Unter uns die Hölle

Freder van Holk

Published by BEKKERpublishing, 2019.

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Unter uns die Hölle | Utopischer Roman von Freder van Holk

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About the Publisher

Unter uns die Hölle

Utopischer Roman von Freder van Holk

DER UMFANG DIESES BUCHS entspricht 298 Taschenbuchseiten.

Acht von zehn Jahren Zuchthaus muss Michael Carey noch wegen Mordes an seinem Freund Conny Boyle absitzen — obwohl er schwor, unschuldig zu sein. Da erhält er die Chance, vorzeitig entlassen zu werden, wenn er sich auf ein streng geheimes Regierungsprojekt — ein Himmelfahrtskommando — einlässt. So verschwindet Michael zusammen mit vielen anderen Zuchthäuslern spurlos hinter Hochsicherheitszäunen in der Wüste. Nichts ahnend versucht seine Freundin Roie derweil, ein Wiederaufnahmeverfahren für Michael durchzusetzen, weil sie fest an seine Unschuld glaubt — während John Boyle, Connys Vater, alles daransetzt, dass Michael die Hölle in Deserthill nicht lebend verlässt ...

Copyright

EIN CASSIOPEIAPRESS Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author / Cover: Ludger Otten, 2019

© dieser Ausgabe 2019 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

1

TOM HARDCASTLE, DER Direktor des Zuchthauses von Lakefield, stocherte mit einem Hölzchen zwischen seinen gelben Zähnen herum, während er die Handakte überlas. Sein schwerer Körper ruckte dann und wann, als wolle er die Sessellehnen wegbrechen. Das Echo zuckte jeweils als nervöser Schatten über sein farbloses Gesicht, das sich oberhalb des kräftigen Kinns bürokratisch verengte und durch die altmodische Brille einen Stich ins Pedantische erhielt. Diese Order passte ihm nicht. Sie war reglementswidrig, und er verabscheute alles, was nicht den Vorschriften entsprach. Andererseits verstand er, dass er nicht zu urteilen, sondern nur die Anweisungen auszuführen hatte. So beschränkte er sich auf die befohlene Auslese, schnippte den Zahnstocher in den Papierkorb und drückte auf den Klingelknopf.

Michael Carey blieb in vorgeschriebener Haltung an der Tür stehen, die der Wärter hinter ihm ins Schloss drückte. Hardcastle musterte ihn, als sähe er ihn zum ersten Male. Sträflinge sind nie hübsch. Das verhindert schon das geschorene Haar. Nun, diese Leute wurden ja schließlich auch nicht für eine Schönheitskonkurrenz gebraucht. Gesund, kräftig und widerstandsfähig! Das konnte stimmen. Der Arzt war der gleichen Meinung. Carey arbeitete im Straßenbau und sah entsprechend verwittert aus. Groß, breitschultrig und sehnig. Kein übler Kopf, wenn man sich an Stelle des hellen Stoppelwuchses eine normale Haartracht dachte. Verschlossen, aber fest. Gleichgültige graue Augen ohne Ausdruck. Das lernt sich im Zuchthaus, wenn man sich auf sich selber zurückzieht.

Hardcastle deutete auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. Michael Carey kam langsam heran und setzte sich auf die Stuhlkante. Er wartete ab. Er war neugierig, aber es lag nicht bei ihm, zu sprechen.

„Sie sind seit zwei Jahren hier?“, begann Hardcastle unlustig und nicht sehr freundlich. „Das wären dann also noch acht Jahre.“

Er erhielt keine Antwort und erwartete sie auch nicht.

„Acht Jahre sind eine lange Zeit“, bemerkte er etwas später und klaubte sich einen neuen Zahnstocher aus der Schale. Er legte den Kopf etwas schief und zog eine Grimasse, sodass sein Gesicht etwas Lauerndes bekam.

Auch jetzt antwortete Michael Carey nicht. Der Direktor besaß wohl kaum die richtige Vorstellung davon, wie lang acht Jahre für einen Sträfling sein können. Das Ende lag vorläufig noch so weit entfernt bei der Ewigkeit, dass es den Atem benahm, überhaupt daran zu denken.

„Mord, nicht wahr?“, bohrte Hardcastle weiter.

„Ich wurde zu Unrecht verurteilt“, parierte Michael Carey gleichgültig.

„Hm?“

Nichts als ein berufsmäßiger Zweifel, der all den vielen galt, die behaupteten, unschuldig ins Zuchthaus gekommen zu sein. Michael Carey wusste, dass der Direktor nicht daran interessiert war, sich mit seinem Schicksal auseinanderzusetzen. Trotzdem ließ es sich nicht verhindern, dass die grauen Strähnen des Vergangenen in ihm hochquirlten — Bilder, die er nicht mehr sehen wollte, Erinnerungen, die er schon oft genug gestrichen hatte.

Die dunkle, grundlose Höhle mit der tauben Kühle eines Grabs — ein Stück Seil, das sich nach oben in der Schwärze verlor — der verrenkte, zerschlagene Körper Connys — wie ein Schlag gegen den Kehlkopf das Bild Roies — der blanke Hass in den Augen John Boyles — kalte Worte des Sachverständigen — die unruhigen Gesichter der Geschworenen — zehn Jahre Zuchthaus für nichts ...

„Ich habe eine Chance für Sie“, setzte Hardcastle wieder an. „Die Regierung braucht für ein bestimmtes Unternehmen Männer, die sich als Bergleute eignen und schwere Arbeit leisten können. Offenbar handelt es sich um ein geheimes Unternehmen, zu dem man eben aus Gründen der Geheimhaltung keine normalen Arbeitskräfte anwerben möchte. Sträflinge finden sich leichter damit ab, von der Welt abgeschlossen zu sein. Das ist ja schließlich ganz in Ordnung. Wird zu viel geschwatzt bei uns.“

Er sprach mehr zu sich, als wolle er sich selbst beruhigen. Dann zerbrach er jedoch das Hölzchen, warf es weg und wurde dienstlicher. Seine Stimme klang jetzt streng und unpersönlich.

„Ich habe Sie auf Grund der Gesundheitsberichte mit ausgewählt. Außerdem scheint mir die vorgesehene Tätigkeit für einen gelernten Mineningenieur besonders passend zu sein. Es bleibt jedoch Ihnen überlassen, wie Sie sich entscheiden. Die Regierung sucht keine Zwangsarbeiter, sondern Freiwillige. Freiwillige, Carey! Wenn Sie keine Lust haben, sagen Sie es nur.“

Er meinte es genauso, wie er es ausdrückte. Michael Carey sah es ihm an. Ein Zuchthausdirektor war der letzte Mensch, für den ein Sträfling Sympathie empfinden konnte, aber Michael Carey nahm Hardcastle ohne weiteres ab, dass er auf Rechtlichkeit hielt und auch nach oben zu starrköpfig werden konnte, wenn man ihm zu nahe kam.

