C.H.Beck
Kein anderes Ereignis hat die Geschichte unserer Zeit und unserer Welt so tief geprägt wie die Französische Revolution von 1789/1799. Diese überaus lesbare und sehr erfolgreiche Darstellung führt in die vielschichtigen Zusammenhänge dieses Geschehens – auch in seinen Ursprüngen vor 1789 – ein und richtet den Blick nicht zuletzt auf Gesellschaft, Wirtschaft, Verfassung und Mentalitäten dieser Epoche in Frankreich.
Ernst Schulin, geb. 1929, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Neuere Geschichte an der Universität Freiburg.
Er ist durch Werke zur Geschichte Westeuropas in der frühen Neuzeit und zur Wissenschaftsgeschichte ebenso hervorgetreten wie als Mitherausgeber einer Gesamtausgabe der Werke von Walther Rathenau.
Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur Neuauflage
Einleitung
ERSTER TEIL
Geschichte der Geschichtsschreibung über die Französische Revolution
ZWEITER TEIL
Verlauf der Revolution 1788/89 bis September 1792
Revolution des Dritten Standes
Munizipale Revolution
Revolution der Bauern
Die Menschen- und Bürgerrechte
Von Versailles nach Paris
Zeit der Constituante 1789–91
a) Politische Macht- und Einflußzentren
b) Verfassungswerk
c) Außen-, Finanz- und Kirchenpolitik
d) Varennes und die Schlußphase der Constituante
Legislative, Krieg und Sturz des Königtums 1791–1792
DRITTER TEIL
Zur Vorgeschichte der Revolution
1. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Langfristige ökonomische Entwicklung im Vergleich zu England
Mittel- und kurzfristige ökonomische Krisen
Feudale Reaktion oder Modernisierung
Bauern und städtische untere Schichten
Soziale Stellung von Adel und Bürgertum
Die antiständische Tendenz
2. Zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Ancien Régime
Der unvollendete Absolutismus
Der Klerus
Die auf Stellenkauf gegründete Beamtenhierarchie
Die Provinzialstände
Das Steuersystem
Die Reformversuche des Staates
3. Zur Ideen- und Mentalitätsgeschichte
Langfristige Einwirkung. Die Aufklärungsphilosophen
Mittelfristige Einwirkung. Die Ausbreitung in Akademien und Gesellschaftszirkeln
Die Erfahrung Amerika
Kurzfristige Einwirkung. Die politischen Klubs. Die Patrioten
4. Zwischenbilanz
5. Außenpolitik. Europäisches Echo
VIERTER TEIL
Die Revolution vom September 1792 bis 1799
Girondisten, Montagnards, Sansculotten
Krieg, Bürgerkrieg und Terreur 1793/94
Zur Kulturgeschichte der Revolution
Die Zeit der Thermidorianer und des Direktoriums
Schlußbetrachtung
ANHANG
Anmerkungen
Auswahlbibliographie
Zeittafel
Personenregister
Sachregister
Das vorliegende Buch ist als einführende Orientierung für Leser gedacht, denen andere Darstellungen der Französischen Revolution zu voraussetzungsvoll, zu einseitig, zu lang oder zu kurz sind. Es baut auf der großen, von politischer Parteinahme und wissenschaftlichen Kontroversen geprägten Geschichtsschreibung in Frankreich auf, aber auch auf der angloamerikanischen und deutschen mit ihrer stärkeren Einbeziehung der europäischen Aspekte. Die Kenntnis dieser viel eingehenderen Darstellungen setze ich nicht voraus, vielmehr werden sie direkt einbezogen, besonders bei umstrittenen Fragen. Darum beginne ich mit einem Überblick über die Revolutionsgeschichtsschreibung seit dem Ereignis selber und darum behandle ich die Entstehungsgeschichte erst nach Darstellung der ersten Phase 1789–1792, und zwar nur als Erörterung der Ursachenforschung; andernfalls würde leicht ein notwendig ablaufender Prozeß vorgespiegelt, so als sei das ganze französische 18. Jahrhundert nur Vorgeschichte der Revolution.
