Katharina Schuster

Einfluss natürlicher
Benutzerschnittstellen zur
Steuerung des Sichtfeldes
und der Fortbewegung auf
Rezeptionsprozesse in
virtuellen Lernumgebungen

Katharina Schuster

Einfluss natürlicher
Benutzerschnittstellen
zur Steuerung des Sichtfeldes
und der Fortbewegung
auf Rezeptionsprozesse
in virtuellen Lernumgebung

Tectum Verlag

Katharina Schuster

Einfluss natürlicher Benutzerschnittstellen zur Steuerung des Sichtfeldes und der Fortbewegung auf Rezeptionsprozesse in virtuellen Lernumgebungen

© Tectum Verlag Marburg, 2015

Zugl. D82 (Diss. RWTH Aachen University, 2014)

ISBN: 978-3-8288-6298-2

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3625-9 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildung: Peer Schlieperskötter

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Danksagung

Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institutscluster Lehrstuhl Informationsmanagement im Maschinenbau, Zentrum für Lern- und Wissensmanagement und Institut für Unternehmenskybernetik (IMA/ZLW & IfU) der RWTH Aachen.

Zunächst möchte ich mich bei Frau Prof. Dr. rer. nat. Sabina Jeschke bedanken. Sie hat die Arbeit betreut und mir mit wissenschaftlicher Präzision tatkräftig über die Zielgerade verholfen. Mein Dank gilt außerdem Frau Prof. Dr. phil. Martina Ziefle für die Übernahme der Zweitbetreuung und die damit verbundene unermüdliche Erinnerung, das eigene Handeln stets kritisch zu reflektieren. Herr Prof. Dr. phil. Sven Kommer hat mir im Rahmen der Disputation eine spannende Diskussion über meine Arbeit ermöglicht, wofür ich mich ebenfalls herzlich bedanken möchte.

Der Entstehungsprozess dieser Dissertation war außerdem maßgeblich durch die Verbundprojekte „TeachING-LearnING.EU“ (Stiftung Mercator) und „ELLI – Exzellentes Lehren und Lernen in den Ingenieurwissenschaften“ (BMBF) sowie das damit verbundene produktive Forschungsumfeld geprägt. Stellvertretend für zwei großartige Teams im „erweiterten Ruhrgebiet“ möchte ich ganz herzlich Herrn Prof. Dr.-Ing. Marcus Petermann von der Ruhr-Universität Bochum sowie Herrn Prof. Dr.-Ing. A. Erman Tekkaya von der Technischen Universität Dortmund danken.

Mein Dank gilt darüber hinaus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des IMA/ZLW & IfU: Dr. rer. nat. Frank Hees, Prof. Dr. phil. Ingrid Isenhardt und Prof. Dr.-Ing. em. Klaus Henning für die Lehrjahre interdisziplinären Denkens und Handelns; Ursula Bach und Anja Richert für den Freiraum der eigenen Forschung und die Möglichkeit, an neuen Themen zu wachsen; Claudia Jooß, Ute Heinze, René Vossen und Max Haberstroh für die beständige und fordernde Beratung im Dissertationsprozess; allen Mitgliedern meiner Forschungsgruppe für den fachlichen Input; Larissa, Kathrin, Valerie, Philipp, Caro, Alexa, Sarah, Philine und Marie für moralischen Support; Laura, Hanna, Sophie und ganz besonders Anna und Peer für das nie endende Engagement.

Zu guter Letzt möchte ich Freunden und Familie danken, dass sie mich insbesondere in der Endphase in vielerlei Hinsicht unterstützt haben, die nicht in Worte zu fassen ist. Meinem Freund Tobi vor allem dafür, alles aufzufangen und in jedem Moment den Rücken frei zu halten, meiner Mutter für die immerwährende emotionale Unterstützung und meinem Vater für das nicht nur wissenschaftliche Vertrauen in mich selbst.

Vorbemerkung zur verwendeten Sprachform

Im Sprachstil dieser Dissertation sollen sich Männer und Frauen ausdrücklich gleichermaßen repräsentiert fühlen. Dennoch wurde aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die maskuline Form verwendet.

Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

1.1Thematische Einordnung

1.2Vorgehensweise

2.Theoretische Grundlagen

2.1Medienangebot: Virtuelle Lernumgebungen

2.1.1Physische, virtuelle und gemischte Realität

2.1.2E-Learning: Lehren und Lernen mit digitalen Medien

2.1.3Der realitätsgetreue Ansatz: Simulationen

2.1.4Der experimentelle Ansatz: Virtuelle und Remote-Labore

2.1.5Der spielerische Ansatz: Serious Games und Gamification

2.2Rezeptionssituation: Natürliche Benutzerschnittstellen

2.2.1Typologisierung von Benutzerschnittstellen sowie ihrer Qualitätskriterien

2.2.2Eingabegeräte für Kopfbewegung und Ausgabegeräte für visuelles Feedback

2.2.3Eingabegeräte für Handbewegung und Ausgabegeräte für haptisches Feedback

2.2.4Eingabegeräte für physisch reale Fortbewegung

2.2.5Kombination mehrerer Ein- und Ausgabegeräte zu Simulatoren

2.3Person: Individuelle Einflussfaktoren

2.3.1Persönlichkeit

2.3.2Motivation

2.3.3Emotionen

2.4Rezeptionsprozesse der Informationsverarbeitung

2.4.1Wahrnehmung und Aufmerksamkeit

2.4.2Wissensrepräsentation und Vorstellung

2.4.3Gedächtnis

2.4.4Koordination multipler Handlungen

2.5Rezeptionsprozesse des Erlebens

2.5.1Immersion: Das allgemeine Eintauchen in virtuelle Umgebungen

2.5.2Präsenzerleben: Das Eintauchen in Räume

2.5.3Flow-Erleben: Das Eintauchen in Tätigkeiten

3.Aktuelle Fragestellungen zur Rezeption virtueller Lernumgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen

4.Empirische Untersuchungen

4.1Übergreifender Forschungsansatz

4.1.1Forschungsdesign: Nutzerorientierter Mehrmethodenansatz

4.1.2Apparat: Der Mixed-Reality-Simulator „Virtual Theatre“

4.2Studie 1: Fokusgruppen-Workshops

4.2.1Methodik

4.2.2Analyse

4.2.3Ergebnisse

4.2.4Diskussion

4.3Studie 2: Quasi-experimentelle Untersuchungen

4.3.1Methodik: Überblick und Vorgehensweise

4.3.2Variablen und Messinstrumente

4.3.3Leistungsmessung

4.3.4Versuchsablauf

4.3.5Stichprobe

4.3.6Analyse

4.3.7Ergebnisse

4.3.8Diskussion

4.4Studie 3: Ex-Post Probandeninterviews

4.4.1Methodik

4.4.2Analyse

4.4.3Triangulation der Ergebnisse aus Studie 2 und Studie 3

4.5Zusammenfassung der Ergebnisse und Beantwortung der Forschungsfragen

5.Ergebnistransfer: Einbettung natürlicher Benutzerschnittstellen in Blended Learning Arrangements