Michael Carey fand vorläufig nichts Aufregendes in dem Angebot. Geheime Unternehmen gab es schon seit längerer Zeit mehr als genug. Die Staaten oder die Militärs nahmen sich wichtig. Wahrscheinlich wollten sie wieder einmal einen unterirdischen Atombunker oder so etwas bauen und brauchten dazu Leute, die weder auf die Schwielen noch auf die Lohntüte achteten.

„Sie sprachen von einer Chance“, erinnerte er.

„Es ist eine Chance“, ging Hardcastle steif gegen den möglichen Zweifel an. „Sie müssen sich zwar auf die Dauer des Unternehmens verpflichten, aber dafür werden Sie nach einem Jahr guter Führung und Arbeitsleistung bedingungslos begnadigt — unter Vernichtung Ihrer Akten.“

„Begnadigung ist nicht viel, wenn man unschuldig verurteilt wurde.“

„Selbst dann bedeutet sie sieben oder sechs Jahre weniger Zuchthaus und dahinter ein unbelastetes Leben. Im Übrigen werden Sie sofort als freier Arbeiter bezahlt und behandelt. Sehen Sie sich die Bedingungen an.“

Michael Carey nahm die Blätter, die ihm zugeschoben wurden. Es war ein regelrechter Arbeitsvertrag, den er in die Hände bekam. Er las ihn aufmerksam durch. Er las ihn ein zweites Mal und fühlte dabei immer stärker ein Unbehagen in sich aufsteigen, das allerdings auch eine gute Portion Neugier mit hochzog.

Das Schriftstück versprach unter anderem vierstündige Arbeitszeit und trotzdem eine Entlohnung, die fast doppelt so hoch lag wie der ihm bekannte Lohn eines Bergmanns. Das hatte eine Regierung, die mit einer Begnadigung winken konnte, nicht nötig. Oder doch? Die kurze Arbeitszeit verriet härteste Bedingungen. Rechnete man damit, dass selbst eine Erlösung vom Zuchthaus nicht ausreichen würde, um die Leute bei der Stange zu halten?

Im Übrigen gab es nichts auszusetzen. Diese Geheimhaltungs- und Abschließungsklauseln lagen in der Sache, die Verpflichtung für die Dauer des Unternehmens ebenfalls.

Ganz flüchtig nur zuckte ein Gedanke hoch. Wie nun, wenn sich diese Arbeit nicht über ein oder zwei Jahre, sondern über zehn Jahre oder länger erstreckte? Dann war er hereingefallen. Aber damit brauchte man wirklich nicht zu rechnen. Schon vergessen!

„Sieht nach einer Arbeit aus, für die sie niemand anders als Sträflinge finden können“, sagte er verschlossen, während er die Blätter zurückgab. „Kann man Genaueres erfahren?“

„Vermutlich interessieren Sie sich für das Vorhangmuster an Ihren zukünftigen Fenstern“, erwiderte Hardcastle trocken und bissig. „Ich weiß nicht mehr als das, was da geschrieben steht. Sie haben die Stelle, an die Sie Ihre Unterschrift setzen müssen, sicher gefunden. Wie gesagt: Ihre Sache, ob Sie unterschreiben. Ich gebe Ihnen drei Minuten. Nachher muss ich noch ein paar andere Leute abfertigen.“

„Großer Bedarf?“

„Ich habe nur zwei Dutzend zu stellen.“

„Multipliziert mit der Zahl aller Zuchthäuser ...?“ Hardcastle lehnte es mit einem Achselzucken ab, den Gedanken weiterzuspinnen. Er holte sich einen neuen Zahnstocher aus der Schale und richtete mit dem Fingernagel die Spitze für seinen Bedarf zu.

Michael Carey nahm sich Zeit, aber er nahm sie sich nicht für ernsthafte Überlegungen. Im Grunde genommen gab es nichts zu überlegen. Man bot ihm tatsächlich eine Chance. Er war an harte Arbeit gewöhnt. Was andere aushielten, hielt auch er aus, und nach einem Jahr oder später stand einem offiziell nicht mehr bescholtenen Mann um die Dreißig mit Geld in der Tasche die Welt offen. Im Übrigen hätte viel weniger genügt, um ihn zu verlocken, denn für einen Zuchthäusler war nun einmal das Zuchthaus das Ende aller Dinge.

Als Hardcastle das gespaltene Hölzchen wegwarf und zu ihm hinblickte, unterschrieb Michael Carey.

Er ahnte nicht, dass er sich freiwillig der Hölle verschrieb.

*

ARTHUR JAMESON ERINNERTE an Spargel, obgleich er keine grünen, sondern rote Haare hatte. Er war sehr lang, sehr schmal, sehr hellhäutig und hatte etwas Unreifes an sich, obgleich er bereits in der Mitte der Dreißig stand. Mancher nahm ihn deswegen nicht ganz ernst und hielt ihn immer noch für ein blindes Huhn, das zufällig seine Körner fand. Tatsache war, dass er in den letzten Jahren einige aufsehenerregende Prozesse gewonnen hatte und als einer der besten Strafverteidiger San Franciscos galt. Ob das an seinen besonderen Talenten oder an einem gütigen Geschick lag, wagte er nicht einmal selbst zu entscheiden.

Roie Randall fand ihn reichlich unansehnlich und farblos. Sie bedauerte, der Empfehlung nachgegangen und an diesen jungen Mann geraten zu sein, der ihren Vorstellungen von einem seriösen und erfolgreichen Anwalt so wenig entsprach. Sie hatte an einen älteren Herrn mit ausdrucksvollem Gesicht und vornehmen Gesten gedacht. Sie nahm sich vor, unter dem nächstbesten Vorwand zu verzichten, wenn sie auch nicht so kindisch sein wollte, den Vorwand zu provozieren.

Arthur Jameson genoss den besseren Anblick. Er fand, dass er selten etwas Hübscheres als diese junge Dame gesehen hatte. Das schmale, bräunliche Gesicht unter dem dunklen Haar verriet viel Intelligenz und eine seelische Beweglichkeit, die bis zur Empfindsamkeit reichen konnte, gleichzeitig aber auch eine Bestimmtheit, die alles Unklare und Sentimentale ausschloss. Die sichere Haltung kam vom Geld und der Gewohnheit, aber der klare, ruhige Blick aus einem Charakter, der keine Schwankungen kannte.