Jubiläumsfeiern und weniger erfreuliche Gedenktage nehmen zu und stellen regelmäßig Ansprüche an den Historiker. Immerhin kann er sich aussuchen, für welche er sich einsetzen will. Ich habe mich seit meiner Assistentenzeit bei dem Mathiez-Schüler Martin Göhring mit der Französischen Revolution beschäftigt; man kann das schon an den vielen Quellenzitaten erkennen, deren Übersetzung ich seiner leider unvollendet gebliebenen Darstellung entnommen habe. Seit zwanzig Jahren habe ich in Berlin und Freiburg Vorlesungen und Seminare über das Thema veranstaltet, habe es also in der Lehre behandelt, ohne daß es mein spezielles Forschungsgebiet geworden wäre. Deshalb hätte ich mich zur Ausarbeitung dieses Buches nicht entschlossen, wenn ich nicht den Eindruck hätte, daß in der Bundesrepublik neben den zahlreich vorhandenen Handbüchern, Sammelbänden, Einzeluntersuchungen und übersetzten Gesamtdarstellungen ein neuer deutscher zusammenfassender Versuch fehlt. Es wäre nicht gut, wenn ein solches Fehlen den Eindruck erweckte, wir reagierten auf den großen Rummel, der zur Zweihundertjahrfeier in Frankreich und auch in Amerika, in England und im anderen deutschen Staat stattfindet, mit spöttischer Distanzierung oder der alten deutschen, nach den schwungvolleren Sechziger- und Siebzigerjahren zurückgekehrten Revolutionsfeindschaft. Wir hören jetzt so viel von neuem Geschichtsbewußtsein reden: die Französische Revolution gehört sicherlich an vorderer Stelle dazu, selbst wenn man sich, wie es leider zunehmend geschieht, bei diesem Geschichtsbewußtsein auf Deutschland beschränken will. Die Handlungs- und Ereignisverkettung 1789–1799 ist der problematische Ausgangspunkt für die westliche demokratische, für die östliche sozialistische und auch für die Dritte Welt, – für alle ein Thema der Begeisterung und der Kritik. Grund genug, um sich zwischen schädlichen Verallgemeinerungen und nützlichen Spezialforschungen wieder einmal den komplexen historischen Gegenstand insgesamt zu vergegenwärtigen.
Mein Dank für Hilfe und Ermunterung gilt meiner Sekretärin Ursula Watson, der Schreiberin und damit ersten Leserin des Manuskriptes, und meinen Mitarbeitern Eva Schrott und Dr. Erich Pelzer. Dem Verlag, besonders Herrn Dr. Wieckenberg und Herrn Schünemann, danke ich ebenfalls für die vertrauensvolle Unterstützung dieses Versuches. Immer begleitete mich der unbeirrte Zuspruch meiner lieben Frau. Keinem der Genannten will ich damit stehengebliebene Mängel und Irrtümer anlasten.
Freiburg, im Januar 1988 |
E. S. |
Dieses Buch ist erstmals am Vorabend der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution erschienen, im Herbst 1988. Wie ich in meinem Vorwort vom Januar schon voraussehen konnte, kam es damals zu einer Flut von wissenschaftlicher und populärer Literatur, zu zahlreichen, oft international besetzten gelehrten Kongressen, zu zahllosen Veranstaltungen der Medien und zu staatlich organisierten Volksfeiern. Daß 1989 auch zu einem Jahr neuer Revolution wurde, zur Forderung nach Freiheit und Demokratie in Mittel- und Osteuropa und zum Anfang ihrer Verwirklichung, kam jedoch unerwartet und wurde um so begeisterter begrüßt. Der führende Revolutionshistoriker François Furet, der vorher zur Dämpfung gefährlicher politischer Illusionen betont hatte, die Revolution sei beendet – in Frankreich schon seit 1880 oder spätestens seit den Errungenschaften der Ära Mirtterand –, erklärte nun: «In ihr kamen Werte zur Geltung, die auch Bedürfnissen des 20. Jahrhunderts entsprechen. 1917 ist nur mehr die Vergangenheit. Es sind die Grundsätze von 1789, mit denen sich heute die Hoffnungen verbinden. Die Französische Revolution – ich wage die Formulierung – ist die Zukunft der Russischen.»
Sie war und ist also noch nicht beendet. Entsprechend groß ist weiterhin das Interesse an der Handlungs- und Ereignisverkettung 1789–1799. Mein Buch war im «Bicentenaire» die einzige neue deutsche Gesamtdarstellung und brachte es schon darum zu starker Beachtung. Die bisherigen drei Auflagen haben auch in den folgenden Jahren unvermindert ihre Käufer gefunden. Es scheint also neben der inzwischen erschienenen Spezialliteratur mit ihrer vor allem regional- und kulturgeschichtlichen Ausrichtung noch immer lesenswert zu sein.
Auf diesen Forschungen des letzten Jahrzehnts hat 1998 der heute bedeutendste deutsche Revolutionshistoriker, Rolf Reichardt, seine Darstellung aufgebaut und die «Kulturrevolution» in den Vordergrund gerückt. (‹Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur.›) Mein Buch sucht die Ereignisfolge und die Vorgeschichte der Revolution multiperspektivisch zu erörtern und dafür die unterschiedlichen Fragestellungen, Ergebnisse und Beurteilungen der gesamten bisherigen Revolutionsgeschichtsschreibung lebendig zu erhalten. Als einführende Orientierung über dieses Problemfeld der modernen Geschichte scheint mir das am hilfreichsten zu sein.
Den Aufbau und weitgehend den Text meines Buches habe ich bei dieser Zielrichtung unverändert gelassen, habe aber natürlich Fehler verbessert und in den Anmerkungen sowie in der Auswahlbibliographie wichtige Neuerscheinungen nach 1988 einbezogen. Den ersten Teil über die Geschichtsschreibung habe ich entsprechend ergänzt.
