norden diesen Namen.

»Es ist Beatrix Jakoby, Molly. Ich habe ihr eine Spritze gegeben. Passen Sie gut auf. Ich muss zu ihrem Vater fahren. Dort scheint etwas geschehen zu sein.«

Molly genügte es vorerst, was sie hier gehört hatte, denn nach ihren eigenen Worten hatte Beatrix jemanden umgebracht, so unvorstellbar das auch war.

Dieses stille, schüchterne, farblos wirkende Mädchen war fast schwächlich zu nennen. Dr. Daniel Norden hatte ihre Mutter behandelt, die vor einem knappen Jahr einen qualvollen Tod gestorben war. Beatrix war darüber wohl noch immer nicht hinweggekommen, und als sie vorhin hereingestürzt kam, hatte sie den Eindruck einer Geistesverwirrten gemacht.

Jetzt lag sie still da, mit maskenhaft starrem, blutleerem Gesicht, auf dem noch immer der Ausdruck maßloser Angst lag.

Dr. Norden fuhr währenddessen zu der stillen Straße, in der schon halb im Wald das Haus des Professors Jakoby stand. Es war eine alte Villa mit grauer Fassade. Es wirkte düster, fast unheimlich. Auf sein Läuten wurde ihm jedoch sofort geöffnet.

Eine alte Frau stand vor ihm in hochgeschlossenem schwarzem Kleid, das faltige Gesicht war hektisch gerötet, und die dünnen Lippen bewegten sich wortlos.

»Pauline«, sagte Dr. Norden, »erkennen Sie mich?«

Sie nickte mechanisch und machte eine vage Handbewegung zu einer Tür.

»Was ist geschehen?«, fragte er. Darauf schüttelte sie stumm den Kopf. Furcht stand in ihren trüben Augen, als sie wieder auf die Tür deutete, die nun plötzlich aufging. In ihrem Rahmen erschien eine bildschöne Frau.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, fragte sie mit einer Stimme, die nicht zu diesem madonnenhaften Antlitz passen wollte, aber daran mochte die Erregung schuld sein, die sie nicht verbergen konnte.

»Ich bin Dr. Norden«, sagte Daniel. »Was ist mit Professor Jakoby?«

»Er hatte einen Schwächeanfall«, erwiderte die junge Dame.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Seine Tochter. Mein Name ist Jacqueline Larring. Wer schickt Sie?«

»Fräulein Jakoby. Kann ich jetzt bitte Professor Jakoby sehen?«

»Ich habe die Haushälterin eben schon gefragt, welchen Arzt wir rufen könnten. Beatrix ist wie eine Wahnsinnige aus dem Hause gestürzt. Ich bin fremd hier.«

Sie war erregt, aber sie versuchte, sich den Anschein kühler Gelassenheit zu geben. Merkwürdig war das. Sie bezeichnete sich als Professor Jakobys Tochter, sagte aber auch, dass sie hier fremd sei.

Aber darüber wollte Dr. Norden jetzt nicht nachdenken. Er musste sich um den Kranken kümmern, und er stellte schnell fest, dass eilige Hilfe geboten war.

»Er muss in die Klinik«, sagte er.

»Kann man das über seinen Kopf hinweg bestimmen?«, fragte Jacqueline.

»Ich kann ihn nicht danach fragen, ob es ihm recht ist, aber Sie wollen doch nicht, dass er stirbt?«

Sie zuckte zusammen. »Steht es so schlimm?«, fragte sie tonlos.

»Es ist ein Herzinfarkt. Es besteht akute Lebensgefahr.«

Jacqueline wich zurück. In ihren Augen glomm Angst auf, und Hilfe suchend blickte sie sich um.

Dr. Norden ging etwas anderes durch den Sinn, als er zum Telefon griff. Beatrix hatte gesagt, sie hätte ihren Vater umgebracht. Irgendetwas musste vorgefallen sein, was ihn in höchste Erregung versetzt hatte, wobei man nicht ausschließen konnte, dass in seinem Körper bereits die Bereitschaft zu einem Infarkt bestand. Paulines Gesichtsausdruck sprach Bände, Dr. Norden konnte es sehen, als er telefonierte. Sie war mit der Anwesenheit dieser schönen jungen Frau nicht einverstanden.

»Der Krankenwagen wird kommen«, sagte er. »Wie lange liegt Professor Jakoby schon so?«

»Eine Stunde«, erwiderte Pauline.

Motorengeräusch war zu vernehmen, noch zu früh, als dass es schon der Krankenwagen sein konnte. Jacqueline stürzte hinaus, und durch das Fenster konnte Daniel beobachten, wie sie einen Mann umarmte, der einem auffälligen, goldmetalligen Wagen entstiegen war.

»Wann ist Frau Larring gekommen?«, fragte Dr. Norden Pauline.

»Heute Morgen. Sie ist …« Aber sie kam nicht weiter, denn der Kranke stöhnte wieder, und Daniel beugte sich über ihn.

»Nicht, Jacqueline«, flüsterte Professor Jacoby, »Trixi …« Aber zu mehr reichte seine Kraft nicht, und wenn es nicht gelang, ihn am Leben zu halten, würde wohl nie jemand erfahren, was er hatte sagen wollen.

Der Krankenwagen kam.

Zu Daniels Überraschung war der Mann mit dem auffälligen Wagen wieder fortgefahren.

»Würden Sie mir bitte sagen, in welche Klinik mein Vater gebracht wird?«, fragte Jacqueline Larring. In ihren grünen Nixenaugen war ein undeutbarer Ausdruck.