„Sie sollten mir trotzdem erzählen, was Sie zu mir führt“, riet er mehr kameradschaftlich als respektvoll. Er spürte ihre Vorbehalte, wie er gewöhnlich auf eine ihm selbst unbegreifliche Weise erfasste, was in einem anderen vorging.

„Warum trotzdem?“, fragte sie schnell, worauf er vorsichtig grinste.

„Ich mache mich nicht sehr dekorativ. Wenn ich einen Anwalt brauchte, würde ich mir auch einen anderen aussuchen als mich. Vielleicht ist es aber ein Vorzug, dass ich gewöhnlich sehr schnell sage, ob eine Sache aussichtslos ist oder nicht. Sie sind erst vor Kurzem aus Australien zurückgekehrt?“

„Ja“, bestätigte sie, und erst dann schoss die Verwunderung in ihr hoch. „Aber woher wissen Sie, dass ich ...?“

„Ich hätte Detektiv werden sollen“, zwinkerte Jameson, ohne dadurch hübscher zu werden, denn seine Wimpern besaßen so wenig Farbe, dass sie nicht zu existieren schienen. „Wahrscheinlich würde ich mich unglaublich gut ausnehmen — so mit der Pfeife im Mund und geheimnisvoll wie Sherlock Holmes. Als Anwalt wirkt man weniger romantisch. Ich sah einmal ein Bild von Ihnen und hörte Verschiedenes. Und ich habe kein schlechtes Gedächtnis.“

Er drückte sich bescheiden aus. Wenn er ein Talent besaß, so war es das, auch die abseitigsten Kleinigkeiten zuverlässig in seinem Kopf zu registrieren. Und damals hatte er sich ernsthaft für Roie Randall und den aufsehenerregenden Fall, in dem ihr Name hartnäckig verschwiegen wurde, interessiert.

Roie misstraute ihrem ersten Eindruck und suchte im Gesicht des Anwalts, um zum zweiten Eindruck zu kommen.

„Das verstehe ich nicht“, tastete sie. „Ich kann mich an keine Bekanntschaft erinnern. Wie hätten Sie zu einem Bild von mir kommen können?“

„Ich bin Anwalt, Miss Randall. Solange man jung ist, interessiert man sich auch für Prozesse, die einen nichts angehen. Man meint sogar, es besser machen zu können als andere. Ich hätte Sie jedenfalls damals bei dem Prozess Carey nicht aus dem Spiel gelassen.“

Roie Randall fuhr auf, als wäre sie unversehens auf eine Nadel geraten. „Warum nicht?“

„Ihre Aussage hätte Carey zehn Jahre Zuchthaus erspart.“

„Das ist nicht wahr!“

Jameson beugte sich vor. Seine Augen wirkten plötzlich nicht mehr fischig und verschwommen, sondern hart.

„Ich hätte Sie unter Eid gezwungen, die Wahrheit zu sagen. Und Sie wären nicht einmal auf den Einfall gekommen, sie zu verweigern. Es handelte sich nämlich nur um die einfache Wahrheit, dass Carey keinen Grund hatte, Ihretwegen Conny Boyle umzubringen.“

„Selbstverständlich nicht. Aber darum ging es doch überhaupt nicht. Das war doch ganz belanglos.“

Jameson lehnte sich wieder zurück und wurde lockerer.

„Ich nehme an, dass Sie infolge Ihrer Abreise den Prozessverlauf nicht so genau verfolgen konnten wie ich. Alles andere ließ sich nicht einwandfrei klären, und selbst die Sachverständigen hätten Carey nicht ins Zuchthaus gebracht, wenn nicht als sicher gegolten hätte, dass sich Carey wegen einer Frau mit Boyle überworfen und ihm noch kurz vorher angedroht hatte, ihm alle Knochen zu zerbrechen. Das Motiv, dieses simple, uralte Motiv ging den Geschworenen ein, da alles andere nicht recht zog. Und es war niemand da, um zu erklären, dass dieses Motiv überhaupt nicht bestand.“

„Herrgott!“, flüsterte Roie Randall, dann biss sie sich auf die Lippen. Arthur Jameson räumte taktvoll einige Akten in ein Schreibtischfach.

„Entschuldigen Sie“, murmelte er nach einer Weile. „Es geht mich ja nichts an. Dieser verflixte Anwalt in mir! Ich werde jetzt den Mund halten und mir anhören, warum Sie zu mir gekommen sind.“

Sie lächelte schwach.

„Eben deshalb, Mr. Jameson. Ich brauche einen Anwalt, der etwas für Michael Carey tun kann. Ich dachte an ein Wiederaufnahmeverfahren.“

„Ein abgeschlossener Prozess kann nur wieder aufgerollt werden, wenn sich entscheidende neue Tatsachen ergeben haben.“

„Sie liegen vor.“

„Welche?“

Sie reichte ihm ein bedrucktes Blatt, auf dem mehrere Zeilen unterstrichen waren. Jameson las ohne Hast, schüttelte den Kopf, blickte auf Roie Randall, las noch einmal und schüttelte abermals den Kopf.

„Was versprechen Sie sich davon?“

„Das ist der Beweis, dass Conny Boyle tatsächlich eingeschlafen und im Schlaf gestürzt ist.“

Jameson blinzelte. Nach einer Pause antwortete er sehr ruhig, ja, so sanft, als behandle er eine Wunde:

„Da ist ein Aufsatz — übrigens schon vor fast zwei Jahren veröffentlicht ...“

„Ich wurde erst vor Kurzem auf ihn aufmerksam gemacht.“

„... der Bericht eines Professors Patrick Stone über eine Höhlenforschung, in dem er mit wenigen Worten blitzartige Schlafanfälle der Expeditionsmitglieder erwähnt.“

„Eben. Das ist der entscheidende Punkt.“

Roie Randall zeigte Unruhe. „Sie halten nichts davon?“

„Sie haben den Prozessverlauf nicht verfolgt, nicht wahr?“, fragte Jameson dagegen.

„Nur durch die Zeitungen. Ich war damals noch nicht mündig, und mein Vater zwang mich kurz nach dem Unglücksfall zur Abreise.“

„Und Sie hielten Careys Schuld für möglich?“

„Ich — ja“, erwiderte sie zögernd. „Ich hielt ihn für unschuldig, nach allem, was ich von ihm wusste, aber ich konnte mir auch den Tod Boyles nicht erklären. Ich ... ich versuchte, nicht blind zu sein.“

„Ich verstehe“, nickte Jameson kameradschaftlich. „Wir sind heute so weit, dass wir unserem Gefühl am ehesten misstrauen. Und jetzt sind Sie entschlossen, Carey herauszuhelfen?“

„Ja. Ich war es immer, trotz aller Unsicherheit, aber damals konnte ich nicht. In einem neuen Prozess wird sich seine Unschuld herausstellen.“

Jameson überlegte eine Weile, bevor er fortfuhr:

„Ich möchte keine Hoffnungen in Ihnen erwecken oder unterstützen, Miss Randall. Wenn ich Ihre Interessen übernehme, müssen Sie dafür bezahlen, und dafür wiederum können Sie einen Nutzen erwarten. Wir müssen uns zunächst darüber klar werden, ob die jetzige Situation so verändert ist, dass sich ein Wiederaufnahmeverfahren erzwingen lässt. Soweit ich den damaligen Prozess noch in Erinnerung habe, gab es da zwei oder drei Punkte, auf die es ankam. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich kurz rekapituliere?“

Roie Randall schüttelte stumm den Kopf. Jameson kniff die Augen zusammen, schabte mit dem Daumennagel an seiner Nase und grub in seinem Gedächtnis.

