... Es gibt glühende Seelen, psychisch und sinnlich gleich heiße Naturen, die ihren ganzen Einsatz immer in der Hand tragen, die ganz gegenwärtig sind in dem, was sie empfinden und wollen. Ihr Weg ist bedeckt mit Stücken ihres Lebens, die tot abfallen; und jeder Schlag, der sie trifft, trifft sie in den Herzpunkt.
J. Marholm.
George Sand besang das leuchtende Haus auf den immergrünen Abhängen des Albanergebirges, hoch über dem wonnigen Frascati und der feierlichen Campagna Roms; und Paul Heyse dichtete seine vielbewunderte »Villa Falconieri«. Der Herausgeber dieser Blätter verträumte ein halbes Menschenleben in Borrominis köstlichem Sommerpalast. Das pathologische Lebens- und Liebesdrama, welches daselbst mit einem ihm brüderlich nahestehenden italienischen Dichter sich abspielte, will er nunmehr berichten. Er tut es an des Freundes Schreibtisch, vor dem Abguss von Michelangelos »sterbendem Sklaven«, in dem farbenfrohen Freskenzimmer Carlo Marattas, wo der arme »Märtyrer seiner Phantasie« lebte und litt.
Villa Falconieri im Frühling 1896
Maria.
»Sie hätte sterbend leise leis'
gesungen,
Damit ihr Gatte denken sollt': sie leb' noch ...«
Aus einer Grabschrift.
Der Graf Cola Campana
an
Herrn Richard Voß
Berchtesgaden, Villa
Bergfrieden,
Deutschland.
Villa Falconieri, Frühling 1892.
Nach alter schlechter Gewohnheit weiß ich wieder einmal nicht das Datum, lieber Getreuster. Es genügt, Dir zu sagen, dass um unser leuchtendes Haus ein wonniger Frühlingstag strahlt.
Alles ist Glanz!
Wo bleibt Ihr nur dieses Jahr?
Die Mandelblüte kann doch unmöglich ohne Euch vorübergehen! Und bereits legt sich um die braunen Bignen der kokette blass rote Blumensaum, bereits durchschimmert es überall rosig die Oliveten.
Im Hause ist es freilich immer noch bitter kalt. Erschreckt nicht zu sehr: Ihr sollt es warm bei uns haben.
Maria fuhr in eigener Person nach Rom – Ihr wisst, was das sagen will – um für Frau Melanies neuen Salon in einem Magazin der Via Tritone (oder Territone, um in Rosas Markendialekt zu reden) einen kleinen eisernen Ofen einzuhandeln, der direkt aus Eurem winterlichen hässlichen Deutschland kommt. Sie begreift zwar noch immer nicht, zu welchem Zweck es auf der Welt Öfen gibt und wie ein Mensch in unsern gewölbten steingepflasterten Hallen bei neun Grad Réaumur frieren kann; doch Frau Melanie zuliebe fuhr sie dennoch nach Rom.
Es bleibt dabei: Ihr wohnt dieses Jahr unten im »apartamento nobile«. Und zwar Frau Melanie in dem Zimmer mit dem Michelangelesken-Plafond und den großen Wandgemälden aus Ovids Metamorphosen. Wir ließen die apfelgrünen vergoldeten Rokokomöbel hineinstellen, die zu der bunten Decke und den dunklen Bildern gut passen. Der Schreibtisch steht schräg vor einem der Fenster, die nach der Villa Mondragone hinausgehen; und vor dem andern hat der kleine schwarze Eiserne Platz gefunden. Eine Scheibe wurde glücklich zertrümmert und ein langes Rohr aus silberstrahlendem Zinkblech durchgeführt. Rosas Jüngste, die Ihr stark gewachsen und sehr hübsch finden werdet, heizte sogleich Probe; und sämtliche Donnen der Villa liefen zusammen und bestaunten das kleine glühende Ungetüm.
Der Ofen brennt herrlich! Also:
Kommt!
Noch erwähne ich, dass Frau Melanie einen neuen Schreibtisch erhält. Er ist so lang und so breit, wie ein Schreibtisch überhaupt sein kann, und hat Platz für die Manuskripte von einem viertel Dutzend Trauerspielen, die Du zweifellos bereits wieder fix und fertig gedichtet hast, und die die arme Märtyrerin Deiner Feder samt und sonders kopieren muss. Auch ließ Maria für Frau Melanie einen Stickrahmen bauen, wie solchen in Frascati die Clarissinnen haben, und der etwas ganz Ausgezeichnetes sein soll. Dem Schreibtisch gegenüber wird der Arbeitstisch stehen; und während die unermüdlichen Hände die prächtige Decke von Atlas vieil or nach dem altvenetianischen Muster sticken, davon Ihr uns schriebt, können die schönen Augen unserer lieben Frau an den Blumenstrahlen von Marias weißem Rosenbusch sich erfreuen. Also:
Kommt!
Eigens für Euch haben wir Rosa dieses Jahr wieder in die Küche genommen; und Rosa zur Hilfe Dionisia und Vittoria. Diese lassen sich von Carolina und Chiarina unterstützen, denen wiederum Cencio und Cé Hilfe leisten müssen.
Ihr seht: alles ist beim alten geblieben und ohne den heiligen römischen Nepotismus kommt bei uns kein Ei in die Küche. Jedenfalls wird Richard, wenn er seinen famosen Risotto kocht, hilfreiche Hände genug finden. Also:
Kommt!
Der Park wimmelt von den vermaledeiten Vogeljägern, die kein Engel mit stammendem Schwert von den Pforten unseres Paradieses zurückhält. Jeden Nachmittag durchstreife ich daher Dickicht und Busch, »die Drosseln zu hüten«, wie Maria es nennt, mit einem leisen Lächeln um ihren ernsthaften Mund; und unsere getreue alte Ro sieht mich bereits von den Kugeln der racheschnaubenden Schützen durchbohrt.
Ich hüte trotzdem. Aber Amseln und Blaudrosseln, Meisen und Stieglitze werden trotzdem massenweise umgebracht. Ich bin wütend darüber und lasse mir trotzdem die kleinen Opfer der Lieblingsleidenschaft meiner kindlichen Landsleute in Speck gewickelt, auf dem Rost gebraten, zur Polenta vortrefflich schmecken. Besonders die Lerchen sind dieses Jahr ungemein fett. Also:
Kommt!
Als ich kürzlich oben bei der Tusculana die frommen Kapuziner besuchte, zeigte mir der wackere Fra Rocco die neunerlei Arten Salat, die er auch dieses Jahr wieder für den » buonissiomo Signor Riccardo« gepflanzt hat. Sämtliche neun Sorten treiben bereits zarte goldgelbe Blättlein. Also –
Die Oliven werden geschnitten. Weit und breit bedecken die Zweige den Boden, dass das frühlingsgrüne Land weit und breit mit silberhellem Laubwerk bestreut ist. Maria wand sich gestern mir zuliebe einen Zweig um die Stirn, und sah in diesem Schmuck so feierlich aus wie eine Priesterin der Minerva. Denn wie Ihr wisst, dient sie nur strengen Göttern. Sie versprach mir, sich für Euch wieder so fromm zu kränzen. Ich bitte Euch also – –
Früher saß ich tagelang wie festgeschmiedet am Schreibtisch; jetzt sitze ich tagelang wie angebunden auf dem Rücken meines Pferdes. Gestern stürmte ich nach Tusculum und bis zum Kreuz hinauf. Es war ein toller Ritt, den mir nur ein Kunstreiter nachmacht, und ein solcher hätte sich dabei den Hals brechen können. Beim Kreuz, gerade unter dem antiken Travertinblock und dem eingemeißelten, jetzt fast verwaschenen R. V. pflückte ich die ersten Veilchen.
