Peter Riemer
Michael Weißenberger
Bernhard Zimmermann

Einführung in das
Studium der Latinistik

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

Zum Buch

Diese zeitgemäße Einführung in das Studium der Latinistik vermittelt anschaulich und klar die methodischen, systematischen und literaturgeschichtlichen Grundlagen des Faches. Studienanfängern erleichtert sie den Einstieg in ihre Disziplin, Fortgeschrittenen erlaubt sie eine rasche Wiederholung des Grundwissens; darüber hinaus enthält sie wichtige Hinweise zur sinnvollen Studienplanung und Prüfungsvorbereitung.

Über die Autoren

Peter Riemer ist Professor für Klassische Philologie an der Universität Saarbrücken, Michael Weißenberger lehrt an der Moritz-Arndt-Universität Greifswald und Bernhard Zimmermann ist Professor für Klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Brsg.

Von diesen Autoren liegt in der gleichen Ausstattung eine Einführung in das Studium der Gräzistik vor, die sich großer Beliebtheit unter den Studierenden erfreut.

Inhalt

Vorwort

    I. Einleitung – Definition des Faches und seines Gegenstandes (B. Zimmermann)

   II. Geschichte der Klassischen Philologie (M. Weißenberger)

1. Griechische Ursprünge

1.1. Die voralexandrinische Zeit (bis ca. 300 v. Chr.)

1.2. Die Alexandriner

1.3. Pergamon

2. Römische Philologie

2.1. Republik und frühe Kaiserzeit

2.2 Mittlere Kaiserzeit und Spätantike

3. Das Mittelalter in Westeuropa

4. Die Neuzeit

4.1. Der italienische Humanismus

4.2. Die französischniederländische Periode (ca. 1530–1700)

4.3. Richard Bentley und seine Nachfolger

4.4. Die deutsche Periode

4.5. Die Klassische Philologie im 20. Jahrhundert

  III. Sprachgeschichte (P. Riemer)

  IV. Vom Autograph zur modernen Edition (M. Weißenberger)

1. Überlieferungsgeschichte

1.1. Definition

1.2. Beschreibstoffe in der Antike

1.3. Buchformen in der Antike

1.4. Verbreitung von Büchern in der Antike

1.5. Verbreitung von Büchern in Spätantike und Mittelalter

1.6. Geschichte der Schrift: lateinische Paläographie

2. Textkritik

2.1. Ausgangslage

2.2. Zielsetzung und Bedeutung der Textkritik

2.3. Methode der Textkritik

2.4. Die ‹kritische Ausgabe›

2.5. Praktischer Teil: Benutzung einer kritischen Ausgabe

   V. Hilfswissenschaften (M. Weißenberger)

1. Epigraphik

2. Papyrologie

  VI. Metrik (B. Zimmermann)

1. Definition, Grundbegriffe

2. Die wichtigsten Versmaße und ihre Verwendung

 VII. Rhetorik (P. Riemer)

1. Allgemeines

2. Stilistik

2.1. Figurenlehre (Tropen und Figuren)

2.2. Zum Rhythmus der Rede

VIII. Die Epochen der lateinischen Literatur (B. Zimmermann)

1. Allgemeines

2. Die Epochen der lateinischen Literatur im einzelnen

  IX. Die Gattungen der lateinischen Literatur (M. Weißenberger)

1. Poesie

1.1. Die Tragödie

1.2. Die Komödie

1.3. Das Epos

1.4. Das Lehrgedicht

1.5. Die Satura

1.6. Weitere poetische Formen

2. Prosa

2.1. Die Geschichtsschreibung

2.2. Die Rede

2.3. Die Fachschriftstellerei

2.4. Der Brief

2.5. Die Biographie

2.6. Der Roman

   X. Autoren und Werke (P. Riemer)

1. Vorklassik

2. Klassik

3. Nachklassik

4. Spätantike

  XI. Das Studium (B. Zimmermann)

1. Studienreform, «Bologna-Prozeß»

2. Studienaufbau

3. Studium der Latinistik

4. Kompetenzen und Studieninhalte

5. Schriftliche Arbeit

 XII. Verzeichnis der wichtigsten, in textkritischen Apparaten verwendeten Abkürzungen (M. Weißenberger)

XIII. Literaturhinweise

1. Allgemeines

2. Literaturhinweise zu den einzelnen Kapiteln

XIV. Register/Glossar

 XV. Register der lateinischen Autoren (Kap. X)

Vorwort

In der vor fünf Jahren erschienenen 2. Auflage der Einführung in das Studium der Latinistik wiesen wir darauf hin, daß sich die Situation an Schulen und Universitäten in kurzer Zeit verändert hat und sich ständig verändert. Dies trifft heute – im Herbst 2013 – noch mehr zu als vor fünf Jahren. Das deutsche Hochschulsystem erlebt momentan einschneidende Veränderungen und tiefgehende Umbrüche. Die im Zusammenhang mit dem sog. Bologna-Prozeß erfolgte Neustrukturierung des Studiums hat zu unterschiedlichen Studienordnungen in den einzelnen Bundesländern und an den verschiedenen Universitäten geführt. Der gesamte Prozeß ist momentan noch nicht abgeschlossen. Neue Studiengänge entstehen, das traditionelle Magisterstudium wird durch gestufte modularisierte Studiengänge, durch den Bachelor of Arts (B.A.) und den darauf aufbauenden Master of Arts (M.A.) ersetzt; die Lehramtsstudiengänge werden – in unterschiedlicher Art in den einzelnen Bundesländern – ebenfalls reformiert und modularisiert. So wird es immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, allgemein verbindliche Aussagen über das Studium der Latinistik zu machen. Kapitel XI dieser Einführung versucht, überblicksartig einiges Grundlegende zum Studium der Latinistik zusammenzustellen. Wer sich genauer über den Aufbau des Studiums kundig machen will, dem sei angeraten, die Homepages der jeweiligen Universitäten zu konsultieren.

Im Vorwort zur 2. Auflage konnten wir vor fünf Jahren darauf hinweisen, daß sich die Berufsaussichten für Studierende der Latinistik gegenüber dem Erscheinungsjahr der 1. Auflage beträchtlich zum Positiven verändert hätten. 2008 herrschte in allen Bundesländern ein enormer Mangel an Lehrkräften für den Lateinunterricht an Gymnasien. Inzwischen dürfte diesem Mangel in einigen oder gar in den meisten Bundesländern Abhilfe geschaffen sein, so daß man unschwer voraussagen kann, daß die Einstellungschancen sich in den nächsten Jahren kontinuierlich wieder verschlechtern werden.

