Zum Buch

Der große Erfolg von Thilo Sarrazins Buch «Deutschland schafft sich ab» hat offenbart, wie weit Ressentiments gegen Muslime verbreitet sind. Geschürt werden sie von intellektuellen Panikmachern ebenso wie von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, die das Feindbild Islam nutzen wollen, um in breiteren Schichten anschlussfähig zu werden. Dabei wird die Mehrheit der friedlichen Muslime mit der kleinen Minderheit gewaltbereiter Islamisten gleichgesetzt, der Islam zu einer fremdenfeindlichen und aggressiven Religion stilisiert und vor einer «Islamisierung Europas» gewarnt. Wolfgang Benz seziert in diesem Buch die Gedankenwelt der Islamgegner und zeigt, wie die Angst vor den Muslimen an den Grundfesten unserer demokratischen Gesellschaft rüttelt. Denn sie bedroht das tolerante Miteinander, das Zusammenleben der Kulturen in einer pluralistischen Gesellschaft.

Über den Autor

Wolfgang Benz ist Prof. em. der Technischen Universität Berlin, er leitete bis März 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Bei C.H.Beck ist zuletzt von ihm erschienen: Deutsche Juden im 20. Jahrhundert (2011).

Wolfgang Benz

Die Feinde
aus dem Morgenland

Wie die Angst vor den Muslimen
unsere Demokratie gefährdet

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Vorwort

1.
Probleme mit der Minderheit

2.
Vorurteile und Feindbilder. Die Instrumentalisierung von Ressentiments

3.
Islamophobie, Islamkritik oder Muslimfeindschaft?

4.
Traditionen des Feindbildes Islam

Gespräch mit Lydia Nofal:
Wir brauchen einen Bewusstseinswandel

5.
Die Ideologisierung der Islamfeindschaft

Verschwörungsphantasien

Sinnstiftung mit wissenschaftlichem Anspruch

Die Verortung des Islam als totalitäres System

Statistik, Eugenik, social engineering

Appelle an das Volk

Kämpfer und Zeugen gegen den Islam

Fundamentalisten und Eiferer, Geisterbeschwörer und Phantasten

Gespräch mit Ehrhart Körting:
Es gibt Integrationsprobleme

6.
Bürgerwut im Internet

Reaktionen auf den Dresdner Gerichtssaalmord

Hass und Häme als Kommunikationsprinzip: «Politically Incorrect»

Gespräch mit Bekir Alboğa:
Respektvoll miteinander umgehen

7.
Organisierte Feindseligkeit

Gespräch mit Aiman Mazyek:
Bürger sein, anerkannt und willkommen

Anmerkungen

Literatur

Register

Vorwort

Dieses Buch ist keine Streitschrift. Es versteht sich auch nicht als gelehrte Abhandlung, vielmehr will es aus der Perspektive der Vorurteilsforschung einen Beitrag zur Debatte über Muslime in unserer Gesellschaft leisten. Dazu soll die Erfahrung des Autors aus langjähriger wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit, der Bedeutung und Wirkung von Ressentiments, der Instrumentalisierung von Feindbildern genutzt werden.

Der Diskurs über die Integration von Migranten und die Zukunft des Einwanderungslandes Deutschland, das in der Realität inzwischen ein Abwanderungsland ist, wird lautstark und polemisch, aber weithin ohne historisches Bewusstsein und ohne Sachkompetenz geführt. Das beweisen nicht zuletzt die Reaktionen auf das meinungsstarke, aber argumentationsschwache Buch «Deutschland schafft sich ab» von Thilo Sarrazin, der verbreitete Ängste erfolgreich stimulierte.

Nach Meinungsumfragen wird der Graben zwischen Autochthonen und muslimischen Zuwanderern tiefer. Die seit dem 11. September 2001 negativen Einstellungen der Deutschen haben sich nach einer Allensbach-Erhebung vom Mai 2006 weiter zum Schlechteren verändert. Entfremdung muss man es nennen, wenn 2004 75 Prozent der Befragten glaubten, der Islam sei durch Fanatismus geprägt, 2006 aber 83 Prozent. Dass «der Islam» rückwärtsgewandt sei, glaubten 2004 49 Prozent, zwei Jahre später waren es 62 Prozent. Diesen Trend bestätigen auch die Ergebnisse des Projekts «Deutsche Zustände», in dem an der Universität Bielefeld gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ein Jahrzehnt lang beobachtet wurde.

Zum düsteren Bild gehört es, dass in den letzten Jahren ein Konstrukt der Abwehr entstand, das den Philosemitismus der politischen Kultur Deutschlands mit der Abneigung gegen Muslime verknüpft: Neuerdings werden gegenüber dem Islam die Traditionen eines christlich-jüdischen Abendlands beschworen. Als hätten Juden und Christen in Europa zwei Jahrtausende lang in tiefstem Frieden und höchster Harmonie gelebt, im Bewusstsein gemeinsamer Werte und gemeinsamer religiöser Tradition. Die Gemeinsamkeiten gibt es, aber jahrhundertelang haben erst christliche Antijudaisten und dann rassistische Antisemiten alles dazu getan, um sie zu leugnen. Nach der Ermordung von sechs Millionen Juden im Zeichen einer verbrecherischen Ideologie die überlebenden Juden unter der Parole «christlich-jüdisch» dazu zu benutzen, um muslimische Bürger auszugrenzen, ist absurd.