Ich möchte Frau Melanie bald wieder mit tusculanischen Veilchen geschmückt sehen. Also:
Kommt! Kommt!
Da ich nichts, gar nichts zu tun habe; nicht arbeiten kann, nie mehr arbeiten werde. – – Und da ich trotz meines übermütigen Tons wieder einmal recht von Herzen trübselig bin ... Kurzum: ich sehne mich nach Euch!
Kommt! Kommt! Kommt!
*
Dieser Sehnsuchtsschrei nach Eurer Gegenwart sollte durch Rosa eben zur Post befördert werden, als man uns Eure Briefe brachte: Ihr kommt dieses Jahr nicht? Die beiden Menschen, die für uns die Menschheit bedeuten, kommen nicht!
Wir werden also noch einsamer sein als wir es schon sind.
Wir werden sehr einsam sein.
*
Du arbeitest? Du kannst arbeiten? Du Glücklicher, Du dreifach Gesegneter! Und Du hast Erfolge gehabt? Die Erfolge gönne ich Dir, die Erfolge will ich nicht. Aber Deine Arbeit, die Möglichkeit zu arbeiten, die Kraft zu arbeiten ...
Ich kann nicht arbeiten, nie mehr kann ich arbeiten!
Vermagst Du Dir vorzustellen, was das heißt: nie mehr arbeiten können?
Nicht können!
Du hast sehr viel Phantasie, eine berüchtigte Einbildungskraft. Nimm davon, so viel Du hast, und stelle Dir dann vor: einen Maler, der nicht malen; einen Sänger, der nicht singen; einen Dichter, der nicht dichten – einen Lebenden, der nicht leben kann.
Es lässt sich aber nicht vorstellen.
Ich lebe. Ich gehe, stehe, bewege mich. Ich sehe, höre, rede. Ich esse, schlafe ein, erwache wieder. Jedenfalls bin ich weder todkrank noch blödsinnig; doch würde ich mir eher den Glauben geben können und damit Berge versetzen, als im Stande zu sein, zu denken, zu arbeiten, zu dichten.
So ist es seit Jahren und Jahren. Ich zähle die Zeit längst nicht mehr. Mein Herz ist leer, mein Hirn ist matt. Ich bin wie ein vertrockneter Brunnen, wie ein verdorrter Baum, eine ausgesogene Ackerscholle.
Nimm mich als warnendes Beispiel:
Hüte Dich!
Denn Du arbeitest zu viel und zu sehr mit dem Herzen – viel zu sehr! Mit Deinem Herzen schreibst Du Tragödien. Das ist früher oder später sicherer Untergang: entweder so, oder so! Entweder ist es geistiges Siechtum, oder das Irrenhaus. Und beides ist noch nicht das Schlimmste. Denn es kann auch so kommen: entweder Verzweiflung an Dir selbst, oder Verzweiflung an der Menschheit. Entweder Größenwahn, oder Verbitterung.
Und das ist das Schlimmste.
Hüte Dich!
Ich weiß, wie es ist, wenn man seine Seele nimmt: seine ganze Seele, und sie auf den literarischen Trödelmarkt zum Verkauf bringt. Es mordet! Allmählich, langsam: Gedanke für Gedanke, Nerv für Nerv, Herzschlag für Herzschlag.
Es mordet den ganzen Menschen.
Mit dem Herzen beginnt es, mit dem Geist endet es.
Die Bühne ist eine Mörderin. Wer sich ihr mit Leib und Seele ergibt, der kann nicht mehr los von der Sirene, der wird vergiftet, erwürgt, totgeschlagen.
Hüte Dich!
*
Maria geht noch verschlossener und ernsthafter umher als sonst; denn: Ihr kommt nicht! Wie ich Dich liebe, so liebt sie Deine Frau, diese immer gleich Heitere, immer gleich Milde, diese alles Verstehende und alles Vergebende, diese Gerechte und Gütige.
Unsere ganze Heerschar dienender Geister teilt unsern Kummer; und der kleine schwarze Eiserne steht so trübselig da wie ein rechter Pessimist, der nicht weiß, was er auf dieser kältesten aller Welten zu schaffen hat. Denn Maria hat ihr Kohlenbecken und die andern frieren, jeder auf seine Weise, den lieben langen Tag im Hause umher, wenn es draußen am Brunnen nicht grade etwas zu waschen, auf der Wiese unter den Steineichen nicht etwas zu trocknen, oder im Portikus nichts zu schwatzen gibt. Zum Glück sind diese drei guten Dinge bei uns stets im Überfluss vorhanden.
Rosa lässt Dich sehr ernstlich fragen: für wen sie wohl so viele Erdbeeren von Nemi und Aprikosen aus der Villa Muti eingekocht hatte? Für wen die endlosen Schnüre Caldarelli, diesen Pilz aller Pilze, getrocknet? Für wen das kleine schwarze herzige Schwein gemästet, das Rosa so zärtlich liebt, und das sie, mit Rosmarin und Salbei gefüllt, à la Vater Homer, zum Grotta-ferrata-Fest am Spieße für Euch braten wollte? Vitto, die sich immer junonischer entwickelt, verlangt energisch zu wissen, wer jetzt abends mit ihr Briscola spielt, ihr Nummern für die Tombola sagt, und vom Schinkenfest rote Papiernelken, Haselnüsse und Ciambelli mitbringt?
Als ich heute der gesamten Villa mitteilte: Ihr kämt dieses Jahr nicht, erhob sich ein Geschrei, als bräche eine Palastrevolution aus. Ihr werdet hoffentlich keine Nacht ruhig schlafen; denn ein gutes Gewissen könnt Ihr »unmöglich mehr haben, nachdem über dem leuchtenden Hause durch Eure Schuld solche schwarze Wolke« aufzog.
Da ich Euch, Ihr Unentbehrlichen, so bald nicht wiedersehen soll, will ich wenigstens auf dem Papier bei Euch sein.
Ich habe ja niemanden, zu dem ich reden darf! So reden, als spräche ich mit mir selbst; denn meine arme Maria, meine schöne blasse, unnahbare himmlische Liebe –
Es liegt etwas zwischen uns.
Was? Es ist etwas Geheimnisvolles, Dunkles, Unheilvolles. Ich finde nicht, was es ist, so sehr ich auch –
Nein, ich finde es nicht ...