6.Fazit und Ausblick

7.Zusammenfassung

8.Verzeichnisse

8.1Literaturverzeichnis

8.2Abbildungsverzeichnis

8.3Tabellenverzeichnis

Anhang

1.Einleitung

1.1Thematische Einordnung

Die Etablierung digitaler Medien zu Lernzwecken wird in Hochschulen seit Mitte der 90er Jahre angestrebt. Das Lernen mit digitalen Medien weist Vorteile auf, die den hohen Wert der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie in der Gesellschaft wiederspiegeln. Der wahrscheinlich am häufigsten genannte Aspekt ist die räumlich-zeitliche Unabhängigkeit, mit der auf Inhalte und Dienste zugegriffen werden kann. Ob synchron oder asynchron können Benutzer jederzeit zu Kommunikations- und Kollaborationszwecken miteinander in Verbindung treten. In virtuellen Lernumgebungen sind alle gängigen Codierungen von Informationen möglich, z. B. in Form von Texten, Fotos, Grafiken oder Datenbanken. Durch die Kombination der Codierungsarten können verschiedene Sinne des menschlichen Wahrnehmungsapparats mit dem jeweiligen System interagieren (vgl. Kerres 2012: 134). Einhergehend mit neuen technischen Merkmalen sind die Anwendungen im Bildungskontext mit einer Reihe von Erwartungen hinsichtlich eines besonderen Potenzials verknüpft. Hierzu gehört u. a. eine bessere Anpassung an die Bedürfnisse der Nutzer, eine höhere Lernleistung, eine höhere Effizienz von Lehr-Lern-Prozessen (vgl. Köhler et al. 2008: 478) oder höhere Lernmotivation seitens der Studierenden (vgl. Kerres 2012: 8).

Im Hochschulsektor manifestiert sich die große Kluft zwischen den Erwartungen und den beabsichtigten Wirkungen digitaler Medien nicht zuletzt in hohen Studienabbruchquoten. Trotz weitreichender Reformen, allen voran der Schaffung eines europäischen Hochschulraumes durch den Bologna-Prozess, besteht vor allem in technischen Studiengängen ein großer Bedarf an innovativen Lehr- und Lernmethoden (vgl. Crawley et al. 2014: 2). Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass 40 - 50 % der Studierenden der Ingenieur- und Naturwissenschaften ihr Studium abbrechen (vgl. Heublein et al. 2012: 16 f.). Als Ursachen gelten insbesondere motivationale Defizite der Studierenden, Leistungsprobleme und mangelnder Praxisbezug im Studium (vgl. Derboven und Winker 2010: 25). Wie kann also das „Mis-Match“ zwischen Medien-angeboten und beabsichtigter Wirkung gelöst werden?

Ein erster wichtiger Schritt für die Beantwortung der Frage ergibt sich aus einer stärkeren Ausrichtung digitaler Lernangebote auf die Zielgruppe. Hier liegt das veränderte Bild einer neuen Studierendengeneration zugrunde. Hinter dem Schlagwort der ‚Digital Natives‘ verbirgt sich eine Gruppe von Jahrgängen, die mit digitalen Technologien aufgewachsen ist (vgl. Prensky 2001: 1). Als Definition wird zugrunde gelegt, dass ein Digital Native (auch: Digital Resident) seit frühester Kindheit von der Nutzung von Smartphones, Rechnern im persönlichen Zugangsbereich, Laptops an Schulen, Zugängen zu Computerspielen etc. umgeben gewesen sein muss (vgl. Jeschke 2014: 361). Die konsequente Nutzung des virtuellen Raumes wird daher als probates Mittel erachtet, um den Mediennutzungsgewohnheiten des Digital Natives gerecht zu werden. Im Sinne einer Erweiterung des Handlungsraums der Hochschule kommen die Vorzüge mediengestützten Lernens gerade in solchen Kombinationen zum Tragen, in denen „die einzelnen Elemente in einem Lernarrangement zusammenwirken und eine Komposition ergeben, die ein bestimmtes didaktisches Anliegen einlöst (Kerres 2012: 8).“ So gilt es nach dem Blended Learning Ansatz, mediengestütztes Lernen mit traditionellen universitären Lehr- und Lernsituationen zu verbinden (vgl. ebd.).

Ein zweiter Schritt ist die Aktivierung der Studierenden. Neben der reinen Vermittlung von Faktenwissen im traditionellen Vorlesungsformat führen entsprechende Lernformate nachweisbar zu Leistungssteigerungen (vgl. Freeman et al.: 1). In virtuellen Lernumgebungen steuern Studierende die Prozesse der Wissensaneignung größtenteils selbst. Digitale Medien können dabei das Faktenwissen durch dynamische Animationen visualisieren. Virtuelle dreidimensionale Modelle erlauben die Sicht auf Objekte aus unterschiedlichen Perspektiven. So können abstrakte Konzepte und komplexe Zusammenhänge verständlicher präsentiert werden, als auf rein sprachlicher Ebene. Es existieren zahlreiche Ansätze, die je nach Lernziel und Anwendungsgebiet auf realitätsgetreue, experimentelle oder spielerische Weise einen aktiven Zugang zu Lerninhalten ermöglichen. Dazu zählen u. a. virtuelle und Remote-Labore, Simulationen sowie Lernspiele, die auch im Deutschen als Serious Games bezeichnet werden.

In realitätsgetreuen Simulationsumgebungen können z. B. komplexe Maschinen in Echtzeit verändert und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Im Idealfall wird so das Faktenwissen in einen Kontext gestellt, mit direkten Erfahrungen angereichert und mit Sinnhaftigkeit belegt. Weiterhin bekommen Studierende ein Gefühl für Größenverhältnisse, z. B. von einzelnen Fertigungsinseln einer Produktionsstätte. In naturwissenschaftlichen und technischen Fächern werden praktische Erfahrungen meist experimentell durch Laborarbeit gesammelt. So wird das deklarative Faktenwissen um prozedurale Wissenskomponenten angereichert. Virtuelle Umgebungen können darüber hinaus einen Zugang zu Experimenten bieten, die unter physisch-realen Bedingungen zu gefährlich oder zu teuer wären. Unabhängig von der jeweiligen Fachdisziplin können über den virtuellen Zugang Orte erschlossen werden, die ansonsten nicht erreichbar wären – sei es weil sie zeitlich in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen oder weil sie räumlich zu weit entfernt sind. Diese Anwendungsdimension bietet beispielsweise für historische, geografische oder anthropologische Themen neue Möglichkeiten der Wissensaneignung. Neben der realitätsgetreuen oder experimentellen Herangehensweise kann Faktenwissen auch auf spielerische Art im Rahmen von Serious Games mit entsprechenden Kursinhalten verknüpft und dadurch nachvollziehbar gemacht werden. Dieser Ansatz verspricht aufgrund seiner Anknüpfung an die Mediennutzungsgewohnheiten der Studierenden großes Potenzial hinsichtlich der Lernmotivation und der Überwindung emotionaler Barrieren im Studium.