Die Debatte über Muslime in Deutschland ist untrennbar verflochten mit der Bedrohung Israels durch islamische Staaten wie dem Iran und die arabischen Nachbarn. Der Anschlag islamistischer Verbrecher vom 11. September 2001 und die vielen Terrorakte in der Folgezeit, begangen unter Missbrauch der Religion des Islam, machen es Demagogen leicht, Muslime pauschal zu stigmatisieren und Ängste vor einer «Islamisierung Europas» zu schüren.

Aber dadurch sind die Menschen- und Bürgerrechte einer großen Gruppe in unserer Gesellschaft bedroht. Die Morde des Neonazi-Trios aus Thüringen, das sich «Nationalsozialistischer Untergrund» nannte, sind auch deshalb so symbolhaft, weil die Behörden, denen Ermittlung und Verfolgung von Straftaten obliegt, nichts unternommen oder schlampig gearbeitet haben. Da die meisten Opfer Muslime waren, nahmen sie offenbar der Einfachheit halber an, diese seien irgendwie selbst schuld.

Gegen die schrillen Schreie der «Islamkritiker» oder Muslimfeinde ist mit Polemik wenig auszurichten, da keine Bereitschaft zum Austausch von Argumenten erkennbar ist. Deshalb besteht das Anliegen dieses Buches nicht darin, Unbelehrbare zu belehren, sondern im Versuch, den notwendigen Diskurs über die Integration von Bürgern islamischer Religion auf Augenhöhe mit diesen zu führen.

Mit vier Handelnden, die in der Auseinandersetzung um Probleme und Integration der Migranten aus dem muslimischen Kulturkreis wichtige Rollen spielen, führte ich Gespräche, deren Zusammenfassung Bestandteil dieses Buches sind. Sie bringen wichtige Aspekte des Themas im Originalton ein: Dr. Ehrhart Körting, langjähriger Innensenator des Landes Berlin, als engagierter Repräsentant der Aufnahmegesellschaft; Lydia Nofal als Muslima, die gegen Diskriminierung aktiv ist; Bekir Alboğa als Integrationsbeauftragter der türkischen Religionsbehörde DITIB und Aiman Mazyek als Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland. Ich danke ihnen sehr für ihre Offenheit und meinen Erkenntnisgewinn.

Herzlich danken möchte ich Freunden, Kollegen und Mitarbeitern. An erster Stelle Dr. Peter Widmann (Istanbul), der mich viele Jahre im Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin als Doktorand, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent begleitet, beraten, ermuntert und bestärkt hat. Ich verdanke ihm nicht nur wichtige Hinweise und Einsichten zum Thema Migration und Integration, er hat mir auch den Titel dieses Buches erlaubt, der den Titel eines Aufsatzes aus seiner Feder variiert. Nicht weniger dankbar bin ich Yasemin Shooman für klugen Rat und vielfache Hilfen, die sie mir als profunde Kennerin der Materie gewährt hat. Marion Neiss hat ihre Freundschaft unzählige Male bei der Beschaffung von Literatur und Quellenmaterial bewiesen. Für Recherchen, Organisation und Erstellung des Manuskripts danke ich Christine Brückner, und kompetent wie stets stand mir auch Ingeborg Medaris zur Seite, insbesondere bei der nicht immer einfachen Herstellung der Schriftfassung der vier Gespräche. Sebastian Ullrich, mein Lektor im Verlag C.H.Beck, hat die Entstehung des Manuskriptes mit Geduld und Engagement begleitet und mit kritischen Einwänden und Nachfragen gefördert. Ich danke ihm sehr herzlich und schätze das Privileg, als Autor so kompetent betreut zu werden.

Berlin, April 2012

1.
Probleme mit der Minderheit

Am Rande der Dresdner Innenstadt erhebt sich eine prächtige Moschee in gewaltigen Dimensionen. In dem Gebäude hat nie ein Gottesdienst stattgefunden, denn es diente nur als Staffage der Zigarettenfabrik Yenidze. Der Tabakindustrielle Hugo Zietz hatte den Bau Anfang des 20. Jahrhunderts errichten lassen, um mit der orientalisierenden, von einer Kuppel gekrönten Architektur das Verbot von Fabrikgebäuden im Stadtensemble zu umgehen. Der Schornstein ist als Minarett gestaltet, die «Moschee» wurde als willkommener Beitrag zur Ästhetik des Stadtbilds gesehen und dient heute, aufwendig restauriert, als Bürogebäude.

In Wien, weniger exponiert, im 19. Bezirk ziemlich fern der Innenstadt, steht ein Gebäude mit ähnlicher Geschichte. Johann Zacherl ließ es 1892 im Stil einer persischen Moschee erbauen. Hinter der Klinkerfassade, die mit farbenprächtigen Kacheln geschmückt ist und über der sich eine Kuppel erhebt, wurde «Zacherlin» produziert, das auch unter dem Namen «persisches Pulver» bekannt und wegen seiner Wirkung gegen schädliche Insekten allseits beliebt war. Auch hier diente das Minarett als Dekoration für den Schornstein und als belebendes Element des Straßenbildes, wohl auch als Werbeträger. Einen Kulturkrieg hat auch das Wiener Gebäude nicht ausgelöst. In Dresden hat es allerdings eine architekturkritische Debatte gegeben, was angesichts der exponierten Lage und der Dimension der Yenidze-Fabrik nicht weiter verwunderlich war. Weil Muslime an dem Haus keinen Anteil hatten und wegen der profanen Nutzung gab es jedoch keinen religiösen Diskurs. Allenfalls Ästhetik und Stil standen zur Diskussion.