»In die Behnisch-Klinik«, erwiderte Dr. Norden kurz. Er fuhr dem Krankenwagen nach.

Jacqueline drehte sich zu Pauline um. »Was haben Sie ihm gesagt?«, fragte sie.

»Nichts, ich weiß doch selber nichts«, erwiderte Pauline abweisend. »Ich weiß nur, dass Beatrix sich schrecklich aufgeregt hat, und das weiß Dr. Norden auch.«

»Wo ist Beatrix?«

»Ich weiß es nicht.«

»Warum so feindselig, Pauline?«, fragte Jacqueline freundlich. »Ich gehöre doch schließlich auch zur Familie. Mein Vater hat mich kommen lassen.«

»Er hat nie von Ihnen gesprochen«, stieß Pauline hervor. »Er hat auch zu Beatrix nie von Ihnen gesprochen.«

»Wie wollen Sie das wissen? Vielleicht wollte Beatrix meine Existenz nur nicht wahrhaben. Jedenfalls war sie es, die diesen Zusammenbruch meines Vaters verursacht hat, nicht ich. Ich werde jetzt jedenfalls bleiben. Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie gehen.«

»Ich gehe, wenn der Herr Professor es wünscht«, erklärte Pauline aggressiv. »Sonst nicht.«

Professor Arno Jakoby lag unter dem Sauerstoffzelt. Dass sein Zustand bedenklich war, musste auch Dr. Behnisch bestätigen.

Daniel Norden bat seinen Freund darum, alles zu notieren, was der Kranke eventuell sagen würde. Er musste wieder in seine Praxis zurück und sich um Beatrix kümmern.

Drüben in seiner Wohnung beugte sich Fee Norden über die Wiege, in der ihr kleiner Sohn schon ganz munter strampelte.

»Dein Papi hat heute wieder gar keine Zeit für uns, Danny«, sagte sie. »Wenn du mich nicht so in Atem halten würdest, könnte ich ihm wenigstens ein bisschen helfen.«

Aber anrufen wollte sie doch mal in der Praxis, und sie wunderte sich, dass Molly immer noch da war. »Ist denn so viel los heute?«, fragte Fee.

Merkwürdig ausweichend war Mollys Antwort, und das machte Fee stutzig.

Wenn Daniel einen Krankenbesuch machte, warum war Molly dann noch in der Praxis? Die Sprechstunde war doch längst beendet.

»Nun sei mal friedlich, mein Sohn«, sagte sie zu dem Baby. »Ich möchte doch mal sehen, was da unten los ist.«

Frau Dr. Felicitas Norden, selbst Ärztin, hatte immer ihre Ahnungen, wenn sich etwas Außergewöhnliches ereignete.

Und als sie unten durch die Tür trat, sagte Molly seufzend: »Ich dachte es mir doch gleich, dass Sie sich mit meiner Auskunft nicht zufriedengeben würden.«

»Also, was ist wieder los?«, fragte Fee.

*

Vor ihrer Mutter stand Evi Bernau mit auf dem Rücken verschränkten Händen. Baffy umstrich ihre Beine, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Marina Bernau war eine hübsche Frau, und sie liebte ihr Töchterchen, aber sie war nicht damit einverstanden, dass ihr Mann dem Kind jeden Wunsch erfüllte.

Um diesen hübschen Bungalow abzahlen zu können, den sie sich gebaut hatten, musste Marina halbtags arbeiten. Sie konnte das als Modezeichnerin zwar daheim, aber bei ihrer Arbeit musste sie schon konzentriert sein, und sie fand, dass Evi noch zu klein war, um sich richtig um einen Hund zu kümmern und ihn auch zu erziehen. Die vielen Pfützen, die Baffy schon auf dem teuren Teppichboden hinterlassen hatte, störten sie gewaltig.

»Na, was ist wieder passiert?«, fragte sie, als Evi mit möglichst unschuldsvoller Miene zu ihr aufblickte.

»Nichts Schlimmes, Mami«, versicherte Evi sofort. »Bei uns nicht. Du musst dich nicht aufregen. Baffy hat mich nur ein ganz klein bisschen in den Finger gezwickt beim Spielen, aber ich war schon bei Dr. Norden, und er hat auch gesagt, dass es nicht schlimm ist, und dass du deswegen Baffy nicht gleich weggeben musst. Aber dann ist da was passiert«, fuhr sie überstürzt fort, um ihre skeptische Mutter von ihrem Finger abzulenken. »Es war schrecklich aufregend, Mami. Das Mädchen vom Waldhaus ist angelaufen gekommen und hat geschrien, dass sie wen umgebracht hat. Bestimmt, Mami, ich habe es mir nicht ausgedacht.«

»Du willst mich ablenken, Evi«, sagte Marina Bernau. »Zeig deinen Finger her.«

»Ist doch eingebunden«, erwiderte Evi, »aber das mit dem Mädchen vom Waldhaus stimmt, Mami. Ich habe sie erkannt, wenn sie auch ganz schrecklich aussah. Du kennst sie doch auch. Du hast doch schon mit ihr geredet.«

Nun war Marina Bernau tatsächlich von dem Finger und von Baffy abgelenkt. Beatrix Jacoby hatte schon lange ihr Mitgefühl erregt.

Dr. Bernau, von Beruf Rechtsanwalt, hatte für Professor Jakoby einiges erledigt. Dadurch kannte man sich, wenn auch nur flüchtig.