Ein Nachteil virtueller Lernumgebungen besteht häufig in der Künstlichkeit der Lernerfahrung. Neben der Art der grafischen Gestaltung liegt häufig die Antwort für den Grund auf der Seite der Hardware. Normalerweise interagieren Nutzer mit einer virtuellen Umgebung über einen PC. Am Beispiel der Industrieanlage wird diese auf einem Monitor angezeigt, das Sichtfeld z. B. über eine Maus, und die Fortbewegung durch die Anlage z. B. über eine Tastatur gesteuert. Interaktionen mit virtuellen Objekten sowie Fortbewegung erfolgen über die gleichen Benutzerschnittstellen.

Natürliche Benutzerschnittstellen (engl.: natural user interface, NUI) für Visualisierung, Interaktion und Fortbewegung können durch ihre direkte Steuerung eine authentischere Lernerfahrung als am Desktop-Computer oder Laptop ermöglichen und somit den Wissenstransfer des Gelernten auf spätere Anwendungssituationen erleichtern. So werden seit langem Simulatoren zum Training komplexer Fähigkeiten und Fertigkeiten eingesetzt, wie z. B. Fahren, Fliegen oder Operieren. Die Nutzung natürlicher Benutzerschnittstellen ermöglicht einen ganzheitlichen Lernprozess. Dadurch, dass motorische Bewegungsmuster in den Lernprozess integriert werden, werden entsprechende Wissensinhalte somit nicht nur vom deklarativen sondern auch vom prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Im Unterhaltungsbereich stehen Virtual-Reality-Brillen (kurz: VR-Brillen) und Plattformen für physisch reale Fortbewegung kurz vor der Markteinführung (vgl. Reisdorf 2014, Virtuix 2014). Die Entwickler entsprechender Geräte sprechen in diesem Zusammenhang bereits von einer Revolution der virtuellen Realität, die das Potenzial besitzt, die Art des Lernens, des Spielens und des Kommunizierens zu transformieren (vgl. Oculus VR 2014, Goetgeluk 2013).

Sowohl Mensch-Computer-Schnittstellen als auch virtuelle Lernumgebungen werden hinsichtlich ihrer Qualität stets anhand bestimmter Kriterien gemessen. In beiden Kontexten fällt häufig der Begriff der Immersion, der sich auf die Erlebnisdimension virtueller Umgebungen bezieht. Etymologisch aus dem Lateinischen abgeleitet (immersio = physische Erfahrung des Ein- bzw. Untertauchens in Flüssigkeit, Duden 2013) ist damit in erster Annäherung das Ausmaß gemeint, inwiefern ein Nutzer in eine virtuelle Welt eintaucht. Oft ist es das erklärte Ziel von Entwicklern virtueller Welten oder von Benutzer-schnittstellen, den Eindruck des „Eintauchens“ durch bestimmte Eigenschaften zu unterstützen. Dementsprechend ist in solchen Fällen von immersiven Lernumgebungen oder immersiver Technologie die Rede.

In Anlehnung an die verbreiteten Erwartungen an E-Learning im Allgemeinen stellt sich im Hochschulkontext die Frage, ob das Lernen in virtuellen Umgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen eine bessere Anpassung an die Bedürfnisse der Nutzer, eine höhere Lernleistung, eine höhere Effizienz von Lehr-Lern-Prozessen (vgl. Köhler et al. 2008: 478) oder höhere Lern-motivation (vgl. Kerres 2012: 8) mit sich bringt. Im Hinblick auf den Einsatz natürlicher Benutzerschnittstellen in der Hochschullehre stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die erwähnten Erwartungen erfüllt werden oder nicht. Welchen Teil im Rahmen kompletter Lernarrangements das Lernen in virtuellen Welten mit natürlichen Benutzerschnittstellen didaktisch sinnvoll einnehmen kann, gilt es ebenfalls noch zu bestimmen.

1.2Vorgehensweise

Die Entwicklung virtueller Lernumgebungen für den Einsatz in der Hochschullehre erfolgt oft intuitiv und experimentell. Charakterisierungen virtueller Lernumgebungen, wie z. B. dass sie die Lernmotivation fördern, die Nutzer in die Virtualität eintauchen lassen oder dass sie zu besseren Lernergebnissen führen, basieren oft auf Annahmen ohne empirischen Beleg und voreiligen Schlussfolgerungen. Die technische Entwicklung eilt der Prüfung der vermeintlichen Vorteile voraus. Wirtschaftlich betrachtet besteht die Gefahr, komplexe und teure Lernsysteme zu entwickeln, ohne dass sie den postulierten Nutzen erbringen. Auch die Entwicklung neuer Benutzerschnittstellen berücksichtigt häufig nicht ausreichend die Anforderungen potenzieller Nutzergruppen. So steht auf der einen Seite der faszinierende Fortschritt im Bereich des technisch Machbaren, auf der anderen Seite der Mensch mit seinen physischen und psychischen Kapazitäten und Grenzen im Umgang mit Maschinen bzw. Computertechnologien (vgl. Sutter 2006: 1).

Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, grundlegend die Einflüsse natürlicher Benutzerschnittstellen auf Rezeptionsprozesse der Informationsverarbeitung und des Erlebens in virtuellen Lernumgebungen zu untersuchen. Sie ist thematisch am Schnittpunkt der Lern- und Medienpsychologie, der Kommunikationswissenschaft sowie der praktischen Informatik (Hard- und Softwaregestaltung) angesiedelt. Der Aufbau der dieser Arbeit zugrunde liegenden Forschungsleistung orientiert sich an einem medienpsychologischen Ansatz. Dieser Herangehensweise folgend, ist die Betrachtung der Charakteristika von fünf Faktoren wichtig (vgl. Wirth und Hofer 2008: 161): 

a)Charakteristika des Medienangebots,

b)der Person,

c)der Situation,

d)des Rezeptionsprozesses, sowie

e)der kurz- und langfristigen Wirkung.

