Karl-Wilhelm Welwei
DIE GRIECHISCHE
FRÜHZEIT
2000 bis 500 v. Chr.
C.H.Beck
Kunst und Architektur längst vergangener Epochen der griechischen Geschichte faszinieren noch heute Jahr für Jahr zahllose Reisende, die Festland oder Inselwelt der ältesten europäischen Hochkultur besuchen. Die Nationalmuseen von Iraklion und Athen beherbergen einzigartige Schätze, deren Entstehungszeitraum weit vor den Tagen Homers liegt. Es sind dies die stummen Zeugen der minoischen und der mykenischen Kultur, die von der griechischen Frühzeit künden. Mit der Beschreibung des minoischen Griechenland setzt dieses kleine Buch ein. Es führt seine Leser weiter durch die mykenische Welt, durch die «Dunklen Jahrhunderte», die auf den Untergang der mykenischen Reiche folgten, und hinein in die Welt Homers, der für seine Zeitgenossen das steinerne Erbe der riesigen Paläste einer vergangenen, heroisch gedachten Kultur durch seine Verse mit Leben zu füllen suchte. Die Darstellung reicht darüber hinaus in die Entstehungszeit der Stadtstaaten, beschreibt den Gesellschaftsaufbau, die Wirtschaftsweise und nicht zuletzt Kunst und Kultur der um 800 v. Chr. beginnenden archaischen Epoche Griechenlands. Soziale Konflikte, Usurpation von Herrschaft durch einzelne Aristokraten, die Anfänge des Gegensatzes zwischen Athen und Sparta sowie der aufziehende Konflikt Griechenlands mit dem persischen Großreich sind weitere Themen dieses Bandes.
Karl-Wilhelm Welwei (1930–2013) war Professor für Alte Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat zahlreiche Publikationen zur griechischen Frühzeit vorgelegt und gilt nach wie vor als einer der besten Kenner dieser Epoche.
1. Einwanderung und Ethnogenese
der Griechen
2. Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur
der minoisch-mykenischen Zeit
3. Die mykenischen Herrschaftssysteme
und ihr Untergang
4. Die «Dunklen Jahrhunderte» und das Problem
der Ionischen Kolonisation
5. Das Verhältnis von Ethnos und Polis im Prozess
der Staatswerdung in Griechenland
6. Die sogenannte Große Kolonisation
der Griechen
7. Gesellschaftliche Gliederung
und demographische Entwicklung
in früharchaischer Zeit
8. Entstehung und Entwicklung von Institutionen
im griechischen Siedlungsraum
9. Aspekte des Wirtschaftslebens
in den «Dunklen Jahrhunderten» und
in archaischer Zeit
10. Kunst und Kultur in archaischer Zeit
11. Die ältere Tyrannis und ihre Überwindung
12. Die Sonderwege der Spartaner und Athener
13. Die griechische Staatenwelt
in spätarchaischer Zeit
Weiterführende Literatur
Sachregister
Zeittafel
Bildnachweis
Fußnoten
Karte 1: Die griechische Kolonisation ca. 750–550 v. Chr.
Gedanken und Vorstellungswelt antiker Griechen werden uns in literarischer Form erstmals durch die Epen Homers vermittelt, denen in der Kulturgeschichte Europas eine unvergleichliche poetische und künstlerische Rezeption beschieden war. Sie erhielten ihre im Wesentlichen bleibende Gestalt im späten achten Jahrhundert in einer entscheidenden formativen Phase des historischen Hellenentums, stehen aber ihrerseits bereits in einer langen Sagen- und Liedertradition, die zwar für uns nicht mehr unmittelbar greifbar ist, aber noch Ursprünge jener grandiosen Originalität der Ilias und Odyssee erahnen lässt. Das kulturelle Bild, das in der homerischen Dichtung aufscheint, ist freilich auch geprägt durch motivgeschichtliche Einflüsse des Orients und dementsprechend in den größeren historischen Kontext eines ostmediterranen Kulturraumes einzuordnen, in dessen Rahmen sich vor allem auf dem Boden des hellenischen Mutterlandes die Ethnogenese – also die Entstehung des Volkes – der Griechen vollzogen hat.