Schon seit dem 18. Jahrhundert gab es eine höfische Tradition, fürstliche Parks mit orientalischen Bauten zu möblieren. Die Rote Moschee im Schlosspark Schwetzingen, im Auftrag des Kurfürsten Carl Theodor erbaut und 1792/93 fertiggestellt, war als Symbol der Toleranz gegenüber allen Religionen und Kulturen der Welt errichtet worden. Obwohl das Gebäude im türkischen Stil keine sakrale Ausstattung hatte, diente es im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 auch als Gebetsstätte, und zwar für französische Kriegsgefangene aus Nordafrika.

In Potsdam hatte der Architekt Ludwig Persius 1841/42 als wohl ersten Profanbau in orientalischer Verkleidung ein Maschinenhaus, das Pumpwerk für die Fontäne im Park von Sanssouci, in Gestalt einer maurischen Moschee ausgeführt. Minarett, Kuppel und die mit glasierten Ziegeln geschmückte Fassade spiegeln sich in der Havel. Die Kulisse verbirgt eine Dampfmaschine der Firma Borsig, die heute als technisches Denkmal zu bestaunen ist. Negative Reaktionen auf das Bauwerk sind nicht überliefert. Das mag freilich seinen Grund auch darin haben, dass es, wie die Fabriken in Wien und Dresden, nie kultischen Zwecken diente, deshalb wohl auch keine Bedrohungsängste auslöste. Fremdkörper in der mitteleuropäischen Stadtlandschaft waren die exotischen Bauwerke allemal. Möglicherweise sind sie auch als (unbewusste?) Geste der Geringschätzung errichtet worden und stehen in der Tradition verächtlicher Herablassung gegenüber der Kultur des Orients. Die Frage liegt nahe, wie fromme Christen reagiert hätten, wäre im Osmanischen Reich eine Fabrik oder eine Maschinenhalle in Form einer gotischen Kirche erbaut worden.

Die Überzeugung Friedrichs des Großen, alle Religionen seien gleich und gut, wenn nur die Gläubigen ehrliche Leute seien, gilt nicht für die aufgeklärten Europäer des 21. Jahrhunderts. Der Preußenkönig hat vor mehr als 250 Jahren gesagt: «Und wenn die Türken und Heiden kämen und wollten hier im Lande wohnen, dann würden wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.»[1] Gebetsstätten der Muslime sind heute für viele nur Objekte des Hasses, die sie zerstören wollen. Eine unvollständige Bilanz der vergangenen drei Jahrzehnte verzeichnet ein Dutzend Bombendrohungen und über hundert Gewalttaten gegen Moscheen, Schändungen durch Hakenkreuzschmierereien, Schweineblut oder Fäkalien nicht einbegriffen.[2]

Moscheebauvereine, die in Deutschland, Österreich, der Schweiz oder in anderen mitteleuropäischen Regionen Gebetshäuser errichten wollen, sehen sich in unseren Tagen mit ästhetischen, religiösen und politischen Argumenten konfrontiert, für die Volkszorn mobilisiert wird, um die unerwünschte visuelle Präsenz des Islam zu verhindern. Der Wunsch, Gebetshäuser zu errichten, die als solche zu erkennen sind, ist in erster Linie ein Zeichen dafür, dass die Religionsgemeinschaft ihre Bürgerrechte wahrnimmt und sich in ihrer Umgebung angekommen fühlt. Das hat historische Parallelen in der Geschichte der deutschen Juden, die 1871 ihre vollen Bürgerrechte in der Verfassung des Deutschen Reiches garantiert sahen. Nun wollten sie auch sichtbar Staatsbürger sein mit allen Rechten und Pflichten. Sie begannen, Synagogen mit prächtigen Fassaden zu errichten, und waren froh, die unauffälligen Gebetsstuben im Hinterhof, die symbolisch waren für den minderen Status einer nur widerwillig geduldeten Minderheit, verlassen zu können. Aus der Sicht des Architekten und als jüdischer Intellektueller hat Salomon Korn den Diskurs beschrieben, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts über Synagogen als Zeichen der Emanzipation geführt wurde.[3]

Die Parallele zu aktuellen Moscheedebatten zu ziehen erscheint mindestens denen als Sakrileg, die in aggressivem Philosemitismus oder unbedingter Parteiname jeden Vergleich zwischen Antisemiten und Islamfeindschaft skandalisieren. Dabei muss ein Vergleich nicht zur Gleichsetzung der Opfer führen, sondern kann als Mittel eingesetzt werden, um die gegen eine jeweilige Minderheit handelnde Mehrheit zu untersuchen. Das Gegenargument, von Juden sei nie eine Bedrohung ausgegangen, von Muslimen aber sehr wohl, ist unsinnig, weil es bei Ressentiments nicht um Realität geht. Objekt des Antisemiten ist nicht der wirkliche Jude, sondern das Konstrukt eines Feindes, dem er die Gestalt des Juden gibt. Zur Agitation muss das Feindbild konkrete Formen haben. Die Juden, die Julius Streicher und Adolf Hitler in ihren Hasstiraden beschworen, haben in der Realität nicht existiert. Aber Millionen Gefolgsleute haben daran geglaubt, dass von «den Juden» große Gefahr ausgehe, der man energisch begegnen müsse, um nicht selbst unterzugehen.