Das Ziel medienpsychologischer Forschung ist es demnach, Beziehungen zwischen einigen oder allen dieser fünf Faktoren aufzudecken und empirisch zu belegen (vgl. ebd.). Im Theorieteil dieser Arbeit wird der Stand der aktuellen Forschung zum Thema Rezeptionsprozesse bei der Nutzung virtueller Lernumgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen dem oben stehenden Schema nach dargestellt. Neben dem medienpsychologischen Ansatz folgt diese Arbeit einer nutzerorientierten Herangehensweise. Dieser im Bereich der Mensch-Computer Interaktion verbreitete Ansatz hat das Ziel, technische Geräte an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Nutzer anzupassen. Insbesondere bevor natürliche Benutzerschnittstellen im Hochschulkontext zum Einsatz kommen, sind zumindest grundlegende Fragen der Bedienbarkeit in die Forschung zu integrieren. Weiterhin hat es sich bewährt, Studierende – in ihrer Rolle als Nutzer der Hochschullehre – in die Entwicklung neuer Lehr- und Lernkonzepte zu integrieren. Als Digital Natives sind sie als Experten hinsichtlich der von ihnen präferierten Lernmodelle zu betrachten. Die Komponente der kurz- und langfristigen Wirkung wird im Rahmen des Forschungsdesigns im empirischen Teil berücksichtigt, da hier im Hochschulkontext die beabsichtigte Wirkung lernzielabhängig ist und je nach Fachgebiet stark variiert. Im empirischen Teil der Arbeit werden die durchgeführten Studien beschrieben sowie Ergebnisse und Schlussfolgerungen präsentiert.

Aus den im vorherigen Kapitel geschilderten Hintergründen zur Thematik des Lernens in virtuellen Umgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen leitet sich der Forschungsbedarf ab, der in dieser Arbeit untersucht wird. Dem nutzerorientierten, medienpsychologischen Ansatz entsprechend lauten die Forschungsfragen dieser Arbeit:

1.Welche Bedürfnisse in Bezug auf Soft- und Hardwarekomponenten haben Studierende hinsichtlich der Nutzung natürlicher Benutzer-schnittstellen in der Hochschullehre?

2.Welchen Einfluss haben natürliche Benutzerschnittstellen auf Rezeptionsprozesse der Informationsverarbeitung und des Erlebens?

3.Welchen Einfluss haben personenbezogene Faktoren auf Rezeptions-prozesse der Informationsverarbeitung und des Erlebens in Kombination mit natürlichen Benutzerschnittstellen?

4.Inwiefern gibt es Wechselwirkungen zwischen Rezeptionsprozessen der Informationsverarbeitung und Rezeptionsprozessen des Erlebens bei der Nutzung natürlicher Benutzerschnittstellen?

5.Welchen Stellenwert kann die Nutzung virtueller Lernumgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen im Rahmen eines Blended Learning Arrangements einnehmen?

Das Kapitel Medienangebot (2.1) beginnt mit einer grundlegenden definitorischen Gegenüberstellung der Begriffe physischer, virtueller und gemischter Realität (Kapitel 2.1.1). Anschließend wird auf den Begriff des E-Learnings mit Fokus auf dessen Einsatz in der Hochschullehre eingegangen (Kapitel 2.1.2), bevor drei Ansätze vorgestellt werden, die eine Aktivierung der Studierenden versprechen. Zunächst wird der realitätsgetreue Ansatz beschrieben (Kapitel 2.1.3), anschließend auf experimentelle Formen eingegangen (Kapitel 2.1.4) und schließlich werden spielerische Ansätze näher erläutert (Kapitel 2.1.5).

Die Rezeptionssituation wird im Rahmen dieser Arbeit ausschließlich im Hinblick auf die benutzte Hardware betrachtet. Kapitel 2.2 behandelt demnach spezielle Charakteristika natürlicher Benutzerschnittstellen. Hier wird zunächst eine grundlegende Typologisierung von Benutzerschnittstellen vorgenommen (Kapitel 2.2.1). Weiterhin wird in diesem Kapitel erläutert, nach welchen Kriterien derartige technische Geräte nutzerorientiert bewertet werden. Anschließend wird auf Ein- und Ausgabegeräte für kategorische natürliche Bewegungsmuster eingegangen. Hierzu zählen Eingabegeräte für Kopfbewegung und Ausgabegeräte für visuelles Feedback (Kapitel 2.2.2), Eingabegeräte für Handbewegung und haptisches Feedback (Kapitel 2.2.3) sowie Eingabegeräte für physisch reale Fortbewegung (Kapitel 2.2.4). Zu guter Letzt wird der Apparat des Simulators als typische Kombination mehrerer Benutzerschnittstellen vorgestellt (Kapitel 2.2.5).

Kapitel 2.3 beschreibt individuelle Einflussfaktoren, die mit der Nutzung virtueller Lernumgebung über natürliche Schnittstellen zusammenhängen. Hierzu zählen zunächst basale Persönlichkeitsfacetten, die einen Einfluss auf menschliche Handlungen haben (Kapitel 2.3.1). Um erklären zu können, inwiefern die Nutzung virtueller Lernumgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen zu höherer Lernmotivation führt und welche Rolle emotionale Aspekte dabei spielen, werden die Themen Motivation (Kapitel 2.3.2) und Emotionen (Kapitel 2.3.3) ebenfalls kurz ausgeführt.

Um einen Einblick in Rezeptionsprozesse bei der Nutzung virtueller Lernumgebungen zu erhalten, werden in Kapitel 2.4 Grundlagen der menschlichen Informationsverarbeitung dargestellt. Da noch nicht bekannt ist, an welchem Punkt etwaige Vor- und Nachteile beim Lernen in virtuellen Umgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen auftreten, ist es an dieser Stelle notwendig, den gesamten Informationsverarbeitungsprozess im Blick zu haben. Dies beinhaltet die Aufnahme, Strukturierung und Interpretation von Sinneseindrücken (Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Kapitel 2.4.1), die interne Verarbeitung von Informationen (Wissensrepräsentation und Vorstellung, Kapitel 2.4.2), sowie die Speicherung und das Abrufen von Informationen (Gedächtnis, Kapitel 2.4.3). Da es sich bei der der Nutzung virtueller Lernumgebungen immer um mindestens zwei Teilhandlungen handelt – die Steuerung der Lernumgebung sowie die Bewältigung der eigentlichen Lernaufgabe – wird weiterhin auf die Koordination multipler Handlungen und die Bedeutung von Übungseffekten eingegangen (Kapitel 2.4.4).

Neben der Inforationsverarbeitung ist im Zusammenhang mit virtuellen Lernumgebungen und natürlichen Benutzerschnittstellen ein tiefer greifendes Verständnis davon nötig, wie die Rezeption von Medienangeboten in solchen Kontexten erlebt wird. Darum werden in Kapitel 2.5 solche Rezeptionsprozesse näher beleuchtet, die im weitesten Sinne das Eintauchen in virtuelle Lernumgebungen beschreiben. Für ein einheitliches Verständnis dieser Prozesse wird zunächst das Konstrukt der Immersion aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven skizziert (Kapitel 2.5.1) Anschließend werden die Konstrukte des Präsenzerlebens (Kapitel 2.5.2) und des Flow-Erlebens (Kapitel 2.5.3) erläutert, die das Eintauchen in virtuelle Räume und das Eintauchen in bestimmte Tätigkeiten beschreiben.