»Hast du dich auch nicht getäuscht, Evi?«, fragte Marina Bernau.

»Es war das Mädchen aus dem Waldhaus, Mami. Ganz sicher. Wir waren bloß aufgeregt, weil Baffy ausgebüchst war, aber er kam gleich wieder, und Molly war auch nicht böse, weil er ein Pfützchen gemacht hat.«

»Lieber Gott, muss er denn überall seine Visitenkarte hinterlassen«, sagte Marina seufzend, aber ihre Gedanken waren doch mehr auf Beatrix Jakoby konzentriert.

»Wen mag sie denn umgebracht haben, Mami?«, fragte Evi naiv.

»Du hast dich sicher verhört, Evi«, lenkte Marina ab.

»Nein, ich habe mich nicht verhört. Und Molly hat sich auch aufgeregt.«

»Und nun sagst du mir mal genau, was mit deinem Finger ist«, sagte Marina Bernau energisch, um Evi auf andere Gedanken zu bringen.

»Aber Baffy kann bei uns bleiben, gell?«, vergewisserte sich die Kleine erst.

»Ja«, erwiderte Marina seufzend. »Aber er wird jetzt erzogen. Unnachsichtig!«

Ob Baffy das verstand? Er war die Sanftmut in Person, und als ahne er schreckliches Unheil, war er von Stund an stubenrein.

*

Besorgt hatte Fee das junge Mädchen betrachtet, das sich noch immer nicht rührte. Sie hörte Daniel kommen, und schon war er neben ihr.

»Gehört sich das für eine gute Mami?«, versuchte er zu scherzen.

»Danny kann nicht aus der Wiege springen, und er kann ruhig auch mal schreien. Was hat das zu bedeuten, Daniel?«

»Wenn ich das nur wüsste! Professor Jakoby hatte einen Herzinfarkt. Ich habe ihn in die Behnisch-Klinik bringen lassen.«

»Molly sagte mir, dass sie davon gesprochen hat, jemanden umgebracht zu haben.«

»Sie hat einen Nervenzusammenbruch, Fee. Ich habe schon mit Dieter gesprochen. Ich werde sie auch in die Klinik bringen.«

»Was bedeuten ihre Worte, Daniel?«, fragte Fee nachdenklich.

»Ich kann nur die Erklärung finden, dass ihr Vater bei einem Gespräch mit ihr zusammenbrach und sie sich nun einfach einbildet, er wäre tot und sie wäre schuld daran.«

»Schau dir dieses arme Ding an«, murmelte Fee. »Wie alt ist sie?«

»Zwanzig. So ungefähr jedenfalls.«

»Der Körper einer Fünfzehnjährigen, die eine Hungerkur gemacht hat, und ein Gesicht, aus dem man alles Leid der Welt lesen kann«, sagte Fee.

»Sie hat sehr unter dem Tod ihrer Mutter gelitten. Was mir nicht begreiflich ist, dass jetzt plötzlich eine Schwester auftaucht.«

»Was für eine Schwester?«, fragte Fee.

»Eine sehr attraktive junge Frau, die behauptet, Professor Jakobys Tochter zu sein. Sie heißt Larring, Jacqueline Larring.«

»Warum sollte er nicht noch eine Tochter haben, die verheiratet ist? Wie lange kennst du ihn?«

»Etwas mehr als ein Jahr. Als Frau Jakoby todkrank war, hat sich diese schöne Tochter jedenfalls nicht blicken lassen.«

»So etwas soll häufiger der Fall sein«, meinte Fee. »Psst, sie rührt sich.«

Langsam schlug Beatrix Jakoby die Augen auf. »Papi«, flüsterte sie, »es hat ihn umgebracht.«

Jetzt sagte sie nicht: »Ich habe ihn umgebracht. Es hat ihn umgebracht«, hatte sie gesagt, ganz deutlich vernehmbar.

Daniel griff nach ihrer Hand. »Erkennen Sie mich, Fräulein Jakoby?«, fragte er langsam und betont.

»Dr. Norden«, erwiderte sie schleppend. »Papi ist tot.«

»Nein, er ist nicht tot. Er ist in der Klinik. Seien Sie jetzt ganz ruhig.«

»Ist sie fort?«, fragte Beatrix geistesabwesend.

»Wen meinen Sie?«, fragte er, obgleich er es ahnte.

»Mrs Larring. War sie da? War sie bei Papi?« Sie begann zu zittern.

»Nein, beruhigen Sie sich, Beatrix«, sagte Dr. Norden. »Ich werde Sie jetzt auch in die Klinik bringen. Sie können Ihren Vater sehen. Er lebt.«

Gott gebe es, dachte er für sich. Er hegte die schlimmsten Befürchtungen für Beatrix Jakoby, falls der Professor doch nicht überleben sollte. Dieses Mädchen befand sich in einem totalen Erschöpfungszustand und das nicht allein. Sie war voller Furcht und ohne Widerstandskraft.

»Ich will Papi sehen«, flüsterte sie wie ein angstvolles Kind.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Dr. Norden.

Beatrix richtete sich auf. Jetzt erst sah sie Fee.

»Wer ist das?«, fragte sie.

»Meine Frau«, erwiderte Daniel.

Beide stützten sie das Mädchen, aber ein trotziger Zug legte sich um Beatrix’ Mund.

»Ich kann allein gehen«, sagte sie leise. »Sagen Sie mir bitte, wo die Klinik ist.«

»Ich bringe Sie hin«, erklärte Daniel.