Frühe schriftliche Zeugnisse für diesen Prozess sind seit der genialen Entzifferung der minoisch-mykenischen Linear-B-Schrift durch Michael Ventris in Zusammenarbeit mit John Chadwick im Jahre 1953 erschlossen worden. Es handelt sich hierbei allerdings nur um kurze Notizen der Palastverwaltungen an mehreren mykenischen Herrschaftszentren auf Kreta und im griechischen Mutterland. Immerhin vermitteln uns die Texte bereits einen gewissen Eindruck vom Laut- und Formenbestand und von Aspekten des Vokabulars eines um 1200 v. Chr. gebräuchlichen frühgriechischen Idioms, das als eine Art Standardsprache ein Instrument damaliger Herrschaftspraxis in mykenischen Burgen und Palästen darstellte. Hierin manifestiert sich eindrucksvoll, dass bereits die mykenische Welt im Verlauf der Entwicklung und Ausformung ihrer Herrschafts- und Sozialstrukturen starke Impulse aus den Machtbereichen orientalischer Monarchien erhalten hat. Darüber hinaus ist jenes altertümliche, in den Linear-B-Texten dokumentierte Griechisch eine unschätzbare Quelle zum Verständnis der griechischen Ethnogenese, die in der neueren Forschung überwiegend als ein langfristiger Prozess gesehen wird.
Ältere Erklärungsmodelle zur Entstehung des Hellenentums basierten auf Einwanderungstheorien, die von der Vorstellung einer in mehreren Wellen erfolgten Landnahme großer Verbände ausgingen. Die auf diese Weise postulierten Gemeinschaften wurden als Stämme verstanden und nach den in historischer Zeit existenten bedeutendsten Dialektgruppen benannt, die gewissermaßen in die Vorzeit zurückgespiegelt wurden. Demnach sollen frühe Träger des ionischen Dialekts um 2000, die Vorfahren der Aioler bzw. Achaier um 1600 und Dorier um bzw. nach 1200 nach Hellas eingewandert sein.
Dass die Ethnogenese des Griechentums in starkem Maße durch Überlagerung eines vorhellenischen Sprachsubstrats durch zuwandernde Scharen bestimmt wurde, ist freilich aufgrund der Zuordnung des Griechischen zu der indoeuropäischen Sprachfamilie und der Existenz vorgriechischer Sprachelemente vor allem in Ortsnamen und Bezeichnungen für mediterrane Pflanzen und Tiere nicht zu bezweifeln. Die historischen griechischen Dialekte haben sich indes erst nach dem Ende der mykenischen Palastzeit (bald nach 1200) herausgebildet. Relikte des frühgriechischen Idioms der Linear-B-Texte haben sich nach dem Zerfall der mykenischen Herrschaftssysteme noch in gewissen Elementen dieser Dialekte erhalten, und zwar vor allem im Arkado-Kyprischen. Die Entwicklung des Griechischen ist somit ein komplexer sprachgeschichtlicher Prozess, dessen Anfänge offenbar bis in die frühe Bronzezeit zurückreichen. Es wurde vermutet, dass verschiedene Zerstörungshorizonte (wie z.B. das Ende einer frühbronzezeitlichen Siedlung in Lerna in der Argolis um 2300) in Verbindung mit einem kulturellen Wandel zu sehen und auf Gewaltakte neuer Bevölkerungselemente zurückzuführen ist. Die Anfänge der Entwicklung des Griechischen lassen sich indes linguistisch nicht ermitteln, so dass die Datierungsfrage ebenso wie das Problem der Herkunft protogriechischer Gruppen letztlich offenbleiben muss. Nur so viel ist deutlich, dass weder am Ende der Periode Frühhelladikum II (um 2300/2200) noch im