Nach einer Ableitung aktueller Fragestellungen zur Rezeption von virtuellen Lernumgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen aus dem Stand der Forschung (Kapitel 3) werden die Ergebnisse der empirischen Studien präsentiert, die zur Beantwortung der Forschungsfragen dieser Arbeit durchgeführt wurden (Kapitel 4). Hierfür wird zunächst der studienübergreifende Forschungsansatz vorgestellt (Kapitel 4.1). Die methodische Herangehensweise folgt einem sequentiellen Vorgehen nach dem Mehrmethodenansatz und wird in Kapitel 4.1.1 näher erläutert. Anschließend folgt eine Beschreibung der in den Studien eingesetzten Benutzerschnittstellen (Kapitel 4.1.2). Das sogenannte Virtual Theatre vereint die visuelle Benutzerschnittstelle des Head Mounted Displays (HMD) mit einem omnidirektionalen Boden zu einem Mixed-Reality-Simulator, der die physisch reale Fortbewegung durch eine virtuelle Umgebung ermöglicht.

Studie 1 widmet sich mittels der qualitativen Befragung von Fokusgruppen der Beantwortung von Forschungsfrage 1 (Kapitel 4.2). Die hier gewonnen Ergebnisse dienen als Grundlage für die Entwicklung eines hypothetischen Lernszenarios. Dieses kommt in Studie 2 zum Einsatz, in der Forschungsfrage 2, 3 und 4 mit der Methode des Quasi-Experiments beantwortet werden (Kapitel 4.3). Um Effekte von Hardware und personenbezogenen Faktoren auf Rezeptionsprozesse und Leistung bestimmen zu können, wird die Nutzung des Virtual Theatres mit der Nutzung eines Laptops verglichen. Demnach kann der Einfluss der Hardware auf Rezeptionsprozesse und Leistung nur mit einem Set aus unabhängigen Variablen erhoben werden, die sich aus der Kombination mehrerer Benutzerschnittstellen zu einem Mixed-Reality-Simulator ergibt. In einer dritten Studie wird in Form von leitfadengestützten Ex-Post Interviews mit Probanden des Quasi-Experiments das Zusammen-wirken der zuvor quantitativ gemessenen Variablen tiefer beleuchtet (Kapitel 4.4). Nach einer Einzelauswertung werden im Sinne einer Ergebnistriangulation (vgl. Kelle 2007: 54, Flick 1987: 258) die Ergebnisse aus Studie 2 und Studie 3 miteinander in Beziehung gesetzt.

In Kapitel 4.5 werden die Ergebnisse studienübergreifend zusammengefasst und die Forschungsfragen 1 - 4 abschließend beantwortet. Kapitel 5 widmet sich der ausführlichen Beantwortung von Forschungsfrage 5. Hier wird anwendungsorientiert unter Rückgriff auf die theoretischen Vorüberlegung aus Kapitel 2 sowie die Forschungsergebnisse aus Kapitel 3 die Frage beantwortet, welchen Stellenwert die Nutzung virtueller Lernumgebungen mit natürlichen Benutzerschnittstellen in einem Blended Learning Arrangement einnehmen kann. In Kapitel 6 werden die Ergebnisse schlussfolgernd betrachtet sowie ein Ausblick auf weitere Forschungsbedarfe gegeben. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte. Der Aufbau der vorliegenden Arbeit ist in Abbildung 1 dargestellt.

Durch fundierte Ergebnisse der empirischen Untersuchungen leistet diese Arbeit einen Beitrag dazu, zukünftig das Design sowohl virtueller Lernumgebungen als auch natürlicher Benutzerschnittstellen für die Anwendung im Hochschulkontext optimieren. Durch eine optimierte Passung individueller Voraussetzungen und Interessen mit der Soft- und Hardwareseite virtueller Lernumgebungen kann langfristig die individuelle Leistung verbessert werden. Das bessere Verständnis der Rezeptionsprozesse und die Einordnung der Rolle von natürlichen Benutzerschnittstellen im Rahmen von Blended Learning Arrangements unterstützt die Auslotung ihres Potenzials für den zukünftigen Einsatz in der Hochschullehre.

Abbildung 1: Aufbau der vorliegenden Arbeit

2.Theoretische Grundlagen

2.1Medienangebot: Virtuelle Lernumgebungen

2.1.1Physische, virtuelle und gemischte Realität

Have you ever had a dream, Neo, that you were so sure was real? What if you were unable to wake from that dream? How would you know the difference between the dream world and the real world? (Morpheus in “The Matrix”, The Matrix 1999).

Die Geschichte, die der Film Matrix erzählt, dürfte nicht nur eingeschworenen Kinogängern und Filmexperten bekannt sein. Der Protagonist Neo wird hier von einer subversiven Hackergruppe kontaktiert, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Weltherrschaft der Menschheit zurückzugeben. Denn das, was gemeinhin Realität als empfunden wird, so erfährt Neo in der oben zitierten Filmszene, ist lediglich eine gigantische Computersimulation. Hintergrund ist, dass die Menschheit vor langer Zeit einen Krieg gegen von ihr selbst erschaffene Maschinen künstlicher Intelligenz verloren hat. Um den Kollateralschaden des verdunkelten Himmels zu kompensieren, nutzten die Maschinen fortan menschliche Körper zur Energiegewinnung. Zur Kontrolle sowohl des Bewusstseins als auch des Stoffwechsels der menschlichen Energieträger wurde eine Computersimulation entwickelt – die Matrix.

Doch nicht nur die Behandlung des Themas im postmodernen Kultfilm verdeutlicht die Faszination, die das Spiel mit den Dimensionen von Physis, Virtualität und Realität auf die Menschheit ausübt. Schon Platons Höhlengleichnis thematisierte die Tücken, verlässlich zwischen Schein und Sein zu unterscheiden (vgl. Hörisch 2004: 261). Demnach können auch die dort beschriebenen, sich in einer Höhle befindlichen Gefangenen kein verlässliches Verständnis von Wirklichkeit konzipieren: Sie sind gefesselt, sodass sie weder sich selbst noch andere sehen können. Das einzige, was ihr Augenlicht trifft, sind Schatten ihrer selbst, die durch ein Feuer hervorgerufen werden, das hinter ihnen brennt. Führte man einen der Gefangenen aus der Höhle heraus, so würde er höchstwahrscheinlich das, was er dort sähe, als Illusion einstufen.