Er führte sie hinaus. Sie blickte weder rechts noch links. Sie sah Molly wohl gar nicht.

»Ja, Molly, dann können wir wohl auch gehen«, sagte Fee, nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte.

»Ich bin gespannt, was dabei herauskommt«, sagte Molly, »aber wir haben ja schon lange keine Aufregungen gehabt.«

Fee fuhr wieder hinauf in die Wohnung. Danny schlief selig und süß, allerdings saß Lenchen neben der Wiege mit ihrem Strickzeug.

Sie blickte auf. »Mit dem Essen wird es wohl wieder mal spät?«, fragte sie.

»Schon möglich«, erwiderte Fee. Sie dachte an etwas ganz anderes.

*

»Wie sind Sie eigentlich zur Praxis gekommen?«, fragte Dr. Norden das zusammengekauerte Mädchen unterwegs.

»Gelaufen«, erwiderte sie.

Ein beträchtliches Stück, mindestens zwanzig Minuten im normalen Tempo. Aber Beatrix musste schnell gelaufen sein, denn sie war völlig außer Atem gewesen.

»Ich wollte nur weg«, sagte sie tonlos, »dann fielen Sie mir ein. Sie waren gut zu Mami.«

Sie ist doch nicht geistig zurückgeblieben, ging es Daniel durch den Sinn. Nein, diesen Eindruck hatte er damals nicht gewonnen, als er fast täglich ins Haus des Professors kam und in den letzten Wochen sogar mehrmals täglich und manchmal auch nachts.

Professor Jakoby hatte ihm gegenüber sogar einmal geäußert, dass Beatrix ihm bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten helfe und ihm eine große Stütze sei.

Ihre augenblickliche geistige Verfassung schien jedoch eher die einer Zwölfjährigen zu sein.

»Sie ist nicht meine Schwester«, sagte Beatrix plötzlich. »Sie lügt. Papi hatte keine Geheimnisse vor mir.«

»War Frau Larring früher nie bei Ihnen?«, fragte Daniel vorsichtig.

»Sie war nie hier.«

»Pauline sagte, dass sie heute gekommen ist. Da haben Sie Frau Larring zum ersten Mal gesehen?«

Beatrix schwieg. Sie atmete heftig. »Sie war nie bei uns«, stieß sie bebend hervor. »Mein Vater hatte nie eine andere Frau als Mami.«

Jetzt hatte sie »mein Vater« gesagt. Aber zu mehr schien sie nicht bereit. Sie waren nun auch schon bei der Behnisch-Klinik angekommen. Mit dem Wagen waren es nur ein paar Minuten von Dr. Nordens Praxis. Gott gebe, dass er noch am Leben ist, dachte Daniel, als er Beatrix aus dem Wagen half.

Dr. Jenny Lenz eilte durch die Vorhalle, als sie eintraten, aber sie blieb stehen, als sie Daniel und das Mädchen gewahrte.

»Das ist Fräulein Jakoby«, sagte Daniel. »Sie möchte gern ihren Vater sehen.«

Jennys Blick war ihm eine Beruhigung. Gestorben war Professor Jakoby inzwischen also nicht.

»Bitte, gedulden Sie sich ein paar Minuten«, sagte Jenny zu dem Mädchen. »Wir legen gerade eine Infusion an.«

Die paar Minuten wurden auch Daniel zur Ewigkeit. Und als er Beatrix dann in das Krankenzimmer führte, in dem der Professor unter dem Sauerstoffzelt lag, spürte er, dass ihre Kraft bald restlos verbraucht war.

Sie stand da mit gefalteten Händen. »Papi, ich wollte es doch nicht«, flüsterte sie, und dann sank sie ohnmächtig zusammen.

Sie war in ein Krankenzimmer gebracht worden. Dr. Behnisch sah seinen Freund Daniel kopfschüttelnd an. »Da hast du dir ja eine feine Hochzeitsüberraschung ausgedacht, Dan«, brummte er. »Aber am Donnerstag wird geheiratet und wenn die ganze Klinik einstürzt. Noch mal wird der Termin nicht verschoben.«

»Eine Stunde werdet ihr zwei ja wohl mal abkömmlich sein«, sagte Daniel mit Galgenhumor.

»Du hast Nerven. Ihr macht alle Hochzeitsreisen und genießt himmlische Weekends, und wir kommen aus dem Stall überhaupt nicht heraus. Per Express zum Standesamt und dann wieder zurück. Mich würde es nicht wundern, wenn Jenny es sich überlegt.«

»Sie denkt gar nicht daran«, warf Jenny ein. »Das könnte dir so passen, Dieter.«

»Diesmal hätte ich mir auch wirklich eine andere Klinik aussuchen können«, sagte Daniel. »An eure Hochzeit habe ich momentan nicht gedacht.«

»Und zur Konkurrenz laufen gibt’s nicht«, sagte Dieter. »Aber Scherz beiseite. Es sieht nicht gut aus mit Professor Jakoby, und bis das Mädchen aufgepäppelt ist, wird es auch noch dauern. Geht es ihnen denn finanziell so schlecht, dass sie nicht mal genug zu essen haben?«

»Darüber weiß ich nicht Bescheid, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Jakoby am Hungertuch nagen muss. Er ist doch ein anerkannter Wissenschaftler.«

»Die meist alles andere als geschäftstüchtig sind«, sagte Dieter Behnisch. »Jedenfalls ist das Mädchen unterernährt. Er dagegen muss eine ganz gute Konstitution haben, dass er den Infarkt überhaupt überstanden hat, nachdem die erste Hilfe zeitlich verschleppt worden ist.«

Hat Jacqueline Larring den Ernst der Situation nicht erkannt, oder lag ihr nichts daran, das Leben des Professors zu retten?, überlegte Daniel.

