Viele kleine und mittlere Unternehmen können es sich nicht leisten, nur Expertinnen und Experten schreiben zu lassen. Was früher an Kunden ging, wurde häufig diktiert und anschließend von der Sekretärin geglättet. Heute schreiben oft auch Betriebsangehörige, die dafür nicht ausgebildet sind. Sie verfassen Briefe, Telefaxe, E-Mails, Internettexte, manchmal auch werbliches Material und viele andere Schriftstücke, die ein Unternehmen nach außen vertreten. Wer in seinem eigentlichen Arbeitsgebiet kompetent und qualifiziert ist, muss sich beim Schreiben mit Schulwissen begnügen, das professionellen Anforderungen nicht gerecht wird.
Solchen Lesern soll dieses Buch helfen. Es wendet sich nicht in erster Linie an Profis, wie Sekretärinnen, Marketing- und Werbetexter. Eigene Ausbildungswege und das reiche Angebot an berufsqualifizierender Literatur kann und soll dieser Ratgeber nicht ersetzen. Er beschäftigt sich auch nicht mit den Normen, die im Sekretariat angewandt werden können, und ist vor allem keine Sammlung an Mustertexten, von denen der Buchmarkt genügend Titel anbietet.
Wer heute im Wirtschaftsleben schreibt, hat meist konkrete Fragen: Wie muss ich für das Internet texten? Kann man Texte aus der Papierwelt einfach ins Netz stellen, hat das Konsequenzen? Was können wir unternehmen, um unsere Corporate Identity auch im Geschriebenen auszudrücken? Woran muss ich denken, wenn ein Text für internationale Märkte aufbereitet werden muss? Was bedeutet XML für mich?
Solche Fragen soll dieser Band beantworten. Er führt in sechs Kapiteln in das professionelle Texten ein, zeigt Hintergründe und Zusammenhänge. Den Abschluss jedes Kapitels bildet ein Praxisteil, der ergänzende Hilfen anbietet. Der eilige Leser schaut ihn vielleicht zuerst an.
VIKapitel 1: Professionelles Schreiben heißt in erster Linie leserorientiertes Schreiben. Wie in einer gelungenen Werbekampagne sind diejenigen besonders erfolgreich, die sich am Kunden – dem Leser – orientieren. Dem, der weiß, wie Menschen lesen und verstehen, ergeben sich viele Regeln für verständliches Texten fast von selbst. Scheußlich konstruierte Sätze sind vielleicht hässlich, weil sie gegen den guten Stil verstoßen. Den Profi interessiert aber in erster Linie, dass sie unbrauchbar sind, weil man sie nicht oder nur schwer versteht. Das ist im Berufsleben das entscheidende Kriterium. Nicht anders als im Industriedesign: Designer nutzen Kenntnisse der Ergonomie und des menschlichen Körperbaus, um brauchbare Maschinen, Werkzeuge, Möbel und Werkhallen zu konstruieren.
Kapitel 2: Welche Texte sind verständlich? Einen Königsweg sucht man vergebens. Hilfreich sind aber einige Methoden, besonders das Hamburger Verständlichkeitsmodell. Wer sie kennt und einsetzen kann, ist dem Ziel schon ein bisschen näher.
Kapitel 3: Wie entstehen brauchbare Sätze, welche Wörter sind nur mit Vorsicht zu genießen? Eine kleine Sammlung an Empfehlungen hilft in der Ausbildung. Wer sie benutzt, schreibt besser. Werbetexter zeigen, dass man auch kunstvoll gegen Vorschriften verstoßen kann. Ihre geplanten Regelverstöße sind wohl überlegt. Wer sich aber nicht an Regeln hält, weil er sie nicht kennt, liefert selten eine gute Arbeit ab.
Kapitel 4: Die Innenansicht der Textproduktion: Recherchieren, ordnen, formulieren, die Qualität kontrollieren. Da hilft kein Bluff, der vortäuscht, dass alles ganz einfach wäre, wenn man nur einem klaren Ablaufplan folgte. Nein, mancher muss oft für neue Projekte unbekannte Wege finden. Nichts sieht immer gleich aus, doch einige Meilensteine sind zu erkennen. Man kann sich an ihnen orientieren und einen Text schaffen. Sogar für einen der schlimmsten denkbaren Unfälle beim Schreiben gibt es Hilfen: die Blockade, wenn nichts einfällt, wenn gar nichts geht.
Kapitel 5: Vom Schreiben für das Internet über die Präsentation bis zur Gestaltung umfangreicher Texte hilft eine Zusammenfassung bewährter Konzepte, von denen man gehört haben sollte. Kann man aus einer Quelle Dokumente für verschiedene Medien erzeugen, VIIfunktioniert das Single Source Publishing? Selbst Bewährtes kann verbessert werden, Briefe müssen nicht immer normgerecht sein, dafür sollten ihre Nachfolger oder Begleiter, die E-Mails, nicht gegen jedes bewährte Prinzip verstoßen. Ein besonderer Fall sind Broschüren und Hefte, die für internationale Märkte übersetzt, kulturell und juristisch angepasst werden müssen. Zu guter Letzt das Trommeln mit dem Text, in der Werbung und für eigene Zwecke: Profitexter müssen ihre Arbeit auf dem Markt anbieten.
Kapitel 6: Mit dem Schreiben Geld verdienen, Texte wie ein normales Projekt in der Industrie behandeln, das unterscheidet den Profi vom Amateur, der das Rad ständig neu erfindet und nicht weiß, was seine Arbeit kostet. Vom Schreiben eines Angebots über die Arbeit in Teams oder Redaktionen bis zur Gestaltungsrichtlinie gibt dieses Kapitel Hilfen für den Alltag.
Darauf folgt ein ausführliches Glossar. Es enthält vor allem Begriffe der Grammatik, ohne die es nicht geht.
Das Literaturverzeichnis ist weder wissenschaftlich noch vollständig, dafür nützlich.
Markierungen und Fußnoten
»Längere Beispieltexte sind an diesen Symbolen zu erkennen. Sonst sind Beispiele kursiv markiert.«
Fußnoten sind für das Verstehen nicht wichtig. Sie enthalten nur zusätzliche Informationen oder Quellenangaben für Leser, die an weiteren Informationen interessiert sind.