Freiburg, im Oktober 2003 |
E. S. |
Ein Buch über die Französische Revolution zu veröffentlichen oder eine Vorlesung über sie zu halten – also über die «Große Revolution» von 1789–1794 oder bis 1799 oder wie weit man sie eben reichen läßt, auch der Anfang ist fraglich – ist alles andere als etwas Revolutionäres. Man stellt sich damit in eine lange, über zweihundertjährige Tradition. Seitdem dieses Ereignis geschah, sind unzählige Bücher darüber erschienen, unendlich viele Vorlesungen in allen Universitäten der Welt gehalten worden.
Nehmen wir nur einige deutsche Beispiele. Der Göttinger Historiker Ludwig Timotheus Spittler nannte die Französische Revolution «die wichtigste Begebenheit unseres Jahrhunderts» und nahm sofort nach 1789 einen neuen gesellschaftlichen Gesichtspunkt in seine Vorlesung über europäische Staatengeschichte auf, indem er nun die Geschichte des Dritten Standes hinzuzog.[1]
Hegel, der die Revolution als Neunzehnjähriger gefeiert hatte, – kein Historiker, aber es ist typisch, daß auch ein Philosoph darüber redete – sagte 1830 auf seinem Berliner Katheder innerhalb seiner ‹Philosophie der Weltgeschichte›: «Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut … Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchscbauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.»[2] Er sprach also zugleich begeistert und in der Vergangenheitsform; er suchte damit, wie es Jürgen Habermas ausgedrückt hat, die Revolution «hinwegzufeiern».
Leopold von Ranke, Deutschlands größter Historiker über die frühneuzeitliche Geschichte, sah mehr den Terror der Revolution und Napoleons. In den Vierzigerjahren, nach seiner Reformationsgeschichte, plante er eine große Darstellung der Französischen Revolution, fuhr dafür nach Paris und fand dort soviel Quellenmaterial zur Preußischen Geschichte, daß er lieber zu diesem ihm angenehmeren Thema umschwenkte. So hat er nie im Zusammenhang über die Französische Revolution geschrieben, aber die Vorlesungen und seine Materialsammlungen zeigen, daß sie sein eigentliches historisches Problem war – sein Problem und seine große Furcht, denn zwischen Monarchie und Volkssouveränität, zwischen Restauration und Revolution sah er seine ganze Gegenwart (das 19. Jahrhundert) kämpfen und war glücklich, wenn das Erhaltende, Konservative die Oberhand behielt.
Lorenz von Stein, nicht eigentlich ein Historiker, sondern ein Gesellschaftswissenschaftler, verstand die französische Geschichte seit 1789 als eine für ganz Europa vorbildliche soziale Bewegung, womit er unter anderem große Wirkung auf Marx ausübte.
Jacob Burckhardt behandelte die Revolution wie Ranke nur in Vorlesungen. Er begriff sie schaudernd und mit scharfen Verurteilungen als Beginn des Massenzeitalters, das er fortschreiten und die Kultur begraben sah. Die ganze seitherige Geschichte war für ihn das Revolutionszeitalter.
Adalbert Wahl, den man wohl den eigentlichen und typischen deutschen Revolutionshistotiker vom Wilhelminischen Kaiserreich bis zur Hitlerzeit nennen muß, konnte im Kolleg, staatsverherrlichend und treu monarchisch wie er war, über den Prozeß und die Hinrichtung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes nur unter Tränen erzählen.
Martin Göhring, nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik der repräsentative Spezialist, beschrieb die Große Revolution als monumentalen, heldenhaften Beginn unserer modernen liberalen Welt, – einen Beginn, den Deutschland bisher viel zu eingeschränkt anerkannt hätte; würde es ihn voll anerkennen, so sei das ein großer Schritt zur westeuropäischen Gemeinsamkeit.
Walter Markov in Leipzig, seinerzeit der bedeutendste deutsche Revolutionsforscher, wollte mehr als die liberalen Ideen, er wollte die Ideen der Jakobiner und Sansculotten rechtfertigen und in ihrer Bedeutung für die sozialistische Welt deutlich machen. In diesem Sinne erklärte er 1967: «Die Französische Revolution ist von keiner der nachgeborenen Generationen als eine … in sich abgeschlossene und insofern museumsreife Episode empfunden worden.»[3]
Etwas anders als Markov, aber markanter, drückte schon Eugen Rosenstock-Huessy in seinem Buch über die europäischen Revolutionen (1931/51) diesen Sachverhalt aus: «Die Französische Revolution ist noch heut in aller Munde. Zwischen ihr und der russischen Revolution steht die europäische Welt. Der einzelne Europäer muß seinen Standpunkt wählen im bürgerlichen oder im nichtbürgerlichen Lager. Das bürgerliche Lager aber ist das Lager der Ideen von 1789. Es ist das Lager der liberalen Grundsätze von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der bürgerliche Bewohner unseres Erdteils lebt also unter der Bürgschaft der bürgerlichen Revolution. – Aber auch der unbürgerliche Sozialist oder Kommunist oder Bolschewist sieht die Welt im Lichte der Gesellschaftsordnung von 1789. Er bekämpft die bürgerliche Gesellschaft. Er bekämpft sie als die letzte Klassengesellschaft, als den Inbegriff aller Klassengesellschaften. Sie begreift ihm die gesamte Vergangenheit in sich, aus der er die Zukunft herauszuschlagen hofft.»[4]
Man kann also von einer durchgehenden Bedeutung der Französischen Revolution bis in unsere Gegenwart sprechen. Sie ist in dieser Stärke kaum mit einem anderen historischen Ereignis vergleichbar. Das, was man «historische Bedeutung» nennt, wurde sofort und durchweg betont, so verschieden man die Zugkraft und den Veränderungseffekt revolutionärer Taten und Geschehnisse einschätzte. Zwei extreme Ansichten findet man bei zwei Generationsgenossen: für Karl Marx waren Revolutionen Grundgesetze der Weiterentwicklung, er nannte sie die «Lokomotiven der Geschichte». Jacob Burckhardt (wie Marx 1818 geboren) erklärte in den ‹Weltgeschichtlichen Betrachtungen› sehr viel kühler: «Um relativ nur Weniges zu erreichen, wobei noch fraglich, wieweit es sich um Gewünschtes oder gar um Wünschenswertes gehandelt haben wird, braucht die Geschichte ganz enorme Veranstaltungen und einen ganz unverhältnismäßigen Lärm.»[5] Enorme Veranstaltungen waren es aber eben für ihn auch, und seine Vorlesungen sind von der Furcht geprägt, daß damit in Gegenwart und Zukunft mehr erreicht werden könnte als bisher.