Ich durchschaue Eure gute Absicht, wenn Ihr mit aller Eurer Liebesgeduld, Herzenswärme und eindringlichen Beredsamkeit immer wieder und wieder in mich dringt, den Versuch zu machen – nur den Versuch! – einmal aufzuschreiben: wie ich in die Villa Falconieri, dieser reinsten und zugleich leidenschaftlichsten Liebe meines Lebens, gekommen, wie ich in dieser gesegneten Villa Falconieri geblieben bin? Ich soll es für Euch aufschreiben: einfach und wahrhaftig, nicht anders ... als spräche ich zu mir selbst.
Ich erkenne Euch ganz!
Ihr hofft: es soll mir durch dieses schlichte, möglichst sachliche Aussprechen klar werden, dass ich in Wirklichkeit gar kein verlorener Mensch und verdorbener Poet sei, dass ich diese beiden tragischen Gestalten nur darstellen wolle, dass mir sehr gut geholfen werden könne – sobald ich nur ernstlich, sehr ernstlich wünsche, mir selber zu helfen.
Ich weiß: auch Ihr haltet mich für einen, den jene große allgemeine Krankheit unseres zu Ende schleichenden Jahrhunderts befiel: für einen in der Einbildung Leidenden, für einen Neurastheniker – wie solcher modernster Patient heißt. Selbst Ihr meint: es komme lediglich auf eine Gewaltkur an, um meinen todkranken Willen zum Leben und zur Arbeit wieder gesund zu machen.
Ihr möchtet mich meiner geliebten Einsamkeit entreißen, mich noch einmal in die Welt zurückführen. Ihr wollt mich wieder zu einem nützlichen Mitgliede der Gesellschaft machen.
Seht! Ich liebe Euch so innig, dass ich Euch zuliebe mein Möglichstes tun werde, um – mich selbst zu überzeugen, wie sehr Ihr im Rechte seid.
Angenommen also: alles sei Selbsttäuschung, mein ganzes Leiden sei imaginär, nur eine Ermattung der Nerven. Dann hätte ich volle zwanzig Jahre vergeudet und verloren.
Zu dieser Erkenntnis, wollt Ihr, soll ich gelangen?
Und wenn ich mich von der unerbittlichen Wahrheit Eurer Ansicht überzeugt haben werde – was dann?
Was dann mit dem öden Rest eines verfehlten Lebens beginnen?
Doch zunächst will ich aufschreiben, wie alles sich zugetragen hat. Und ich will in diesen Blättern so wahrhaftig sein wie ein Mensch in seiner Todesstunde.
*
Ich bin sicher mit einem melancholischen Geist und einer müden Seele geboren worden, geriet also schon durch meine natürlichen Anlagen in einen beständigen schweren Konflikt mit dem Leben. Bereits in meiner Kindheit wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte, da ich so ganz anders war als die andern, sogenannten normalen Menschen, da diese meine Absonderlichkeit mich immerfort fühlen ließen, da ich dadurch scheu und misstrauisch wurde: nicht nur gegen die Menschen; sondern auch gegen mich selbst.
Letzteres war das größte Unglück, welches mir geschehen konnte. Denn wer an sich selbst zweifelt, der verzweifelt. Und das ist der Anfang vom Ende.
Meine früheste Umgebung und das lieblose, prunkhafte, kalte, rein äußerliche Milieu meiner ganzen Existenz arbeiteten beständig daran, solche gefährlichen Anlagen und Neigungen zu entwickeln und zu üppiger Entfaltung zu bringen. So geschah es, dass auf durchaus natürliche Weise aus einem verschlossenen phantastischen Knaben ein verträumter verworrener Jüngling wurde.
Zugleich beseelte mich eine unbändige Sehnsucht nach allem Guten, Großen und Schönen.
Weil ich überaus verlassen und einsam war, von keinem mich verstanden fühlte, daher auch zu keinem sprechen konnte; und weil ich doch beständig einen dunklen Drang in mir verspürte, zu sprechen und mich womöglich allen verständlich zu machen, begann ich in einer Art von ekstatischem Traumleben meine Gedanken und Empfindungen, meine Stimmungen und Eindrücke, mein Sehnen und Leiden, so gut es eben ging, auf dem Papier zu erklären.
Und siehe! Ohne mein besonderes Hinzutun gestalteten sich plötzlich Reime, Verse, Gedichte.
Es erschien mir als etwas höchst Wunderbares.
Durch einen brutalen Zufall wurden diese bedenklich jugendlichen Poesien gedruckt, veröffentlicht, gelesen.
Und plötzlich hörte ich von allen Seiten:
»Du bist ein Dichter!« Ein Dichter! Ich konnte es lange gar nicht begreifen ... Es hieß sogar: ich wäre ein Genie.
Ihr kennt Italien und die Italiener; Ihr wisst, was Talent und Ruhm im Vaterlande Petrarcas und Dantes bedeuten: bei uns gehört der Dichter seiner Nation. Es ist etwas Großes davon. Aber die Menschen hatten mich zu früh gelehrt, mir zu misstrauen; und als Italien anfing, an mich zu glauben, hatte ich den Glauben an mich bereits fast verloren.
Ich sage Euch: die Kämpfe und Leiden eines Künstlerlebens, welches aus Zweifeln besteht, lassen sich nicht ausdenken. Das Dasein wird zur Qual, Qual ist jede Stunde. Man möchte einen Flammenbrand entzünden und ist nicht fähig, der Asche seines Unvermögens auch nur einen Funken zu entlocken.
So wenigstens glaubt man selbst. Und was man selbst glaubt, ist schließlich maßgebend.
Kommt zu solchem Missverhältnis zwischen Wollen und Können, zwischen Erstrebtem und Vollbrachtem eine völlige Unerfahrenheit in Menschen und Dingen, ein ewiges Bedürfnis, Menschen und Dinge sich anders zu malen als sie sind: die ganze Welt in bengalischer Beleuchtung zu erblicken, so ist der Konflikt zwischen einer phantastischen hyperempfindsamen Künstlernatur und einer von banaler Gesundheit strotzenden Menschheit beinahe eine Notwendigkeit.
Der Künstler muss zusehen, wie er mit sich selbst und der Welt fertig wird, ohne an der Welt und sich selbst zu Grunde zu gehen.
Es mögen eingebildete Leiden sein. Gut! aber sie werden gelitten. Bisweilen ist der eingebildete Patient ein viel hoffnungsloserer Kranker als der Schwindsüchtige.
Für gewisse Künstlernaturen ist das Leben das verschleierte Bild von Sais.
Auch ich war der wissbegierige Jüngling, der, entgegen dem Gebote, die Hand ausstreckt, um vor dem geheimnisvollen Bildnis die Hüllen zu heben: jeden Tag um ein weniges mehr. Und jeden Tag mehr ward das Gesicht, das aus den Schleiern mich anblickte, zum Haupt der Meduse.