Verändert hat sich im Lauf der Zeit zwischen der ersten Auflage dieser Einführung im Jahr 1998 und heute die Fächerlandschaft an deutschen Universitäten: Neue Fächer entstehen, darunter zahlreiche, in denen latinistische Kompetenz erforderlich oder wenigstens erwartet wird. Zu nennen sind, um nur wenige Beispiele anzuführen, die verschiedenen altertumswissenschaftlichen Studiengänge, in denen ein latinistischer (oder gräzistischer) Schwerpunkt gesetzt werden kann. In komparatistischen Bachelor- oder Masterstudiengängen spielt die antike Literatur und Kultur eine nicht unerhebliche Rolle. Editionswissenschaftliche Studiengänge basieren auf den in der Klassischen Philologie entwickelten Methoden der Textherstellung, theaterwissenschaftliche Bachelor- oder Masterstudiengänge weisen in der Regel einen beträchtlichen Anteil an Veranstaltungen zum griechischen oder römischen Theater auf. Die vorliegende Einführung trägt in ihren einzelnen Kapiteln auch diesen über die engen Fachgrenzen hinausgehenden Ansprüchen Rechnung.

Nicht verändert hat sich der im Vorwort der 1. und 2. Auflage festgestellte Befund, daß es immer notwendiger wird, aufgrund der veränderten Studienbedingungen gerade für Studierende im Grundstudium die für das Studium der Latinistik erforderlichen Lehrinhalte, ohne große Vorkenntnisse vorauszusetzen, zugänglich zu machen. Der vorliegende Band versucht, dieses Grundlagenwissen zu vermitteln. Kenntnisse des Griechischen sind nicht erforderlich, wohl aber wird auf die griechische Literatur und Wissenschaftsgeschichte da eingegangen, wo die lateinische Entwicklung ohne die griechische Vorgeschichte nicht verständlich wäre (vor allem in den Kap. II und IX). Was in den einzelnen Kapiteln vorgestellt wird, ist das unabdingbare Grundwissen; die Literaturangaben verweisen jeweils auf einschlägige, weiterführende Literatur.

Saarbrücken

Peter Riemer

Greifswald

Michael Weißenberger

Freiburg im Breisgau

Bernhard Zimmermann

I. Einleitung

Definition des Faches und seines Gegenstandes

Gegenstand der Latinistik im weitesten Sinne ist die in Latein verfaßte Literatur vom Beginn der römischen Literatur im Jahr 240 v. Chr. bis in die Neuzeit hinein. Im Universitätsbetrieb hat sich jedoch aus praktischen Gründen eine in drei Bereiche zerfallende Arbeitsteilung etabliert: Die Latinistik (oder Lateinische Philologie bzw. Lateinische Literaturwissenschaft) behandelt die lateinische Literatur von ihren Anfängen bis zum Ende der Spätantike (7. Jh. n. Chr.); für die in Latein geschriebene Literatur des Mittelalters ist das Mittellatein zuständig; mit den folgenden Epochen, vor allem der Zeit des Humanismus und der Renaissance, befaßt sich das Neulatein.

Im Gegensatz zu den anderen Philologien wie der Germanistik, Romanistik, Anglistik und Slawistik ist der Gegenstand der Latinistik bedeutend umfangreicher. Sie widmet sich nicht nur der Dichtung und der fiktionalen Literatur, sondern allen in Latein verfaßten Texten, also auch der Sach- und Fachliteratur wie der Geschichtsschreibung, philosophischen Werken sowie rhetorischen, architektonischen, landwirtschaftlichen und sonstigen Lehrschriften (S. 150ff.)[∗]. Aufgrund der besonderen Überlieferungslage der lateinischen Literatur (S. 54ff.) muß sich die Latinistik in weit höherem Maße, als dies bei den neueren Philologien der Fall ist, mit der Erstellung einer zuverlässigen Textgrundlage befassen und die Wege und Möglichkeiten der Überlieferung eines Werks von der Antike bis in die Neuzeit klären. Eine weitere Besonderheit der Latinistik ist darin zu sehen, daß aufgrund der zeitlichen Distanz, die den Studierenden von seinem Gegenstand trennt, eine möglichst umfassende Rekonstruktion des historisch-kulturellen Hintergrunds als des Erfahrungshorizonts von Autor und Publikum nötig ist, um einen Text in seinen vielfältigen Bezügen in seiner Zeit adäquat zu erfassen. Dies hat zur Folge, daß die Studierenden der Latinistik sich Grundkenntnisse in den zu dieser Rekonstruktion beitragenden Wissenschaftszweigen erarbeiten sollten, vor allem in der Alten Geschichte, der Philosophie der Antike, der Kunstgeschichte, der Archäologie und der Indogermanistik für die Sprachgeschichte sowie – für die christliche Literatur der Spätantike – auch in der Theologie. Da zudem die griechisch-römische Literatur in entscheidendem Maß die europäische Literatur beeinflußte und prägte, sollte die Rezeption, das Nachleben der lateinischen Autoren und Texte, wenigstens exemplarisch berücksichtigt werden.

Um einen Text der ersten Hauptphase der lateinischen Literatur von 240 v. Chr. – 240 n. Chr. adäquat zu erfassen, sind bei der in dieser Periode durchgängigen Abhängigkeit der römischen von der griechischen Literatur und der ständigen Auseinandersetzung römischer Autoren mit ihren griechischen Vorbildern Kenntnisse des Altgriechischen, die mit dem sogenannten Graecum nachgewiesen werden, und Vertrautheit mit der Geschichte der griechischen Literatur erforderlich. Ohne diese Kenntnisse ist das Verständnis von Autoren wie Plautus und Terenz, Catull, Tibull, Properz, Horaz und Vergil unmöglich. Dasselbe gilt für die römische Rhetorik und Philosophie dieser Zeit (Lukrez, Cicero), die ohne die griechische Literatur nicht angemessen gewürdigt werden können. Bis vor wenigen Jahrzehnten war es denn auch üblich, das Studium der Latinistik mit dem der Gräzistik zu verbinden. Institutionell findet dies noch heute seinen Niederschlag darin, daß Latinistik und Gräzistik in der Regel in einem Seminar oder Institut für Klassische Philologie zusammengefaßt sind. Der unterschiedliche Bedarf an Griechisch- und Lateinlehrern hat jedoch seit den 60er Jahren in der Praxis dazu geführt, daß man das Studium der Latinistik immer mehr mit anderen, inhaltlich verwandten Fächern wie der Geschichte, Archäologie, Theologie oder den neueren Philologien verbindet.

Auch in den ein Studium der Latinistik bestimmenden Schwerpunkten ist in den letzten Jahrzehnten ein Wandel eingetreten: Zwar verweist der Begriff ‹Klassische Philologie› programmatisch darauf, daß im Zentrum der Fächer Gräzistik und Latinistik die klassischen Texte der jeweiligen Literatur standen – in der Gräzistik also die Autoren von Homer bis ins 5. Jh., eventuell bis in die Zeit des Hellenismus (4./3. Jh. v. Chr.), in der Latinistik vor allem das 1. Jh. v. Chr. und die wichtigsten Autoren des 1. Jh.s n. Chr. wie Seneca, Tacitus und Quintilian. Inzwischen ist allerdings in Forschung und Lehre die christliche und pagane (heidnische) Literatur der Spätantike als gleichberechtigter Gegenstand hinzugekommen, und in den letzten Jahren hat sich auch die neulateinische Literatur einen festen Platz im Lehrplan der Latinistik erobert.