Übergang von der Frühen zur Mittleren Bronzezeit (2000/1900) noch zu Beginn der Mykenischen Zeit (um 1600) umfangreiche Zerstörungshorizonte in weiten Teilen Griechenlands nachweisbar sind. Träger von Migrationen (Wanderungsbewegungen) waren zweifellos nicht allzu starke Gruppen, die jeweils durch eine mehr oder weniger begrenzte Verlegung ihres Siedlungsraumes gleichsam allmählich in die altmediterranen Kulturen in Griechenland hineingewachsen sind. Jene Scharen können durchaus unterschiedliche Idiome gesprochen und unabhängig voneinander neue Acker- und Weideflächen gesucht und dort in unterschiedlicher Weise sich mit den bereits ansässigen Bevölkerungselementen arrangiert haben, so dass hieraus längere Integrationsprozesse resultierten, in deren Verlauf die Vorbewohner mit Zuwanderern verschmolzen oder in ihnen aufgegangen sind. Das Sprachgut von bestimmten Neuankömmlingen, die der indoeuropäischen Sprachfamilie zuzuordnen sind, prägte jedenfalls entscheidend jene Form des Frühgriechischen, das in den Linear-B-Texten des späten 13. Jahrhunderts noch erkennbar ist und bereits das Ergebnis einer langen Entwicklung darstellt, in der vor allem das späte dritte und das frühe zweite Jahrtausend wichtige Phasen waren und die Träger der sich auf griechischem Boden bildenden Idiome des Frühgriechischen auch in zunehmendem Maße unter dem Einfluss der vom minoischen Kreta ausgehenden Impulse im Bereich der materiellen Kultur standen.
Die Bedeutung der Ausstrahlungskraft der minoischen Kultur für die Entwicklung auf dem griechischen Festland kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auf Kreta war die erste Hochkultur Europas entstanden, nachdem im späten dritten Jahrtausend auf der Insel sich mehrere Siedlungen zu zentralen Stätten des Handwerks und Handels entwickelt und sich an diesen Orten wirtschaftlich dominierende Oberschichten gebildet hatten. Verschiedene Repräsentanten dieser Gruppen konnten aufgrund ihres ökonomischen Vorrangs und ihres hierdurch mitbedingten hohen sozialen Status mehr oder weniger dauerhaft Leitungsfunktionen ausüben und des Weiteren in diesem Rahmen offenbar durch Kumulierung größerer Ressourcen ihre Rivalen in der Konkurrenz um Einfluss und Macht überflügeln. Vermutlich sind Herrschaftsformen lokaler Eliten durch monarchische Machtstrukturen abgelöst worden, die eine wesentliche Voraussetzung für die Errichtung der sogenannten Älteren Paläste waren. Jedenfalls entstanden in dem insularen Kulturraum Kretas mehrere Zentren, zwischen denen mannigfache wirtschaftliche, gesellschaftliche und «politische» Wechselbeziehungen den Austausch von Gütern, Gedanken und Innovationen beschleunigten. Diese auf regionaler Ebene sich entwickelnden Wechselbeziehungen bewirkten mehr und mehr auch eine Intensivierung der Herrschaft über «Untertanen» mit neuen Möglichkeiten der Kontrolle und Verteilung handwerklicher und agrarischer Güter und Produkte, während auch die Entwicklung der Kunst in diesem Kontext mächtige Impulse erhielt und ein mehr oder weniger kontinuierlicher Informationsfluss aus den Monarchien des Vorderen Orients den Prozess noch verstärkte, indem die minoischen Palastzentren sich an orientalischen Beispielen orientierten.