Das Beispiel Matrix betont den Aspekt des menschlichen Bewusstseins, der bei der Rezeption von virtuellen Welten eine entscheidende Rolle spielt. Virtuell ist in diesem Szenario die Computersimulation. Die Realität wird durch die physische Existenz des menschlichen Körpers ausgedrückt, bei der jedoch das Bewusstsein fremdgesteuert ausgeschaltet wurde. Dieser Aspekt zählt eindeutig zur Fiktion des Films. Das Beispiel Höhlengleichnis hebt den Aspekt der Perspektive hervor, aus der man auf einen Gegenstand oder Sachverhalt blickt. So haben individuelle Fähigkeiten, Erfahrungen und Interessen einen entscheidenden Einfluss darauf, wie Informationen aus der Umwelt wahrgenommen, eingeordnet und verarbeitet werden. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Frage, was Realität ist und was nicht, die Menschheit seit über zweieinhalbtausend Jahren beschäftigt. Über die „Grenze“ zwischen Virtualität und Realität haben viele Gelehrte über Jahrhunderte faszinierende Gedanken entwickelt. Die Darstellung der komplexen philosophischen Debatte soll an dieser Stelle aus Platzgründen ausgespart werden. Stattdessen folgt zunächst eine grundlegende Definition der Begriffe ‚Virtualität‘ und ‚Realität‘. Dem Fokus dieser Arbeit entsprechend wird im nächsten Schritt auf Lehren und Lernen im Hochschulkontext Bezug genommen. Daran anknüpfend wird im Anschluss an dieses Kapitel zunächst allgemein ein Überblick über den aktuellen Stand des Lehrens und Lernens mit Multimedia gegeben, bevor auf einzelne didaktische Ansätze eingegangen wird, die besondere Relevanz für die Nutzung virtueller Lernumgebungen haben.

Als Ausgangspunkt der Definition dient die Tatsache, dass die Begriffe ‚Virtualität‘ und ‚Realität‘ häufig als Antonyme gegenübergestellt werden. Im allgemeinsprachlichen Wörterbuch Duden werden ‚real‘ und ‚virtuell‘ entsprechend der Darstellung in Tabelle 1 definiert.

Tabelle 1: Definitionen der Begriffe ‚real‘ und ‚virtuell‘ (Duden 2013)

Real

Virtuell

in der Wirklichkeit, nicht nur in der Vorstellung so vorhanden

nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend

gegenständlich

nicht echt

mit der Wirklichkeit in Zusammenhang stehend

entsprechend seiner Anlage als Möglichkeit vorhanden

realistisch, sachlich, nüchtern

die Möglichkeit zu etwas in sich begreifend

Streng genommen entsteht bei dieser allgemeinsprachlichen Definition ein Problem in Bezug auf nicht-gegenständliche Sachverhalte, wie z. B. Theorien oder Konstrukte. Sind durch die Abwesenheit einer gegenständlichen oder physischen Existenz große Wissenschaftsgebiete wie die Mathematik, kognitive Prozesse wie Rechnen oder Erkenntnisse als Ergebnisse von Lernprozessen weniger real? Mehr noch: Dadurch, dass sich abstrakte Konstrukte im virtuellen Raum mehrfach codiert darstellen lassen, sind sie vielleicht im Virtuellen „gegenständlicher“ als im Physischen? Ist die Darstellung eines Sachverhalts auf einem Bildschirm weniger real als die Darstellung auf einer Buchseite? Die Beantwortung solcher Fragen ist nicht trivial und verdeutlicht, dass die allgemeinsprachliche Definition der Begriffe ‚real‘ und ‚virtuell‘ die erforderliche wissenschaftlich klare Ausdrucksweise nicht erfüllt. Eine differenziertere Abgrenzung der Begriffe liefert das Modell des Realitäts-Virtualitäts-Kontinuums (vgl. Abbildung 2). Demnach seien reale Umgebungen und virtuelle Umgebungen als zwei entgegengesetzte Pole auf einer Realitäts-Virtualitäts-Skala zu betrachten, die als Kontinuum bezeichnet wird: 

although both purely real environments (RE's) [sic!] and virtual environments (VE's) [sic!] certainly do exist as separate entities, they are not to be considered simply as alternatives to each other, but rather as poles lying at opposite ends of a Reality-Virtuality (RV) continuum (Milgram und Colquhoun 1999: 6).

Der Logik des Kontinuums folgend, ist also jedem Fall ein gewisser Grad an Realität und ein gewisser Grad an Virtualität zuzuschreiben. Als ‚gemischte Realität‘ (engl.: Mixed Reality) wird alles bezeichnet, was sich im Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum zwischen den beiden Endpunkten der Skala befindet (vgl. Milgram et al. 1995: 282).

Abbildung 2: Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum (Milgram et al. 1999: 7)

Augmented-Reality-Technologie beschreibt die Ausweitung der Sinneswahrnehmung des Menschen durch rechnergenerierte virtuelle Informationen. Die ‚halbdurchsichtige‘ visuell erweiterte Realität bietet die Möglichkeit, alle Arten von Informationen direkt in die Umgebung einzublenden (vgl. Klinker 2000: 37). Dies kann über verschiedene Ausgabegeräte erfolgen, wie z. B. Smartphones oder Tablet-Computer, aber auch spezielle Brillen wie z. B. die Google-Brille (vgl. Kuhlmann 2013: 97). Das Einsatzspektrum reicht von der Einblendung von touristischen Informationen auf Smartphone-Displays (realisiert z. B. in der App ‚Wikihood‘, vgl. Heise Online 2014) über Navigationsinformationen im Straßenverkehr bis hin zur Anreicherung eines Möbelkatalogs (vgl. IKEA 2014). Die Anreicherungen sind dabei keineswegs auf die visuelle Ausgabe beschränkt. Insbesondere in öffentlichen Bereichen, wo Informationstafeln stören würden, bietet eine auditive Anreicherung der Realität über Kopfhörer oder Handgeräte einen Mehrwert (vgl. Heller et al. 2009: 4490, Heller at al. 2011: 2). Unter Augmented Virtuality wird die Anreicherung virtueller Umgebungen um physisch reale Elemente verstanden (vgl. Azuma 1997: 355).

Insbesondere, wer in und mit virtuellen Lernumgebungen reale Effekte er-zielen will, muss die Balance von ‚Realität‘ und ‚Virtualität‘ beherrschen (vgl. Jantke und Lengyel 2012: 7). Im Folgenden soll darum ausdifferenziert werden, was die jeweils realen und virtuellen Anteile von virtuellen Lernumgebungen im Hochschulkontext sind. Der Kontext, in den virtuelle Objekte oder Umgebungen eingebettet sind, ist stets real (vgl. Jantke und Lengyel 2012: 10). Dies betrifft die konkrete Rezeptionssituation, wie z. B. die physisch reale Umgebung, die Tageszeit oder die körperliche Verfassung der rezipierenden Person, oder, dem Fokus dieser Arbeit entsprechend, Merkmale der Hardware, mit der eine virtuelle Lernumgebung rezipiert wird. Weiterhin zählen organisationale Rahmenbedingungen zur Rezeptionssituation. So ist z. B. zu unterscheiden, ob eine Person freiwillig zu Vertiefungszwecken oder im Rahmen einer Prüfung ein Medienangebot rezipiert.