Zwar herrscht momentan in einigen Bundesländern noch Mangel an Lehrkräften für das Fach Latein, der noch wenige Jahre anhalten dürfte. Die sinkenden Schülerzahlen, die Einführung des achtjährigen Gymnasiums und die Reduktion der für das Fach Latein zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden werden jedoch in Verbindung mit der Tatsache, daß in einigen Bundesländern im Schnellverfahren fachfremde Lehrkräfte für Latein umgeschult werden, ohne Zweifel dazu führen, daß Latein in wenigen Jahren nicht mehr zu den Mangelfächern zählen wird und eine Stelle im Schuldienst wie vor ca. 10 Jahren höchstens mit besten Noten erreicht werden kann. Deshalb ist nachdrücklich angeraten, andere Berufsziele neben dem Lehramt im Auge zu haben. Die späteren beruflichen Möglichkeiten hängen entscheidend von den mit dem Studium der Latinistik kombinierten Fächern ab. Allgemein läßt sich sagen, daß berufliche Alternativen am ehesten im Bereich des Kulturbetriebs im weitesten Sinne, des Verlagswesens und immer mehr auch in der Tourismusbranche zu sehen sind. Es empfiehlt sich demnach, insbesondere nach der Zwischenprüfung das Studium breiter anzulegen und zum Beispiel durch die im Rahmen eines Studium generale angebotenen fächerübergreifenden Veranstaltungen zu ergänzen.

Die vorliegende Einführung in das Studium der Latinistik ist – wie bereits im Vorwort angedeutet – letztlich als eine Reaktion auf die skizzierten Entwicklungen anzusehen. Der Rückgang der für den Lateinunterricht an den Schulen vorgesehenen Stunden und die damit verbundenen geringeren sprachlichen und inhaltlichen Vorkenntnisse machen für Studienanfänger eine Art von latinistischem Propädeutikum erforderlich. Dies wird für die meisten darin bestehen, daß zunächst die sprachlichen Fähigkeiten in Grammatikübungen und Lektürekursen vertieft, die für das Studium erforderlichen Griechischkenntnisse (Graecum) nachgeholt und in einer Einführungsveranstaltung die literaturgeschichtlichen und methodischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, die für die Erfassung eines lateinischen Textes erforderlich sind. Der vorliegende Band versucht, diese Grundlagenkenntnisse zu vermitteln; Spezialliteratur zu den einzelnen Abschnitten kann er natürlich nicht ersetzen. Das Literaturverzeichnis am Ende des Bandes enthält jeweils Hinweise auf die wichtigste weiterführende Literatur. Für die einzelnen Autoren dagegen (S. 158 ff.) wird die einschlägige Literatur jeweils im Text nach der Vorstellung des Autors angegeben. In diesem Kapitel kann selbstverständlich nur Basiswissen geboten werden. Es wird demnach empfohlen, zur Vertiefung die einschlägigen Literaturgeschichten zu konsultieren, vor allem M. v. Albrechts Geschichte der römischen Literatur (2 Bde., 21994).

 

 

∗ Alle Seitenverweise ohne nähere Werkangabe innerhalb des Bandes beziehen sich auf die vorliegende Einführung.

II. Geschichte der Klassischen Philologie

Philologische Bearbeitung der Werke lateinischer Dichter findet in Rom erstmals im 2. Jh. v. Chr. statt, etwa hundert Jahre nach den ersten Anfängen der lateinischen Literatur. Wie Literatur selbst, so hat sich auch Philologie in Rom nicht aus eigenständigen, lateinischen Wurzeln entwickelt, sondern wurde als fertig ausgebildete Disziplin aus dem griechischen Kulturkreis übernommen. Eine geschichtliche Übersicht muß deshalb mit einem Blick auf Griechenland bzw. die von hellenischer Kultur geprägten Länder des östlichen Mittelmeeres beginnen.

1. Griechische Ursprünge

1.1. Die voralexandrinische Zeit (bis ca. 300 v. Chr.)

Philologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin entwickelte sich in den ersten Jahrzehnten des 3. Jh.s v. Chr. in Alexandria. Die ersten Versuche einer Bearbeitung von Dichtertexten, in denen zumindest Elemente philologischer Tätigkeit zu erkennen sind, reichen aber viel weiter zurück: So hören wir von einem Theagenes von Rhegion (6. Jh.), der nicht nur Biographisches über den ersten Dichter der Griechen, Homer, zusammentrug, sondern auch Textinterpretation betrieb: Mit dem Instrument der allegorischen Deutung versuchte er, die in den homerischen Epen vermittelte und bereits im 6. Jh. kritisierte Gottesvorstellung zu rechtfertigen.

Bis ins 4. Jh. hinein blieb unseres Wissens Homer der einzige Gegenstand der ‹vorphilologischen› Bearbeitung. Neben der Produktion von Schriften zur sachlichen Erklärung bemühte man sich auch, einen einigermaßen zuverlässigen Text der alten Epen zu sichern. Die in diesem Zusammenhang oft erwähnte sogenannte ‹Peisistratidische Rezension› (d.h.: die Fixierung eines gewissermaßen ‹offiziellen› Homertextes im Athen der Söhne des Tyrannen Peisistratos, Ende 6. Jh.) läßt sich allerdings nicht als historisches Faktum erweisen; von dem epischen Dichter Antimachos von Kolophon (um 400) ist dagegen sicher bezeugt, daß er eine Homer-Ausgabe erstellt hat. Es ist aber unwahrscheinlich, daß er oder auch Aristoteles, der für seinen Schüler Alexander einen Homertext eigenhändig korrigierte, bereits ein dem später in Alexandria entwickelten vergleichbares Verfahren regelrechter Textkritik angewandt haben.

Auch das sogenannte ‹athenische Staatsexemplar›, eine um 330 auf Initiative des Lykurgos erstellte Ausgabe sämtlicher Stücke der drei großen attischen Tragödiendichter des 5. Jh.s (Aischylos, Sophokles, Euripides), war keine kritische Ausgabe nach den Standards der späteren Philologie, sondern eine Fixierung des aktuell gängigen Textes, durch die weitere willkürliche Veränderungen (vor allem Hinzufügungen – man spricht von Schauspieler-Interpolationen, die anläßlich der Wiederaufführung der alten Stücke in die Texte eingearbeitet wurden) verhindert werden sollten.