Die skizzierte Entwicklung wurde durch seismisch bedingte Zerstörungen (Erdbeben und Vulkanausbrüche) im Bereich der Älteren Paläste um 1700 nicht dauerhaft unterbrochen. An den verwüsteten Plätzen wurden neue Residenzen errichtet, die wiederum nach erneuten tektonischen Katastrophen um 1600 noch prachtvoller gestaltet wurden. Die Ausstrahlungskraft der minoischen Palastkultur manifestiert sich im griechischen Mutterland nicht nur in den Funden wertvoller Produkte des minoischen Kunsthandwerks, sondern auch in der Entstehung festländischer Machtzentren. An erster Stelle ist hier der Herrensitz in Mykene zu nennen, nach dem seit der Aufdeckung der berühmten dortigen Schachtgräber konventionell die gesamte helladische Kultur der Späten Bronzezeit benannt wird. Der Aufstieg jener «Schachtgräberdynastie» zeichnete sich aufgrund der Grabfunde in dem sogenannten Gräberrund B außerhalb des Löwentores bereits im späten 17. Jahrhundert ab. Der stupende Reichtum in diesen Gräbern sowie vor allem in den Schachtgräbern des von Heinrich Schliemann aufgedeckten Steinkreises A deutet auf eine Einbindung des Herrschersitzes in das minoische Handelsnetz hin. Zudem lassen Kuppelgräber in Messenien aus der Zeit um und nach 1600 darauf schließen, dass sich dort Herrschaftsformen und Abhängigkeitsverhältnisse ähnlichen Typs wie in Mykene entwickelten, wenn auch die Macht jener messenischen Herren nicht mit dem Potential der mykenischen Schachtgräberdynastie konkurrieren konnte, die in der Folgezeit in der Argolis zur stärksten politischen Kraft wurde. Ob es dieser Dynastie gelang, von ihrer Burg aus die gesamte Argolis wirtschaftlich und politisch zu durchdringen, bleibt indes eine offene Frage. In der späten Bronzezeit entstanden nicht nur in Mykene, sondern auch in Tiryns und Midea (zwischen Mykene und Tiryns) gewaltige Befestigungen, die schwerlich lediglich Zweitresidenzen oder Stützpunkte der damaligen Herren von Mykene waren oder von Dynasten erbaut wurden, die sich in einem strikten Abhängigkeitsverhältnis von Mykene befanden. Tontäfelchen mit Linear-B-Texten und der Fund einer Tonplombe mit Linear-B-Zeichen lassen vermuten, dass «Herren» von Tiryns und Midea trotz ihrer Nähe zu Mykene ein eigenes Kontrollsystem für ihre Ressourcen zu organisieren vermochten. Ein «Großkönigtum» über ganz Griechenland haben die Herren von Mykene auch in der Zeit ihrer stärksten Machtdemonstration durch den Ausbau ihrer Palastburg im späten 13. Jahrhundert wohl nicht errichtet. Hierzu fehlten ihnen offenbar die logistischen Möglichkeiten zur Organisation großflächiger Herrschaft. Die Herrscher des Palastes von Pylos in der westlichen Peloponnes waren nach dem Befund der dortigen Linear-B-Tafeln den Dynasten von Mykene nicht in irgendeiner Form zu Leistungen verpflichtet. In der Blütezeit der mykenischen Palastherrschaften bestand in Griechenland offensichtlich eine Koexistenz einer Reihe von Dynastien, zwischen denen freilich ein labiles Gleichgewicht bestanden haben kann, während innerhalb der mykenischen Kernlandschaften in der Argolis sowie in Messenien, Attika und Boiotien allerdings ein Machtgefälle zwischen großen Residenzen und kleineren «Fürstensitzen» in ihrer näheren und weiteren Umgebung zu vermuten ist. Die Struktur des politischen Kraftfeldes der mykenischen Welt mit mehreren Machtzentren ist wohl primär mit den Entstehungsbedingungen jener Herrschaftssysteme zu erklären. Als etwa nach 1700 durch minoischen Einfluss die materielle Kultur in Griechenland ein höheres Niveau erreichte und Handel und Verkehr sich ausweiteten, boten sich für Personen von höherem gesellschaftlichen Rang in den noch kleinen Gemeinschaften in jenen Landschaftskammern, die zu Kerngebieten der mykenischen Welt werden sollten, neue Möglichkeiten zur Gewinnung von Ressourcen, mit denen sie Einfluss und Macht in ihrem jeweils lokalen Rahmen zu steigern und hierdurch ihre Gefolgschaften zu vermehren vermochten. Auf diese Weise bildeten sich neue Formen personengebundener Herrschaft heraus, aber es entstand auch ähnlich wie im minoischen Kreta ein zunehmender Konkurrenzdruck in der Rivalität mit anderen aufstrebenden Siedlungen und deren dominierenden Häusern. Infolgedessen wurden Prozesse der sozialen Differenzierung und Machtkonzentration zweifellos beschleunigt. Vorreiter dieser Entwicklung waren Gefolgsherren in Messenien und in der Argolis, und zwar vor allem die Repräsentanten der «Schachtgräberdynastie» in Mykene. Relativ rasch entstand aber auch in anderen Regionen eine neue soziale Hierarchie, wie etwa die Entdeckung einer protomykenischen Burg auf dem Kiapha Thiti im oberen Varital in Attika zeigt, die bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts durch einen Erdrutsch zerstört wurde.