Verständnis
Dieses Buch verwendet die nach der Grammatik männliche Form in einem neutralen Sinne. Es spricht immer Frauen und Männer an, auch wenn die Eigenheiten unserer Sprache dazu wenig Möglichkeiten bieten. Auf »-Innen« oder »/-innen« verzichte ich, um den Text leichter lesbar zu halten. Die Leserinnen bitte ich um Verständnis für diese Vereinfachung im Text.
Dank
Dieses Buch erscheint in der vierten Auflage. Seit 2003 war es Gegenstand vieler Gespräche, in denen mich Freunde und Seminarteilnehmer von nötigen Korrekturen und Ergänzungen überzeugten. VIIIFür ihr Engagement danke ich ihnen; ich kann nicht mehr tun als weiterzugeben, was ich von anderen lernen durfte.
Hannover, im Februar 2017 |
Andreas Baumert |
Kundenorientierung prägt Unternehmensstrategien, von der Produktqualität über das Marketing bis zur betrieblichen Vorgangsbearbeitung. Zumindest die Theorie behandelt als Qualität, was der Kunde darunter versteht. Sie sieht ihn als Orientierung für Marketingkonzepte und verlangt, dass alle Prozesse in der Firma sich an einem vorrangigen Ziel orientieren: dem zufriedenen Kunden. Weil es in den meisten Branchen teurer ist Neukunden zu werben als Stammkunden zu halten, investiert man einiges, um dieses Ziel zu erreichen.
Profis, die das Schreiben gelernt haben, richten sich danach. Sogar Tageszeitungen, die traditionsbewusst und wenig beweglich schienen, haben die Lesermeinung entdeckt, befragen ihre Abonnenten, verändern das Lay-out und gehen auch redaktionell auf Leserwünsche ein. Wettbewerb und die durch Internet und Nachrichtensender veränderte Öffentlichkeit zwingen sie dazu. Die Botschaft ist leicht zu verstehen: Wer bei seinen Kunden nicht ankommt und Leser verliert, verzeichnet Einbußen im Anzeigengeschäft. Für Boulevardblätter war diese Ausrichtung am Kunden nie ein Problem.
Auch in der Werbung, in Marketing und Public Relations arbeiten mittlerweile genügend gut ausgebildete Autoren. Ihre Produkte heben sich wohltuend von dem Sprachunfug ab, der den schlechten Ruf solcher Texte begründet. Profis wissen: Wer am Leser vorbeischreibt, 2hat langfristig verloren. Dass ihre Texte nicht jedem Deutschlehrer am Gymnasium gefallen, nehmen sie in Kauf.
Professionell schreiben bedeutet: leserorientiert schreiben.
Diese Haltung ist nicht nur eine Frage des Berufsethos. Wer dagegen verstößt, riskiert unter Umständen rechtliche Konsequenzen und wirtschaftliche Nachteile für seinen Auftraggeber. Längst sind Verbraucher und Anwender durch ein Netz von Gesetzen, Richtlinien und Normen geschützt.
Gesetze dieser Art sind unter anderen das Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) und das Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG). Wer die Verantwortung für ein Produkt trägt, dessen Anleitungen (Installationsanleitungen, Gebrauchsanleitungen, Aufschriften) vom legitimen Anwender nicht zu verstehen sind, haftet für Schäden.
Produktbegleitende Informationen, die für den Anwender nicht verständlich sind, können für Hersteller, Importeure oder Händler unübersehbare wirtschaftliche Schäden hervorrufen.
Innerhalb der Europäischen Union wirkt sich besonders die Maschinenrichtlinie auf die Gestaltung solcher Dokumente aus. Sie verlangt, dass diese Unterlagen in den Sprachen des Landes vorliegen müssen, in dem ein Produkt genutzt wird. Das verursacht zum Teil erhebliche Ausgaben für Klein- und Mittelbetriebe, die in die Union exportieren. Diese und andere Richtlinien belegen, dass man nicht länger bereit ist, Alibitexte zu akzeptieren. Heute ist Standard, dass der Text für den Leser verständlich sein muss.
Normen haben selbst keine Gesetzeskraft, sie können aber juristisch von Bedeutung sein, wenn ein Urteil darüber zu fällen ist, ob allgemein anerkannte Regeln eingehalten wurden oder nicht. Folglich kann man – vereinfacht ausgedrückt – Herstellern nur empfehlen, die Mindestanforderungen der Normen zu erfüllen. In Sicherheitsfragen 3macht sich unter Umständen sogar strafbar, wer dagegen verstößt. Verständlichkeit der Produktinformationen fordert zum Beispiel ausdrücklich DIN EN 82079, „Erstellen von Anleitungen – Gliederung, Inhalt und Darstellung“. Wer schriftlich einem Kunden den Gebrauch eines Produktes erklärt, ist gut beraten einen Blick in diese Norm zu werfen.
Viele gute Gründe unterstützen jeden, der seine Texte am Kunden orientieren will. Nichts spricht dafür, Leser mit wenig bekannten Wörtern und komplizierten Satzstrukturen zu quälen. Warum gibt es dennoch so viele grässliche Texte?
Leicht verständliche Sprache betrachtet mancher als ein Zeichen mangelnder Bildung. Um sich nicht selber diesem Vorwurf auszusetzen, ruinieren viele schon in der Oberstufe unserer Gymnasien ihren Sprachstil: Verwirrende Satzkonstruktionen, unübliche oder schwer verständliche Wörter belegen die vermeintliche Kompetenz.
Das wird im Studium nicht besser. An Hochschulen fehlen Programme, die Studenten darin unterrichten, ihr Geschriebenes am Leser – dem Kunden – zu orientieren. Der Nachwuchs schlägt sich eher mit unverständlichen Texten herum, aus denen man in Abschlussarbeiten bereitwillig zitiert. So demonstrieren akademische Berufsanfänger, dass sie der Wissenselite angehören. Weil auch andere Bildungsträger vieles aus der Welt der Universität als richtungsweisend empfinden, wird das vornehme Kauderwelsch zu einem heimlichen Standard in der Ausbildung.