„Vier junge Männer, die auf den neuen Modesport versessen sind. Höhlenforschung! Sie sind schon seit Jahren dabei, nehmen es also ziemlich ernst und besitzen auch ihre Erfahrungen. Keine leichtsinnigen Anfänger. Diesmal geht es um die Drummy Höhle, ein Loch von unbekannter Tiefe. Einwandfreie Vorbereitungen von den Hilfskräften bis zum Verbandspäckchen. Wie gesagt — keine Anfänger!

Da sind die beiden, auf die es ankommt. Conny Boyle und Michael Carey. Sie haben zusammen studiert und sind seit Jahren beste Freunde, obgleich sie aus verschiedenen Lagern kommen. Hinter Boyle steht eine der reichsten Familien Kaliforniens, hinter Carey nichts. Es hat wenig zu sagen — vorläufig. Die beiden vertragen sich wirklich. Erst kurz vor der neuen Expedition kommt ein junges Mädchen dazwischen. Roie Randall, einzige Tochter eines reichen Australiers, der auf einer Art Weltreise seit Wochen bei den Boyles hängengeblieben ist. Die beiden jungen Männer verlieben sich in sie und werden darüber zu Nebenbuhlern. Sie streiten sich. Am Vorabend der Expedition hört man sogar, dass Carey Drohungen gegen Boyle ausstößt. Eine üble Situation für ein immerhin nicht ungefährliches Unternehmen.“

„Alles falsch“, zensierte Roie Randall mit einem Seufzer. „Sie wissen nicht, wie verschieden Conny und Michael waren. Es gab noch viel Unausgesprochenes zwischen uns, aber Michael und ich wussten, dass wir uns liebten, und Conny wusste es auch. Er liebte mich nicht, sondern flirtete nur mit mir wie mit vielen anderen, ohne es ernst zu meinen. Vielleicht machte es ihm auch Spaß, Michael ein bisschen zu reizen. Er dachte sich wenig dabei, wenn er mich einmal umarmte oder mir einen Kuss gab. Mir war es unangenehm — wegen Michael. Deswegen stellte ihn Michael auch zur Rede, also nicht, weil er eifersüchtig war, sondern weil er sich berechtigt fühlte, für mich einzutreten.“

„Für die Geschworenen hätte das eine Menge bedeutet, wie ich bereits erwähnte. Ihre Aussage wird einen neuen Prozess günstig beeinflussen. Sie genügt jedoch keinesfalls, um ihn wieder in Gang zu bringen. Doch sehen wir weiter. Die Expedition beginnt. Ein paar hundert Meter in die Tiefe hinein geht alles nach Programm. Ich war noch nie in einer Höhle, aber ich gewann damals den Eindruck, als zählten da ein paar hundert Meter genau soviel wie etwa am Gipfel des Gauri Sankar. Der Sachverständige begeisterte sich geradezu an der Tüchtigkeit der jungen Leute. Na schön. In der entscheidenden Phase befand sich der Hilfstrupp oben an der Mündung der Höhle. Einige hundert Meter tiefer bedienten die beiden Freunde von Boyle und Carey eine Seilwinde. Vor ihnen befand sich ein schluchtartiger Spalt, der in unbekannte Tiefe reichte. Ungefähr hundert Meter tiefer hatte Carey ein ausspringendes Felsband erreicht. Er wartete dort auf Boyle, der eben abgeseilt wurde. Alle drei Trupps waren durch Funk miteinander verbunden. Sie sehen die Situation?“

„Ja.“

„Jetzt geschieht es. Die Aussagen von einem halben Dutzend Männer greifen genau ineinander. Boyle ist nach Meinung des Mitteltrupps ganz oder fast ganz abgeseilt, als man ihn in der Mitte wie oben ärgerlich und erschreckt rufen hört. Er schreit: ,Mike? Mach keine blöden Witze!‘ Dann kommt eine kleine Pause, und dann schreit er abermals mit offenkundigem Entsetzen: ,Mike!‘ Man hört ein Poltern. Aus. Natürlich kommen von oben wie von der Mitte sofort die Anrufe, aber Boyle und Carey geben keine Antwort. Nichts als Stille. Die anderen warten ein paar Minuten, dann rühren sie sich. Sie ziehen von oben zwei Leute nach, dann lässt sich einer vom Mitteltrupp abseilen. Das Seil war übrigens frei, doch kann niemand beschwören, ob es vor oder nach dem ersten Anruf Boyles frei geworden ist. Sheiland, das ist der dritte der Freunde, der nach unten geht, findet Carey auf dem Felsband, schwankend, verstört und anscheinend benommen. Auf Anruf antwortet er: ,Conny muss abgestürzt sein.‘ Als ihm Sheiland ins Gesicht schreit, wie das passieren konnte, sagt er: ,Ich weiß es nicht. Ich ... ich muss geschlafen haben.‘ Sheiland bemerkt, dass aus dem linken Ärmel Careys ein großes Stück Stoff herausgerissen ist. Dieses Stück Stoff wird später in der verkrampften Hand Boyles gefunden. Boyle liegt zweihundert Meter tiefer auf einem anderen Felsband, tot und stark zerschlagen. Das sind die Tatsachen.“

„Ja“, bestätigte Roie Randall leise. „Und sie wurden gegen Michael Carey ausgelegt. Man glaubte ihm nicht.“