Ich schrieb, was ich sah – was ich zu sehen glaubte. Ich sah Trauerspiele, nichts als Trauerspiele. Und ich dichtete nichts anderes. Die Stücke wurden aufgeführt und gefielen. Jetzt packte mich ein Fieber. Ich wollte die mich vernichtenden Zweifel künstlich betäuben, wollte mich durch narkotische Mittel berauschen, dass ich wenigstens im Rausch an mich glaubte. Mein Opiat war die Arbeit. Wie im Delirium schrieb ich und schrieb. Werk um Werk entstand, Tragödie auf Tragödie.
Aber meine Seele wurde müder und müder. Mein Geist begann zu ermatten.
Eine erste Liebe, die tragisch begann und tragisch endete, kam über mich wie ein Sturm. Jetzt erlebte ich das Große und Schöne. Aber es war eine schreckliche, eine vernichtende Schönheit. Mit einer Kraft, die stärker war als ich selbst, überwand ich die Krisis, ganz als wäre ich eine jener vollblütigen robusten und normalen Naturen. Von dem Todesübel der Leidenschaft blieb indessen etwas in mir zurück. Nur ein winziger Rest. Der genügte. Es war keine Krankheit mehr; doch ward es ein Siechtum.
Mit fünfundzwanzig Jahren hatte ich erst einen Atemzug vollen Menschenlebens getan. Im übrigen lag in fiebernder Arbeit ein Dasein bereits hinter mir.
Wenigstens darin war ich ein treuer Sohn meiner Zeit.
Rasch, wie es angefangen, entwickelte es sich.
Vor zwanzig Jahren im Frühling kam ich von meiner Vaterstadt Mailand nach Rom, wo im Valletheater mit Salvini und der Tessaro die Première meiner »Agrippina« stattfand. Sie hatte lärmenden Erfolg. Mitten in dem Getöse packte es mich wie Wahnsinn. Und doch war viel reine Vernunft dabei. Denn zum ersten Mal erkannte ich mich selbst. Es war nicht anders, als wäre ich plötzlich durch einen einzigen Blick in meine Seele hellsehend geworden.
Ich erkannte, dass meine heimlichen angstvollen Zweifel recht behielten, dass alle meine Betäubungsversuche nicht helfen konnten, mich auf die Dauer über mich selbst zu täuschen, dass mein sogenanntes Genie nicht einmal ein volles echtes Talent war. Ich erkannte in meinen famosen Jambentragödien die dramatische Halluzination, in meiner berühmten tragischen Leidenschaft das falsche Pathos, in meinen prächtig tönenden Versen den Schwulst. Mit einem Wort: ich erkannte, wie ich von einem Poeten nur den Namen besaß.
Und ich erkannte ferner: mit unserer großen klassischen Überlieferung war es vorbei, die Zeit der Akademien näherte sich ihrem Ende.
Eine neue Zeit brach wie eine Sturmflut herein, eine Zeit, welche die alte Kunst fortspülte, eine neue heranschwemmte.
Was für eine Kunst?
Das war die Frage!
Als sichere Antwort konnte ich sagen, dass es meine Kunst nicht sein würde.
*
Auch das erkannte ich:
Wie du nun einmal beschaffen bist, wirst du mit deinen Werken in dieser neuen Ära der Dinge verloren sein und zu Grunde gehen.
Sie werden dich und deine Arbeit abtun und fortwerfen wie unnütz gewordenes Gerät.
Alles stand vor mir gleich einer Vision. Ich sah alles in unbarmherziger Schärfe, wie ich meine eigenen dichterischen Gesichte niemals erblickt hatte. Ich sah meine Zukunft als Poet und Mensch in dem Augenblick, da das Haus mir zujauchzte und mich mit Lorbeeren und Blumen überschüttete.
Denn sie liebten mich sehr.
Und in demselben Augenblicke, da ich das Kommende greifbar vor mir sah, sagte mir eine innere Stimme:
Ein kranker Mensch gehört nicht unter lauter Gesunde, ein falsches Talent hat mit der wahren Kunst nichts gemein. Du musst dich selbst ausscheiden, ehe sie dich heißen beiseite zu treten. Du musst dich selbst begraben, bevor sie dich lebendig zu den Toten werfen.
Während der Aufführung, inmitten meines Triumphes, verließ ich das Theater; und früh am Morgen, vor Sonnenaufgang, bestellte ich mir ein Pferd und verließ Rom.
Ich musste etwas Großes, Feierliches erleben, etwas, das meinen ganzen Menschen läuterte und erhob.
So ritt ich denn durch die Porta San Giovanni der Morgenröte entgegen, in die Campagna hinaus. Als die letzten Wohnstätten hinter mir lagen, als die schweigende Wildnis mich umgab, vor mir die Albanerberge, neben mir die Sabina wie schimmernde Wolkenzüge vom frühlingsgrünen Grunde der weiten Steppe sich aufbäumten; und als nur die steinernen Ungetüme der antiken Wasserleitung mit mir zogen, der Kirchhof der Weltgeschichte mit seinen umblühten Grabstätten und braunen Trümmerhaufen sich auftat – da ward mir in der erhabenen Ruhe zu Mute gleich einem, der sich selbst besiegt, der also auch das Leben bezwungen hatte.
Keinen Ruhm mehr und keine Leiden; keinen Ehrgeiz und kein unerfülltes Streben; nie mehr große Wünsche und leuchtende Hoffnungen. Und nie mehr diese fürchterlichen, den Geist zerstörenden, das Herz zermalmenden Enttäuschungen.
Über dem alt heiligen Berg Cavo ging die Sonne auf.
Es war wundersam, vom Tage sich bescheinen zu lassen und denken zu dürfen: der Tag wird für dich ohne Qualen sein. Denn allein durch den bloßen Willen zur Verneinung des Lebens fühlte ich mich bereits vom Alpdruck des Lebens befreit.
Einmal blickte ich zurück.
Da lag Rom hinter mir zwischen den Hügeln versunken. Nur die Peterskuppel stand am Horizont wie ein lichtes schwebendes Himmelszeichen und nicht wie ein Werk von Menschenhand.
Manchem mochte das Bild als Symbol gelten.
Bei einer völlig biblisch wirkenden Zisterne vorbei, am Fuß der Weinberge, ritt ich in die Höhe: aus einer Wüste heraus, brachten mich wenige Schritte in ein paradiesisches Gefilde, durch welches die Straße aufwärts nach Frascati führte.
Ich ließ die helle heitere Weinstadt hinter mir und lenkte mein Pferd durch einen Hohlweg dem Ruinenberg von Tusculum zu, wo ich vor vielen Jahren in fröhlicher Gesellschaft einen köstlichen Sommertag verbracht hatte.
Bei der Villa Tusculana stieg ich vom Pferde und gab meinem müden Tier in der schönen Wildnis, die das verschlossene Haus der Napoleoniden umfing, freie Weide.
Unterhalb der grasbewachsenen Schlossterrasse lag, von hochstämmigem Lorbeer dicht umbuscht, ein kleines Kapuzinerkloster, darin es zur Messe läutete.
Selig die Einfältigen, die in diesen wonnigen Höhen, gleichsam über der Erde schwebend, einer göttlichen Idee dienen durften! Was sollte ich mit meinem Leben beginnen, der ich mich asketisch von allem Lebendigen lostrennen wollte?