Doch auch unter Wissenschaftlern gibt es genügend Alternativen. Sogar in der reinen Wissenschaftstheorie fordern einige das verständliche Deutsch anstelle des schwadronierenden Imponiergehabes. Ein Klassiker ist der Satz Otto Neuraths: „Jede streng wissenschaftliche Lehre muss man in ihren Grundzügen einem Droschkenkutscher in seiner Sprache verständlich machen können.“1 Neurath war Mitglied des Wiener Kreises, einer Gruppe aus Philosophen, Mathematikern, Physikern, Logikern und Sozialwissenschaftlern. Bei 4allen Streitfragen, die zwischen diesen Forschern zwangsweise ungeklärt bleiben mussten, war die Klarheit und Deutlichkeit der Sprache für alle eine zentrale Forderung.
Legendär ist auch der Streit zwischen dem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper und Jürgen Habermas, einem deutschen Soziologen. Poppers Kritik: „Das grausame Spiel, Einfaches kompliziert und Triviales schwierig auszudrücken, wird leider traditionell von vielen Soziologen, Philosophen und so weiter als ihre legitime Aufgabe angesehen. So haben sie es gelernt, und so lehren sie es.“ Poppers Fazit: Verständliches Deutsch lässt nicht auf mangelnde Arbeit am sprachlichen Ausdruck schließen, im Gegenteil. „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann.“2
Die Zerealien im Müsliriegel, so Werbung und Produktaufschrift, sind nicht weniger peinlich als die Spoken word performance.3 Einige dieser Entgleisungen wirken wie der hilflose Versuch, sich unter dem allgemeinen Wortgetrommel mit eigenem Getöse bemerkbar zu machen. Doch die Gefahr ist groß, dass Leser, Kunden und Geschäftspartner sich davon nicht angesprochen fühlen.
Unprofessionelles Geschreibsel hat Konsequenzen:
Profitexte zeigen hingegen, dass der Autor an seine Leser gedacht hat. Vom Werbeslogan bis zum Fachbuch: Der Text kommt an, wenn man beim Schreiben berücksichtigt, wie Menschen lesen und verstehen.
Wie versteht man einen geschriebenen Text? Welche Wege gehen die Buchstaben und Wörter vom Papier oder Bildschirm in das Gehirn? Warum ist manches sofort eindeutig und auch nach Jahren noch im Gedächtnis, warum muss man anderes dreimal lesen und hat es doch nicht begriffen?
Indianische Märchen haben etwas Licht ins Dunkel gebracht. 1932 veröffentlichte der Psychologe Frederic Bartlett Testergebnisse, die viele bis dahin gültige Theorien über den Haufen warfen.4 Weiße Versuchspersonen hatten die mythische Geschichte eines Indianerstammes, den Krieg der Geister, schlecht verstanden. Als man sie bat, das Märchen nachzuerzählen, konnten sie es nicht richtig wiedergeben. Einiges ersetzten sie durch Begriffe aus ihrer Erfahrungswelt, anderes ließen sie weg. Kurz: Sie brachten vieles gründlich durcheinander.
Diese Menschen kannten sich in der Kultur der Indianer nicht aus, deswegen konnten sie mit dem Text nichts anfangen. Bartlett schloss daraus, dass wir schon etwas wissen müssen, um Neues zu erlernen. Das ist für uns heute selbstverständlich, damals war es eine neue Erkenntnis. Wenn wir Unbekanntes lesen oder hören, versuchen wir es mit dem Wissen zu begreifen, das in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert ist. Das kann schnell misslingen, wie die Versuche ergaben. Roger Schank, ein Kognitionswissenschaftler, drückt es in einem Satz aus5:
Wir nutzen, was wir wissen, um zu verarbeiten, was wir aufnehmen.
6Wie wir dieses Wissen speichern, ist noch umstritten. Unterschiedliche Modelle und Theorien kommen der Wirklichkeit mehr oder weniger nahe.6 Sicher ist, dass alles Lernen und Verstehen eine Eigenleistung ist. Sie baut auf dem, das ein Leser oder Zuhörer zuvor lernen konnte. Je besser sich ein Autor daran orientiert, desto verständlicher sind seine Texte.
Gehirne arbeiten möglichst ökonomisch. Dabei hilft die Fähigkeit, für Begriffe, Gegenstände und Situationen so genannte Prototypen zu finden. Ein Beispiel: Experimente ergeben, dass für durchschnittliche Bewohner unserer Breitengerade der typische Vogel nicht viel größer als ein Sperling ist. Wenn man sie bittet, einen Satz zu bilden, in dem das Wort Vogel enthalten ist, entstehen Beispiele wie: So um die zwanzig Vögel sitzen morgens oft vor meinem Fenster auf der Oberleitung und zwitschern.7 Das sind weder Pinguine noch Geier. Obgleich die Versuchsteilnehmer wissen, dass auch der Pinguin ein Vogel ist, wird kaum jemand einen Satz aufschreiben, in dem dieses Tier eine Rolle spielt. Für uns ist der Spatz eben typischer als sein antarktischer Verwandter.
Diese Ökonomie des Denkens gilt auch für andere Bereiche, die Wahrnehmung von Räumen, für Erwartungen und Wünsche. Wer in einer unbekannten Wohnung eine Zimmertür öffnet, hat Vorstellungen über den Raum dahinter. Er wäre schockiert, fände er den Nordseestrand. Mit dem Bruch dieser Erwartungen arbeiten einige Autoren ganz bewusst, etwa in Kriminalromanen oder in Werbespots: Die Fahrstuhltür im Kaufhaus öffnet sich, und ein ICE rauscht heran. Die Überraschung in Film und Literatur lässt sich auch auf jede Art Text übertragen. Beim Schreiben muss man es sich aber gründlich überlegen, ob dieser Effekt erwünscht ist, die Regel ist es nicht.
Je mehr ein Text auf typische Verwendung von Begriffen eingeht, desto besser versteht man ihn.
7Professionelle Autoren berücksichtigen die Erwartungen der Leser, knüpfen an sie an. Auch Texte, die dem Leser Neues mitteilen, müssen ihn in seiner vertrauten Welt abholen.