Die Wirkung virtueller Umgebungen oder von Handlungen innerhalb dieser ist ebenfalls real. Für die antizipierte Wirkung der Handlungen von Menschen in einer virtuellen Umgebung ist die dortige Realität entscheidend. So beschreiben Jantke und Lengyel:

Virtuelles wird, grob gesprochen, zur Verpackung, in der das Reale der virtuellen Welt zur Wirkung gebracht werden kann. Das Reale bleibt immer Real [sic!]. Aber je nachdem, wie das Virtuelle den Menschen erreicht, entfaltet es seine Wirkung, zieht es den Menschen in seinen Bann und wird es zum Wirkungsverstärker des Realen (Jantke und Lengyel 2012: 10).

Nicht nur in Bezug auf Hochschullehre sind demnach Handlungen in virtuellen Umgebungen immer reale Handlungen. Zwei Kommilitonen können sich über ein Online-Forum ebenso über einen Lerninhalt austauschen, wie sie dies im Hörsaal oder im physisch realen Lernraum tun. Obschon sich das Medium und einhergehend damit auch die Form unterscheidet – die Handlung ‚Kommunizieren‘ bleibt die gleiche. Reale Handlungen in virtuellen Umgebungen können jedoch explizit auf reale Handlungen in physisch realen Umgebungen, z. B. aus dem Arbeitsalltag referenzieren. Auch visuell dargestellte Objekte referenzieren als bildliche Symbole auf physisch reale Objekte. Um den Wissenstransfer zu erleichtern, sollen reale Handlungen in einer virtuellen Umgebung auf spätere Situationen übertragbar sein. Hier stellt sich die Frage, welche Rolle Wissen und Können in virtuellen Welten spielen. So sind natürlich auch Inhalte, die in virtuellen Umgebungen thematisiert werden, real. Es ist durchaus möglich, sich in virtuellen Umgebungen reales Wissen anzueignen – zumindest im deklarativen Bereich. Hinsichtlich prozeduralen Wissens liegen Einschränkungen vor: So kann jedes noch so qualitativ hochwertige Computerspiel zum Thema Segeln, Skateboarden oder Fußball spielen nicht die motorischen Fertigkeiten vermitteln, die zur physikalischen Ausübung des Sports von Nöten sind. Andere Fertigkeiten, wie z. B.strukturiertes Problemlösen, Programmieren, Budgetieren oder per Fernsteuerung Maschinen bedienen, können in virtuellen Umgebungen durchaus real erlernt und in späteren Situationen angewendet werden. Auf die genauen Teilprozesse, wie Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernt werden, wird in Kapitel 2.4 noch genauer eingegangen.

Technische Aspekte des Medienangebots spielen sowohl für die Rezeptions-situation als auch für die Wirkung von virtuellen Umgebungen eine große Rolle. So ist z. B. das Maß der Genauigkeit (engl.: fidelity), mit der ein virtuelles Objekt auf sein Pendant in der physischen Realität referenziert, ein entscheidender Faktor für den späteren Wissenstransfer. Es hängt also u. a. von der Qualität der Darstellung ab, in welchem Maße vom bildlichen Symbol auf das Referenzobjekt und später in der Anwendungssituation wieder vom physisch realen Objekt auf die Erfahrung in der virtuellen Umgebung rückgeschlossen werden kann. Auch Aspekte der Benutzerschnittstellen tragen zum Maß an Genauigkeit einer virtuellen Umgebung bei. So weist ein replizierter Druckknopf ein höheres Maß an Genauigkeit auf, als eine grafische Benutzerschnittstelle (engl.: graphical user interface, GUI) am Touchscreen. Äquivalent weist ein Lernszenario, in dem der Nutzer durch die virtuelle Umgebung navigieren muss, ein hohes Maß an Genauigkeit auf, wenn der Nutzer sich für die Navigation tatsächlich über entsprechende Benutzerschnittstellen physisch real bewegen muss.

Auditive Elemente wie Musik oder Hintergrundgeräusche werden häufig eingesetzt, um die dargestellte Umgebung authentischer wirken zu lassen oder um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen. Geräusche und Musik sind also auch physisch real, ebenso wie die entstehende Atmosphäre real ist – nur eben nicht in der virtuellen Umgebung, sondern in der Wahrnehmung des Menschen, der sie empfindet (vgl. Jantke und Lengyel 2012: 11). Auch wenn objektive Kriterien existieren, welche die Qualität von z. B. Grafik oder Sound einer virtuellen Umgebung bestimmen, besteht zwischen diesen Komponenten kein deterministisches Verhältnis. Bestimmte Persönlichkeitsfaktoren können die Wahrnehmung von virtuellen Umgebungen begünstigen oder hemmen, worauf in Kapitel 2.3 noch genauer eingegangen wird.

Die Ausführungen zum Thema Begriffsabgrenzung haben gezeigt, dass sich ‚Virtualität‘ und ‚Realität‘ keinesfalls als Antonyme gegenüberstellen lassen. Deshalb wird dem Begriff ‚Virtualität‘ im Folgenden der Begriff der ‚physischen Realität‘ gegenübergestellt. Wie genau virtuelle Umgebungen zu Lehr- und Lernzwecken zum Einsatz kommen und welche Lerntheorien hinter verschiedenen Anwendungen stehen, wird in den folgenden Kapiteln näher beschrieben.

2.1.2E-Learning: Lehren und Lernen mit digitalen Medien

Digitale Medien sind seit geraumer Zeit ein fester Bestandteil der Hochschul-lehre. Fast jede höhere Bildungseinrichtung nutzt digitale Unterstützung in der Verwaltung von Lernangeboten wie die kostenfreie Plattform ‚Moodle‘, die mit über 64.000 Seiten in 235 Ländern einen hohen Verbreitungsgrad hat (vgl. Moodle 2014). Laut Horizon Report 2014 setzen zudem immer mehr Universitäten weltweit auf hybride Lernformate und die Verwendung von neuen Medien (vgl. Johnson et al. 2014: 10). Auch wenn in dieser Arbeit der Fokus auf aktivierenden, virtuellen Lernumgebungen liegt, so sind diese immer als Teil eines größer gefassten und breit gefächerten Medienangebots zu betrachten. Daher werden im folgenden Kapitel zunächst die Begriffe ‚Medien‘, ‚Lernen‘ und ‚E-Learning‘ erläutert. Anschließend wird ein grober Überblick über grundlegende Lerntheorien gegeben. Dabei wird auf unterschiedliche Beispiele dafür eingegangen, wie mit der Unterstützung digitaler Medien, dem jeweiligen Lernparadigma entsprechend, im Hochschulkontext gelehrt und gelernt werden kann.