Die sofortige Anerkennung der «historischen Bedeutung» ist kein Wunder, wenn man bedenkt, daß die Folgezeit, das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert des europäischen Bürgertums war, das 1789 als Anfang seiner – zumindest politischen – Entwicklung ansehen mußte. Die Vorherrschaft der Aristokratie war damit gebrochen; statt der Ahnenreihe galt nun Besitz und Bildung. Dieses europäische Bürgertum war obendrein, wie man an der gleichzeitigen Entwicklung der Geschichtswissenschaft sehen kann, geschichtsbewußt genug, um sich dieses Anfangs bewußt zu sein. Es war sich aber dieses Anfangs nicht einfach jubelnd und feiernd bewußt. Es war mehr der Anfang seiner Probleme als der Anfang seines Siegeszuges. Und die Beurteilung dieses Anfangs war dementsprechend alles andere als einhellig. Alle genannten Historiker sind zum Bürgertum zu rechnen, außer vielleicht Markov. Die ganze Geschichtswissenschaft, der Historismus, ist, zumindestens im 19. Jahrhundert, von bürgerlichen Prämissen geprägt, für ein bürgerliches Publikum entwickelt worden. Aber diese Historiker kennzeichnen die Revolution durchaus nicht einhellig als Anfangssieg ihrer selbst oder auch nur als entscheidende Durchsetzung der bürgerlichen Ideale. So eindeutig war die Revolution nicht, war ihre ganze Art und ihre Entwicklungslinie nicht, und vor allem nicht ihr Ergebnis. Der Anfang mochte noch einigermaßen eindeutig sein oder erscheinen: also der Sturz des Absolutismus, die Vernichtung der privilegierten Stände, die Bildung der Nationalversammlung und die von ihr geschaffene Verfassung der beschränkten, konstitutionellen Monarchie. Aber die Weiterentwicklung war es keineswegs: die Schreckensherrschaft, das Direktorium, die Machtergreifung Napoleons im Konsulat und im Kaisertum. Teilweise vermischten sich diese verschiedenen Beurteilungen, besonders in Deutschland, mit nationalen Problemen und den verschiedenen Einstellungen dazu. Eine bürgerliche Bewegung, die in militärischer, expansiver Form, später sogar unter so zweifelhafter «revolutionärer» Führung eines Soldatenkaisers Deutschland überschwemmte, konnte nicht unumschränkt bejaht werden, selbst wenn man im Druck unter dem eigenen absolutistischen Fürsten lebte. Hieraus erklärt sich zum Teil die «restaurative» Ausrichtung des geschichtlichen Denkens, die Rechtfertigung von Traditionen, die nach der Erfahrung ihrer Zerstörung in Frankreich nun bewahrenswert erschienen – besonders außerhalb Frankreichs, aber auch in diesem Land.
Der tatsächliche Gang der Französischen Revolution und ihre unmittelbare Auswirkung führten also dazu, daß man in dieser Revolution eine sehr wichtige, ja sensationelle, aber auch sehr komplexe historische Ereignisfolge sehen mußte: komplex, vielschichtig, ohne einen durchgehenden Täter – auch wenn man diesen Täter als Volksschicht sah – und ohne klaren Sieger. Das ist ein bedeutender Unterschied etwa zu dem etwas früheren amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (der später sogenannten amerikanischen Revolution), einer Bewegung, die zwar nicht unbedingt als Emanzipation vom Mutterland begonnen hatte, sich aber konsequent, von einer einheitlichen Täterschicht getragen, auf dieses Ende hinbewegte und zu diesem eindeutigen, also feierbaren Ergebnis kam. Es ist auch ein deutlicher Unterschied zur russischen Revolution von 1917, trotz der dortigen Mehrschichtigkeit der Revolutionäre: denn die bolschewistische Partei hatte ein klares Ziel, eine entsprechende Taktik und erreichte einen klaren, für viele Jahrzehnte dauerhaften Sieg.