Ob es ein eigenes Kurzzeitgedächtnis gibt, ist umstritten. Einiges spricht dafür, dass unser Langzeitspeicher stattdessen einen oder mehrere Arbeitsplätze einrichtet. Sie dienen neuen Informationen zum zeitlich begrenzten Aufenthalt. Dieses Arbeitsgedächtnis ist ein kleiner Zwischenspeicher, es wirkt wie ein Flaschenhals, durch den jede Information hindurch muss.
Versuchsergebnisse lassen vermuten, dass nur wenige Informationen in diesen Speicher gelangen und darauf warten, dass sie das Langzeitgedächtnis herausliest, um sie weiterzuverarbeiten. Ist das nicht möglich, kommt der Prozess ins Stocken, es geht nicht weiter. Der Mensch erinnert nicht richtig, was er gerade liest oder hört. Ein gutes Beispiel liefern Tests mit Schachspielern:
Abb. 1: Schachexperiment
Die Spieler werden in einen Raum gebeten und sehen kurze Zeit eine Stellung der Figuren an, die in einer Partie tatsächlich vorkommen kann. Anschließend müssen sie die Anordnung der Figuren wieder aufbauen. Gute Spieler erreichen dabei auch gute Ergebnisse, schlechte entsprechend dürftigere. Das klappt aber nur, wenn die 8Schachfiguren so auf dem Brett verteilt sind, wie es sich während eines Spiels ergeben könnte. Stehen sie eher zufällig oder regelwidrig, ist das Resultat von der Spielstärke der Testpersonen unabhängig.
Daraus kann man folgern: Der gute Spieler verfügt über eine reiche Bibliothek an Schachstellungen in seinem Langzeitgedächtnis. Sie hilft ihm dabei, die Verteilung der Figuren aus dem Arbeitsgedächtnis herauszulesen. Schlechten Spielern fehlt diese Unterstützung. Sind die Spielsteine hingegen sinnlos verteilt, herrscht wieder Chancengleichheit. Die Bibliothek ist nutzlos, gute wie schlechte Spieler kommen zum gleichen Resultat.
Ganz ähnlich den Spielstellungen hält das Gedächtnis auch die Wörter und Regeln für ihre Verwendung vor. Bekannte Wörter kann der Leser mühelos aus dem Kurzzeit- oder Arbeitsspeicher entnehmen.
Unbekannte Wörter verstopfen das Arbeitsgedächtnis.
Der Prozess geht nicht weiter, der Flaschenhals ist dicht. Viele Informationen passen ohnehin nicht hinein. Bei etwa sieben bis neun Informationsbündeln – der Fachausdruck ist Cluster – ist dieser Teil des Gedächtnisses an seine Grenzen gelangt.
Was bei einem Stau geschieht, sieht man deutlich bei langen komplizierten Sätzen, in denen unbekannte Ausdrücke vorkommen. Ist man am Ende des Satzes angelangt, sind die ersten Wörter schon wieder gelöscht. Das Gehirn brauchte zu lange, um sie erfolgreich herauszulesen, man versteht nicht. Also noch einmal von vorne beginnen. Den ganzen Satz wiederholt lesen, zweimal, dreimal. Irgendwann hat der Leser verstanden oder er gibt frustriert auf. In manchen Situationen, zum Beispiel bei Vorträgen, ist wiederholtes Lesen unmöglich. Da hilft dann nur eine Standardfrage, die selten ein Kompliment an den Referenten ist: „Können wir eine Kopie der Folien erhalten?“
9Textverstehen liegt an dem, der schreibt. Hat er das Wissen seines Lesers richtig eingeschätzt, geht es schnell und reibungslos.
Abb. 2: Cluster
Der Umfang der Cluster ist von vielen Faktoren abhängig. Es können ein oder mehrere Wörter sein, eine Zahlengruppe, etwa Teil einer Telefonnummer, oder eben auch die Verteidigungsstellung einer Bauernkette im Schach. Geübte Leser sind trainiert, Wortfolgen und Sinneinheiten zusammenzufassen. Gedächtniskünstler übersetzen riesige Zahlenkolonnen in Landschaften, Wanderungen oder Geschichten. Nur in dieser Verpackung können die Ziffern das Arbeitsgedächtnis passieren und anschließend auch wieder zurückgeholt werden.
Bildung, Erfahrung und Übung bestimmen das Speichervermögen.
Ein falsches Wort, ein alberner Witz und schon ist es passiert: Man kann sich nicht mehr auf das Gelesene konzentrieren. Fast automatisch hat sich ein anderer Betriebszustand eingestellt, Ärger verdrängt Neugier und Aufmerksamkeit.
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Abb. 3: Längsschnitt durch das Gehirn. Grau: Das limbische System
Dafür ist keine bewusste Entscheidung verantwortlich. Über die Grundeinstellung des Denkapparates entscheidet ein – entwicklungsgeschichtlich – uralter Bereich des Gehirns, er befindet sich im limbischen System.8
Zu seinen Aufgaben gehört bei allen Wirbeltieren die Steuerung der lebens- und arterhaltenden Verhaltensformen: Neugier, Aggression, Sexualität, Ernährung und Angst. Auch beim Menschen bestimmt er, welche Haltung die anderen Komponenten des zentralen Nervensystems zur gegenwärtigen Situation einnehmen. Dabei entzieht das System sich selbst der intellektuellen Überwachung: Man kann nicht bewusst entscheiden, ob man neugierig sein will, wütend, verliebt oder hungrig.
Wer etwas lesen will – nicht muss –, hat zunächst eine positive Grundhaltung gegenüber dem Text. Das limbische System übergibt die Kontrolle an andere Einheiten, um seine Wissbegier zu befriedigen. Dann kann es passieren:
Das Lesen bereitet unnötig Mühe, der Text ist schwer verständlich. Oder sexuelle Anspielungen, abfällige Bemerkungen über Religion oder politische Kommentare ruinieren die Stimmung. Vielleicht erwähnt 11ein Beispiel ständig den Politiker, Sportler oder Musiker, den man überhaupt nicht ausstehen kann.
Das lässt die uralte Steuerung reagieren. Interesse und Wissensdrang weichen der Ablehnung und vielleicht sogar dem Zorn. Selbst wenn das letzte Kapitel genial sein sollte, werden wir es nicht mehr wahrnehmen.