Jedenfalls behauptete sie, die Tochter Professor Jakobys zu sein.

Auf dem Heimweg erinnerte sich Dr. Norden eines Falles, der noch gar nicht lange zurücklag, bei dem auch zwei Mädchen eine Rolle spielten, die nichts davon gewusst hatten, dass sie Stiefschwestern waren. Es hatte sehr dramatische Verwicklungen gegeben, aber hier lagen die Dinge doch wohl etwas anders.

Warum fühlte sich Beatrix an dem Zusammenbruch ihres Vaters schuldig? Warum hatte sie sogar gemeint, seinen Tod verursacht zu haben?

Ob Pauline etwas wusste? Aber würde sie es dann sagen? Sie war dem Professor und Beatrix treu ergeben. Er hatte diesen Eindruck schon damals gewonnen, als Frau Jakoby im Sterben lag.

Ihm kam plötzlich ein Gedanke, und er wendete den Wagen. Er hoffte, dass Fee ihm nicht böse sein würde, wenn er so lange ausblieb.

Wenig später hielt er wieder vor der Villa, die Evi Bernau Waldhaus nannte. Er läutete mehrmals, und schließlich öffnete ihm Jacqueline Larring.

»Sie?«, fragte sie erstaunt. »Was wollen Sie denn noch hier?«

»Ich möchte Pauline sprechen«, erwiderte Daniel ruhig.

»Sie ist nicht da. Sie ist weggegangen. Ich weiß nicht wohin. Ist er tot?«, fragte sie dann.

»Nein, Professor Jakoby lebt. Noch lebt er«, erwiderte Daniel kühl. »Gefällt Ihnen das nicht?«

»Wie kommen Sie darauf?«, sagte Jacqueline. »Ich habe großes Interesse, dass er am Leben bleibt. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit ihm zu unterhalten und würde das sehr gern tun, ohne dass diese kleine Irre mich daran hindert.«

»Wenn Professor Jakoby Ihr Vater ist, wie Sie behaupten, sprechen Sie von Ihrer Schwester«, sagte Daniel.

»Das meinen Sie«, sagte Jacqueline. »Ich bezweifle es. Ich meine damit, dass sie nicht meine Schwester ist.«

»Würden Sie mir das bitte näher erklären?«, fragte Daniel. Er sah sie an. Obgleich sie manchmal einen Ton anschlug, der ihm sehr missfiel, konnte er einfach nicht glauben, dass dieses Gesicht, dieser Mund lügen konnte. Es war ein Gesicht von sanfter, klarer Schönheit, und dass ihr Benehmen im Widerspruch dazu stand, musste eigentlich für sie sprechen.

»Vielleicht erkläre ich es Ihnen später einmal«, sagte Jacqueline abweisend. »Für mich ist manches auch unklar. Vor allem aber ist mir unbegreiflich, dass Professor Jakoby lebt, obgleich er doch schon vor einem Jahr gestorben sein soll.«

»Aber das ist doch Unsinn. Seine Frau starb vor einem Jahr.«

»Herr Dr. Norden, ich habe die Sterbeurkunde bekommen. Man hat sie mir zugeschickt. Aber ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Ich werde den Verdacht nicht los, dass hier ein Komplott gegen mich geschmiedet wurde, und dagegen werde ich mich wehren. Aber bevor ich noch mehr sage, möchte ich mit meinem Mann sprechen. Ich erwarte ihn heute Abend.«

Ausreden, Hinhalten? Daniel wusste nicht, was er davon halten sollte. Aber er konnte kein Verhör anstellen. Er war Arzt und nicht Kriminalbeamter.

»Ich denke, dass wir noch Gelegenheit zu einer Unterhaltung haben werden«, sagte Jacqueline sehr reserviert.

Und gerade das stimmte ihn nachdenklich. Er war es gewöhnt, von Frauen angehimmelt zu werden, auch wenn es ihm nicht behagte. Immer wieder versuchten es welche, aber Jacqueline schenkte ihm nicht einen einzigen verführerischen Blick. Ja, sie verbreitete, ihrem sanften Aussehen zum Trotz, Kühle um sich. Wenn sie ein Täuschungsmanöver vorhatte, aus welchem Grunde auch immer, so konnte man doch annehmen, dass sie darauf bedacht sein würde, jeden, der in diesem Hause ein und aus ging, für sich einzunehmen. Aber sie war keine Spur verbindlich. Auch zu Pauline war sie es nicht gewesen, und von Beatrix redete sie geradezu verächtlich.

Seltsam und verwirrend war das, aber Fee wartete daheim, und er wollte sie nicht noch länger warten lassen, um sich müßigen Gedanken hinzugeben.

Warum er dann doch auf der Etage der Praxis aus dem Lift stieg, hätte er nicht sagen können. Vielleicht war es nur die liebe Gewohnheit. Und doch schien es ihm ein fremder Wille eingegeben zu haben, denn vor der Tür saß auf einem Klappstühlchen Pauline.

In einer anderen Situation, zu anderer Zeit hätte er lachen müssen, aber diese alte Frau in schwarzer Kleidung auf dem Klappstühlchen bot eher einen Anblick zum Weinen.