Abb. 1: Mykene; Gräberrund (Steinkreis) A innerhalb der Befestigung
Insgesamt gesehen, ist die Entwicklung bis zum frühen 14. Jahrhundert durch die Herausbildung mehrerer Herrschaftszentren von unterschiedlicher Bedeutung gekennzeichnet. Die eigentliche «Palastzeit» beginnt freilich erst nach dem Niedergang der minoischen Systeme auf Kreta. Dort zeichnete sich nach erneuten Naturkatastrophen, die vermutlich ebenfalls durch Erdbeben bedingt waren, um 1450 eine Wende ab. Vielfach wurde als Ursache der Zerstörungen auch ein verheerender Vulkanausbruch auf der Insel Thera (Santorin) angenommen, dessen Datierung und Folgen aber in der neueren Forschung umstritten sind. Die geflutete Caldera des dortigen Vulkans entstand schon in vorminoischer Zeit, während die Fernwirkungen des Ausbruchs in einer frühen Phase der spätminoischen Zeit (um 1640 oder zwischen 1627 und 1600?) schwer zu beurteilen sind, wenn auch ein Siedlungsabbruch in Santorin nicht zu bestreiten ist. Jedenfalls wurden um 1450 auf Kreta mehrere bedeutende Paläste und Orte wie Mallia, Tylissos, Phaistos und Hagia Triada sowie Wohnviertel in Knossos zerstört. Der Palast von Knossos blieb aber offenbar weitgehend unversehrt. Die Folge war eine Hegemonie der dortigen Dynastie über weite Teile Kretas. Um 1375 ging aber die Herrschaft in Knossos allem Anschein nach auf neue Machthaber aus dem mykenischen Griechenland über. Sie führten das dort bestehende Wirtschafts- und Verwaltungssystem weiter, dessen Schrift nach dem Duktus ihrer Zeichen seit A. J. Evans, dem Ausgräber von Knossos, als Linear A bezeichnet wird und die für uns noch nicht verständliche Sprache der Minoer wiedergibt. Aus dieser Schrift, die in Kreta an über 25 Fundorten belegt ist, wurde nach dem Machtwechsel in Knossos für die Bedürfnisse der neuen Herrscher die Linear-B-Schrift entwickelt, die in der Folgezeit auch von Palastverwaltungen auf dem griechischen Festland übernommen wurde.