Ohne des Wegs zu achten, schlenderte ich dahin: an Fragmenten eines halb vergrabenen prächtigen Marmorgebälkes, an zertrümmerten antiken Statuen und gestürzten Säulen vorüber. Ein Pfad, so bunt von Blumen, dass er wie mit Edelsteinen bestreut erglänzte, führte mich hinter das weitläufige Gebäude und durch ein lose in den Angeln hängendes verrostetes Gitterthor in einen kleinen quadratischen Garten, den mit schneeweißen Blumenwänden ein Wald von Laurustinus umschloss. Blühender Lorbeer streckte seine goldigen Zweige darüber.
An der einen Seite stieß der reizende Ort an einen Anbau der Villa, die hier bis zum Dach hinauf gelbe und blass rote Kletterrosen bedeckten. Sie umrankten eingelassene Reliefs von höchster Anmut und einer wahrhaft hellenischen Heiterkeit.
Inmitten des Gärtchens befand sich ein rundes Brunnenbecken, statt des Wassers mit Marienlilien gefüllt. Die verwilderten Beete trieben in überschwänglicher Fülle Narzissen und Tulpen, Hyazinthen und Kaiserkronen. Jasmin und weiße Spiräen bildeten undurchdringliche Dickichte, darin Amseln und Blaudrosseln nisteten.
Eine Welle von Wohlgerüchen schlug mir entgegen und die Morgensonne lag funkelnd auf jeder Blüte, jedem Blatt.
Voll stillen Staunens durchschritt ich das Zaubergärtlein, trat an eine niedrige Brüstung und blickte in eine vom Silberschimmer der Oliven gefüllte Tiefe.
Gleichsam versunken in der glänzenden Laubflut, sah ich auf mehrfach übereinander getürmten mächtigen Terrassen eine palastähnliche Villa mit langer leuchtender Fassade. Über der Säulenhalle des stark vorspringenden Mittelteils lag eine Loggia mit hoher schlanker Nische unter freistehender prächtiger Dachbekrönung, während die Seitenflügel eine festlich heitere Pfeilerarchitektur zeigten. Verschiedene monumentale Tore aus goldbraunem Travertin durchbrachen einen doppelten Mauerkreis und führten zu einem Hain von Steineichen, der feierlich das königliche Haus umdunkelte. Hochstämmige Pinien mit breiten glänzenden Wipfeln entstiegen dem Dickicht eines verwilderten Parkes. Ein Rosenfeld schimmerte durch das vielfarbige Grün zu meiner Höhe empor. Ein schwermütiger Teich träumte einsam zwischen schwarzen Zypressen.
Lange stand ich, schaute hinab, empfand den Feiertagsfrieden der schönen Stätte und wurde von einer tiefen Sehnsucht erfasst. Dort ein nutzloses Dasein nicht unedel zu Ende zu führen, ein krankes Gemüt zu bestatten, eine müde Seele zur Ruhe zu bringen....
Daran dachte ich in meinem ungestümen Verlangen, mich selbst aufzugeben – nur daran!
Was ich in jener Traumstunde nicht bedachte: der Bauer, der im Schweiße seines Angesichts sein Feld bebaut, der Tagelöhner, der sein mühseliges Tagwerk redlich vollbringt – diese Männer sind im Vergleich mit solchem Sohn des Weltschmerzes nicht nur achtbare Weltbürger; sondern auch nützliche Mitglieder der Gesellschaft.
Indessen mein melancholisches Temperament, zugleich mit einer sybaritischen Neigung, in landschaftlicher Schönheit zu schwelgen; mein Hang zu Träumerei und Einsamkeit – so viele heimlich wirkende Seelenkräfte unterjochten in jenem bedeutungsvollen Augenblick meinen ganzen Menschen mit der Gewalt eines entfesselten Elements.
Ich bestieg wieder mein Pferd und ritt durch die Olivenwälder und Steineichenalleen hinunter. Ich ritt durch ein offenstehendes, mit großem Wappenschilde verziertes Tor in eine Kastanienpflanzung und gelangte durch ein zweites, sehr prächtiges, sehr barockes Portal, darüber in tief eingegrabenen Lettern der Name: Horatius Falconerius geschrieben stand, in den Steineichenhain, dessen vom Sonnenlicht durchfunkelte Dämmerungen mich wie ein Mysterium umfingen.
Jetzt befand ich mich vor dem Hause.
Kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Sämtliche Türen waren geschlossen und die Fenster durch Läden verwahrt.
Auf den breiten Wegen wuchs Gras, die vielen bizarr geformten Steinsitze und Tische unter den Steineichen bedeckte dichtes Moos, die Fontänen und Wasserbecken lagen trocken, mit Unkraut gefüllt.
Ein purpurfarbiger Teppich von Cyclamen überzog die Terrasse; vor dem Hause wucherten, ungepflegt und ungepflückt Rosen und eine baumstarke Glycinie bildete über dem Eingang zu dem ehemaligen Garten ein freistehendes blühendes Tor. Die Ranken des schönen Baumes waren bis in die Halle des Mittelbaues gekrochen, wo sie, die Säulen hinankletternd, von Bogen zu Bogen sich schwangen und die dort aufgestellten Büsten römischer Kaiser und Kaiserinnen jugendfrisch kränzten.
Ich mochte das tiefe Schweigen nicht stören, den eingeschlummerten Genius des Ortes durch den Ruf einer Menschenstimme nicht wecken.
So ritt ich denn weiter, um nach einem Wächter des stillen Hauses zu suchen.
Ein Tor aus prächtigen korinthischen Säulen, die auf breitem Postament zwei steinerne Löwen trugen, führte von der Terrasse in den Wirtschaftshof.
Aber auch hier war alles Verfall und Verlassenheit.
Jetzt trabte ich langsam um das ganze Gebäude, das, je weiter ich kam, um so mehr den Eindruck eines verwunschenen Schlosses machte. Plötzlich vernahm ich den leisen Gesang einer Frauenstimme. Ich hielt das Pferd an und lauschte. Die Stimme hatte solchen tiefen dunklen Klagelaut. Aber Ton und Melodie des melancholischen Ritornells passten zum Hause, als sei es dessen Geist, welcher sang.
Die Sängerin begann einen neuen Vers. Jetzt verstand ich die Worte. Sie lauteten:
»Blühende Ranken ...
Sieh, wie sie schwanken im Wind!
Schlafe doch, schlafe, mein Kind –
Schlaft, ach, schlaft doch, Gedanken!«
Der Stimme folgend, war ich der Sängerin ganz nahe gekommen.
An der Rückseite der Villa öffnete sich im Erdgeschoß eine breite Wölbung, durch die ich in einen Hof blickte. Mir gegenüber befand sich eine hohe Mauer. Wo der graue Kalkbewurf abgefallen war, glänzte altrömisches Netzwerk zwischen bläulichem Basalt hervor: ein Zeichen, dass der Palast auf den Fundamenten einer antiken Villa errichtet worden war. Der Hof musste unmittelbar unter dem Rosengarten liegen: denn von dem Mauerrand hoch oben stürzte sich sonnbeschienen eine Flut weißer Bansiarosen in die kühlen Schatten nieder, mit den seinen weichen Blüten den Torso einer antiken weiblichen Gewandstatue verschleiernd. Die schöne Figur stand bei der dicht mit zarten Nymphenfarren bewachsenen Wand in einem von wilden Kallas umwucherten Brunnen.