Die semantische Spannweite des Begriffs ‚Medien‘ ist nicht zuletzt durch dessen Verwendung in unterschiedlichen Fachdisziplinen zu erklären. Aus Sicht der Erziehungswissenschaften werden die Begriffe ‚Medien‘, ‚Lehren‘ und ‚Lernen‘ folgendermaßen in Beziehung gesetzt: 

Speziell in Bezug auf das Lehren und Lernen versteht man unter Medien Objekte, technische Geräte oder Konfigurationen, mit denen sich Botschaften speichern und kommunizieren lassen. Die Lernenden haben es mit einem ‚medialen Angebot‘ zu tun, welches sich durch Botschaften, Codierungen und Strukturierungen auszeichnet, die medial kommuniziert werden (Köhler et al. 2008: 479).

Da sich an dieser Stelle die Kommunikation von Codierungen und Strukturierungen nicht gänzlich nachvollziehen lässt, wird der Fokus der Definition auf Medien als Hilfsmittel zur Kommunikation von Botschaften gelegt. Durch die Nennung von „technische(n) Geräte(n)“ und „Codierungen“ wird zumindest indirekt zwischen Hard- und Software unterschieden. Nach dem medienpsychologischen Ansatz von Wirth und Hofer (2008: 161) wird ebenfalls hinsichtlich des Medienangebots nicht weiter auf spezifische Hardwarecharakteristiken eingegangen. Für die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Fragestellungen ist es jedoch notwendig, zwischen Hardware und Software, genauer gesagt: zwischen der virtuellen Lernumgebung und der Benutzerschnittstelle zu unterscheiden, mit der die Lernumgebung rezipiert wird. Der Begriff Medienangebot bezieht sich im Folgenden also ausschließlich auf Aspekte der Software, während natürliche Benutzerschnittstellen in Kapitel 2.2 behandelt werden.

Der Begriff ‚virtuelle Lernumgebung‘ verweist deutlich auf die Hauptintention, die mit dieser Kategorie digitaler Anwendungen verfolgt wird. Allgemeinsprachlich beschreibt der Begriff ‚Lernen‘ den Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten (vgl. Hammerl und Grabitz 2006: 203). Genauer sind mit ‚Lernen‘ Prozesse gemeint, die zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten und zu Wissenserwerb führen (vgl. ebd.). Hinter dem Verständnis von ‚Lernen als Verhaltensänderung‘ und ‚Lernen als Wissenserwerb‘ liegen unterschiedliche Lerntheorien, worauf später noch genauer eingegangen wird.

Ähnlich wie bei dem Begriff der ‚Medien‘ existiert keine feste Definition des Begriffs ‚E-Learning‘. Im Gegenteil wird unter dem Oberbegriff eine kaum abzuschätzende Menge unterschiedlichster computer- und internetgestützter Lernanwendungen gefasst (vgl. Köhler et al. 2008: 278). Mit dem Wandel der Technik über die Zeit ging auch der Wandel der Bedeutungskomponente des Begriffs ‚E-Learning‘ einher. Auch wenn der Beginn des Auftretens nicht auf ein fixes Datum zu spezifizieren ist, so meinte in den 80er Jahren das durch das E ausgedrückte ‚elektronisch‘ das Lernen mit Datenträgern wie Videobändern oder CD-ROM (vgl. Reinmann-Rothmeier 2003: 31). Bei dem, was Ende der 90er Jahre als ‚E-Learning‘ bezeichnet wurde, handelt es sich zunächst um neue Formen der Vervielfältigung von Bild, Ton und Schrift. Nach Film- und Fernsehtechnologie gilt hier die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie und nicht zuletzt des Internets als Treiber für neue Lehr- und Lernanwendungen (vgl. Hebbel-Seeger 2012: 24).

E-Learning kann im Gegensatz zur Präsenzlehre zeitlich und örtlich ungebunden vollzogen werden und verschiedene Funktionen erfüllen, wie z. B. Informationen zu verteilen, die Interaktion mit dem technischen System zu fördern oder das gemeinsame Arbeiten an digitalen Artefakten zu ermöglichen (vgl. Kerres 2012: 18). So unterscheidet Reinmann-Rothmeier (2003: 32) zwischen drei Leitfunktionen von E-Learning, die im Folgenden kurz beschrieben werden: (a) E-Learning by distributing, (b) by interacting und (c) by collaborating.

a)Beim ‚E-Learning by distributing‘ besteht die Hauptaufgabe neuer Medien in der Distribution von Informationen. Für Lernende besteht diese Form von E-Learning darin, elektronische Informationen aufzunehmen, selbstgesteuert zu bearbeiten und anzuwenden. Kurz gesagt geht es um ein ‚learning from information‘ für das laut Reinmann-Rothmeier kein Lehrender im klassischen Sinne notwendig ist.

b)Die Funktion der Medien beim ‚E-Learning by interacting‘ besteht darin, didaktisch aufbereitete Informationen anzubieten, sodass sich Lernende weitgehend ohne personelle Hilfe durch die Interaktion mit dem technischen System neue Inhalte erarbeiten können. Dies kann lokal am Computer passieren (engl.: computer based training, CBT) oder über das Internet abgerufen werden (engl.: web based training, WBT). Für Lernende besteht diese Form von E-Learning darin, lernrelevante Informationen technisch angeleitet zu verarbeiten und das Angebot selbstgesteuert durchzuführen. Kurz gesagt geht es um ein ‚learning from feedback‘. Ein Lehrender im klassischen Sinne ist laut Reinmann-Rothmeier nicht notwendig. Möglich, aber nicht zwingend sind Lernberater oder Tele-Tutoren.

c)Das ‚E-Learning by collaborating‘ meint das Lernen im Prozess des sozialen Problemlösens. Die Funktion der neuen Medien bei dieser Form des E-Learnings besteht darin, Lernende an verschiedenen Orten miteinander in Kontakt zu bringen und sie zu einer gemeinsamen Problemlösung im virtuellen Raum anzuregen. Für Lernende besteht diese Form von E-Learning darin, relativ eigenständig neues Wissen in der virtuellen Lernumgebung zu konstruieren und dies vor allem im Prozess des sozialen Problemlösens zu tun. Kurz gesagt geht es um ein ‚learning from different perspectives‘. Infolge der organisationsinternen, regionalen und weltweiten Vernetzung im Bereich der neuen Medien lassen sich neue Kommunikationsformen praktizieren sowie Ort und Zeit überwinden (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3: Verschiedene E-Learning Varianten (Reinmann-Rothmeier 2003: 33)

In verschiedenen Varianten von E-Learning werden häufig nicht nur unterschiedliche Funktionen sondern ebenso verschiedene zugrunde liegende Auffassungen von Lernen erkennbar. Bei der Untersuchung von Lernprozessen lassen sich drei elementare Strömungen ausmachen. Die als Behaviorismus, Kognitivismus und Konstruktivismus bekannten Lerntheorien werden im Folgenden kurz hinsichtlich ihrer Kernaussagen beschrieben. Dem Fokus dieser Arbeit entsprechend werden dabei jeweils der spezifische Fall des computer- und internetgestützten Lernens betrachtet sowie entsprechende didaktische Methoden vorgestellt.