Humor und Witz sind besonders geeignet andere Wirkungen zu erzielen, als die Verfasser beabsichtigen. Selbst wenn nur wenige nicht lachen, wäre es ein Ärgernis, sollten ausgerechnet diese Leser die Kunden sein.
Professionelles Schreiben verlangt, dass der Autor auf alles verzichtet, das den Leser, den er erreichen will, kränken könnte.
Hallo, guten Tag oder die sehr geehrten Damen und Herren? Edle, feinst gewirkte Stoffe oder robustes Garn? Darf ein Satz fünfzehn Wörter enthalten, oder sollen es nie mehr als zehn sein? Sind Nebensätze erwünscht, weil sie Abhängigkeiten und Zusammenhänge illustrieren, oder verwendet man sie nur ausnahmsweise? Muss man ein Fremdwort nutzen, weil der Kunde sonst am Sachverstand des Schreibenden zweifelt, oder ist dieser Ausdruck tabu, weil ihn der Leser sicher nicht richtig verstehen wird?
Ob ein Text gut ist oder nicht, entscheidet in erster Linie der, für den er geschrieben ist. Er wird nur dann zufrieden sein, wenn das Geschriebene den Voraussetzungen entspricht, die er als Leser mitbringt. Ob die Formulierungen dem Autor, dessen Vorgesetzten oder einem Kulturredakteur besser gefallen könnten, ist unwichtig.
Was weiß man über den Leser? Der sicherste Weg ist eine Leseranalyse. Zeitungen und Zeitschriften geben zum Teil sehr aufwendige Analysen in Auftrag, deren Ergebnisse für Werbekunden als Mediadaten bereit stehen. Werber wollen wissen, ob sie ihre Zielgruppe 12mit diesem Blatt erreichen, wie das Verhältnis zwischen dem Preis für das Schalten einer Anzeige und den Erfolgsaussichten ist.
Mit der typischen Leseranalyse beauftragen Verlage ein Marktforschungsinstitut. Dort entwickeln Experten einen Fragenkatalog, der zu möglichst aussagekräftigen Ergebnissen führt, zum Beispiel über Lese- und Konsumverhalten, soziale oder psychologische Faktoren. Die Experten bestimmen, wie viele Personen mit welchen Eigenschaften aus welchen Orten zu interviewen sind. Die empirische Sozialforschung und die Werbewirkungsforschung halten für jeden Interessenten ein reiches Inventar an Methoden bereit.
Viele Profis – wahrscheinlich die Mehrheit – müssen auf einer weniger soliden Grundlage aufbauen. Sie schreiben nur einem Leser oder einer kleinen Gruppe, die manchmal auch noch uneinheitlich zusammengesetzt ist. Zeit und Geld für eine mit wissenschaftlichen Methoden erstellte Leseranalyse fehlen. Da bleibt nur, in Selbsthilfe die verfügbaren betrieblichen Informationen zu nutzen und durch eigene Recherchen zu ergänzen.
Wer in einem Unternehmen an Kunden und Geschäftspartner schreibt, sollte genug über den Leser erfahren können. Die Informationen liegen nur nicht offen herum, stehen nicht bereit. Durch Gespräche mit Kollegen und etwas Recherche in Dateien, Ordnern und im Internet ist meist schnell das nötige Wissen parat.
Schwieriger wird es für externe Texter. Sie haben selten Zugang zu den Festplatten oder Archiven und wissen auch nicht, wen sie befragen müssen. Sie sollten sprachliche Details, die der Auftraggeber geregelt wissen will, während der Auftragsvergabe klären. Im günstigsten Fall existieren Richtlinien für die sprachliche Gestaltung, ein Style Guide oder ähnliche Anweisungen. Im Vertrag sollte auf jeden Fall geregelt sein, welche Informationen der Auftraggeber zur Verfügung stellen muss, damit der externe Dienstleister ein Projekt erfolgreich zu Ende bringen kann – Briefe, Dokumentationen, werbliches Material, schriftliche Beispiele für die Kundenkommunikation. 13Gegebenenfalls sind ein oder zwei Interviews mit kompetenten Gesprächspartnern einzuplanen.
Für interne Texter bieten sich genug Quellen, aus denen sie über angemessenen Sprachgebrauch lernen können. Wenn die Marketingabteilung sogar eine Zielgruppenanalyse in Auftrag gegeben hat, sind schon viele Fragen beantwortet. Darüber hinaus hilft eine Recherche.
Kundendatenbanken verschaffen Auskunft über die Position von Ansprechpartnern: Führungskraft, für Technik zuständig, Vertrieb, Marketing, Buchhaltung. Eine ideale Ergänzung ist die Datenbank von Anwendungsberatung, Hotline oder Support. Die Mitarbeiter dieser Abteilungen tragen Schwierigkeiten ein, die Kunden mit Produkten reklamieren. Gelegentlich finden sich unter den Daten Hinweise auf unverständliche Texte in Handbüchern, Produktaufschriften, Begleitschreiben oder auch Marketingmaterial.
Positive Belege sind eigene Bedienungsanleitungen und Schulungsunterlagen. Wenn sie von Profis gestaltet sind, sagen sie viel über den Sprachgebrauch der Produktanwender aus.
Vieles liegt auch von Kundenseite in schriftlicher Form vor. Die Kundenakte enthält Briefe, Anfragen und Beschwerden, die immer auch etwas über den Sprachstil des Partners mitteilen. Wer weiß, wie der Leser schreibt, findet leichter den richtigen Ton. Vorsicht aber bei Selbstdarstellungen im Internet und in Broschüren. Ob sich daraus etwas über die Sprache des Geschäftspartners erfahren lässt, hängt davon ab, wer für die Gestaltung zuständig war. Es gibt Manager, die ihre eigenen Druckschriften und Internetseiten nicht verstehen, weil allzu kreative Textdesigner oder Agenturen über das Ziel hinaus geschossen sind. Solche Darstellungen führen eher in die Irre.