Auch für andere Teilgebiete der Philologie wurde in voralexandrinischer Zeit immerhin der Grund gelegt: Mehrere der sogenannten ‹Sophisten› befaßten sich mit grammatischen und sprachwissenschaftlichen Fragen: So beschrieb Protagoras erstmals grammatische Genera und Modi, Prodikos begründete die Synonymik, Hippias schrieb über die Wirkung von Klangelementen der Sprache. Solche Forschungen wurden im 4. Jh. durch Platon und Aristoteles weiter vorangetrieben. Letzterer und die von ihm begründete peripatetische Schule widmeten sich auch der systematischen Ermittlung von historischen Fakten und Gegebenheiten, die für das Verständnis der alten Dichtung wichtig waren: So erstellte Aristoteles selbst eine Sammlung der Didaskalien, also der Protokolle der athenischen Tragödien- und Komödienaufführungen. Schüler des Aristoteles, wie Theophrastos, Herakleides Pontikos, Chamaileon u.v.a. erweiterten und vertieften diese antiquarische Forschung. Es entstand die nach dem ersten Wort des Titels jeder der Schriften sogenannte Peri-Literatur (von περί ‹über›). Ein Vertreter dieser peripatetischen Gelehrsamkeit, Demetrios von Phaleron, siedelte 297 von Athen nach Alexandria über; seine Person steht wie ein vermittelndes Bindeglied zwischen dem zu Ende gehenden Zeitalter der athenischen und dem anbrechenden der alexandrinischen Philologie.

1.2. Die Alexandriner

Der erste Ptolemaierkönig (Ptolemaios Soter, 305–285 v. Chr.) versammelte um sich einen Kreis von Gelehrten und Dichtern, die das Bestreben verband, angesichts des intensiv in allen Lebensbereichen empfundenen Umbruches das immense Erbe der griechischen Literatur, vornehmlich der Poesie zu bewahren und durch intensives Studium gegebenenfalls für eigene dichterische Versuche fruchtbar zu machen. Prominentester Vertreter der ersten Generation dieses neuen Typus des ‹Dichterphilologen› war der schon in einer antiken Quelle als «zugleich Dichter und Philologe» bezeichnete Philitas von Kos (ca. 325–285 v. Chr.). Noch unter dem ersten Ptolemaierkönig wurde, vielleicht auf Anregung des Demetrios von Phaleron, das Museion gegründet. Den Mittelpunkt dieser aus königlichen Mitteln finanzierten Wohn-, Forschungs- und Lehrstätte bildete die Bibliothek, die bereits um 285 etwa 200 000 Bände (Rollen) umfaßte und damit sämtliche bis dahin vorhandenen Büchersammlungen der griechischen Welt (die größte war wohl die des Aristoteles) bei weitem übertraf. Ihren größten Bestand erreichte die Bibliothek (das sogenannte Brucheion) in der Mitte des 1. Jh.s v. Chr. mit ca. 700 000 Rollen; die zweite Bibliothek Alexandrias, das wahrscheinlich unter Ptolemaios III. Euergetes gegründete Serapeion, enthielt dagegen nie mehr als 43 000 Rollen.

In Alexandria wurde Philologie von Anfang an als eigenständige Disziplin betrieben, die ihren Zweck, die Bewahrung und Erklärung der alten Literatur, in sich selbst trägt. So ist von dem Philitas-Schüler Zenodotos von Ephesos, dem ersten Leiter der neugegründeten Bibliothek, nicht bekannt, daß er seine Studien für eigenes poetisches Schaffen nutzbar gemacht hätte. Zenodot erarbeitete als erster eine kritische Ausgabe der homerischen und der hesiodischen Epen mit dem Ziel der Wiedergewinnung des Urtextes, in der er bei divergierenden Versionen verschiedener Überlieferungsträger begründete Entscheidungen zu treffen versuchte; als erster gebrauchte er den sogenannten Obelos, einen waagerechten Strich am Rand zur Kennzeichnung von Versen, die er für unecht hielt; der Vers blieb aber im Text, so daß dem Leser eine eigene Entscheidung ermöglicht wird: Zenodot hat damit eines der Prinzipien moderner kritischer Textausgaben begründet – wogegen die Fragwürdigkeit mancher der für ihn überlieferten textkritischen Entscheidungen wenig ins Gewicht fällt. Ähnliche philologische Pionierarbeit wie Zenodot für das Epos leisteten seine Zeitgenossen Lykophron für die komische und Alexandros Aitolos für die tragische Dichtung.

Kallimachos von Kyrene (ca. 310–240 v. Chr.) war selbst zwar nie, wie früher fälschlich angenommen, Leiter der Bibliothek, leistete aber die grundlegende Arbeit für deren Benutzbarkeit als wissenschaftliches Arbeitsinstrument: In den 120 Bücher umfassenden Pinakes legte er ein Verzeichnis des damals in der Bibliothek vorhandenen Literaturbestandes vor; das Werk war nach literarischen Gattungen in sechs Gruppen eingeteilt, innerhalb derer in alphabetischer Reihenfolge die einzelnen Autoren aufgeführt wurden, jeweils mit Lebensdaten und Werkverzeichnis. Neben seiner gelehrten Tätigkeit fand Kallimachos auch Zeit für eigene Dichtung; er ist derjenige Autor, der dem neuen poetologischen Programm des Hellenismus die maßgebliche Formulierung gegeben hat.

Apollonios Rhodios (ca. 300 – nach 246 v. Chr.), der bedeutendste unter den zahlreichen Schülern des Kallimachos, übernahm zu einem nicht genau zu sichernden Zeitpunkt als Nachfolger Zenodots die Leitung der Bibliothek. Über seine philologische Tätigkeit ist wenig bekannt, doch ist er der letzte der großen alexandrinischen Gelehrten, der sich auch als Dichter einen Namen gemacht hat; sein Argonautenepos (Argonautika) in vier Büchern ist vollständig erhalten.

Für den Nachfolger des Apollonios, Eratosthenes von Kyrene (ca. 276–195 v. Chr.), war dagegen Poesie nichts weiter als eine Nebentätigkeit. Er erstrebte und beanspruchte für sich universale Gelehrsamkeit, die auch den gesamten Bereich der Naturwissenschaften einschloß. Um diesen neuen Anspruch zu manifestieren, bezeichnete er sich selbst als philologos (ϕιλόλογος) und distanzierte sich damit von seinen als kritikoi (κριτικοί) bzw. grammatikoi (γραμματικοί) bezeichneten Vorgängern. Sein Hauptwerk auf dem Gebiet der eigentlichen Philologie war eine mindestens 12 Bücher umfassende Abhandlung über die Alte Komödie. Scharf widersprach Eratosthenes denjenigen, die Dichtung als Quelle präziser Sachinformation benutzen zu können glaubten und so etwa die Stationen der Fahrt des Odysseus aufgrund der Angaben in der Odyssee geographisch zu lokalisieren versuchten; da müsse man zuvor, so sein sarkastischer Kommentar, den Schuster ausfindig machen, der den ledernen Windsack des Aiolos (des Hüters der Winde) zusammengenäht habe.