„Man muss gerecht sein“, erwiderte Jameson bedächtig. „Es fiel nicht leicht, ihm zu glauben. Er behauptete einfach, er hätte geschlafen. Nach seiner Darstellung sah er Boyle eben herunterkommen, als ihn plötzlich, wie eine Betäubung, eine starke Schlafmüdigkeit überfiel. Er behielt eben so viel Spielraum, um sich hinter einen Vorsprung zu klemmen, der ihn gegen den Abgrund schützte. Als er zwei Stunden später wieder zu sich kam, landete Sheiland bereits neben ihm. Er wusste einfach von nichts. Ein dicker Brocken für die Geschworenen, zumal sie erfahren, dass sich die beiden wegen einer Frau verfeindet hatten. Der Ankläger hatte es leicht. Er brauchte sich nur an das zu halten, was alle anderen gehört hatten. Nach seiner Meinung griff Carey den Nebenbuhler sofort an, als dieser neben ihm landete. Boyle hielt den ersten Schlag oder Stoß wohl noch für einen Scherz, aber gleich darauf erkannte er mit Entsetzen, was ihm zugedacht war. Er versuchte sich am Arm Careys festzuhalten, nahm aber nur ein Stück Stoff mit hinunter. Einwandfrei Mord! Möglich, dass Carey in dem kurzen Kampf irgendwo mit dem Kopf anprallte und tatsächlich eine Zeitlang betäubt lag, aber wahrscheinlicher, dass er einfach nicht wusste, wie er sich aus der Schlinge ziehen sollte, und es nun mangels besserer Möglichkeiten mit dem angeblichen Schlaf versuchte. Diesen plötzlichen Schlaf inmitten einer kritischen Expedition nahm ihm natürlich niemand ab.“

„Die Sachverständigen waren gegen ihn.“

Jameson lächelte nachsichtig.

„Sachverständige sind selten gegen irgendwen. Sie verstehen bloß gewöhnlich nichts von ihrer Sache. Es gab offenbar nur einen Mann, der wirklich gegen ihn war, nämlich John Boyle, den Vater des Toten. Das bedeutete, dass Carey einige Dutzend Millionen und einen großen Teil der Presse gegen sich hatte. Das dürfte auch für einen neuen Prozess gelten. John Boyle ist bestimmt nicht der Mann, der den Mörder seines einzigen Sohns entwischen lässt. Er gilt als guter Hasser.“

„Ich kenne ihn. Ich hielt ihn immer für gerecht.“

„Oh, das meinte ich nicht. Er gab auch Carey sein Recht. John Boyle war es, der die Sachverständigen heranzog und einen ganzen Trupp in die Höhle hinunterschickte, um festzustellen, ob man dort unten wirklich Schlafanfälle bekommt. Careys Pech, dass keiner von diesen Leuten müde wurde.“

„Dieser Aufsatz beweist, dass tatsächlich ...“

„Ja, gewiss“, unterbrach Jameson. „Die Menschen sind verschieden. Es gibt Leute, die auf Wünschelruten reagieren, wo andere nichts merken. Man könnte sogar an Gasentladungen denken, die ein paar unglückliche Opfer erwischen, sich aber nicht bemerkbar machen, wenn Sachverständige den Fall untersuchen. Solche und ähnliche Vermutungen gab es schon damals. Ich sagte Ihnen ja, dass die Geschworenen Carey wohl kaum verurteilt hätten, wenn sie nicht an die Feindschaft zwischen ihm und Boyle hätten glauben müssen. Für die Wiederaufnahme wird natürlich zunächst alles von diesem Stone abhängen. Wenn er bezeugt, unterstützt von den anderen Mitgliedern seiner Expedition, dass tatsächlich solche plötzlichen Anfälle auftreten ...“

„Sie haben also auch Hoffnung?“

„Sagen wir, der Fall interessiert mich. Ich werde ihn übernehmen. Ich boxe mich ganz gern mit den Leuten herum, wenn es nicht gerade mit den Fäusten sein muss. Wenn Sie mir Stone bringen, werde ich lostrommeln.“

„Sie meinen, dass ich ...?“

Jameson nickte.

„Nicht nötig, aber besser. Diese Professoren sind manchmal komische Käuze. Sobald sie Verdacht schöpfen, dass sie auf eine Aussage festgelegt werden sollen, reagieren sie sauer. Eine junge Dame mit einem Aufnahmeapparat in der Handtasche, die sich harmlos und unverfänglich für gewisse Höhlenerfahrungen interessiert, wäre gerade recht. Gegen Bandaufnahmen löckt auch ein Professor nicht gern. Sie verstehen?“

„Ich verstehe allmählich, wieso Sie ein erfolgreicher Anwalt sind“, lachte Roie Randall.

„Ich übernehme den Auftrag.“

„Gut. Ich kümmere mich um alles andere. Vor allem werde ich versuchen, eine Erlaubnis zum Besuch Careys zu bekommen.“

„Wo ist er?“

„Wahrscheinlich in Lakefield. Beschwören kann ich’s aber nicht. Gruß an ihn?“

Roie Randall stand auf. Sie war wieder ernst.

„Nein, lieber nicht. Wenn er die Verhältnisse so sieht wie Sie, wird er meine Hilfe ablehnen. Ich muss das eines Tages mit ihm unter vier Augen abmachen.“

Arthur Jameson bewunderte ihren Instinkt, unterdrückte aber diesmal eine Bemerkung. Seiner Meinung nach gehörte Roie Randall zu den Frauen, die notfalls mit dem Teufel handeln, es aber nicht vertragen können, wenn man gewisse Gefühle berührt.

*

DER GEFÄNGNISWAGEN stand nach endloser Fahrt. Michael Carey stellte sich auf die Füße, so gut es in der engen Zelle ging, und streckte sich. Er war lahm von dem schmalen Brett unter sich und benommen von der Schlaflosigkeit über zwei Tage und Nächte hindurch. Er horchte nach draußen. Handelte es sich wieder nur um eine kurze Rast, die mit etwas kaltem Proviant und einigen Schluck Wasser endete, oder hatten sie das Ziel erreicht? Das winzige vergitterte Loch unter der Decke verriet nichts, höchstens, dass sie sich in einer heißen, trockenen Landschaft befanden. Aber jetzt rührte es sich im Wagen. Schlüssel schlossen, Türen klappten, Stimmen und Tritte.

Die Stange vor seiner Tür klirrte. Die Tür wurde geöffnet. Der Wärter erschien. Er grinste freundschaftlich und griff nach der Handfessel.

„Geschafft. Wirst auch verdammt froh sein, was? Schreib mal eine Postkarte.“

Er nahm die Fessel ab und zog Michael in den schmalen Gang hinaus. Zwei Meter weiter hingen die Trittstufen am Wagen, und dann fiel eine grelle Mittagssonne mit brütender Hitze auf die Haut und auf die Augen. Die Luft flimmerte über totem Sand, so weit er sehen konnte. Gewellte, unebene Wüste, aus der sich hier und dort nackter Fels herauszubuddeln schien.