Hier war auch die Sängerin.
Sie saß auf dem Rand des Beckens, unter den blassen Blumen und gab ihrem Kinde die Brust, es zugleich mit ihrem schwermütigen Gesang einschläfernd. Die ganze Gestalt befand sich in dem Schatten, den der breite Blütenfall der lang niederhängenden Rosenranken über den grünen Grund warf. Aber über dem Haupt der jungen Mutter leuchtete der blumige Schein wie eine märchenhafte Gloriole.
So erblickte ich Maria zum ersten Mal. Sie war sehr schön! Von einer fremdartigen herben und unnahbaren Schönheit, wie sie die Alten in Priesterinnenstatuen und manche Präraffaeliten in ihren Madonnenbildern dargestellt haben. Aber ihre Marmorblässe und ein unbeschreiblicher Ausdruck von Schwermut milderten die Strenge des wunderbaren Gesichts, das, über den Säugling gebeugt, in dieser zärtlichen Haltung sogar etwas Holdseliges und rührend Jungfräuliches hatte.
Der Kopf war unbedeckt und ich sah die Pracht des goldbraunen Haares, das in schimmernden Wellen an den bleichen Wangen herabfloss und tief im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst war.
Dem Anzuge nach schien sie eine Frau aus dem niederen Bürgerstande zu sein; doch machte auf mich die ganze Erscheinung sogleich den Eindruck, als wäre es dieser jungen Mutter vollkommen gleichgültig, ob sie ein Kleid aus Seide oder Kattun trüge. Ich konnte mir keinen Grund für diese eigentümliche Vermutung angeben; ich hatte sie aber sogleich.
Sie sah mich zu Pferde mitten im Torweg halten, hob den Kopf ein wenig, unterbrach jedoch weder ihren Gesang, noch verhüllte sie ihre Brust. Sie sah mit einem teilnahmslosen zerstreuten Blick über mich hinweg und senkte die Augen sofort wieder auf das Kind.
Geduldig wartete ich, bis der Säugling gestillt und fest eingeschlafen war.
Jetzt verstummte sie, schloss ohne jede Hast ihr Kleid und stand auf.
Wie sie mir langsam entgegen schritt, hatte ihre Haltung etwas, das mich veranlasste, sie zu grüßen, als wäre sie eine Dame.
Sie dankte mir kaum. Ich fragte:
»Schläft das Kleine. Hoffentlich störte ich nicht?«
»Ich ließ mich nicht stören.«
Sie sprach zu meinem Erstaunen besser als gewöhnlich unsere Damen sprechen, selbst unsere Damen der besten Gesellschaft, Doch sprach sie zu leise und ausdruckslos, gewissermaßen zu apathisch, als dass ich von ihrem Organ einen Eindruck hätte erhalten können.
Aber grade diese verschleierte Stimme berührte mich seltsam.
Gleichgültig waren auch ihre Bewegungen, gleichgültig war die Haltung ihres Kopfes, war der Ausdruck ihrer Miene: gleichgültig darüber, was die Menschen von ihr dächten, gleichgültig gegen die Welt und das ganze Leben.
Doch wie sie jetzt mit der Hand leise, leise über das Gesicht des schlafenden Kindes fuhr und es mit einem Tuche bedeckte, lag in dieser stillen Bewegung ein ganzer Himmel von Zärtlichkeit.
Und was für wunderbare Augen sie hatte! Jene hellen Sphinxaugen, die wir Italiener »weiße Augen« nennen. Es gibt für diese farblosen und doch so leuchtenden Augen keinen bezeichnenderen Ausdruck.
Ich wandte mein Pferd ins Freie zurück. Sie folgte mir. Als ich sie wieder ansah, flößte mir ihre prachtvolle, aber unbeschreiblich traurige Schönheit, jetzt voll von der Sonne beschienen, fast Schrecken ein. Jetzt erst sah ich auch, wie schlecht gekleidet sie war, nicht grade ärmlich, doch sehr nachlässig. Nur ihr herrliches Haar war gepflegt, und sie hatte die Hände einer Weltdame.
Sie trug einen Ehering. Ich ließ mein Pferd neben ihr hingehen und begann von neuem ein Gespräch:
»Finde ich hier wohl jemand, der mir die Villa zeigt?«
Sie erwiderte:
»Mein Mann ist in der Oliveta und unsere sämtlichen Leute sind dort beschäftigt.«
»Ihr Mann –«
Absichtlich stockte ich, was sie jedoch nicht beachtete.
So musste ich denn direkt fragen:
»Hat Ihr Mann etwas mit dieser schönen Besitzung zu tun?«
»Er ist Pächter der Tenuta, die zur Villa Falconieri gehört.«
»So heißt dieses Märchenschloss?«
»Es ist hier allerdings einsam.«
Sobald sie etwas lauter sprach, hatte ihre Stimme einen tiefen Wohllaut. Aber sie blieb eintönig und schwermütig.
»Ich beneide Sie um diese Einsamkeit!« rief ich aus.
»O wirklich?«
Sie sprach wie eine vornehme Dame, die eine ihr vollkommen gleichgültige Konversation führt und der es ganz einerlei ist, ob die Leute sich bei ihr unterhalten oder nicht.
»Befindet sich die Villa auch jetzt noch im Besitz der Falconieri? Verzeihen Sie, wenn ich Sie ausfrage; aber der wundersame Ort hat es mir jedoch angetan.«
»Die Falconieri sind nicht mehr Besitzer. Der letzte Fürst Falconieri hat die Villa vor einigen Jahren verlassen – verlassen müssen.«
»Ich erinnere mich. Die Falconieri gehören zu den großen römischen Häusern, die verarmten.« »Vollständig, mein Herr. Der alte Fürst war in den letzten Jahren so arm, dass er sich nicht die Ausgabe machen konnte, mit der Bahn nach Rom zu fahren. Wenn der Fürst nach Rom musste, verkaufte er schnell für den ersten besten Preis eine der prachtvollen Pinien oder Kastanien, durch welche die Villa berühmt war. Die herrlichsten Bäume sind auf diese Art geschlagen worden, und die alte Fürstin stickte im geheimen für Geld Altardecken und Messgewänder.«
Sie machte mir diese Mitteilungen in einer Art, als ob sie ebenso gut hätte schweigen können. Aber ich war ihr dankbar, dass sie mir Gelegenheit gab, ihre Stimme zu hören.
»Wie schrecklich muss es sein, aus diesem Paradiese als Bettler vertrieben zu werden,« rief ich mit ehrlicher Teilnahme aus.
»Ich bedauere diese Leute nicht.«
Die schöne Stimme klang plötzlich hart. Sie beugte sich tief auf das schlafende Kind hinab; und ich konnte, als sie die herben Worte sprach, ihr Gesicht nicht sehen.