Die Französische Revolution ist demgegenüber keineswegs erfolglos gewesen, wie etwa die englische Revolution in der Mitte des 17. Jahrhunderts, aber es ist ein unklarer, unsicherer Erfolg, der interpretiert werden und eigentlich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt nach der weiteren Entwicklung «richtiggestellt» werden mußte. Im ganzen 19. Jahrhundert hatte man das Gefühl, sie sei nicht zu Ende.
Die Französische Revolution ist also kein eindeutiger Entwicklungsablauf und bildet kein klares, «notwendiges» Glied in einer größeren («weltgeschichtlichen») Entwicklung, sondern sie ist ein zunächst unvergleichliches großes historisches Ereignis. Das muß man deutlich aussprechen, obwohl oder gerade weil heute viele Historiker gegen die Betonung von historischen Ereignissen, von Ereignisgeschichte überhaupt eingestellt sind und für Strukturgeschichte plädieren. Michael Erbe z.B. in seiner «Geschichte Frankreichs von der Großen Revolution bis zur Dritten Republik» entschuldigt sich geradezu dafür, daß er mit 1789 anfängt. Er findet es «ungewöhnlich», denn man sähe «das Jahr 1789 heute kaum noch als Zäsur an, sondern betont eher die Kontinuität der Entwicklung Frankreichs ‹vom Ancien Régime zur Moderne›.»[6]
Das ist übertrieben. So klein kann man beim besten Willen nicht machen, was 1789 geschehen ist. Allerdings ist diese Gegenbewegung verständlich angesichts der enormen Bedeutungsbeladung und -überladung, also der ideologischen Befrachtung der «Wende» von 1789, die von damals bis heute unaufhörlich vorgenommen worden ist.
Die Französische Revolution hat insofern dank ihrer nationalen und internationalen Bedeutung für das französische Geschichtsbewußtsein einen vergleichbar höchsten Stellenwert wie die Reformation für das deutsche Geschichtsbewußtsein. Letzteres mag eher verblaßt sein, aus mancherlei Gründen, aber im Lutherjahr 1983 hat man doch wieder eine Menge davon gespürt. Über beide Themen gab und gibt es zum Teil noch ähnlich heftige Kontroversen, eine ähnliche Meinungsvielfalt und, noch gewichtiger, meinungsbildende Gruppen, Parteien und Institutionen, die nicht zulassen, daß über dieses Thema beliebige Theorien aufgestellt werden, daß es also gleichsam schutzlos der Meinungsvielfalt preisgegeben wird. Bei der Französischen Revolution gilt das für die Vertreter des republikanischen Staatsideals, des entsprechenden Nationalismus, für die Anhänger der bürgerlichen und der Menschenrechtsideale ebenso wie für Sozialisten und Marxisten.
«Geburt der bürgerlichen Gesellschaft: 1789» – dieser Titel einer guten deutschen Sammlung von neueren französischen Aufsätzen zeigt eine solche Bedeutungsüberladung eines ereignisreichen Jahres. Als eine Art Gegenschrift kann man die Abhandlung von François Furet ansehen: «1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft». Da wird die Übertreibung der Zäsur beklagt – in Frankreich beginnt ja konventionellerweise immer noch mit 1789 die histoire contemporaine –, die «Verseuchung der Vergangenheit durch die Gegenwart» wird bedauert, und Furet sucht aus diesem «Teufelskreis der Vermächtnishistoriographie» auszubrechen.[7]
Deutsche Historiker in der alten Bundesrepublik haben zwar weniger zur Erforschung der Französischen Revolution beigetragen, sie versuchten aber auf Kongressen, die verschiedenen französischen (und angloamerikanischen) Richtungen aufeinanderzutreiben: in Göttingen 1975 und in Bamberg 1979. Der Bamberger Kongreß war betitelt: «Die Französische Revolution – zufälliges oder notwendiges Ereignis?». Ob das eine gute Gegenüberstellung ist, fragt sich, aber jedenfalls wird deutlich, daß es sich für alle Richtungen um ein Ereignis handelt, ein zunächst unvergleichliches großes historisches Ereignis, viel und sehr verschiedenartig erklärt, weil es so erklärungsbedürftig ist. Cobban nennt es «the greatest happening in modern history», und man kann von da aus auch behaupten, daß es sich in erster Linie um ein historisches, nicht um ein soziologisches oder philosophisches Problem handelt, also um einen genuinen Gegenstand für eine historische Behandlung. «Historisch» heißt ja (nicht zuletzt), daß die Ereignisfolge weder als «intendiert» noch als «gesetzmäßig» hinreichend zu erfassen ist. Nachdem in letzter Zeit wieder häufiger gefordert wurde, vor allem nach Gesetzmäßigkeiten in der geschichtlichen Entwicklung zu forschen, da andernfalls die Geschichte uninteressant und beliebig und übrigens auch viel zu kompliziert für die Speicherung im Gedächtnis sei, hat Hermann Lübbe neu darauf hingewiesen, «Historie» sei «Kultur der Kontingenzerfahrung». «Kontingent» heißt nichtnotwendig, unwesentlich, zufällig. Über die Kontingenz des erfahrbaren Seins wird seit Boëthius philosophiert. «Die Beschäftigung mit der Geschichte vergegenwärtigt uns fremdes und eigenes Dasein, soweit es nicht Resultat von Selbst- und Mitbestimmungsprozessen ist, vielmehr von der Macht des Zufalls und der Handlungsmacht Dritter abhängig.» (Lübbe).[8] Die Französische Revolution kann man also als ein historisches Problem betrachten, weil sie eine nicht intendierte, nicht gesetzmäßige Entwicklung darstellt, die aber gerade deshalb prozeßhaft unwiderstehlich sein konnte.