Eigene Recherchen im Internet erbringen vereinzelt verblüffende Ergebnisse, ein Beispiel: Suche nach einer Führungskraft. Es stellt sich heraus, dass sich der Gesuchte an einem sozialen elektronischen Netzwerk beteiligt, dort engagiert mit den anderen streitet und auch kompetent Ratschläge in einem Sachgebiet erteilt. Solche Funde sind wertvolle Originale, die das Bild verdichten. Sie klären, welche Fach- und Fremdwörter dieser Leser erwarten wird, wie man ihn ansprechen kann. Auskunft dazu geben auch Fachzeitschriften und Fachliteratur, die der Kunde mit Sicherheit abonniert hat und auch liest. In vielen Branchen sind Verbandszeitschriften ein gutes Abbild der Sprachverwendung.
Der persönliche Kontakt zum Leser gibt die besten Tipps für Autoren. Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, nehmen sie an Messen, Firmenveranstaltungen, Präsentationen und Schulungen teil. Geht das nicht, müssen sie die Kollegen aus Marketing, Vertrieb und Service zu ihren Erfahrungen mit dem Sprachgebrauch der Kunden befragen.
Je qualifizierter ein Leser ist, desto wahrscheinlicher liest er eine Fachzeitschrift. Ist sie gut gemacht, wird sie von ihren Lesern akzeptiert, gibt sie Auskunft über dessen Fachsprache. Autoren, die nur für eine oder wenige Kundengruppen schreiben, sollten diese Zeitschriften regelmäßig lesen. Sie spiegeln rechtzeitig Veränderungen des Sprachgebrauchs wider und informieren über aktuelle Trends. Auf Anforderung versenden Zeitschriften ihre Mediadaten an künftige Anzeigenkunden, oft eine wertvolle Hilfe für die eigene Leseranalyse.
Der professionelle Text nimmt zwei Hürden: Er passt zu dem im Gedächtnis gespeicherten Wissen, ergänzt es und wird dabei Gegenstand kritischen und kreativen Denkens. Das limbische System und 15andere Komponenten unbewusster Steuerung regt er zu Neugier und Interesse an. Um beide Ziele zu erreichen muss die Leseranalyse Informationen bereitstellen, verständliche Texte zu schreiben und den richtigen Ton zu treffen.
Eine Methode, die immer gleich nützlich wäre, gibt es leider nicht. Es reicht völlig aus, eine Reihe Fragen über den Leser zu stellen. Wonach zu fragen ist, entscheiden Situation und die Bedeutung des Textes. Wer eine Broschüre für Partner im Sondermaschinenbau schreibt, interessiert sich nicht dafür, ob seine Leser Kinder haben. Will aber ein Reiseunternehmen Kunden über besondere Schnäppchen informieren, die kurzfristig zu buchen sind, kann das Wissen über den Familienstand unverzichtbar sein.
Von vier Faktoren hängt ab, ob ein Leser versteht oder nicht: BIK, Sprachwissen, Fachwissen und Lesealter.
BIK – Bildung, Intelligenz und kognitives Vermögen:
Sie entscheiden, wie ein Text aussehen muss oder darf, damit Leser ihn verstehen können. Dabei ist der formale Abschluss eine hilfreiche Größe, wenn auch nicht die einzige. Mittlerweile gibt es genügend Studierende, denen das Lesen und Verstehen längerer Texte durchaus schwer fällt. Dieses Thema ist sensibel, denn viele empfinden es als diskriminierend auf mangelnde Bildung, fehlende Fertigkeiten in elementaren Kulturtechniken, die Intelligenz oder kognitive Beeinträchtigungen im weitesten Sinne hinzuweisen.
Viele Erwachsene können kaum lesen, etwa 7,5 Millionen der erwerbsfähigen Deutschen sind funktionale Analphabeten, fast 50.000 Hauptschüler verließen 2015 die Schule ohne Abschluss.9 In einer Studie berichtet die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, über ihre Forschungsergebnisse zur Lesekompetenz, auch der Deutschen.10 Optimisten würden dem entnehmen, dass etwa die Hälfte der untersuchten Personen wenigstens die mittlere von fünf Kompetenzstufen erreicht. Andere werden darauf hinweisen, dass die zweite Hälfte diese Mitte verfehlt.
16Folglich kann höchstens jeder zweite erwachsene Deutsche ein Kapitel dieses Buches lesen und verstehen. Andere werden es nicht schaffen. Autoren in Firmen, Behörden und Verbänden sollten daran denken, dass auch diese Bürger und Kunden mit weit geringerer Lesekompetenz zahlen und die Musik bestimmen.
Als Lösung für diese Klientel bietet sich die einfache Sprache an.11 Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen, den sogenannten geistig Behinderten, steht derzeit die Leichte Sprache zur Verfügung.12
Sprachwissen:
Wer Deutsch nicht als Muttersprache spricht, kennt oft weniger Wörter als ein Muttersprachler und kann sich schwer ein unbekanntes Wort oder einen komplizierteren Satz erklären. Wortwahl und Satzbau dürfen diesen Leser nicht überfordern. Wer von einem Kunden weiß, dass er das Deutsche als Fremdsprache gelernt hat, muss darauf Rücksicht nehmen.
Das Sprachwissen vieler Leser – die Beherrschung des Deutschen – ist unabhängig vom Bildungsniveau. In Deutschland arbeiten viele gut ausgebildete Experten, die vertraut mit der Fachterminologie ihres Arbeitsgebietes sind – etwa Medizin oder EDV –, viele Eigenheiten der deutschen Sprache sind ihnen jedoch nach wie vor fremd.
Fachkenntnisse:
Liest der Fachmann oder ein Laie? Wer Fachkenntnisse hat, erwartet auch, dass der Text Fachwörter – die gewohnten Ausdrücke – benutzt. Dem Leser ohne diese Kenntnisse ist damit nicht gedient, er wird den Text nicht verstehen, weil ihm viele Wörter unbekannt sind.
Ist damit zu rechnen, dass sowohl Experten als auch Laien das Geschriebene verstehen müssen, geht es deswegen nicht ohne besondere Vorkehrungen. Oft hilft ein Glossar, eine Liste mit Erklärungen der Fachausdrücke. So müsste der Autor bei einem medizinischen Gerät verfahren, das sowohl in Arztpraxen als auch von Heimanwendern genutzt wird.