Zum Verständnis der Bedeutung der mykenischen Zeit als wichtige Vorstufe der Formierung des historischen Griechentums ist es freilich erforderlich, den Blick auszuweiten auf ein mögliches Gesamtbild des Späthelladikums, das keineswegs nur durch Paläste und Palastherrschaften geprägt worden ist. Die charakteristische Lebenswelt der historischen Hellenen war zweifellos die Polis. Dieser Begriff kann jeweils nach seinem Kontext topographische, personale oder politisch-rechtliche Bedeutungsanteile haben und dementsprechend eine befestigte Höhensiedlung (Akropolis), eine groß- oder kleinräumige urbane Siedlung, einen Siedlungskern oder ein Gemeinwesen eines Bürgerverbandes bezeichnen. In den mykenischen Texten ist dieses Wort zwar nicht belegt, doch war es vielleicht in einer Vorform der älteren Bezeichnung ptolis bekannt, die in Texten aus Knossos als Bestandteil eines Personennamens erscheint. Vermutlich bezeichnete das in Linear B nicht mehr erhaltene Wort damals eine Siedlungs- oder Organisationsform, die sich von den Palästen, ihrer architektonischen Monumentalität und den dort praktizierten Herrschaftssystemen klar unterschied und als Siedlungstyp in altmediterraner Tradition stand. Eine bereits erstaunlich große frühhelladische Siedlung in Manika bei Chalkis auf Euboia lässt darauf schließen, dass die Bewohner schon ein Zusammenleben in einer größeren Gemeinschaft zu organisieren vermochten. Dies erlaubt natürlich nicht, hierin bereits eine Urform der Teilnahme freier Bürger am öffentlichen Leben in einer klassischen Polis zu sehen. Dass auch kleinräumig siedelnde Gemeinschaften der frühmykenischen Zeit herrschaftlich organisiert sein konnten, zeigen vor allem aufwendig errichtete und relativ frühe Kuppelgräber in Messenien, deren Bau einen beachtlichen Arbeitseinsatz erforderte. Die an diesen Plätzen dominierenden Eliten verfügten jeweils über eine entsprechende Zahl von Arbeitskräften. In den betreffenden Siedlungen hatte sich eine soziale Hierarchie herausgebildet, die aber vielleicht nicht in jedem Fall gleichsam in einer monarchischen Spitze auslief. Denkbar wären auch oligarchische Eliten, in deren Kreisen eine Art Leistungskonkurrenz herrschte und ähnlich wie bei den späteren «homerischen» Kriegern herausragende Taten die Legitimation für Führungsaufgaben waren. Jedenfalls waren die typischen Palastorganisationen im kontinentalen Griechenland erst Entwicklungsstufen des 14. und 13. Jahrhunderts und auch in dieser Zeit keineswegs eine flächendeckende Erscheinung. Zudem waren auch die Palastsysteme im Grunde noch durchweg begrenzte Herrschaftssysteme, die schwerlich ihren gesamten Einflussbereich mit einem dichten Netz organisierter Verwaltung zu überdecken vermochten. In den Randgebieten jener Palastherrschaften bestanden möglicherweise keine völlig anderen Verhältnisse als in der vorausgehenden frühmykenischen Zeit.
Die Linear-B-Texte vermitteln uns einen gewissen Einblick in die Verwaltungspraxis der letzten Wochen und Tage vor den Katastrophen an ihren Fundorten. Es handelte sich um Notizen und Aufzeichnungen auf kleinen schmalen Tonstreifen, die im Brand der Paläste gehärtet wurden und unter dem Ruinenschutt die Jahrtausende überdauerten. Die weitaus meisten Funde stammen aus Knossos, zahlreiche weitere aus Pylos in Messenien. Andere Fundorte wie Theben, Mykene und Tiryns lieferten nur geringe Mengen bzw. Fragmente, doch besteht kein Zweifel, dass an den Herrschaftszentren ein relativ einheitliches Kontrollsystem vor allem zur Regelung und Überwachung der Palastwirtschaft, der Abgaben und der Landverteilung im Umkreis der Herrschaftssitze organisiert worden war. Die Verbreitung von Linear B bezeugen auch beschriftete Gefäße, z.B. aus Eleusis (Attika) und Orchomenos (Boiotien). Andererseits darf nicht übersehen werden, dass nicht in allen Regionen des griechischen Mutterlandes in mykenischer Zeit Paläste errichtet und entsprechende palatiale Organisationsformen eingeführt wurden. Aber auch im unmittelbaren Umfeld einer Palastwirtschaft waren einer Herrschaftsintensivierung gewisse Grenzen gesetzt. Das Palastsystem als solches erforderte einen Verwaltungs- und Erzwingungsstab, dessen Unterhaltung einen beträchtlichen Aufwand bedingte, so dass die Erweiterung des Personalbestandes sich selbstverständlich an den Ressourcen des jeweiligen Herrschers orientieren musste. Hinzu kam, dass Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten beschränkt waren, wenn auch z.B. in der Argolis das Wegenetz durchaus leistungsfähig gewesen sein mag. In dem relativ großen messenischen Machtbereich des Herrschers von Pylos werden weit über 50.000 Menschen gelebt haben, die damals nicht einer lückenlosen Kontrolle unterworfen werden konnten. Das Privatland war offensichtlich nicht in den Registraturen verzeichnet, und in den Siedlungen «auf dem Lande» bestanden zweifellos interne lokale Organisationsformen weiter, so dass uns die Texte im Grunde nur einige Auskünfte über die unmittelbar in die Palastwirtschaft einbezogenen Bereiche von Handel, Landwirtschaft und Gewerbe sowie über die Sozialstruktur der dem Palast dienenden Arbeitskräfte und über die Gefolgsleute bzw. Anhängerschaften des Palastherrn geben, der als wa-na-ka («Wanax», «Herrscher») bezeichnet wurde und wohl auch priesterliche Funktionen ausübte, aber sicherlich keine göttlichen Ehren erhielt. Ein bedeutender Funktionsträger in seinem Dienst war der ra-wa-ke-ta, dessen Rang wohl mit lawagetas zu transkribieren ist und «Führer des lawos» (des «Kriegsvolkes») bedeuten könnte. Weitere Stützen des Dynasten waren offenbar Gefolgsleute, deren Bezeichnung e-qe-ta (hepetas) lautete, sowie hochrangige Funktionäre mit dem Titel mo-ro-qa, dessen Bedeutung allerdings unklar ist. Ein mo-ro-qa konnte auch als «Distriktverwalter» (ko-re-te) außerhalb des Palastes fungieren. Im Herrschaftsbereich von Pylos bestanden 16 Distrikte, die wiederum zu zwei «Provinzen» zusammengefasst waren, in denen jeweils ein du-ma besondere Aufgaben wahrnahm. Als Vertrauter des wa-na-ka in lokalen Bereichen diente u.a. der qa-si-re-u, der z.B. für die Bronzezuteilung an bestimmte Schmiede zuständig war. Sein Titel gilt als Vorstufe der späteren Bezeichnung Basileus («hoher Herr», auch «Herrscher», «König»). Des Weiteren sind Landbesitzer mit unterschiedlichen Rechten und Grundstücken sowie Priesterinnen und Priester belegt sowie soziale Unterschichten erkennbar, zu denen do-e-ra und do-e-ro zählten. Diese Begriffe sind Vorformen von doule («Sklavin») und doulos («Sklave»), doch waren die mykenischen do-e-ra und do-e-ro offenbar Abhängige in unterschiedlicher Stellung, die freilich auch Unfreiheit bedeuten konnte. Der als Kollektivbezeichnung belegte Begriff da-mo bezieht sich offenbar auf eine Gruppe von Grundbesitzern, die eine Art Landgemeinde bildeten. Dies ist beachtenswert, weil da-mo eine frühe Lautform von damos bzw. demos («Volk») darstellt. Der da-mo der Linear-B-Texte war möglicherweise zum Teil in die Palastverwaltung einbezogen, indem Angehörige jener Dorfgemeinschaften bestimmte Grundstücke an Arbeitskräfte und Funktionäre abtreten mussten, ohne die Eigentumsrechte zu verlieren. Ferner ist den Zeugnissen die Existenz lokaler Oberschichten zu entnehmen, deren Stellung aber nicht auf lehensrechtlichen Bindungen an den Palastherrn basierte. Feudale Strukturen lassen sich in den mykenischen Systemen nicht nachweisen.
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