Kulturrassismus, der sich als Religionskritik am Islam ausgibt, beherrscht derzeit die Agenda nicht nur in den Niederlanden, in Schweden, der Schweiz, in Frankreich oder in Deutschland. Das Bild des alltäglichen Rassismus in Österreich ist nicht erfreulicher. Einige wenige Beispiele spiegeln die Situation: Im April 2008 wird eine Frau, die nichtösterreichischer Herkunft zu sein scheint, an der Kasse eines Supermarkts von einer älteren Kundin attackiert: «Sie haben kein Recht, vor mir zu stehen! Das ist MEIN Land, ich bin in meiner Heimat! Nein, halten Sie den Mund! Sie haben kein Recht zu sprechen! Gehen Sie raus!» In einem Wiener Nachtbus wird ein Mann, der aus Nigeria stammt, von einer 40-jährigen Frau angepöbelt, als «Bimbo» und «Neger» beschimpft, eine zweite Frau sekundiert ihr, es fallen Bemerkungen, dass Hitler seine Sache gut gemacht habe. In einer Wiener U-Bahn-Station schiebt eine junge Frau mit Kopftuch einen Kinderwagen mit Zwillingen, zwei größere Kinder begleiten sie. Eine ältere Frau spricht sie an: «Wie viele Kinder wollen Sie noch kriegen?», und sagt, nachdem die junge Mutter sich die Frage verbeten hat, unter anzüglichen Handbewegungen: «Ihr kommt’s hierher und könnt’s nur Kinder machen!» Noch drastischer erlebt eine zum Islam konvertierte Österreicherin in einem Bekleidungsgeschäft in Graz die Überfremdungsängste einer anderen Frau, die sich in sexistischem Rassismus Luft macht: «Gehen’s doch heim, zu Ihrem Allah, wenn Sie sich so gerne von jedem Mufti durchficken lassen!» Der Dialog geht weiter, die Angreiferin verlangt schließlich vom Opfer, nicht weiter belästigt zu werden, zwei Angestellte und drei Kundinnen sind Zeugen des Vorfalls, ohne ihn zu kommentieren.[4]

In der Gewissheit der eigenen kulturellen Höherwertigkeit ist die Notwendigkeit der Ablehnung anderer begründet. Der konservative US-amerikanische Politologe Samuel Huntington hat ein Erklärungsmodell zur Wiederkehr der Religion im öffentlichen Leben vorgelegt, die er in einem «Kampf der Kulturen» (clash of civilizations)[5] wirkungsmächtig sieht. Die Denkfigur wurde populär. Ihr hält der Religionssoziologe Martin Riesebrodt die Option eines Bekenntnispluralismus entgegen, mit dem Ziel politischer Partizipation ohne Präferenz einer bestimmten Religion. Das schließt Dominanz gesellschaftlicher Gruppen aufgrund «kultureller oder religiöser Tradition, Geschlecht, Ethnizität oder ‹Rasse›» ebenso aus wie Ausgrenzung.[6] Fundamentalisten, deren Einfluss bis weit in die Mitte der Gesellschaft reicht, sind aber auf Ab- und Ausgrenzung bedacht und predigen den Kampf gegen fremde Kulturen unter Berufung auf Religion, Tradition und die Überlegenheit der eigenen Moral.[7]

Pastor Terry Jones steht an der Spitze einer winzigen Sekte von Christen, die früher in Köln, heute in Gainesville in Florida ihr Wesen treibt und von den Medien überdimensional wahrgenommen wird, dies durch spektakuläre Inszenierungen provoziert und Spiritualität längst durch Krawall ersetzt hat. In der internationalen Szene der Muslimfeinde genießt der Sektenpfarrer Kultstatus. In eindimensionaler Weltsicht hat Pastor Jones, der sich zum Gottesdienst mit Smoking und Pistole am Gürtel ausstaffiert, den Islam als Grund allen Übels auf der Erde ausgemacht.[8] Lebhaft unterstützt von seiner Gemeinde, kündigte er symbolträchtig für den 11. September 2010 eine Koranverbrennung an, die weltweit Proteste auslöste und nicht zuletzt nach patriotischen Ermahnungen, wegen der Sicherheit amerikanischer Soldaten und Bürger angesichts vorhersehbarer gewaltsamer Proteste in muslimischen Ländern, zunächst unterblieb.

Im Frühjahr 2011 wurde die unfromme Absicht dann aber doch verwirklicht. Bei einem «Prozess», in dem Pastor Jones als Richter amtierte, wurde der Koran feierlich zur Verbrennung verurteilt. Der Richterspruch wurde von einem zweiten Pastor, der mit dem Grillanzünder das Amt des Henkers versah, vollstreckt. Die Folgen waren absehbar: Aufgebrachte muslimische Gläubige und Fanatiker verletzten und töteten bei Protesten in Afghanistan nicht wenige Menschen. Den Pastor rührte es nicht, dass sein Wirken Unruhen und einen Sturm auf das Büro der Vereinten Nationen in Masar-i-Sharif auslöste, bei dem sieben Ausländer zu Tode kamen. Er lehnte jede Verantwortung ab und erklärte zufrieden, er habe «das Bewusstsein für diese gefährliche Religion schärfen» wollen. Der Brandstifter fühlte sich durch den Brand bestätigt. Der Hass gegen den Islam macht ihn blind, seine Verurteilung der durch ihn ausgelösten Gewalt ist bei rationaler Beurteilung entweder Heuchelei oder Zynismus. Emotional betrachtet, bestätigt sich die Tat durch ihre Wirkung: Für den Fundamentalisten besteht die Welt nur aus dem Guten, das er vertritt, und dem Bösen, das er bekämpft.[9] Der Pastor bietet das klassische Bild der Verantwortungslosigkeit des Fundamentalisten: Die Folgen seines Wirkens kümmern ihn nur so weit, als sie in seinem Sinne, als sie Ziel seiner Absicht sind. Pastor Jones steht für die Lächerlichkeit des Fanatikers und darf sich der Verachtung aller Vernünftigen sicher sein, aber die Folgen seines Tuns sind unabhängig von seiner Person.