17Lesealter:
Eine durchschnittliche unbeschwerte Entwicklung vorausgesetzt, können Kinder ab spätestens elf Jahren Texte fast so gut verstehen wie Erwachsene. Sie können auch lesen und verarbeiten, was nicht eigens für ihre Altersstufe geschrieben wurde. Sie fassen manches nur etwas anders auf, können es nicht durch erwachsene Erfahrungen bestätigen.
Anders in den ersten Jahren des Lesetrainings: Je jünger die Kinder sind, desto geringer ist der Wortschatz. Konkrete, kurze, anschauliche und gebräuchliche Wörter, keine Fremdwörter sowie ein einfacher Satzbau sprechen Leseanfänger an. Der Text muss kurz sein. Die Argumentation muss berücksichtigen, dass Kinder Fragen stellen wollen. Sie achten besonders auf die Logik, in dem sich ein Sachzusammenhang darstellt. Wo Erwachsene stillschweigend fehlende Informationen ergänzen können, reagieren Kinder verstört, wenn die Dinge nicht zusammenpassen. Ihnen fehlt die Erfahrung, um logische Brüche auszugleichen. Profis testen Texte für Kinder in der Altersgruppe, die sie lesen sollen.
Vier weitere Faktoren entscheiden, ob der Text sein Ziel erreichen kann. In fachlichem und betrieblichem Umfeld erwarten Lesende, dass er an die Voraussetzungen des Arbeitsalltags anknüpft. Persönliche Eigenschaften ergänzen die Haltung gegenüber dem Dokument. Im Konsumgütermarkt denken Texter an das familiäre und soziale Umfeld der Leser. Nicht zuletzt berücksichtigen sie auch deren Erfahrungen aus der erfolgreichen oder kritischen Zusammenarbeit.
(1) Fachlich und betrieblich
Fachgebiet: Das Fachgebiet kann Hinweise geben, wie ein Text argumentieren muss. In einigen Firmen teilen sich ein Ingenieur und ein Kaufmann die Leitung einer Organisationsebene: Unterschiedlicher Sprachgebrauch, keine einheitliche Argumentation, verschiedene Sichtweise des gleichen Gegenstands. Wenn es möglich ist den Text an einen der beiden zu adressieren, erzielt man bessere Ergebnisse mit einer technikorientierten oder eben der betriebswirtschaftlichen Logik.
18Eher praktisch orientiert oder theoretisch: Wenn der Leser eine Sache lieber praktisch angreift, sollte sich der Text dem anpassen. Dem Praktiker reicht oft eine Checkliste, andere wollen auch den Hintergrund kennen.
Position/Funktion: Die Interessen der Leser bestimmen, wie der erfolgreiche Text argumentiert. Wie man den Partner auf Kundenseite ansprechen muss, hängt deswegen auch von dessen Position und Funktion ab.
Wer trifft Kaufentscheidungen, wer arbeitet mit dem Produkt, wer ist für die Wartung zuständig? Drei typische Fragen über den Kunden als Leser, jeder hat eigene Erwartungen an einen Text.
Branche: Der Geschäftsführer eines jungen Software-Unternehmens erwartet eine andere Ansprache als der Leiter einer Bankfiliale. In einigen Märkten zeigt die Sprache – ähnlich den Kleidungsgewohnheiten, Büroeinrichtungen und anderen Statussymbolen –, dass man dazu gehört. Branchentypischen Sprachgebrauch zeigen oft Fachzeitschriften und Internetangebote, die auf diesen Lesertyp zugeschnitten sind.
(2) Persönlich
Psychologische Faktoren: Werbegestalter versuchen auf Werte, Einstellungen und Grundhaltungen ihrer Zielgruppe einzugehen. Einen Leser, der hauptsächlich emotional entscheidet, spricht der erfolgreiche Texter anders an als einen Perfektionisten. Wortwahl, Motive und Begründungen orientieren sich an solchen Persönlichkeitsmerkmalen.
Geschlecht: Was für Frauen und Männer gleichermaßen geschrieben wird, spricht oft nur den Leser an. Diese Ausdrucksweise empfinden viele Kundinnen als kränkend und rücksichtslos.
Das Deutsche bietet keine wirklich neutrale Anrede der Leserinnen und Leser, eine, die immer nützlich ist, den Text weder unansehnlich noch schwer verständlich macht. Deswegen sind die fünf Lösungen im Praxisteil nur Hilfskonstruktionen.
Religion, Nationalität, Kultur: Wer bei Terminvorschlägen rechtzeitig kontrolliert, ob dieses Datum für den anderen ein Feiertag ist, 19kann sich Absagen ersparen und demonstriert überdeutlich, dass er diesen Partner respektiert. Der übliche Glückwunsch zum neuen Jahr, womöglich eine Karte mit Abbildung einer Sektflasche ist wenig professionell, wenn der Adressat Muslim ist. Spricht man Geschäftspartner in einem islamischen Land auf diese Weise an, ist die Blamage – oder das Ärgernis – perfekt.
Vieles erscheint uns selbstverständlich, das schon jenseits der Grenzen unseres Landes keine oder eine andere Bedeutung hat. Professionelles Schreiben heißt, dass der Text nationale, religiöse und kulturelle Orientierungen des Lesers respektiert.
Ein Unternehmen, das internationale Geschäftsbeziehungen pflegt, braucht für jedes Land einen Feiertagskalender. Selbst eingefleischte Karnevalsgegner werden am Rosenmontag keinen Termin mit einem Kölner Kunden vorschlagen. Sensibilität entscheidet mit über den Erfolg der Kommunikation, sowohl regional als auch international. Der angemessene Glückwunsch zu den richtigen Feiertagen zeichnet professionelles Schreiben aus.
Mehrkosten können für Übersetzungen und Lokalisierungen entstehen, wenn Dokumente eines Unternehmens sich unnötig auf christliche Symbolik und Bräuche beziehen. Weihnachten und Ostern sind in vielen Ländern der Welt unbekannt oder haben dort kaum eine Bedeutung.