Das Besondere dieses großen, weitwirkenden Ereignisses – oder besser: dieser Ereignisfolge – ist darin zu sehen, daß es eine ganz neue Art von Ereignis ist. Es hat zwar schon vorher Aufstände, Revolten und vielleicht auch Revolutionen gegeben, aber erst von ihm aus sind frühere «ähnliche» Ereignisse «Revolutionen» genannt worden. Genauer: der Revolutionsbegriff ist von hier aus ganz neu gefaßt worden, er ist etwas anderes vor und nach 1789.
Das zeigt uns die Begriffsgeschichte, und deshalb halte ich es für gut, zunächst und einleitend auf die Entwicklung des Wortes «Revolution» einzugehen.
Begriffsgeschichte ist eine Hilfswissenschaft der Geschichte, der Literaturgeschichte und der Philosophiegeschichte, die wegen ihrer Exaktheit und verständnisfördernden Aussagekraft sehr beachtenswert ist. Die Nachforschung, was ein Wort früher oder ursprünglich bedeutet hat, führt zwar des öfteren eher zu nebensächlichen Kuriositäten als zu profunden Erhellungen, aber in unserem Falle kann der erstaunliche Wandel der Wortbedeutung doch weiterhelfen. Er kann uns die Erkenntnis vermitteln, von wann ab man im vollen, modernen Sinne von «Revolution» sprechen kann; denn dazu genügt nicht das revolutionäre Ereignis, sondern dazu gehört in hohem Maße das revolutionäre Bewußtsein.
In der klassischen Antike finden wir weder das Wort noch überhaupt einen politischen Begriff für das, was wir Revolution nennen: also für die plötzliche Neuerung, für den Bruch mit dem Bestehenden. Aristoteles kennt die drei Verfassungsformen und ihre Entartungen: Monarchie, Aristokratie und das, was wir Demokratie nennen, was bei ihm politeia heißt, sowie Tyrannis, Oligarchie und Pöbelherrschaft. Polybios (200–120 v. Chr.) spricht von dem naturgesetzlichen, kreislaufartigen Wechsel dieser Vefassungsformen: in diesen Begriffen, also im Verfall oder Untergang und im natürlichen, kreislaufartigen Wechsel, erfaßten Griechen und Römer im allgemeinen die politischen und sozialen Veränderungen. (Wir lassen dabei außer Betracht, daß es in diesem Denken auch Idealstaats- und Weltreichsideen gab).
Augustinus, der große Kirchenvater des 4. Jahrhunderts, erklärte diese Geschichtsauffassung vom ewigen Kreislauf für falsch und unchristlich gegenüber der Einmaligkeit des Opfertodes Christi und dem Heilsweg der Christen. Dabei nannte er die antike Auffassung «revolutio saeculorum», d.h. Wiederkehr der Zeiten (durch kreisförmige Umwälzung). Das spätantike Wort revolutio war bildhaft gemeint, man verwendete es vor allem in der Astronomie für den Umlauf des Mondes. Es war natürlich auch herabwürdigend gemeint und bedeutete gegenüber unserem Revolutionsbegriff geradezu das Gegenteil, nämlich das Ewiggleiche, dem nicht zu entrinnen ist.
Auch das Mittelalter hatte unseren Revolutionsbegriff nicht, obwohl es tatsächlich Veränderungen gab, die etwas Revolutionäres hatten: etwa die Verfassungskämpfe der Stadtkommunen, die Hussitenbewegung, die Bauernaufstände des 14. und 15. Jahrhunderts. All das wurde begriffen und proklamiert entweder als Aufruhr (seditio, rebellio), also als Vergehen gegen die anerkannte Gesamtordnung und damit als Vergehen gegen Gottes Gebot – vorzugsweise, wenn die Sache mißlang –, oder als Widerstand gegen unrechtmäßig handelnde Herrschergewalt, also als Wiederherstellung des guten alten Rechts. Das finden wir z.B. bei der Schweizer Eidgenossenschaft 1291. Hierfür gab es das Widerstandsrecht und eine – sehr umstrittene – Tyrannenlehre. Auch die kirchlichen Neuerungen wurden als Wiederherstellungen aufgefaßt, Wiederherstellungen nach erkannten Abweichungen vom wahren heilsgeschichtlichen Weg. Man nannte es reformatio, – ein Begriff, der dann auch, neben renovatio, für weltlich-verfassungsmäßige Neuerungswünsche üblich wurde. «Reformatio Sigismundi» heißt die berühmteste deutsche politisch-soziale Reformschrift des 15. Jahrhunderts. Erst durch Luthers Tat wurde der Begriff Reformation wieder auf die kirchliche Reform reduziert, allerdings auf eine besonders revolutionäre, und das dürfte nicht untypisch sein für das Verhältnis der Reformationshoffnungen vor Luther zu dem, was Luther dann tatsächlich tat.