Das zeigte sich etwa im Februar 2012, als bekannt wurde, dass in einem Lager der US-Army in Afghanistan verkohlte Koranseiten auf dem Müll lagen. Aus welchen Gründen auch immer – bei amerikanischen Urhebern liegen banale sanitäre oder bürokratische Motive nahe – die Heilige Schrift des Islam in Entsorgungsaktivitäten geriet, tagelange gewaltsame Proteste aufgebrachter Muslime, die sich verhöhnt und beleidigt fühlten, waren das Ergebnis. Öffentliche Entschuldigungen hochrangiger US-Militärs konnten nichts an der Explosion der Gefühle ändern. Mangelnde Sensibilität löste Wogen der Entrüstung aus, die als Ausdruck fanatisierter islamischer Gewaltbereitschaft gedeutet und als «Beweis» genommen wurden, dass Muslime in religiösen Angelegenheiten hysterisch reagieren. Hält man sich vor Augen, mit welchem Respekt Thorarollen in der jüdischen Religionsausübung behandelt werden, dass unbrauchbar gewordene heilige Schriften feierlich auf dem Friedhof bestattet werden, könnte man eine Vorstellung von der Bedeutung der Koranschändung erlangen, vollends, wenn man die Geschichte herablassenden Umgangs mit muslimischen Traditionen und Symbolen in Betracht zieht.

Die Mohammed-Karikaturen, die 2005 in einer dänischen Provinzzeitung erschienen, waren eben mehr als eine unnötige Demonstration westlicher Meinungsfreiheit. Sie waren Pietätsverletzungen, die als gewollte Provokation verstanden und weltweit mit tätiger Entrüstung beantwortet wurden. Und natürlich sind einzelne Ereignisse wie die Mohammed-Karikaturen oder die Umtriebe des Pastor Jones nur Katalysatoren für das Unbehagen, das sich über lange Zeit in der islamischen Welt gegen «den Westen» aufgebaut hat.

Im Westen beherrscht dagegen seit dem 11. September 2001 das Feindbild eines aggressiven Terrorismus, der im Namen Allahs rücksichtslos agiert, die Sicht auf den gesamten islamischen Kulturkreis. Eine der Ersten, die den Kulturkampf gegen den Islam in Europa ausriefen, war Oriana Fallaci (1929–2006). Die Schriftstellerin erlebte den Terroranschlag auf das World Trade Center in ihrer New Yorker Wohnung aus der Nähe. Ihrem Zorn verlieh sie Ausdruck in einem Pamphlet, niedergeschrieben im September 2001 unter dem unmittelbaren Schock der Ereignisse und gesättigt von den Erfahrungen ihres Lebens als Kriegsberichterstatterin, als Journalistin, die orientalische Potentaten interviewt und Länder islamischer Kultur bereist hatte. Oriana Fallaci wütete gegen die Linke, gegen westliche Dekadenz, gegen das in Brüssel repräsentierte Europa. Sie verstand ihren Text als Predigt, als Verteidigung traditioneller Werte, unter denen Patriotismus und Abneigung gegen Fremdes (verkörpert durch den Islam) hohen Rang haben.

Der furiose Empörungsschrei der Italienerin war für die Szene der Islamfeinde stilbildend mit Denkfiguren, Wortprägungen und Hasstiraden. Mit ihrem Essay «Die Wut und der Stolz» gewann Oriana Fallaci erheblichen Einfluss als Islamkritikerin.[10] Einer ihrer Epigonen, Udo Ulfkotte, huldigte ihr im Motto eines seiner Bücher: «Europa ist nicht mehr Europa, es ist ‹Eurabien›, eine Kolonie des Islam, wo die islamische Invasion nicht nur physisch voranschreitet, sondern auch auf geistiger und kultureller Ebene.»[11]

Oriana Fallaci hat einen Hassgesang angestimmt, der von der Verachtung der Muslime lebt. Die «Söhne Allahs», wie sie Muslime beharrlich nennt, würden «anstatt zur Verbesserung der Menschheit beizutragen, ihre Zeit damit verbringen, mit dem Hintern in der Luft fünfmal am Tag zu beten».[12] Vielleicht hat sich auch Ralph Giordano bei der Lektüre zu seinen beleidigenden Äußerungen gegen die Religion des Islam inspirieren lassen. Auch andere Spuren der «brutalen Aufrichtigkeit» Fallacis erkennt man wieder, wenn sie «die Imame» als geistige Oberhäupter des Terrorismus einschätzt oder wenn sie das Aussterben der Europäer beklagt: «Die Italiener bekommen keine Kinder mehr, diese Dummköpfe. Die übrigen Europäer auch nicht. Unsere ‹ausländischen Arbeiten› dagegen vermehren sich wie die Ratten. Mindestens die Hälfte aller moslemischen Frauen, die man auf der Straße sieht, sind von Kinderhorden umgeben und schwanger.»[13] Und richtungsweisend war Fallaci auch mit der Überzeugung, der islamistische Extremismus der Gegenwart sei «nur der jüngste Ausdruck einer Realität, die seit eintausendvierhundert Jahren existiert. Einer Realität, vor der der Westen unerklärlicherweise die Augen verschließt.»[14]