Sie erhob sich und klappte den Sitz zusammen. »Ich dachte mir, dass Sie irgendwann mal kommen würden«, sagte sie schlicht. »Ich hätte schon noch gewartet.«

»Warum sind Sie nicht hinaufgefahren in meine Wohnung, Pauline?«, fragte er.

»Ich kann Sie doch nicht privat belästigen«, erwiderte sie.

»Meine Frau ist oben, und sie wartet auf mich. Kommen Sie«, sagte er.

*

Für Fee war das natürlich eine Überraschung, aber sie hatte schon so manches erlebt und zeigte sich sehr gefasst, als Daniel ihr Pauline vorstellte.

»Wird jetzt endlich gegessen?«, rief Lenchen.

»Ich kann gern warten«, sagte Pauline leise. »Ich habe Zeit. Zum Herrn Professor haben sie mich ja nicht vorgelassen. Und Fräulein Beatrix durfte ich auch nicht sprechen.«

»Aber Sie können mit uns essen«, sagte Fee freundlich.

»Das schickt sich nicht. Vielen Dank, gnädige Frau.«

Man sah es ihrem Gesicht an, dass sie dazu mit nichts zu bewegen sein würde.

»Dann leisten Sie unserem Lenchen Gesellschaft«, sagte Daniel. »Sie hat bestimmt auch noch nicht gegessen.«

Irgendwie mussten sich diese beiden alten Weiblein schnell verständigt haben, denn sie saßen ganz friedlich in der Küche beieinander, als Daniel und Fee ihre Abendmahlzeit beendet hatten.

Viel hatte Daniel dabei nicht geredet. Er hatte einen Bärenhunger, und außerdem wollte er Fee nicht neugierig machen, denn allem Anschein nach war Pauline nicht hierhergekommen, um für sich selbst einen ärztlichen Rat einzuholen.

Während sich Fee ihres hungrigen Sohnes annahm, ging er mit Pauline in den Wohnraum.

Sie entschuldigte sich vielmals wegen der Störung und ihrer Aufdringlichkeit und kämpfte noch immer mit ihrer Befangenheit, obgleich er ihr freundlich zuredete.

»Ich weiß doch nicht mehr, was ich denken soll«, sagte sie, ihre schwarzen Häkelhandschuhe zwischen den Fingern drehend. »Ich kann Frau Larring nicht aus dem Hause weisen, dazu habe ich doch kein Recht. Es ist alles so merkwürdig, Herr Doktor. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe.«

Sie sprach stockend, schwerfällig und musste immer wieder nach Worten suchen.

»Erzählen Sie mir dann doch bitte, was heute geschehen ist, Pauline«, half Daniel ihr weiter.

»Ja, was ich weiß. Zuerst habe ich es gar nicht mitgekriegt. Der Professor hat seinen Morgenspaziergang gemacht, als Frau Larring kam. Beatrix hat mit ihr gesprochen, und ich wurde erst aufmerksam, als sie erregt ausrief: Das ist eine Lüge, es ist mein Vater, nicht Ihr Vater!«

Pauline machte eine Pause. »Beatrix hat sich schrecklich aufgeregt. So habe ich sie nie gesehen. Sie ist sonst so scheu. Aber Frau Larring kann so was doch nicht aus der Luft greifen. Sie ist so selbstsicher. Sie hat gesagt, dass Dr. Bernau ihr geschrieben hätte, Professor Jakoby möchte sie kennenlernen. Ich weiß nicht mehr alles so genau. Ich war ja auch aufgeregt, aber Beatrix war ja völlig außer Rand und Band. Sie ist dann dem Professor entgegengelaufen, und als sie dann beide kamen, taumelte er schon.

Er hat Frau Larring angestarrt, als wäre sie ein Geist, und dann ist er zusammengebrochen. Da war es dann ganz aus bei Beatrix. Sie rannte weg. Ich konnte ihr so schnell nicht nach. Ich musste mich doch auch um den Professor kümmern. Frau Larring kniete bei ihm nieder. Sie sah entsetzt aus. Sie hat geredet. Maman hätte es ihr gesagt, und er hätte ihr doch den Brief von Dr. Bernau schreiben lassen. Ich weiß, dass der Professor mit Dr. Bernau zu tun hatte. Aber in meinen alten Schädel will das einfach nicht hinein. Was soll ich denn jetzt machen?«

»Beatrix kam zu mir. Sie ist physisch wie psychisch in sehr schlechter Verfassung und so kam es dann zu diesem Nervenzusammenbruch.«

»Wenn sie auch kaum isst«, sagte Pauline bekümmert. »Seit sie in Afrika waren, ist es ganz schlimm. Sie wird sich da doch keine Krankheit geholt haben, Herr Doktor?«

»Wann waren sie dort?«

»Vor acht Wochen. Und vor fünf Wochen sind sie dann zurückgekommen.«

»Und wo waren sie?«

»In Johannesburg. Ganz früher hat der Professor doch dort gelebt, und Beatrix ist da auch geboren. Frau Jakoby hat sich da auch schon nicht wohlgefühlt. Ich habe mir schon meine Gedanken über Beatrix gemacht und über den Professor auch, aber ich kann mich doch nicht in Privatsachen einmischen. Und nun weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich machen soll. Wenn ich doch wenigstens mit dem Professor reden könnte. Wird er wieder gesund werden?«

»Ich weiß es nicht, Pauline. Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Bei einem Herzinfarkt kann man nie voraussagen, welche Folgen eintreten.«

»Ja, dann werde ich mich wohl in Geduld fassen müssen«, sagte Pauline seufzend. »Dann werde ich mal wieder nach Hause gehen.«

»Ich werde Ihnen ein Taxi kommen lassen, Pauline«, schlug Dr. Norden vor.