Luthers Zeit ist der Beginn der Neuzeit. Staat und Politik verselbständigen sich gegenüber der bisher beherrschenden Kirche. Nach dem Vorbild der klassischen Antike bildet sich in der italienischen Renaissance ein neues politisches Bewußtsein aus. Ist hier der Ursprung unseres Revolutionsbegriffes zu finden? Machiavelli, in der turbulenten Zeit der italienischen Stadtstaaten aufgewachsen, die ständig Umsturzbewegungen innerhalb ihrer Mauern hatten, einander bekriegten und obendrein von großen auswärtigen Mächten – Frankreich, Spanien, dem Kaiser – überwältigt wurden, – dieser Machiavelli erkannte und beschrieb staatliche Umwälzungen als Angelpunkte des politischen Geschehens. Hier setzte sein Interesse ein. Es bezog sich nicht oder kaum auf eine bestimmte Verfassungsform, nicht auf den jeweiligen politischen oder sozialen Fortschritt, sondern auf die Ursprünge solcher Veränderungen, auf die Manipulation und Unterdrückung von Aufständen, auf die geheime oder offene Usurpation der Staatsgewalt. Also auf die Kunst der Verschwörungen und auf das Geschick der Fürsten. Machiavelli nannte das einfach Veränderungen, mutazioni, variazioni. Das Wort revolutio, rivoluzione war nach dem abfälligen Gebrauch durch die Kirchenväter abgesunken zu «Aufwiegelung, Wirren», und so braucht es Machiavelli, dabei übrigens typischerweise niemals für Umwälzungen, die Erfolg gehabt haben.
Auch das revolutionsähnlichste Ereignis des späteren 16. Jahrhunderts, nämlich die Erhebung der Niederlande gegen Spanien, nannte man nicht Revolution und sah es auch nicht als eine solche in unserem Sinne an, sondern vielmehr wie im Mittelalter als Bewahrung alter Rechte und als Ausübung des gesetzlichen Widerstandsrechts.
Kurz danach, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, fand aber das Wort Revolution von neuem und in ganz anderer Bedeutung Eingang in den Wortschatz der Politiker. Es geschah wiederum als bildhafte Übernahme aus der Astronomie: einer Astronomie allerdings, die durch Kopernikus, Kepler und Galilei und ihre Neuentdeckungen an wissenschaftlichem und allgemeinem Ansehen enorm zugenommen hatte. Das allgemeine Anselren – und das wird für unsere Begriffsgeschichte wichtig – war freilich weniger an der Erkenntnis der Erd- und Planetenbewegungen orientiert als an ihrer astrologischen Ausdeutung, die entsprechend zu gleicher Zeit zunahm. (Man weiß es etwa aus dem Aberglauben Wallensteins. Selbst Kepler und Tycho Brahe stellten Horoskope.) 1543 erschien das Hauptwerk von Kopernikus: ‹De revolutionibus orbium coelestium›, d.h. über die regelmäßigen Rundbewegungen der Gestirne, und man spekulierte nun darüber, wie man die vielen politischen und religiösen Veränderungen der Welt mit den Bewegungen der Gestirne in Verbindung bringen könnte, man glaubte also (ganz anders als Machiavelli) an ihre übermenschliche kosmische Abhängigkeit. Kepler distanzierte sich zwar von den Tendenzen der «gewöhnlichen Astrologen», wie er sagte, von der astronomischen Revolution eines Jahres auf eine Revolutio Mundana, eine Gesetzmäßigkeit des gleichzeitigen Weltgeschehens, zu schließen. Aber seinem Zeitgenossen Galilei wird das Wort zugeschrieben: «Die Revolutionen des Globus, den wir bewohnen, bewirken die Unfälle und Zufälle des Menschenlebens.»[9]
Nun, im 17. Jahrhundert, hieß «Revolution» im anspruchsvollen Sinne – es konnte auch noch einfach «Wirren» heißen –: Wendung zu einer neuen politischen «Konstellation». Das Wort eignete sich, weil für viele darin noch die politische Kreislauftheorie des Polybios mitschwang, für viele andere die (mittelalterliche) Vorstellung einer rückläufigen Bewegung zur Wiederherstellung eines geordneten Zustandes. Entscheidender ist aber der mit diesem Wort ausgedrückte übermenschliche, der kosmische Bezug des Geschehens. Man kann in dem astrologischen Aberglauben eine Art Ersatzreligion nach der Erschütterung des mittelalterlichen christlichen Weltbildes sehen.