Der Wagen stand auf einer Straße, die von irgendwo kam und sich in der Wüste verlor. Hinter ihm blinkte ein hoher, engmaschiger Drahtzaun, der die Straße mit einem Tor abriegelte und nach beiden Seiten in die Hügel hineinführte. Hochspannung! Lebensgefahr! Neben dem Tor befanden sich einige niedrige Gebäude. Ein Jeep kurvte eben heran.

Um Michael herum wimmelte es von Männern. Da waren die fünf, die ebenfalls in einer engen Zelle die Fahrt hinter sich gebracht hatten, die beiden Begleitwärter und mindestens zwei Dutzend Fremde, die offenbar nichts zu tun hatten, als die Ankömmlinge neugierig zu mustern. Sie trugen alle Pistolen und gehörten fast ausnahmslos einem bestimmten Typ an. Polizei oder Militär. Der Jeep trieb sie etwas beiseite.

„Hab ich mir gedacht“, knurrte der Mann, der neben Michael stand, während er Michael mit dem Ellbogen anstieß. „Ausgemachter Schwindel! Verdammte Bratpfanne, in der sie uns rösten wollen — unter Polizeischutz!“

Er hieß Ted und hatte einen schweren Einbruch hinter sich, bei dem einiges vorgefallen war. Michael kannte ihn vom Straßenbau her.

„Sieht ganz so aus“, gab er seine Meinung zurück. „Auf jeden Fall keine Spur von Bergbau.“

Die anderen murrten ebenfalls. Sie wurden aber schnell still, als ihnen der Fahrer des Jeeps ohne große Ankündigung Zigarettenpäckchen zuwarf. Dann reichte ein anderer Lunchbeutel herunter, Papierbeutel wie aus dem Automaten heraus mit cellophanverpackten belegten Brötchen und Obst, Colaflaschen und Schokolade. Und während sie sich darüber hermachten, baute sich einer der Männer vor ihnen auf und erzählte ihnen, dass die Fahrt gleich weiterginge und dass sie sich für alle Fälle die Landschaft ansehen sollten. Darauf achteten die Sträflinge jedoch wenig. Sie kletterten kauend auf den Jeep und fühlten sich fast als freie Männer, als er ohne jede Bedeckung mit ihnen losbrauste. Lange dauerte es freilich nicht, bis sie schimpften, denn der Fahrer fuhr wie ein Wilder, sodass sie nicht weiteressen konnten, und die Hitze duckte sie ebenso zusammen wie der stiebende, heiße Sand, der ihnen mit jeder Windsträhne entgegenkam.

Nach einer knappen Stunde, in der sie nichts als Wüste und nackten Felsen um sich herum gesehen hatten, stand der Wagen hinter einem zweiten Hochspannungszaun und hinter einem Drahttor, und der Rest glich allem anderen so verblüffend, dass sich die Männer ernstlich überlegten, ob sie nicht im Kreis herumgefahren worden waren. Nur Lunchbeutel gab es diesmal nicht. Irgendeiner der Bewaffneten ersuchte sie freundlich, auf einen bereitstehenden anderen Jeep umzusteigen, und dann ging die Fahrt weiter.

Sie dauerte diesmal nur eine halbe Stunde. Die Landschaft veränderte sich. Sie wurde hügeliger und steiniger. Die Wüste löste sich in Sandsträhnen auf. Ein einzelner, niedriger Berg kam in Sicht, ein alter, abgeschliffener Felsbuckel, der wie der runde Rücken eines Wals herausragte.

Michael Carey wusste plötzlich, wo er sich befand. Deserthill, der Hügel in der Wüste, obgleich dieses Gebiet streng genommen noch nicht zur Wüste gehörte. The Needle — die Nadel hieß es für ihn und seine Freunde, denn dort führte ein Kamin wie ein Nadelloch senkrecht in die Tiefe, vermutlich in ein unbekanntes und umfangreiches Höhlengebiet hinein. Er war vor Jahren mit Conny Boyle einmal hier gewesen. Damals hatte es noch keine Hochspannungszäune und keine Straße gegeben, leider aber schon einen Patrick Stone. Und Stone hatte sich entschieden geweigert, andere an seine Entdeckung heranzulassen. Er wollte mit seinem eigenen Trupp in die Tiefe gehen. Dagegen war nichts zu machen gewesen.

War Stone auf den verrückten Einfall gekommen, sich Sträflinge als Arbeiter heranzuholen?

Carey schloss den Gedanken aus, als ein dritter Drahtzaun vor ihnen auftauchte. Dahinter blendeten mehrere weiße neue Betonbauten, einige mehrstöckig, andere flach wie Baracken. Sie standen zwischen Bäumen in einem Grüngürtel, der nur wenige hundert Meter breit war. Carey erinnerte sich, dass an dieser Stelle ein sonst unterirdisch strömender Fluss zutage trat.

Der Jeep hielt abermals hinter dem Drahttor zwischen einer Gruppe von Pistolenmännern. Die Sträflinge mussten absteigen. Sie wurden in eine der Baracken geführt. Dort nahm man ihnen außer Amuletten und Ringen alles ab, was sie auf dem Leibe trugen. Dann durften sie sich in einem Duschraum gründlich waschen. Anschließend gerieten sie an zwei Ärzte, die es mit ihrer Untersuchung genau nahmen. Im nächsten Raum fanden sie dann eine komplette, nagelneue Ausrüstung vor — Wäsche, Shorts und bunte Hemden, Overall, Strümpfe, Kappe, Taschentücher, Kamm, Rasierzeug, Messer, Feuerzeug und alles andere, was ein Mann brauchte. Die Sachen waren nicht nur neu, sondern bestanden auch aus bestem Material. Die Männer stolzierten in ihrer sommerlichen Tracht wie Feriengäste auf Hawaii herum. Das Einzige, was sie mit einigem Misstrauen betrachteten, war eine dicke, lange Nietenhose aus einem lederartigen Kunststoff mit einigen verklebten Taschen, die nach den Aufschriften Verbandszeug, medizinische Präparate, Sauerstoffkapseln und einen Respirator enthielten.

Nachdem sie sich angezogen hatten, wurden sie in einen kleinen, hübsch eingerichteten Essraum geführt, der sich in der anschließenden Baracke befand. Dort setzte man ihnen ein reichhaltiges warmes Essen vor. Während sie sich damit beschäftigten, tauchte ein jüngerer Mann mit ihren Akten auf. Er kontrollierte die Personaldaten und händigte jedem eine Kennmarke mit unverständlichen Symbolen aus. Sie musste mit dem zugehörigen Metallband sofort um den linken Oberarm geschlossen werden. Dann gab es Zettel mit irgendwelchen Ziffern, die in die Hosentasche gesteckt und später dem Lagerchef vorgewiesen werden sollten. Schließlich folgte eine Art Ansprache.