Ein leidiges Thema ist in diesem Zusammenhang das Design von Adressdatenbanken. Vor- und Familienname verlangen viele Programme, dazu ein Mittelinitial oder ein ausgeschriebener weiterer Vorname. Das reicht nicht für die internationale Geschäftskorrespondenz. Arabische Namen werden beispielsweise gnadenlos gekürzt und nach europäischem Brauch in ein ihnen fremdes Muster gepresst. Dabei entstehen nicht unbedingt höfliche Varianten.
Körperliche Einschränkungen: Viele Menschen sind durch Krankheiten und Behinderungen beim Lesen, manchmal auch Verstehen eines Textes im Nachteil gegenüber Gesunden oder Nicht-Behinderten. Autoren, die solche Kunden übersehen, handeln nicht im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes und wenigstens unter diesem Aspekt unprofessionell. Zur Leseranalyse gehört die Frage, ob 20Leser behindert sind. Wie auf die unterschiedlichen Behinderungen zu reagieren ist, erfordert dann eine eigene Recherche.
Allgemein gültige Empfehlungen gibt es nicht, Interessengruppen und Organisationen bieten aber im Internet Informationen für Texter an, beispielsweise für eine behindertengerechte Gestaltung von Webseiten.13
(3) Familiäres und soziales Umfeld
Alter: Altersgemäße Texte sind an der Wortwahl zu erkennen: Ein Möbelhaus kann junge Paare in der Nestbauphase anders ansprechen als erfolgreiche Geschäftsleute, die ausgewählte Objekte für ihr Eigenheim suchen. Kinder und Jugendliche haben einen eigenen Sprachgebrauch, oft genug zum Ärger der Eltern und Lehrer. Profitexte finden den richtigen Ton, ohne sich beim Leser anzubiedern.
Familie, Kinder: Die gemeinsame Verantwortung für Kinder festigt und unterstützt ein Wertesystem, das der Single-Haushalt nicht praktiziert.
Urlaub, Schulferien, Weihnachten, Spielkonsole, Harry Potter, Nahrungsgewohnheiten, Kosten für Kleidung und Schulsachen: Viele Dinge spielen in der Welt der Eltern eine Rolle, die für andere Leser eine andere oder manchmal überhaupt keine Bedeutung haben.
Sozialer Status: Schichtzugehörigkeit, Einkommen, Prestigedenken und ähnliche Faktoren hängen mit dem Sprachgebrauch zusammen: Lebensstandard an der Armutsgrenze oder Neigung zu hochpreisigen Produkten?
Soziales Umfeld: Lieder und Slogans idealisieren Wohngegenden, Vereine und Bürgerbewegungen: Wir in …; wir vom …; wir alle sind dafür, dass … Daran kann ein Text anknüpfen, ebenso an Bezugsgruppen oder Meinungsführer, die für Leser bedeutsam sind.
(4) Zusammenarbeit
Erfahrungen des Lesers mit Produkt oder Dienstleistung: Für Kunden, die ein Produkt gut kennen, reichen oft einige wenige Hinweise. Neukunden benötigen umfangreiche Erklärungen, Beschreibungen oder Anleitungen, um den Text ebenso erfolgreich nutzen zu können. Orientiert sich beispielsweise die produktbegleitende Literatur 21an den typischen Fragen und Bedürfnissen des noch unerfahrenen Anwenders, spart das Geld für Service und Anwenderberatung.
Haben sich vertraute Wege eingespielt, erübrigt sich jede Überlegung, wie Briefe und Schriftstücke zu gestalten sind. In einigen Branchen kennt man die Kunden, den Geschäftspartner, und arbeitet mit ihm jahrelang zusammen. Man weiß, was er wünscht, kann auf manches Detail verzichten. Texte entstehen wie aus der Hüfte geschossen. Kritisch wird es, wenn plötzlich ein anderer am Schreibtisch sitzt. Vorsicht auch bei allem, das juristische Bedeutung haben könnte (Vertrags- oder Haftungsangelegenheiten) oder auch bei Texten, die auf Kundenseite von Unbekannten gelesen werden könnten.
Belastbarkeit in der Kooperation: Die Datenbank der Anwenderberatung gibt Auskunft darüber, welche Stimmung bei einem Kunden vorherrschen könnte, wenn es nicht ohnehin überall im Betrieb bekannt ist. Gab es ernste Schwierigkeiten? Sind Versprechungen nicht eingehalten worden? Fröhliche Darstellung der Produktleistungen wirkt wie Hohn auf den Leser, der sich gerade beschwert hat, weil etwas nicht klappt.
Die Leseranalyse erschöpft sich oft in wenigen Stichworten auf Papier. Die meisten Autoren haben sie nur im Kopf, sie bleibt ein Gedankenspiel, eine Hypothese über Leser, die im Detail Fehler enthalten wird. Auch die gründliche Untersuchung bietet keine Gewissheit, sie zeigt aber den richtigen Weg auf.
Von drei Sonderfällen abgesehen, wird das Ergebnis selten schriftlich fixiert, die Ausnahmen sind:
Schreiben wie die Profis erschöpft sich nicht in der Geschäftskorrespondenz und den vielen Millionen Seiten, die jeden Tag in Unternehmen, Verbänden und Behörden verfasst werden. Geschrieben wird in allen Lebensbereichen, in Kultur, Politik und Freizeit. Auch der Text für den Sportverein ist Ausweis der eigenen professionellen Sprachkompetenz. Die Frage „Wer liest?“ – die Leseranalyse – hilft bei vielen Gelegenheiten, nicht nur im Wirtschaftsleben. Sie steht am Anfang des Schreibens und unterscheidet den Profi vom Amateur.
Lesergerechtes Schreiben ist also nur möglich, wenn der Autor etwas über den Leser weiß. Wer einfach nur ins Blaue textet, schreibt für sich selbst – das Gegenteil von professioneller Arbeit. Was aber kann man wirklich wissen, wenn die Lesenden nicht persönlich bekannt sind?
Die ideale Grundlage ist eine Leseranalyse, eine Datenerhebung über die Zielgruppe. Intensität und Resultat dieser Analyse hängen nicht zuletzt vom Budget ab, das selten eine aufwendige Untersuchung erlaubt. Meist begnügt man sich mit einigen Überlegungen, die Erfahrung und Sprachgefühl des Autors ergänzen müssen.