Frau Fallaci hat solche Deutungen der modernen Weltkonflikte nicht erfunden, aber sie hat ihnen, politisch entschieden positioniert, wortmächtig Ausdruck verliehen und durch ihre Prominenz als Publizistin und durch die Authentizität ihrer Erfahrungen solche Wirkung verschafft, dass man ihr Traktat nicht als Hassgeschrei einer traumatisierten Patriotin, die in einer globalisierten Welt den Nationalkulturen des alten Europa nachtrauert, abtun kann. Oriana Fallaci hat ein Manifest der Islamfeindschaft in die Welt gesetzt, das der Meinung vieler entspricht.

Die Bedrohungsängste haben seit dem 11. September 2001 einen Kristallisationspunkt. Beispiele für den Missbrauch der islamischen Religion durch eine Minderheit von Radikalen und Extremisten ereignen sich weiterhin täglich. Das erleichtert den Demagogen, für die die Parole vom «Kampf der Kulturen» attraktiver ist als der Dialog mit den Vertretern einer anderen Kultur, das Geschäft. Für sie bilden alle Muslime ein Kollektiv des Bösen und müssen deshalb – im Namen des Abendlandes, des Christentums, der europäischen Kultur – bekämpft werden.

Die Hinweise auf die Rückständigkeit traditioneller islamischer Gesellschaften, auf dort geübte oder vermutete fremdartige Sitten und Gebräuche, auf Despotie, Diktatur und angebliche Unfähigkeit zur Demokratie münden im Verdikt über die Religion, die nach der Überzeugung der Islamfeinde nichts anderes ist als eine politische Handlungsanweisung zur Erringung der Herrschaft über die Welt. Seit dem 11. September 2001 stehen alle Muslime unter dem Generalverdacht des Terrorismus oder der Beihilfe dazu oder mindestens der Bereitschaft zur Gewalt. Auch semantische Auswirkungen hatte der Anschlag in New York. Sprach man davor von Türken oder Arabern, so werden seitdem die Migranten über ihre Religion oder den Kulturkreis, aus dem sie kommen, als Muslime bezeichnet. Und damit sind sie pauschal definiert, d.h. als Gruppe mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet. Dazu gehört auch die weitverbreitete Skepsis hinsichtlich ihrer Akkulturationsbereitschaft.

Kein Unberufener, vielmehr der Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Peter Friedrich, hat die Feststellung des Bundespräsidenten Wulff dementiert, der Islam gehöre zu Deutschland. Angesichts der vier Millionen in Deutschland lebenden Muslime war das keine aus der Luft gegriffene Behauptung, vielmehr eine Andeutung ihrer Bürgerrechte. Der Minister interpretierte einige Zeit später auch eine Studie über das Verhalten junger Muslime, die sein Haus in Auftrag gegeben hatte, etwas willkürlich. Die Studie zeichnete ein ziemlich positives Bild der Entwicklung, erkannte eine problematische Einstellung zur Demokratie lediglich bei zwei bis drei Prozent der jungen Muslime und führte Tendenzen zur Abkapselung auf Diskriminierungserfahrungen zurück.[15] Der Minister griff sich lediglich die negativen Resultate der Studie heraus und geißelte in der «Bild»-Zeitung die mutmaßlichen Feinde von Demokratie und Freiheit. Das brachte ihm nicht nur die Kritik von Experten ein, sondern auch das Stirnrunzeln der Antidiskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung, die es befremdlich fand, dass sich Minister Friedrich nur auf die Minderheit unter den Befragten konzentrierte, die sein düsteres Bild bestätigten. Die Antidiskriminierungsbeauftragte sagte wörtlich, es sei «ein Rückschlag für jede Antidiskriminierungsarbeit, wenn man Migranten ausschließlich auf ihre Religion oder Gewaltbereitschaft reduziert».[16]

Die Muslime treten in Deutschland ganz unterschiedlich organisiert in Erscheinung. Die Strukturen der Repräsentation des Islam sind nicht zu vergleichen mit den Strukturen christlicher Konfessionen. Schließlich gibt es auch keine einheitliche Lehre und keine Instanz, die Glaubensinhalte und Lehrmeinungen verbindlich festlegt. Die größte Vereinigung ist der Dachverband Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Diyanet Işleri Türk Islam Birliği, abgekürzt DITIB), der in Köln residiert. DITIB repräsentiert die staatliche Religionsbehörde der Türkei, d.h. das verfassungsmäßige Organ,das der dortigen Trennung von Staat und Religion dient. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland vertritt muslimische Spitzenverbände unterschiedlicher religiöser Observanz und nationaler Herkunft. Im Gegensatz zu diesen politisch neutralen Organisationen ist die «Islamische Gemeinschaft Milli Görüş» eine türkisch-nationalistische und islamistische Bewegung, die die Türkei zum islamischen Staat umgestalten möchte, in ganz Europa aktiv ist und auch in der Bundesrepublik mit Argwohn beobachtet wird.