Ihren Höhepunkt erreicht die alexandrinische Philologie in Eratosthenes’ Nachfolger, Aristophanes von Byzanz (ca. 255–180 v. Chr.), der sich – soweit wir wissen – weder als Dichter noch als Naturwissenschaftler betätigte. Um so imposanter in Umfang und Qualität sind die Ergebnisse seiner philologischen Arbeit: Seine kritischen Ausgaben der Epiker, Lyriker, Tragiker und Komiker wurden in den folgenden Jahrhunderten der Antike (vom Mittelalter zu schweigen) nicht mehr übertroffen und bildeten die Grundlage der gesamten weiteren Überlieferung dieser Texte. Gegenüber seinen Vorgängern entwickelte Aristophanes ein erweitertes und verfeinertes System textkritischer Zeichen, versah überall da, wo die bloße Buchstabenfolge uneindeutig war, die Wörter mit von ihm selbst erfundenen Akzentzeichen und erleichterte das syntaktische Verständnis durch eine konsequent durchgeführte Interpunktion. Lyrische Dichtung notierte er als erster nicht mehr fortlaufend, sondern setzte die metrischen Einheiten durch jeweils neue Zeilen voneinander ab und begründete damit das noch heute übliche Verfahren. Seine Hypotheseis (Inhaltsangaben, lateinisch argumenta) zu den Tragikern und zu dem Komödiendichter Aristophanes sind, zum Teil in abgekürzter Form, bis heute erhalten geblieben. Neben seiner editorischen Tätigkeit verfaßte Aristophanes auch ein umfangreiches lexikographisches Werk, in dem er unter anderem zwischen älterem und jüngerem Vokabular unterschied, auf regionale und dialektale Besonderheiten einging und so Pionierarbeit auf dem Gebiet der griechischen Sprachwissenschaft leistete. Auch durch seine Qualitätsentscheidungen als Literaturkritiker hat Aristophanes die weitere Textüberlieferung entscheidend geprägt: Auf ihn gehen wenn nicht alle, so doch einige der in der Neuzeit als canones bezeichneten Listen zurück, in denen die vorbildlichen Vertreter jeder Literaturgattung verzeichnet wurden (zum Beispiel die drei Tragiker: Aischylos, Sophokles, Euripides; die Griechen sprachen von οἱ ἐγκριθέντες bzw. οἱ πραττόμενοι, die Römer von classici); fast alles, was nicht in diesen Klassikerkanon aufgenommen wurde, hat die folgenden Jahrhunderte bis zum Ende der Antike nicht überstanden. Die Bedeutung des Aristophanes für die Überlieferungsgeschichte des größten Teiles der älteren griechischen Literatur kann also kaum überschätzt werden.

Die Reihe der bedeutenden Philologen Alexandrias endet mit Aristarchos von Samothrake (ca. 216–144 v. Chr.). Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildete das von seinen Vorgängern vernachlässigte Gebiet der Kommentierung. Aristarchos verfaßte Kommentare (hypomnemata, πομνήματα) zu beinahe allen bedeutenden Dichtern und zu einem Prosaiker, dem Geschichtsschreiber Herodot; insgesamt soll er nach Angabe eines byzantinischen Lexikons 800 Bücher geschrieben haben. Nach unserer Kenntnis enthielten diese Kommentare umfangreiche Wort- und Sacherklärungen sowie Stellenvergleiche; bei der Interpretation befolgte Aristarchos insgesamt den Grundsatz, einen Autor aus sich selbst heraus zu erklären.

Etwa im Jahr 145 v. Chr. endet mit politischen Wirren im Ptolemaierreich die Glanzzeit der alexandrinischen Philologie; zahlreiche Gelehrte verließen Ägypten, um anderswo die Tradition fortzusetzen. Das wissenschaftliche Niveau eines Aristophanes oder Aristarch hat die griechische Philologie der Antike aber nicht wieder erreicht. Von dem ausgebreiteten philologischen Schrifttum der Alexandriner hat sich kein einziges Werk im Original erhalten; unsere Kenntnis beruht ausschließlich auf Angaben in Scholien (antiken und mittelalterlichen Kommentaren), Lexika, spätantiken Autoren wie Athenaios sowie neuerdings vermehrt auf Papyrusfunden.

1.3. Pergamon

Eine rivalisierende und in vieler Hinsicht antagonistische philologische Tradition erwuchs den Alexandrinern seit dem Beginn des 2. Jh.s v. Chr. in der Schule von Pergamon. Sie war von König Attalos I. (241–197 v. Chr.) begründet worden und erreichte ihre Blüte unter dessen Nachfolger Eumenes II. (197–158 v. Chr.), der nicht nur den berühmten Stoiker Krates von Mallos und einige seiner Schüler für Pergamon gewinnen konnte, sondern dort auch – in deutlicher Konkurrenz zu Alexandria – eine große Bibliothek gründete. Die Schule von Pergamon verdient innerhalb eines kurzen Überblicks über die Geschichte der Philologie aus folgenden Gründen Beachtung:

– Das von den Stoikern entwickelte System der Grammatik wurde in Pergamon vervollkommnet. Ein auch für uns noch greifbares Ergebnis dieser grammatischen Studien ist die vollständig erhaltene griechische Grammatik des auf Rhodos lebenden Dionysios Thrax (geb. um 166 v. Chr.), eines Aristarch-Schülers, der aber stark von der pergamenisch-stoischen Tradition beeinflußt ist; sein schmales Werk bietet im wesentlichen die noch heute gebräuchliche Terminologie: «Einen ähnlichen Einfluß dürfte kaum ein zweites Buch ähnlichen Umfanges aufzuweisen haben» (Gudeman, Grundriß S. 53).

– Die bis ins 6. Jh. zurückreichende allegorische Homerdeutung wurde von den Pergameniern in demonstrativem Gegensatz zur Interpretationsmethode des Aristarch wiederbelebt; das gesamte stoische Lehrgebäude versuchte man auf diese Weise aus der Dichtung Homers herauszulesen.

– Im Gegensatz zu der (von Eratosthenes abgesehen) auf Wortkritik und -erklärung konzentrierten alexandrinischen Philologie trieb man in Pergamon ausgedehntere und vielseitigere Studien. Diese verselbständigten sich allmählich und entwickelten sich zu der rein antiquarischen Gelehrsamkeit eines Polemon von Ilion (etwa 1. Hälfte 2. Jh. v. Chr.) und anderer, denen die alten Dichtungen hauptsächlich als Fundgruben für historische, mythologische, topographische und andere Spezialkenntnisse galten – Tendenzen, die Teilbereichen der positivistischen Altertumswissenschaft des 19. Jh.s (S. 38 ff.) seltsam verwandt wirken.

– Wichtig sind die Pergamenier nicht zuletzt wegen ihres starken Einflusses auf Entstehung und Entwicklung der römischen Philologie: Genannt und in seiner Bedeutung wohl überschätzt wird in diesem Zusammenhang seit Sueton (De grammaticis 1f.) stets der durch einen Beinbruch nötig gewordene, mehrmonatige Aufenthalt des Krates in Rom, wo er die Zeit zu aufsehenerregenden Vorträgen nutzte. Die Beeinflussung des geistigen Lebens in Rom durch die Pergamenier hielt aber während des 1. Jh.s v. Chr. kontinuierlich an; genannt seien hier nur, stellvertretend für viele, der Lehrer des Hyginus, Alexandros Polyhistor (ca. 100–46 v. Chr.) sowie Apollodoros von Pergamon, bei dem der junge Octavian lernte.