„Ich will Ihnen keine Rede halten“, sagte der Mann mit den Akten, „aber ich muss Sie auf einige Punkte aufmerksam machen, die für Sie wichtig sind. Sie sind von jetzt an freie Arbeiter. Dass Sie aus dem Zuchthaus kommen, erfährt niemand, wenn Sie es nicht selbst erzählen. Sie werden vermutlich bald selbst merken, dass viele von den Männern, die hier arbeiten, völlig unbelastet und unter normalen Umständen hier eingetreten sind. Andererseits stehen Sie unter den Verpflichtungen, die Sie eingegangen sind. Sie können nicht einfach weglaufen oder streiken, wenn Ihnen etwas nicht passt. Sie befinden sich hier in einem staatlichen Unternehmen, das unter allen Umständen geheim gehalten werden soll. Daraus ergeben sich Beschränkungen. Die Arbeit ist nicht leicht, und die Disziplin wird Ihnen gelegentlich etwas schroff vorkommen. Versuchen Sie, sich darein zu fügen. Im Übrigen wird von uns aus alles getan, um die Verhältnisse zu erleichtern. Ihre Arbeitszeit ist kurz, Unterbringung und Verpflegung ausgezeichnet, ebenso die ärztliche Betreuung. Die Bezahlung ist Ihnen ja bekannt. Versuchen Sie nicht, das Lager zu verlassen. Es ist gründlich Vorsorge getroffen, dass solche Versuche misslingen. Sie werden außerdem recht hart bestraft. Das wäre es. Die Einzelheiten erfahren Sie im Lager. Irgendwelche Fragen?“

„Einen Haufen“, brummte einer der Männer.

„Was sollen wir hier eigentlich arbeiten?“, fragte Carey.

„Wir treiben einen Versuchsschacht in die Tiefe. Sie werden am Vortrieb eingesetzt.“

Carey hatte ein Dutzend Fragen auf der Zunge, aber er verzichtete. Der andere sah nicht so aus, als würde er auf Einzelheiten eingehen. Er zweifelte auch nicht daran, dass man sie noch dicht genug an die Sache heranbringen würde.

Eine Viertelstunde später mussten sie abermals einen Jeep besteigen und wurden weitergefahren. Nach zehn Minuten passierten sie die vierte Sperre und sahen das Lager und ihre zukünftige Arbeitsstätte vor sich. Das Lager war eine weiße, aufgelockerte Barackenstadt auf nacktem Felsen, in der schwimmenden Luft und der Verfärbung des sinkenden Tages fast orientalisch wirkend. Hier und dort standen größere, aber ebenfalls flache Hallen. Auf den breiten Straßen, die allerdings wohl nur leidlich geglätteter Felsen waren, bewegten sich vereinzelt Männer.

Hinter dem Lager, unmittelbar am Fuße des runden Bergbuckels, lag inmitten von lang strähnigen, helleren Schutthalden ein umfangreicher Gebäudekomplex, dessen Einzelheiten sich noch nicht erfassen ließen. Er umgab ein turmartiges, aber auf hohen, schmalen Stelzen stehendes Gebäude, das leicht ein Förderturm sein konnte.

Vorläufig interessierte die Nähe mehr. Sie gerieten auch hier wieder zwischen eine Gruppe von Pistolenmännern, die am Tor herumlungerten. Einer von ihnen winkte sie hinter sich her und führte sie in das nächstliegende Gebäude, einen zweistöckigen Bau, der nicht aus Beton, sondern aus Felsblöcken aufgeführt war und sehr dicke Wände mit auffallend kleinen Fenstern besaß. In einem nüchternen Büroraum lernten sie Jeff Lane kennen, einen schwergewichtigen, schwitzenden Mann, an dem zunächst ungewöhnlich starke schwarze Augenbrauen auffielen, dann scharfe, stechende Augen und ein hartes Kinn. Carey hielt ihn für einen Bullen mit einem beweglichen Gehirn, und er bekam später genug Gelegenheit festzustellen, dass ihn sein erster Eindruck nicht getäuscht hatte.

Lane wartete, bis sich die sechs Neuankömmlinge vor seinem Schreibtisch zurechtgeschoben hatten, dann streckte er seine linke Hand aus.

„Die Zettel.“

Er ließ sich vom ersten den Leitzettel geben, warf einen Blick darauf, sah den zugehörigen Mann scharf an, gab den Zettel zurück und wandte sich zum nächsten. Als die Reihe durch war, stand er auf und lehnte sich gegen das Aktenregal. Er brachte ruhig und nachlässig heraus, was er zu sagen hatte.

„Also von mir aus willkommen. Ich bin Jeff Lane, der Chef der Werkpolizei. Ich habe mich breitschlagen lassen, die Verantwortung für die Ordnung im Lager und für die Geheimhaltung zu übernehmen. Seht zu, dass wir miteinander auskommen. Ich dulde keinen Stunk, und erst recht keine Ausflüge aus dem Lager. Wer sich nicht vernünftig benimmt, hat den Schaden. Notfalls geht es hart zu. Begriffen?“

„Klar“, antwortete einer der Männer grinsend. „Den Vers habe ich schon mal gehört, als ich vor fünf Jahren in Pension ging. Wir sind dressiert.“

„Hoffentlich“, gab Lane trocken zurück. „Für alle Fälle: Die Verhältnisse liegen hier ein bisschen anders als in deinem Pensionat. Wir haben hier über tausend Leute, die frei herumlaufen dürfen, und das sind so ungefähr die schwersten Brocken aus dem ganzen Land — ehrliche Leute und Mörder, Normale und Verrückte, Einbrecher und Totschläger, Amerikaner und Dagos, Weiße, Mexikaner, Farbige und Japsen — und ein bisschen saure Arbeit neben reichlich viel Freizeit. Seht euch die Lagerordnung lieber genau an. Und nun raus!“

Sie schoben sich wieder durch die Tür. Draußen wurde jeder von einem Wächter in Empfang genommen.

Während sie durch das Lager gingen, versuchte Carey, mit seinem Unbehagen fertigzuwerden. Was er bisher gehört und gesehen hatte, ließ reichlich auf eine Art Straflager schließen. Wozu das? Geheimhaltung? Es gab größere Unternehmungen, die durch weniger brutale Maßnahmen gegen Schwatzereien gesichert wurden. War etwa die Arbeit so schwer, dass die Arbeiter trotz der glänzenden Bedingungen mit Gewalt gehalten werden mussten? Das ließ sich nicht recht vorstellen. Die Abteufung eines Schachts verlangte Schweiß und besaß ihre Tücken, aber in aller Welt wurden Schächte unter normalen Arbeitsverhältnissen in die Tiefe getrieben.

Der Wächter blieb vor einer Barackentür stehen.