»Ein Taxi? Mein Leben lang bin ich noch nicht mit einem Taxi gefahren. Ich gehe zu Fuß.«

Sie mochte auch sonst ihre Eigenheiten haben. Ein seltsames Trio gaben sie schon ab, der Professor Jakoby, seine Tochter Beatrix und Pauline. Es war alles so geheimnisvoll, was sich da getan hatte, aber das mochte nur einem Außenstehenden so scheinen. Verschiedene Ereignisse hatten sich zusammengedrängt und eines mochte das nächste ausgelöst haben. Aber warum sollte es nicht möglich sein, dass schon morgen manches in ganz anderem Licht erschien?

»Nun bin ich aber sehr gespannt, was du mir zu erzählen hast«, sagte Fee, nachdem Pauline sich höflich dankend verabschiedet hatte.

Das war allerdings eine ganze Menge, und er war mit dem Erzählen noch nicht zu Ende, als das Telefon läutete. Pauline war am anderen Ende der Leitung, und was sie ihm sagte, war sehr überraschend. Sie wäre von Mr und Mrs Larring erwartet worden, die ihr dann erklärt hätten, in ein Hotel zu ziehen, bis sich Professor Jakobys Zustand gebessert hätte, und sie wären außerordentlich freundlich gewesen und hätten sich bei ihr entschuldigt, weil sie solche Unruhe verursacht hätten.

»Haben sie gesagt, in welchem Hotel sie wohnen wollen?«, fragte Daniel.

»Im Aurora am See«, kam Paulines Entgegnung durch den Draht.

»Was ist nun wieder?«, fragte Fee.

»Einen Augenblick noch, Liebes, ich muss schnell noch mal telefonieren«, erwiderte Daniel. Vorher musste er die Nummer aber erst noch aus dem Telefonbuch suchen, und das dauerte auch eine Zeit.

Dann wählte er sie, und Fee hörte ihn fragen:

»Können Sie mir bitte sagen, ob Mr und Mrs Larring bei Ihnen abgestiegen sind? –

»Danke, nein das ist nicht nötig«, sagte er dann nach einer Pause.

»Sind sie abgestiegen?«, fragte Fee.

»Ja, sie speisen derzeit«, erwiderte Daniel.

»Du hast gedacht, sie hätten sich aus dem Staube gemacht«, vermutete Fee. »Womöglich hast du auch gedacht, dass sie aus dem Hause des Professors etwas mitgehen ließen.«

»Nein, das nicht. So sieht Jacqueline Larring nicht aus.«

»Du bist beeindruckt von ihr«, stellte Fee nicht ohne Eifersucht fest.

»Ich will es so sagen: Sie machte auf mich den Eindruck, als fühle sie sich völlig im Recht. Sie ist kein scheues, unsicheres Mädchen wie Beatrix. Sie ist eine sehr selbstbewusste, kühle Frau. Tatsächlich kann ich mir nicht vorstellen, dass eine Blutsverwandtschaft zwischen ihr und Beatrix besteht, aber es gibt ja sehr ungleiche Geschwister, vor allem, wenn sie verschiedene Mütter oder Väter haben.«

»Und was denkst du noch, mein Schatz?«, fragte Fee, als Daniel in Schweigen versank.

»Darüber, was in Johannesburg geschehen ist, das einen nachhaltigen Eindruck auf Beatrix machte. Es sei denn, sie trägt seither einen unerkannten Virus in sich herum, der ihre Kräfte aufzehrt.«

»Ich möchte nicht vorschnell urteilen, aber mir scheint es eher so, als wäre ihr schlechter Zustand seelisch bedingt. Doch ich kenne sie zu wenig.« Sie seufzte schwer. »Jedenfalls hast du mal wieder zwei Patienten, die dich sehr beanspruchen werden.«

»Ein bisschen Abwechslung im Praxisalltag kann nichts schaden, Fee. Abhorchen, in den Rachen schauen, Blutdruck messen und Rezepte schreiben, muss ich jeden Tag. Hin und wieder muss einem schon ein bisschen mehr abgefordert werden.«

»Damit wir immer hübsch in Spannung gehalten werden«, sagte Fee.

*

Patrick und Jacqueline Larring speisten mit Genuss. Man konnte nicht sagen, dass die Geschehnisse des Tages ihnen den Appetit verdorben hatten. Zur Freude des Geschäftsführers erwiesen sie sich als Feinschmecker. Er war gebürtiger Franzose und konnte sich nicht damit abfinden, wenn die Gäste sich keine Zeit beim Essen ließen.

Dieses attraktive Paar ließ sich viel Zeit, und es war ein exklusiv zusammengestelltes Menü serviert worden.

Ob die Herrschaften zufrieden wären, erkundigte sich der Oberkellner.

»Ausgezeichnet«, erwiderte Patrick Larring. Er sprach gebrochen deutsch. Jacqueline beherrschte die Sprache perfekt, aber sie äußerte sich nicht. Sie war ganz Dame und überließ alles ihrem Mann.