In möglichst leichtem Tone fragte ich:
»Was dass Sie so wenig mitleidig sind?« Fast hätte ich hinzugefügt: »mit solchem Madonnengesicht!«
Gelassen erwiderte sie:
»Diese Leute taten mir nicht das Geringste. Auch bin ich durchaus keine Sozialistin, wie Sie vielleicht meinen. Meinetwegen mögen sie schwelgen und vergeuden, so viel sie wollen und können. Aber es gibt noch größeres Elend auf der Welt, als gezwungen zu sein, einen Palast zu verlassen. Selbst hungern zu müssen ist nicht das Schlimmste.« »Was können Sie davon wissen: von noch größerem Elend!«
Sie antwortete nicht sogleich. Dann sagte sie ermüdet:
»Sie haben recht, mein Herr. Ich weiß nichts davon.«
»Du scheinst sehr viel davon zu wissen,« dachte ich.
*
Einer Oliveta entlang, bei einer Gruppe prächtiger Zypressen und Steineichen vorüber, waren wir in den von Pinien überschatteten Hof der Tenuta gekommen, wo nur ein einstöckiges verfallenes Gebäude bewohnt zu sein schien. Ich wünschte heimlich, dass die schöne Frau mit den weißen Händen und dem armseligen Kleide hier nicht wohnen möchte. Zu meiner Freude ging sie an der Baracke vorbei und durch das Löwentor auf die Schlossterrasse.
»Die Villa liegt so verlassen da, als sei sie völlig unbewohnt.«
»Einen kleinen Teil des Hauses bewohnen wir. Die Villa soll nämlich über hundert Zimmer haben, in denen jetzt niemand wohnt. Früher lebte hier eine schöne Gräfin aus Deutschland, die damals Pio IX aus Rom nach Gaeta gerettet hat.«
»Das war die Gräfin Spauer! ... Es freut mich, dass Sie in dem schönen Hause wohnen.«
Ich sah sie nicht an, wusste jedoch sehr genau, dass sie eine sehr erstaunte und unnahbare Miene machte und mich sogleich stehen lassen würde.
»Mir wäre es lieber, wir wohnten in der Tenuta,« wies sie mich nach einer Pause mit großer Ruhe zurück. »Aber mein Mann zieht das Schloss vor. Leider kostet ihn seine Vorliebe für Paläste eine beträchtlich höhere Pachtsumme, und mehr, als wir überhaupt zahlen können.«
»Aber das Wirtschaftsgebäude ist ja eine halbe Ruine!«
»Für uns wäre es gut genug,« sagte sie rau, nickte mir gemessen zu und schritt von mir fort, nach dem Hause hinüber. Eine Fürstin hätte von dieser Pächtersfrau Haltung lernen können.
Wer war sie? Und was war es mit ihr?
Alles war so ungewöhnlich: der Ort und die Frau!
Gar zu gern wäre ich ihr nachgeeilt. Aber ich wagte es nicht; denn sie hatte mich in aller Form verabschiedet. Ich war daher freudig überrascht, als sie plötzlich stehen blieb, einen Moment zu zaudern schien und dann langsam zu mir zurückkam.
Mein Pferd brachte mich sofort an ihre Seite.
Mit kühler Höflichkeit sprach sie mich an:
»Da das alte Haus Sie vollständig bezaubert zu haben scheint, da niemand von unsern Leuten vor Mittag zurückkommt und Sie gewiss keine Zeit zum Warten haben, will ich Ihnen das Haus zeigen.«
»Es wäre sehr gütig! Aber der kleine Schläfer?«
»Es schläft ganz fest, das arme Geschöpf.«
»Weshalb bedauern Sie Ihr Kind?«
»Lebt es nicht?«
Sie tat diesen pessimistischen Ausspruch ohne jede Spur von Pathos und Affektion; aber mit welch trauriger Miene, welch trostlosem Ausdruck!
»Das Kind wird wachsen und gedeihen. Es wird Ihnen Freude machen, wird Ihr ganzer Stolz und gewiss einmal ein tüchtiger glücklicher Mensch werden.«
»Glauben Sie, dass es glückliche Menschen gibt?«
»Wie Sie das sagen!« »Ich frage nur; denn ich weiß es nicht,«
»Warum sollte Ihr Kind durchaus ein unglücklicher Mensch werden? Ist es ein Knabe?«
»Ein Mädchen – leider.«
»Ich bitte Sie – –.«
»Wenn es einmal groß ist und schön sein sollte, wenn es dann hoch im Preise steht und seinen Käufer findet! Mein armes Kind, o mein armes Kind!«
Sie hatte wie zu sich selbst gesprochen, als mein Pferd zufällig eine heftige Bewegung machte. Jetzt errötete sie bis an die Haarwurzeln, was ihren stillen ernsten Zügen plötzlich einen überaus lieblichen, beinahe kindlichen Ausdruck gab.
Leise sagte sie dann:
»Ich führe Sie also durch das Haus.«
Sie ging und kam nach einer Weile ohne das Kind und mit dem Schlüssel zurück.
Ich sprang vom Pferde und folgte der wunderschönen seltsamen Frau.
*
Durch die mit antiken, als Sitze dienenden Kapitalen und verschiedenen Erinnerungstafeln an päpstliche Besuche geschmückte Vorhalle trat ich in einen Saal, dessen Wände auf das wunderlichste mit Fresken bedeckt waren... Zwischen prächtiger Säulenarchitektur bewegte sich eine bunte Gesellschaft längst verstorbener Falconieri mit ihren Gästen und ihrer Dienerschaft, während eine andere Generation des alten Fürstenhauses teils als Portraits, teils als in Loggien postierte Zuschauer hier ernsthaft, dort vergnüglich auf das heitere Gewimmel niederblickte. Unter den Frauen fiel mir besonders eine anmutige lustige etwas kokette Teresa und eine sehr schöne stolze und entschlossen blickende Ottavia Sacchetti auf. Von den Männern des Geschlechts erschien ein jugendlicher Lelio recht liebenswürdig und zugleich sehr leidenschaftlich.
Zu beiden Seiten dieses frohen und festlichen Raumes, aus dem ich durch die Bogen der Vorhalle tief in die immergrünen Wipfel der Steineichen schaute, lagen in langer Reihe die Prunkzimmer des fürstlichen Sommersitzes; und da meine Führerin, nachdem sie mir geöffnet hatte, sich nicht mehr um mich kümmern zu wollen schien, so schlenderte ich behaglich von Gemach zu Gemach, in einem jeden Fenster und Jalousie aufstoßend, dass immer neue Lichtwogen die Dämmerung durchströmten.
Es war überall das Nämliche: überall verblichener Glanz und verfallene Pracht. Tische mit kostbaren Platten von rosso und giallo antico, Lehnsessel mit verblassten Vergoldungen, zerschlitzte Vorhänge an Türen und Fenstern, schadhafter Ziegelsteinboden. Sämtliche Wände schmückten entweder Fresken, oder, die ganzen Wandflächen einnehmend, stark nachgedunkelte Ölgemälde. Aber die Stuccaturen der Decken atmeten die Anmut der Renaissance und waren so leuchtend, als wären sie eben aus des Künstlers Händen hervorgegangen.