2. Römische Philologie

2.1. Republik und frühe Kaiserzeit

Zwar läßt Sueton die Geschichte der römischen Philologie mit dem Aufenthalt des Krates in Rom beginnen. Wichtiger dürfte es aber gewesen sein, daß im Laufe der 1. Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. in Rom allmählich ein geeignetes soziales und kulturelles Umfeld entstand: «Reichtum war nötig … Verfeinerung von Geschmack und Lebensweise mußte als Tugend gelten» (Kaster, Geschichte der Philologie, S. 4); mit dem allmählichen Zustandekommen dieser Existenzbedingungen für ein geistiges Leben konnte als die wohl späteste Frucht einer geistigen Kultur auch die Philologie, die reflektierte Arbeit mit Literatur, in Rom heranreifen.

Gut ein Jahrhundert nachdem die Literatur selbst in Rom heimisch geworden war, wirkten dort bereits zwei bedeutende Gelehrte. L. Accius (ca. 170–86 v. Chr.) verfaßte Schriften über griechische und lateinische Autoren wie Livius Andronicus, Naevius, Pacuvius, erörterte Fragen der Chronologie, betrieb Echtheitskritik an den unter Plautus’ Namen überlieferten Stücken und erarbeitete Reformvorschläge für die Orthographie. L. Aelius Stilo (geb. um 140 v. Chr.), der Lehrer Varros und Ciceros, begleitete im Jahre 100 Q. Metellus ins Exil nach Rhodos, wo er und Dionysios Thrax (S. 18) zusammengetroffen sein dürften. In seinen zahlreichen Schriften verband er genaues Sprachstudium und Sachbezug: Er arbeitete unter anderem über die ältesten lateinischen Sprachdenkmäler (Salierlied, Zwölftafelgesetz) und über Plautus (er hielt 25 Stücke für echt, vgl. Gellius 3, 3, 12).

M. Terentius Varro (116–27 v. Chr.) gilt als der größte Gelehrte Roms und genoß bereits unter seinen Zeitgenossen so hohes Ansehen, daß er in der ersten öffentlichen Bibliothek Roms (gegründet ca. 38 v. Chr. durch Asinius Pollio) als einziger Lebender durch ein Bildnis geehrt wurde. Von seinem umfangreichen und thematisch höchst vielfältigen Werk (Grammatik, Literaturgeschichte, antiquarisch-historische und geographische Studien) sind leider nur 5 Bücher aus De lingua Latina sowie eine Spezialschrift über den Landbau (De re rustica) erhalten. Varro prägte entscheidend das Bild der römischen Literaturgeschichte (so sind zum Beispiel die 21 überlieferten Plautuskomödien diejenigen, die er für echt hielt, vgl. Gellius 3, 3, 2–9), schuf eine Methode der Etymologie und wurde zusammen mit seinem Zeitgenossen Nigidius Figulus (gest. 45 v. Chr., schrieb Commentarii grammatici in mindestens 29 Büchern) zum Schöpfer der noch heute gültigen grammatischen Terminologie des Lateinischen.

Im 1. Jh. n. Chr. ist die römische Philologie durch eine Vielzahl bedeutender Namen repräsentiert; an die Stelle selbständiger wissenschaftlicher Forschung tritt aber zunehmend die Erarbeitung systematischer, aus den Arbeiten der Vorgänger schöpfender Handbücher sowie für den Schulbetrieb geeigneter Materialien. So legte M. Verrius Flaccus (ca. 55 v. Chr.-20 n. Chr.) mit seinem lexikographischen Werk De verborum significatu eine auf Varro basierende Fundgrube für Altlatein, archaische Riten und Gebräuche sowie das Schul- und Staatswesen des alten Rom vor. Das Werk wurde zweimal epitomiert, d.h. zu einer Kurzfassung verkleinert: Anfang des 3. Jh.s durch Festus und im 8. Jh. durch Paulus Diaconus; in diesen Kurzfassungen ist es teilweise erhalten. Remmius Palaemon, der Lehrer Quintilians, publizierte zwischen 67 und 77 seine auf Dionysius Thrax fußende Ars grammatica, die Grundlage aller späteren lateinischen Grammatiken. M. Valerius Probus aus Berytos (geboren um 40 n. Chr.), der größte römische Textkritiker, erarbeitete nach alexandrinischem Vorbild Ausgaben des Vergil, aber auch weniger ‹modischer› Autoren wie des Lukrez und Terenz, womit er zu einem Vorläufer der Archaisten des 2. Jh.s wurde (S. 21, 121). Asconius Pedianus (ca. 9–76 n. Chr.) kommentierte die Reden Ciceros; zu fünf Reden, darunter zwei verlorenen, ist dieser Kommentar erhalten. Mit welch enorm gewachsenem Selbstbewußtsein die römische Philologie sich selbst und ihren Gegenstand, die lateinische Literatur, sah, zeigt sich schon darin, daß Asconius seinen Cicero-Kommentar ganz bewußt als lateinisches Gegenstück zu den Demosthenes-Kommentaren seines älteren Zeitgenossen Didymos verfaßt hat. Am Ende dieses Abschnittes sei noch C. Suetonius Tranquillus genannt, dessen Lebenszeit bereits weit ins 2. Jh. reicht. Sein in geringen Teilen erhaltenes enzyklopädisches Werk ist an Umfang und Breite nur mit dem Varros zu vergleichen, das er ausschöpfte und insbesondere stilistisch in eine dem Zeitgeschmack entsprechende Form brachte; damit hat er – ungewollt – wesentlich zum Verlust dieses Werkes beigetragen.

2.2. Mittlere Kaiserzeit und Spätantike

Von großer Belesenheit zeugende Kompilationen, wie sie uns in den Noctes Atticae des Gellius vorliegen, und epitomai (Kurzfassungen) bestimmen das Bild der römischen Philologie des 2. Jh.s. Der literarische Geschmack dieser Zeit war durch eine Vorliebe für die archaische Epoche geprägt. Man ging sogar so weit, die altlateinischen Autoren über die ‹Klassiker› (bei Gellius findet sich erstmals der Ausdruck scriptor classicus im modernen Sinn) zu stellen. So verfaßte L. Casellius Vindex in hadrianischer Zeit die Antiquae lectiones, ein alphabetisch geordnetes Glossar des Altlatein, das in Auszügen bei Cassiodor vorliegt. C. Sulpicius Apollinaris, der Lehrer des Gellius, befaßte sich mit Terenz; erhalten sind seine in Trimetern geschriebenen períochae (Inhaltsangaben) der sechs Komödien. Aber auch klassische Autoren wurden kommentiert, wie zum Beispiel Horaz durch Q. Terentius Scaurus (erhalten sind von dem angesehensten Philologen der hadrianischen Zeit aber nur zwei kleine Schriften De orthographia) und Pomponius Porphyrio (um 200, verkürzt erhalten).