Der Verband der islamischen Kulturzentren (Islam Kültür Merkezleri Birliği, IKMB) ist türkisch dominiert, die Muslimbrüder mit ihrem arabischen Hintergrund sind mit dem Islamischen Zentrum München vertreten, das Islamische Zentrum Hamburg wird dagegen vom Iran gefördert. Zur Vielfalt des Islam in Deutschland, der sich außer nach den Herkunftsregionen seiner Angehörigen noch in Schiiten und Sunniten gliedert, gehören kleinere Gruppen und Sekten sowie die Aleviten, zu denen etwa ein Fünftel der in Deutschland lebenden Türken zu rechnen ist. Aleviten unterscheiden sich von anderen Muslimen äußerlich vor allem dadurch, dass sie die von der Scharia vorgeschriebenen Rituale wie das fünfmalige tägliche Gebet nicht kennen, daher keine Moscheen unterhalten.[17]

Von Sunniten und Schiiten werden die Aleviten deshalb nicht als Muslime anerkannt, obwohl ihre zentralen Glaubensinhalte islamisch sind. Entgegen dem pauschalen Verdikt der Muslimfeinde, nach dem «der Islam» eine gefährliche Einheit mit einer geschlossenen Ideologie und darauf basierender aggressiver Zielsetzung, nämlich der «Islamisierung Europas», darstellt, ist die Welt der Muslime durch ihren Formenreichtum charakterisiert. Das bringt für Mehrheitsgesellschaft und Regierung Schwierigkeiten mit sich. Unter anderem die, autorisierte Ansprech- und Verhandlungspartner zu finden, mit denen besser als mit den örtlichen Moscheevereinen Lehrinhalte für die Ausbildung von Imamen und den islamischen Religionsunterricht in der Grundschule festgelegt werden können. Die 2006 vom Bundesinnenministerium einberufene und moderierte «Deutsche Islamkonferenz» versucht, den berechtigten Interessen der Mehrheitsgesellschaft wie denen der muslimischen Minderheit in Deutschland Raum zu schaffen. Die Schwierigkeiten sind unübersehbar: Die Einladungspolitik der Regierung einerseits und intransigente Standpunkte der Interessenvertretungen andererseits bilden zusätzliche Steine auf dem schwierigen Weg zur Integration.

Der Alltag in vielen Ländern des islamischen Kulturkreises ist von Armut und Arbeitslosigkeit gezeichnet. Bildungsdefizite und soziale Ungerechtigkeiten kommen dazu. Das ist aber nicht Ausfluss der Religion oder Resultat kulturimmanenter Verweigerung jeglichen Fortschritts. Gegen feudale Strukturen empören sich arabische Muslime im Aufbruch in die Moderne und in der Hoffnung auf eine gerechtere Welt. Wem dieser Prozess zu lange dauert oder wem er zu spät in Gang kam, der muss sich fragen lassen, wie lange die Konfessionen des Christentums brauchten, um die Probleme der modernen Welt zu realisieren und Lösungen zu akzeptieren.

Ist denn der arabische Frühling nur eine Legende? Werden den gestürzten Diktatoren in Tunesien, Libyen oder Ägypten nun die radikalen Islamisten folgen und neue Schreckensherrschaften errichten, in denen Minderheiten wie Christen, kritische Intellektuelle oder Gruppen wie Frauen oder Unfromme unterdrückt oder verfolgt werden? Muss Israel fürchten, dass die mühsam bewahrte Stabilität der Beziehungen zu Ägypten verloren geht, dass der 1979 geschlossene Friede von Camp David von Kairo gekündigt wird? Schwierige Fragen, auf die simple Antworten nicht möglich sind. Aber der Sturz der Diktatoren durch die Erhebung der arabischen Völker ist ebenso Wirklichkeit wie der Freiheitskampf in Syrien. Freilich wäre es naiv zu glauben, dem Untergang diktatorischer Gewaltregime müsste die lupenreine Demokratie nach westlichem Wertekanon unmittelbar folgen. Wie lang war denn der Weg in Deutschland vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie? Wie lange brauchte die Emanzipation der Frauen in Europa, und wann wird sie vollendet sein?

Dem Sturz Mubaraks in Ägypten im Februar 2011 folgte patriotischer Jubel, in den der Westen einstimmte. Aber es war doch auch einst der Westen gewesen, der ihn unterstützt hatte, weil er Islamisten einkerkerte und Frieden mit Israel hielt. Dass Islamisten jetzt, nach der Niederlage des Regimes, das sie verfolgte und zu Märtyrern machte, zur Macht streben, dass sie schon deshalb populär sind, weil man sie im Westen fürchtet und stigmatisiert, das ist kein Wunder. Denn Boykott und Verteufelung, gegen sie gerichtet, waren Triebkräfte ihres Erfolgs.

Terror unter Missbrauch des Namens Allah ist und bleibt kriminell, das steht nicht zur Diskussion. Aber damit ist nicht der politische Islam insgesamt und von vornherein zu verdammen. Wie viel haben wohl angstgesteuerte Eiferer in Europa und den USA, die den Islam pauschal diffamieren, zur Radikalisierung der Islamisten beigetragen? Das neue Selbstbewusstsein der Ägypter reagiert auf Bevormundung nicht weniger empfindlich als auf westliche Arroganz. Der Tod ägyptischer Polizisten bei einem Grenzzwischenfall mit Israel, die Verweigerung einer angemessenen Geste der Entschuldigung durch die israelische Regierung waren Anlass für einen Sturm entfesselter Fanatiker auf die israelische Botschaft in Kairo. Das traurige Ereignis zeigt, wie leicht sich durch Parolen gefährliche Zorneswallungen mobilisieren lassen, von Aufgebrachten, die zum Mob werden.