Der letzte Raum, den ich betrat, entzückte mich.
Die Fresken stellten einen heiteren Hain vor, der einen schimmernden Tempel der Venus umschattete und einen Ausblick auf eine freie sonnige Landschaft gewährte. In den Blumendickichten standen Bildsäulen und Hermen, Altäre und Vasen. Fontänen durchrauschten den kühlen Grund, und ein lustiges Völklein beflügelter Genien war eifrig beschäftigt, Tempel und Hain für eine stille Liebesfeier zu schmücken. Sie flatterten durch die Wipfel, jagten die weißen Tauben der großen Göttin, schleppten schwere Blumengewinde herbei, rissen blühende Ranken von den Bäumen, bekränzten die Statuen, verzierten den Eingang ins Brautgemach. Nur ein kleiner fauler Schlingel schoss vergnüglich nach einer Elster, die auf einem Pinienast hockte.
Über den Wipfeln stieg am tiefblauen Himmel strahlendes Gewölk auf, darin in eigener unsterblicher Person die Frühlingsgöttin erschien. Sie ließ einen Blütenregen herniederströmen, dessen duftige Fluten Amoretten ihr nachtrugen. Junge übermütige Winde bliesen die herabfallenden Blumen durcheinander.
Um dieses wonnige Gemach lief eine offene Galerie; und als ich hinaustrat, stand ich über einer die doppelte Länge des Schlosses betragenden Gartenterrasse und dem in bacchische Fruchtbarkeit gebetteten Frascati.
Ich überblickte das trümmerbedeckte römische Land bis weit in die große etruskische Bergebene hinein; ich überblickte den lichten Strand des Tyrrhenischen Meeres mit seiner dunklen Macchienwildnis, das Alpengebiet der Sabina mit lang hingestreckten kahlen Graten, schneebedeckten Gipfeln und grauen Felsenstädten.
Als ich mich endlich von dem unvergleichlichen Anblick losriss, saß die schöne Frau in einem der mit apfelgrünem Damast bezogenen Armsessel und wartete auf mich. Sie lehnte in ihrem schlechten Kleide mit solchem Anstand in dem vornehmen Stuhl, wie wenn sie für einen Thron geboren wäre. Als ich ihr mein Entzücken über den köstlichen Raum ausdrückte, erklärte sie mir dessen Bestimmung
»Nach einer Sitte, die über dreihundert Jahre alt sein soll, wurde für jedes junge Paar des Hauses in diesem Zimmer das Hochzeitsbett aufgestellt.« Und sie fügte nach einer Pause hinzu: »Hier erwürgte Ottavia Sacchetti in der Brautnacht den Mann, dem sie durch Zwang vermählt worden war.«
Sie sagte das so gelassen, als berichte sie eine alltägliche Begebenheit. Dabei hatten ihre stillen Augen einen grausamen Ausdruck.
»Hier erwürgte Ottavia Sacchetti in der Brautnacht den Mann« ... wiederholte ich mechanisch, und konnte meinen Blick von ihrem Gesicht nicht abwenden. »Weiß man die Ursache der Tat?«
»Ist sie so schwer zu wissen?«
»Wie? ... Ich verstehe Sie nicht –«
»Ich sagte Ihnen ja, dass die unglückliche Ottavia durch Zwang ihres Mannes Weib ward.«
»Weshalb ließ sie sich zwingen!«
»Sie reden eben wie ein Mann.«
»Also begreifen Sie die Mörderin?«
»Ich begreife sie.«
»Wie ist das möglich?!«
»Vielleicht weil ich eine Frau bin,« war ihre gelassene Antwort.
Ich wurde erregt.
»Angenommen: ein Mädchen wird zu einem verhassten Manne gezwungen, so –«
Ich verstummte unter dem Blick dieser hellen unerbittlichen Augen. Sie vollendete meinen Satz:
»So rächt die Frau die Gewalt, die ihrem Leib und ihrer Seele angetan worden – wenn sie sonst eine starke und stolze Seele besitzt. Darauf kommt es allerdings an.«
Ich wollte erwidern. Aber sie stand auf und ging hinaus, ohne mich weiter zu beachten. Absichtlich blieb ich zurück und holte sie erst im Saal ein, wo ich sie unter dem Bilde jener Ottavia stehend fand. In den Anblick des Portraits versunken, sagte sie:
»Diese Unglückliche wurde, weil sie ihre Ehre verteidigte, in Rom vor der Engelsbrücke als Mörderin enthauptet. Sie starb den Märtyrertod und sollte von gewissen Gattinnen wie eine Heilige verehrt werden.«
»Was sind Sie für eine merkwürdige Frau!«
Meinen Ausruf überhörend, wandte sie sich von dem strengen Antlitz Ottavias ab, den heiteren Mienen der reizenden Teresa zu.
»Dieser jungen Falconieri ging es im Leben auch nicht sonderlich gut.«
»Hatte die liebliche Frau etwa gleichfalls ein tragisches Schicksal?«
»Sie wurde von ihrem Manne ertränkt hier in der Villa: in dem Teich, um den die Zypressen stehen.«
»Aus Eifersucht?«
Sie antwortete nicht.
»Weiß man etwas von dem jungen Lelio dort oben?« fragte ich, lediglich um das unbehagliche Schweigen zu unterbrechen.
»Vielleicht war es dieser junge hübsche Herr, um dessentwillen die reizende Teresa sterben musste. Die beiden passten zusammen. Ich denke mir oft, dass es der hübschen Teresa schwer geworden ist, aus der Welt zu gehen. Denn wenn man liebt und wiedergeliebt wird. – Aber wie selten mag beides zusammentreffen.«
Nur um etwas zu sagen, rief ich aus:
»Das ist ja eine eigentümliche Familie, diese Falconieri!«
»Es hat auch sehr fromme Leute darunter gegeben. Verschiedene Falconieri waren Päpste; und die Familie ist sogar so glücklich, einen Heiligen und zwei Martyrisierte aufweisen zu können. Der heilige Alexander Falconieri und die beiden seligen Frauen liegen nebenan in der Kapelle bestattet. Sie tun noch heute Wunder für den, der glaubt, dass heute noch Wunder geschehen. Ich glaube es nicht.«
Hatte sie mir vorhin Scheu eingeflößt, so fühlte ich jetzt große Teilnahme: dermaßen von Leiden erschöpft waren Blick und Miene. Plötzlich ertönte von den Steineichen her ein lauter, gebieterischer Ruf:
»Maria!«
Sie regte sich nicht. Der Ruf wurde wiederholt, diesmal fast drohend:
»Maria! He, Maria!«
Da sie nicht zu hören schien, machte ich sie aufmerksam: »Ich glaube, Sie werden gerufen.«
»Es ist nur mein Mann,« erwiderte sie gleichgültig. »Er schreit immer so.«
Sie verließ langsam, sehr langsam den Saal.
*