»So, jetzt geht es mir wieder besser«, sagte sie, als der Ober außer Hörweite war. »Ich war schon fast verhungert.« Ihre Stimme klang nicht mehr kühl, ihr Lächeln war schelmisch. Ein bezwingender Charme ging jetzt von ihr aus.

»Du hattest dir alles ein bisschen anders vorgestellt«, sagte Patrick Larring.

»Ja, gewiss, aber du hättest heute Vormittag nicht gar so schnell wieder wegfahren sollen.«

»Chéri, ich habe dir gesagt, du sollst mitkommen und alles Weitere dem Anwalt überlassen. Aber du musstest ja deinen Kopf durchsetzen.«

Seine Stimme klang sanft und gar nicht vorwurfsvoll, wenngleich die Worte so zu deuten gewesen wären, und auch so schienen sie von Jacqueline verstanden worden zu sein, denn sie sah ihren Mann etwas schuldbewusst an.

»Ich habe noch immer nicht gelernt, auf meinen diplomatischen Mann zu hören«, sagte sie. »Verzeih mir, Patrick. Ich wollte einfach nicht begreifen, dass der Mann, der mein Vater ist, ein …«

»Pssst, Chérie«, fiel Patrick ihr ins Wort. »Du bist wieder zu impulsiv. Diese ganze Geschichte kommt mir spanisch vor. Man kann kein Urteil fällen, bevor eine Tat bewiesen ist. Ich habe dich gewarnt.«

»Dieses Mädchen hat mich als Lügnerin hingestellt, und Pauline hat mich wie eine Verbrecherin behandelt«, sagte Jacqueline. »Das hat mich wirklich wütend gemacht.«

»Du hast sie so gesehen, wie sie umgekehrt dich gesehen haben«, sagte Patrick. »Du fühltest dich im Recht, sie fühlten sich auch im Recht. Diese Pauline ist ihrem Gebieter treu ergeben. Sie hat kein eigenes Urteilsvermögen. Sie reagiert instinktiv wie ein treuer Hund.«

»Aber Beatrix hat sich wie eine Verrückte gebärdet. Sie hat mich beschimpft. Ich verstehe Nicholas nicht. Was hat ihm an diesem Mädchen gefallen. Sie ist weder hübsch, noch klug, noch …«

Wieder wurde sie von ihrem Mann unterbrochen. Er nahm ihre Hand und sah sie zwingend an.

»Es waren irreale Umstände, Jacky«, sagte er. »Überdenken wir einmal alles in Ruhe. Zügele dein Temperament. Du weißt, dass ich es liebe, aber manche Dinge muss man ganz nüchtern betrachten. Du musst objektiv sein.«

»Es gibt Tatsachen, Patrick. Ich wuchs als Jacqueline Sullivan auf, um im Alter von dreiundzwanzig Jahren zu erfahren, dass mein Vater eigentlich Jakoby hieß. Maman hätte es mir auch da noch verschwiegen, wenn wir uns nicht kennengelernt hätten. Sie sagte mir erst die Wahrheit, als ich heiraten wollte.«

»Okay, Darling, aber hast du in deiner Kindheit etwas vermisst?«, fragte Patrick.

»Das hat damit nichts zu tun. Dad war ein feiner Mensch. Ich habe ihn geliebt. Er ist zu früh gestorben.«

»Und du warst zornig, dass ein anderer Mann dein Vater war. Du bist deiner Mutter heute noch böse darum.«

»Sie hätte mir die Wahrheit sagen müssen.«

»Und wäre dir damit gedient gewesen? Sie hat gewartet, bis du erwachsen warst und bereit, ohnehin einen anderen Namen anzunehmen, nämlich meinen, den Namen Larring. Sie dachte, dass es dich dann nicht mehr verletzen könnte, dass John Sullivan nicht dein richtiger Vater war. Und außerdem konnte sie dir sagen, dass dieser inzwischen auch nicht mehr lebte.«

»Was sich aber als falsch erwies«, warf Jacqueline erregt ein. »Er lebt – noch lebt er, Patrick.«

»Nein«, sagte Patrick sehr bestimmt. »Dein Vater hieß Leo Jakoby. Der Professor heißt Arno. Das ist der tragische Irrtum, der dieses schreckliche Geschehen heraufbeschworen hat.«

Jacqueline sah ihren Mann entsetzt an. »Weißt du, was du redest?«, fragte sie tonlos.

»Ja, mein Liebling. Ich bin heute Morgen so schnell weggefahren, weil mir alles, was du mir so aufgeregt erzähltest, zu verworren erschien. Ich habe Erkundigungen eingezogen. Ich war bei dem Anwalt, der dir mitteilte, dass Professor Jakoby dich gern kennenlernen würde, falls du diesen Wunsch auch hättest.«

»Und warum erzählst du mir das erst jetzt?«, fragte Jacqueline aggressiv.

»Weil du erst richtig essen solltest, mein Liebes. Wir sind seit gestern Morgen unterwegs und du hast noch keine richtige Mahlzeit seither eingenommen gehabt. Ich kenne dich doch. Ich weiß, wie du reagierst, wenn du hungrig bist. Und außerdem hatte es schon genug Wirbel gegeben.«

»Du hast die Ruhe weg, das muss ich sagen!«, stöhnte Jacqueline.

»Es genügt, wenn einer in der Familie zu viel Temperament hat«, erklärte Patrick darauf. »Und nun werden wir uns wohl mal ganz vernünftig unterhalten können.«

»Jetzt ist doch alles noch verrückter als vorher«, sagte Jacqueline.