„Hier ist 2/5. Viel Spaß.“

Er ging davon. Carey öffnete die Tür. Er geriet in einen Vorraum, dessen Wände mit sechs Schränken besetzt waren. Die nächste Tür führte in einen großen Wohnraum, der sich auf einer Ausstellung für modernes Wohnen nicht schlecht gemacht hätte. Er enthielt farbige Sessel und einiges abstraktes, aber vermutlich zweckmäßiges Mobiliar, einen Fernsehempfänger, ein Bücherregal, Vorhänge, die von der anbrandenden Helligkeit leuchteten, und einige andere Dinge, die sich beim ersten Eindruck nicht einprägten.

Wichtiger war, dass unter dem Zigarettenqualm, den der summende Ventilator in Streifen zu sich heranzog, fünf Männer warteten. Sie saßen in den Sesseln und blickten recht gelangweilt zur Tür, aber Carey spürte förmlich greifbar, dass sie innerlich voller Spannung waren. Sie trugen alle die gleichen Shorts, die gleichen weißen Hemden und die gleichen leichten Leinenschuhe, sahen alle frisch gebadet und frisch geschoren aus und konnten notfalls für gut gestellte Müßiggänger gehalten werden, die sich zu einem Schwatz zusammengefunden hatten.

Da keiner der Männer seinen Gruß beantwortete, ergänzte Carey: „Ich bin Michael Carey. Wo kann ich meine Sachen unterbringen?“

„Draußen im Schrank ganz rechts“, gab einer der Männer Auskunft. „Ich bin Ole Verner. Wir haben einen Schlafraum zusammen.“

Verner war ein älterer, breitschultriger und untersetzter Mann mit einem zerfurchten Gesicht. Er hatte etwas Biederes an sich, wie man es oft bei Handwerkern findet. Sein Tonfall klang ruhig und müde.

„Danke.“

Carey ging in den Vorraum zurück und packte seine Sachen in den Schrank, ohne viel Sorgfalt darauf zu verwenden. Als er in den Wohnraum zurückkam, saßen die anderen noch da, als hätten sie kein Wort miteinander gewechselt. Verner stand auf und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen.

Sie betraten einen kurzen Gang mit vier Türen. Hinter der einen befand sich ein Duschraum mit einer Toilette, während die anderen zu zweibettigen Schlafräumen führten, die trotz ihrer Kleinheit nett eingerichtet waren und einen sehr sauberen Eindruck machten.

Die Besichtigung erfolgte stumm. Verner blieb in der offenen Tür des Wohnraums stehen und verkniff sich jedes Wort. Carey ermunterte ihn nicht. Es war leicht zu erraten, dass sich die anderen nichts entgehen lassen wollten. Er wartete, bis er sich wieder im Wohnraum befand und einen Sessel unter sich hatte.

„Sehr sauber hier?“

„Sieht so aus“, bestätigte einer der fünf freundlich, ja sogar eifrig. Er sah sehr jung aus. Sein Gesicht hatte noch etwas Kindliches an sich. Das vertrug sich nicht recht mit seinem großen, kräftigen Körper. Wie sich später herausstellte, hieß er Nick Parker. Er hatte wegen einer Kleinigkeit zwei Leute umgebracht, ohne sich viel zu denken. Seine Jugend hatte ihn vor der Todesstrafe bewahrt. Er gehörte zu den Jugendlichen, denen das moralische Gesetz ebenso wie ein ganzer Empfindungskomplex versagt bleibt, sodass sie einen Menschen ebenso leicht umbringen, wie sie einem Maikäfer die Beine ausreißen.

„Unzivilisiertes Benehmen kostet zehn Dollar Buße pro Mann“, erklärte Verner. „Das gilt vom Zigarettenstummel auf dem Fußboden an. Für den Rest sorgt die Kolonne, die hier herumtobt, während wir im Schacht sind. Feiner Laden. Täglich frische Wäsche und was dazugehört.“

Er berichtete es einfach. In seiner Stimme klang keine Ironie mit. Carey erfuhr später über ihn, dass er irgendwoher aus Kanada kam, fast immer als Holzfäller gearbeitet hatte und auf den Kontrakt ohne den Druck einer Zuchthausstrafe eingegangen war.

„Was für dich, he?“, klang eine neue Stimme auf. Sie gehörte zu einem schmalen, dunklen Gesicht mit bläulich schwarzer Haarschur und braunen, spöttischen Augen, einem schlanken, geschmeidigen Körper und einer Hand, die eben eine Zigarette mit einer Gewandtheit drehte, die nach Careys Erfahrungen nur ein Mexikaner auf brachte. Tatsächlich kam Juan Perez aus Mexiko. Sie hatten ihn aufgegriffen, als er illegal über die Grenze gekommen war, und da ihm die Ausweisung wegen gewisser Vorfälle in seiner Heimat nicht recht gepasst hatte, war ihm der freiwillige Arbeitskontrakt als das kleinere Übel erschienen.

„Warum?“

„Oh, nur so“, wich Perez unbestimmt aus.

„Essen gut“, bemühte sich jetzt auch der Schwarze, der zwischen den anderen saß, wobei er genusssüchtig grinsend seine weißen Zähne zeigte. Carey schätzte ihn auf gut zwei Zentner Muskeln und Knochen, die ein harmloses Gemüt umschlossen. Sammy Brodvine sah ausgesprochen gutmütig aus. Auch er hatte sich freiwillig verdungen.

Carey konzentrierte sein Interesse auf den letzten Mann, der so dicht am Fenster saß, dass die brennenden Farben des Vorhangs über sein Gesicht hinwegschwankten und es erschwerten, einen Eindrude zu gewinnen. Auch er war ein Hüne, nicht so massig wie der Schwarze, aber härter. Wie Carey später erfuhr, hieß er Lewis Cock und war wegen verschiedener Bandenverbrechen für zwanzig Jahre ins Zuchthaus gesteckt worden. Dazu passte vieles in seinem Gesicht, vor allem das kantige Kinn und die zerschlagene Nase. Carey stutzte aber jetzt mehr darüber, dass der Mann für seinen Typ merkwürdig intelligent aussah. Das andere, was ihm auffiel, obgleich er es eine ganze Weile dem Vorhang zuschob, waren gelbe Augen. Sie waren so intensiv gelb, dass die Iris in dem bläulich weißen Augapfel leuchtete, wenn Cock nicht gerade die Augen zukniff, was er allerdings gewöhnlich tat.

„Wo kommst du her?“, fragte Cock träge.

„Lakefield.“

„Warum?“

„Ein Justizirrtum.“

„Hm? Kannst ihm die Hausordnung vorbeten, Nick.“

Der Junge wurde wieder eifrig.