Einen erst im frühen Mittelalter deutlich unterbotenen Tiefstand erreichen Bildung und Philologie in der mehrere Jahrzehnte währenden politischen und wirtschaftlichen Krise des 3. Jh.s (S. 121). Erwähnenswert sind lediglich C. Censorinus, dessen ganz von Sueton und damit von Varro abhängiges Buch De die natali (238) erhalten ist, sowie Plotius Sacerdos mit seinen (ebenfalls erhaltenen) Artium grammaticarum libri (Ende 3. Jh.).

Ihre größte Bedeutung erlangt die lateinische Philologie der Antike in den letzten beiden Jahrhunderten ihrer Geschichte, was nicht mit Originalität oder Qualität der in dieser Zeit entstandenen Schriften zusammenhängt, sondern damit, daß sie in großem Umfang erhalten blieben und so das Schulwesen in Mittelalter und Neuzeit entscheidend prägen konnten. Die Philologen des 4. und 5. Jh.s haben vornehmlich auf zwei Gebieten die für viele Jahrhunderte gültigen Standardwerke geschrieben, dem der Klassiker-Kommentierung und der systematischen (Schul-)Grammatik. Nonius Marcellus (wohl 1. Hälfte 4. Jh.) verfaßte für seinen Sohn ein lexikalisch, grammatisch und antiquarisch orientiertes Werk in 20 Büchern (De compendiosa doctrina). Die maßgebende lateinische Grammatik für Spätantike und Mittelalter stammt aus der Feder des Aelius Donatus, des Lehrers des Bibelübersetzers Hieronymus; sie zerfällt in zwei Teile, die sogenannte ars minor für den Elementarunterricht und die ars maior für Fortgeschrittene. Erhalten ist auch Donats umfangreicher Kommentar zu fünf der sechs Terenzkomödien, verloren dagegen bis auf geringe Reste sein Kommentar zu Vergil: Zu diesem Autor haben wir einen aus reicher Tradition schöpfenden, hinsichtlich der Tiefe des literarischen Urteils jedoch eher enttäuschenden Kommentar des Servius (ebenfalls 4. Jh.). Die umfangreichste lateinische Grammatik schrieb um 500 Priscianus (Institutio grammatica in 18 Büchern), nach modernem Urteil «ein ebenso elender Stilist als ein oberflächlicher und stumpfsinniger Abschreiber» (Gudeman, Grundriß S. 129f.), dessen Werk neben dem des Donatus weiteste Verbreitung fand. Weniger wichtig sind daneben die lateinischen Grammatiken des Charisius und des Diomedes (beide um 400), die vornehmlich für das oströmische Publikum bestimmt waren. Ein lebendiges Bild von Interessen und Diskussionsstil der Gebildeten um 400 vermitteln die Saturnalia des Macrobius, von dem auch ein Kommentar zu Ciceros somnium Scipionis überliefert ist.

Mit den letzten beiden Namen, die in diesem Überblick erwähnt werden sollen, erreichen wir die Schwelle des Mittelalters. Boëthius (ca. 480–524), der letzte römische Gelehrte mit umfassender Kenntnis der griechischen Sprache und Literatur, hat durch seine Übersetzungen von Schriften des Aristoteles das philosophische Denken des Mittelalters wesentlich bestimmt. Cassiodorus (485–580), Gründer des Monasterium Vivariense, sah in seinen für die Mönche dieses Klosters verfaßten Institutiones das Lesen und Kopieren alter Literatur als eine angemessene Betätigung vor. In seinem Traktat De orthographia gab er den Kopisten einen Leitfaden zur Vermeidung verbreiteter, besonders durch die sich verändernde Aussprache bedingter Fehler an die Hand. Cassiodor hat damit – ähnlich wie Benedikt im Kloster Monte Cassino – eine das ganze Mittelalter anhaltende Tradition mitbegründet, ohne die von der nichtchristlichen lateinischen Literatur der Antike wahrscheinlich kein einziges Werk erhalten geblieben wäre.

3. Das Mittelalter in Westeuropa

Ohne hier auf die grundsätzliche Zweifelhaftigkeit von starren Epochengrenzen eingehen zu können (S. 112 ff.), sei dennoch zur Orientierung eine Jahreszahl als möglicher Indikator für den Übergang von der Antike zum Mittelalter gegeben. So bietet sich für die Geistesgeschichte der symbolträchtige Synchronismus des Jahres 529 an, in dem die seit über 900 Jahren bestehende Schule Platons in Athen geschlossen wurde und Benedikt von Nursia sein Kloster auf dem Monte Cassino gründete. Auch für das Ende des Mittelalters lassen sich, je nach sachlicher und regionaler Perspektive, um etwa eineinhalb Jahrhunderte differierende Angaben finden; in der Geschichte der Klassischen Philologie endet das Mittelalter im Verlauf der ersten Hälfte des 14. Jh.s, zunächst in Italien, mit einiger Verzögerung auch im übrigen Westeuropa.

Innerhalb dieses etwa acht Jahrhunderte währenden Zeitraumes sind hinsichtlich des Schicksals antiker Bildung und Literatur drei Phasen zu unterscheiden: In einer Zeit des tiefen Verfalls, den auch vereinzelte Rettungsbemühungen wie die eines Gregor von Tours (540–594) oder Isidor von Sevilla (570–636) nicht aufzuhalten vermochten, ging ein großer Teil der antiken lateinischen Literatur unwiederbringlich verloren. Daß überhaupt manches erhalten blieb, ist den Klöstern, nicht zuletzt irischen Gründungen wie Bobbio und St. Gallen, zu verdanken.

Mit der kurzen, sogenannten ‹karolingischen Renaissance› (seit dem letzten Viertel des 8. Jh.s) lebt das Interesse am literarischen Erbe der lateinischen Antike wieder auf und besteht kontinuierlich fort im Verlauf des ‹benediktischen Zeitalters› (bis um 1100). Dies ist die Blütezeit der Klosterschulen und -bibliotheken. Zentren der Bildung sind in Italien Bobbio und Monte Cassino, in Frankreich Tours, Fleury, Ferrières, Corbie und Cluny, im deutschsprachigen Raum St. Gallen, Reichenau, Fulda, Lorsch, Hersfeld, Corvey und Hirsau. Die meisten der erhaltenen lateinischen Autoren sind durch zum Teil prachtvolle Handschriften aus dieser Zeit repräsentiert. Manche Gelehrte, wie etwa Servatus Lupus (805–862), Abt von Ferrières, erinnern durch die Leidenschaft, mit der sie Handschriften lateinischer Klassiker sammeln und abschreiben lassen, beinahe schon an die italienischen Humanisten. Die letzten Jahrhunderte des Mittelalters stehen im Zeichen der Scholastik, jenes Bemühens, die Lehren antiker Philosophie, vor allem des Aristoteles, mit der Lehre der Kirche zu einem widerspruchsfreien Ganzen zu vereinen. Zentren der Bildung werden jetzt die großen Kathedralschulen, wie die von Chartres; aus der Kathedralschule von Notre Dame entwickelt sich seit 1170 die Universität von Paris.