Die israelische Reaktion auf den barbarischen Akt war bewundernswert moderat, aber sie wird den tief sitzenden und verbreiteten Hass gegen Juden und den jüdischen Staat in der arabischen Welt nicht lindern. Ältere Feindbilder sind durch die Eskalation des Nahostkonflikts in Jahrzehnten verstärkt und immer wieder neu instrumentalisiert worden; die Kriege gegen Israel haben auf der arabischen Seite im Verhältnis zu ihrem Misserfolg die Militanz gesteigert, und schließlich wird die Abneigung gegen Israel und «die Juden» durch die israelische Politik gegenüber den Palästinensern und jüdische Ressentiments gegen Araber bzw. Muslime schlechthin stimuliert. Viele muslimische Meinungsführer verbreiten, auch unter dem Mantel von Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, mit Verschwörungstheorien und absurden Feindbildern Ressentiments gegen «die Juden» als verhasstes Kollektiv. Medien in der arabischen Region und darüber hinaus sorgen mit Eifer für Resonanz und Nachhaltigkeit. Dass Taxifahrer in Kairo mit dem Fahrgast über die «Protokolle der Weisen von Zion» diskutieren und zutiefst überzeugt sind, dass «die Juden», verkörpert durch Israel, Feinde schlechthin sind, ist eine Tatsache. Dass den Juden Stellvertreterfunktionen zugeschoben werden, ist eine Erkenntnis, die hilfreich wäre, wenn sie akzeptiert würde. Aus ähnlichem Grund sind die Kopten als Minderheit in Ägypten in Bedrängnis. Sie müssen die Rolle des inneren Feindes spielen, nicht weil sie Christen sind, sondern weil Minderheiten dann in Anspruch genommen werden, wenn die Mehrheit irgendwelche «Anderen», die als «Fremde» definiert werden, als Schuldige braucht.

Es ist falsch, politische Probleme auf die Religion (und deren Missbrauch) zu reduzieren. Der Westen wird sich mit dem politischen Islam arrangieren müssen, wenn er, wie in Tunesien durch einwandfreie Wahl legitimiert, als bestimmende Kraft auftritt. Damit – das heißt durch Akzeptanz und im Dialog – verbindet sich die Hoffnung, dass dessen Radikalisierung vermieden wird, denn die Stigmatisierung von Schurkenstaaten löst keine Probleme, sondern vergrößert sie nur.

Im westlichen Europa dient das Feindbild Islam der Stigmatisierung einer Minderheit von Muslimen, die als Bürger oder Gäste in der Gesellschaft Rechte haben. Sie sind nicht als Usurpatoren gekommen, und sie verstehen sich nicht als Feinde. Unter Hinweis auf Terrorakte fanatischer Islamisten, die durch den Missbrauch der Religion im Gegensatz zur Mehrheit der Muslime stehen, durch Verallgemeinerung von Verbrechen, die in Afghanistan oder im Iran ihren Ursprung haben, sollen muslimische Bürger in Mitteleuropa ausgegrenzt werden, indem man sie unter Generalverdacht stellt und ihre Religion diskriminiert.

Die Wirkungen solcher Ressentiments hat eine Langzeitstudie über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Augen geführt. Fast die Hälfte der befragten deutschen Bürger glaubt, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben, jeder Fünfte ist dafür, die Zuwanderung von Muslimen zu unterbinden, ein Drittel glaubt an «natürliche Unterschiede» zwischen Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe, vertritt damit wohl die Überzeugung unterschiedlicher Wertigkeit. Zwar hat die Überzeugungskraft rechtspopulistischer Demagogen nachgelassen (für knapp zehn Prozent der Bürger sind sie allerdings noch attraktiv), aber die Entsolidarisierung der Gesellschaft schreitet voran. Aus Angst, den eigenen Status zu verlieren, werden Menschengruppen abgewertet. Vor allem Langzeitarbeitslose und Obdachlose werden verachtet, und die Bereitschaft zum Protest und zur Gewalt hat zugenommen. 19 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, «wenn sich andere bei uns breitmachen, muss man ihnen unter Umständen unter Anwendung von Gewalt zeigen, wer Herr im Hause ist».[18]

Optimistisch an der Diagnose der deutschen Gesellschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stimmt allenfalls der Rückgang von Antisemitismus und Homophobie. Anlass zu Pessimismus bieten aber die Veränderungen in den Trägerschichten ausgrenzender menschenfeindlicher Einstellungen. Es sind die besseren Stände, die mittleren und höheren Schichten, die Tugenden des Bürgers wie Toleranz und Solidarität zugunsten des eigenen Fortkommens oder des Statuserhalts wegen frohgemut den Abschied geben. Wilhelm Heitmeyer fasste den Befund anlässlich der Vorstellung der Studie zusammen: «Diese rohe Bürgerlichkeit lässt sich in ihrer Selbstgewissheit nicht stören: Die Würde bestimmter Menschen und die Gleichwertigkeit von Gruppen sind antastbar.»[19]