Ein Teil der lateinischen Literatur der Antike wurde also – trotz gelegentlich geäußerter Vorbehalte gegen das Studium heidnischer Autoren im allgemeinen – während des ganzen Mittelalters in Klöstern und Schulen tradiert und bis zu einem gewissen Grade auch rezipiert. Dies geschah aber stets im Interesse eines möglichst korrekten lateinischen Sprachgebrauches oder als Vorstudium für ein besseres Verständnis der Bibel; ein Bemühen um das Verständnis der Klassiker um ihrer selbst willen und eine auf dieses Ziel angelegte wissenschaftliche Bearbeitung ihrer Texte gab es im Mittelalter nicht. Darin liegt der Hauptunterschied zur Renaissance. So ist das abendländische Mittelalter für die Geschichte der klassischen Philologie «nur insofern von Bedeutung, als es durch mechanische Vervielfältigung lateinischer Schriftsteller diese der Nachwelt erhielt» (Gudeman, Grundriß S. 151). Was verlorenging, ist noch immer genug: Von nur 144 der 772 namentlich bekannten lateinischen Autoren der Antike sind Werke erhalten; unter diesen wiederum ist bei 64 der größere Teil des Werkes verloren, bei 43 der größere Teil erhalten und bei nur 37 praktisch alles vorhanden. Von der griechischen Literatur hätte, wäre es allein auf das Abendland angekommen, nichts überdauert: Die erste Sprache der antiken Kultur war im mittelalterlichen Westeuropa nahezu unbekannt, von der Literatur las man nur ganz Weniges (wie etwa den Timaios des Platon) in lateinischer Übersetzung.

4. Die Neuzeit

Die Geschichte der altertumswissenschaftlichen Studien seit ihrem Wiederaufleben im frühen 14. Jh. bis zur Wende vom 19. zum 20. Jh. läßt sich in vier Phasen einteilen. Diese unterscheiden sich voneinander dadurch, daß sich inhaltlich wie methodisch jeweils unterschiedliche Schwerpunkte herausbildeten und daß jeweils ein anderes Gebiet des abendländischen Kulturkreises nach Quantität wie Qualität zum Zentrum der philologischen Tätigkeit wurde. Dominanz einer bestimmten Region und einer bestimmten Richtung heißt nicht, daß nicht gleichzeitig anderswo und in anderer Weise auch Philologie getrieben worden wäre; die hier übernommene Periodisierung bedeutet deshalb – wie immer – eine Vereinfachung, dient aber als solche nicht nur der besseren Übersicht, sondern hat als Beschreibung der jeweils vorherrschenden Strömung auch ihre sachliche Berechtigung.

4.1. Der italienische Humanismus

Nirgendwo sonst in Europa stand das auch in seinen Trümmern noch grandiose Erbe des römischen Weltreiches so unmittelbar vor aller Augen wie in den Städten Italiens, besonders natürlich in Rom. Nirgendwo sonst hatte sich das gesamte Mittelalter hindurch eine, wenn auch nur vage Erinnerung an die versunkene Größe am Leben gehalten. Zudem konnten sich die Bewohner Italiens mit einigem Recht als Nachfahren des antiken Herrschervolkes fühlen und taten dies auch in unterschiedlichen Graden von Intensität und Bewußtheit: Für das Wiederaufleben des Interesses an der Antike bot das einstige Kernland des Imperium Romanum – neben anderen Faktoren, wie etwa dem Fehlen einer starken politischen Zentralgewalt, das dem Mäzenatentum reicher Adelshäuser und prestigebewußter Stadtrepubliken reichlichen Raum zur Entfaltung bot – also die besten Voraussetzungen.

Es war zunächst nicht wissenschaftliches Erkenntnisstreben, das seit dem trecento (d.h. 14. Jh.) immer mehr Gebildete zum intensiven Studium der antiken lateinischen Autoren trieb, sondern eine schwärmerische Bewunderung für die Schönheit von deren Sprache und Stil. Zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten wurden die lateinischen Klassiker wieder vornehmlich ästhetisch rezipiert und als Vorbilder anerkannt, denen es nachzueifern galt. Das Studium der antiken Texte sollte also erstens der eigenen literarischen Produktion nutzbar gemacht werden – wie die ersten Philologen Alexandrias, so betätigten sich auch die meisten Gelehrten dieser Epoche als Dichter. Zweitens machte man die Klassiker zum Mittelpunkt einer neuen Bildungskonzeption, von der die seit langem an Schule und Universität herrschende Scholastik verdrängt werden sollte und wurde.

Mit diesem ästhetischen und pädagogischen Ansatz schufen die ‹Humanisten› (die Bezeichnung kam erst später auf; sie leitet sich ab von humanitas im Sinne von eruditio institutioque in bonas artes, vgl. Gellius 13, 17, 1) zugleich das Fundament für das Aufblühen einer philologischen Wissenschaft. Denn um im Sinne ihrer Ziele wirken zu können, benötigten sie vor allem Texte, und zwar möglichst vollständige und zuverlässige Texte möglichst vieler antiker Schriftsteller. So ging man regelrecht auf die Jagd nach Handschriften, durchstöberte die nicht selten arg heruntergekommenen Klosterbibliotheken, trug zusammen, was man nur finden konnte, und fertigte Abschriften an. Dadurch kamen viele Texte erstmals seit 800 Jahren wieder in größeren Stückzahlen in Umlauf, und für manchen Autor wurden die Humanisten zum Retter in letzter Stunde vor dem sicheren Untergang.

Die angedeuteten Wesenszüge des italienischen Humanismus prägen bereits die Persönlichkeit seines ersten Repräsentanten, des in Arezzo geborenen Francesco di Petracco (Franciscus Petrarca, 1304–1374). Der begeisterte Verehrer Vergils und Ciceros entdeckte 1333 in Lüttich Ciceros verschollene Rede Pro Archia poeta, 1345 in Verona die Briefe Ad Atticum, Ad Quintum fratrem und Ad Brutum. Im Bemühen, einen zuverlässigen Text zu erstellen, kollationierte er zwei Handschriften des Livius und übte somit – noch unmethodisch und weitgehend willkürlich, aber aufgrund glänzender Sprachkenntnis – bereits eine Vorform der Textkritik (S. 66 ff.). Am Ende seines Lebens hatte Petrarca Exemplare beinahe aller bekannten Autoren der lateinischen Antike in einer privaten Bibliothek gesammelt.

Der als Dichter besonders des DecameroneInstitutio oratoria