Im Laufe des Jahrhunderts zog man das Wort Revolution dann immer mehr von den Gestirnen auf die Erde herab und trennte es immer mehr von ihnen. Aus der kosmischen Macht wird mehr und mehr etwas Weltliches: die geschichtliche Notwendigkeit, die staatlich-gesellschaftliche Berechtigung des Umschwungs.
Ich nenne die Hauptbeispiele. Als Heinrich IV. von Frankreich 1593 katholisch wurde, um den stärksten Widerstand gegen seinen Thronanspruch zu brechen – Paris war ihm bekanntlich schon eine Messe wert – bezeichneten das die Zeitgenossen als eine Revolution, d.h. als eine politische Veränderung, die mit der Unbeeinflußbarkeit einer Sternumdrehung sich vollzogen hat (Griewank) und gegen die nun Widerstand sinnlos ist. Heinrich soll die Konversion auch «zur Stunde eines geeigneten Sonnen- und Mondstandes» vollzogen haben. Auch die Vorstellung der Restitution der Ordnung nach jahrelangen Wirren ist bei dieser Wortwahl inbegriffen.
Bei den englischen Unruhen des 17. Jahrhunderts ist die Verwendung und Nichtverwendung des Revolutionsbegriffes noch deutlicher. Die Empörung des Parlaments und der Bürgerkrieg 1640–60, also das, was wir heute die puritanische oder große englische Revolution nennen, hieß bei den Königstreuen «rebellion» oder «civil war», bei den Revolutionären «restoration», d.h. Restauration der alten parlamentarischen Privilegien. Das Wort «revolution» wurde von den Königstreuen auf die Wiederherstellung des Königtums von 1660 angewandt, also auf das, was wir Restauration nennen. Es war gemeint im Sinne von unabwendbarer guter Rückkehr zur Ordnung, zum richtigen Staatszustand. (Bei kühleren Geistern wie Hobbes mochte auch die Kreislauftheorie eine Rolle spielen: für ihn ist 1640 bis 1660 insgesamt «revolution», einschließlich der Restauration.)
1688 zwang das Parlament König Jakob II. aus Furcht vor einer Wiedereinführung des Katholizismus zur Abdankung und berief Wilhelm III. von Oranien auf den Thron. Diese unblutige Staatsveränderung wurde ‹Glorious Revolution› genannt. Dahinter stand der Anspruch der Umstürzler, daß dies, noch mehr als 1660, eine rühmliche, legitime Wiederherstellung des echten und richtigen Staatszustandes sei.
Erst durch diese Namengebung der ‹Glorious Revolution› wurde das Wort, das vorher nur selten, beinahe ausnahmsweise zu finden ist, ein allgemein üblicher politischer Begriff. So spät also wurde das Wort gebräuchlich, und, wie man sieht, keineswegs in unserem Sinn. Die englische Revolution von 1688 galt im 18. Jahrhundert als die Revolution, so wie im 19. Jahrhundert die französische Revolution von 1789 als die oder die große Revolution galt. Man gebrauchte aber im 18. Jahrhundert das Wort darüberhinaus, besonders in Frankreich, für jede andere erfolgreiche Staatsveränderung in Geschichte und Gegenwart. Man teilte in historischen Darstellungen die Geschichte eines Staates nach seinen «Revolutionen» ein, d.h. nach den politischen Änderungen, die durchaus auch außenpolitisch, also etwa durch Kriege und Friedensschlüsse, geschehen sein konnten. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Staatsverfassung und Politik. (Eine Revolutionsdarstellung vor 1789 wäre also einfach eine Staatsgeschichte gewesen.)
Die Philosophen der französischen Aufklärung begannen aber, den Begriff auf geistige, sittliche und gesellschaftliche Veränderungen auszudehnen. Er wurde bei ihnen ein Modewort für Veränderung, beinahe wie heute, für eine etwas forcierte Veränderung, oder es war ein etwas forcierter Ausdruck dafür. Voltaire nannte die Reformation die erste große Revolution, die sich im menschlichen Geist und zugleich im politischen System von Europa vollzogen habe. Und für seine eigene Zeit sah er eine révolution des esprits voraus, für die der Same gelegt sei (nämlich durch die Philosophen der Aufklärung). Nicht mehr Bürgerkriege seien nötig, sondern wohltätige, unblutige Revolutionen. Rousseau glaubte mehr als der skeptische Voltaire an die gesellschaftlichen und technischen Fortschritte in der Zivilisation (die er freilich verderblich fand): ihre Mittel seien Revolutionen. Andere Revolutionen würden aber die üblen Folgen der Zivilisation, d.h. Ungleichheit und Korruption, hinwegfegen. 1762 erklärte er in diesem Sinne im ‹Emile›: «Wir nähern uns dem Jahrhundert der Revolutionen».[10]
Das sind aber alleinstehende, freilich kennzeichnende und wirkungsvolle Vorwegnahmen des modernen Revolutionsbegriffs. Allgemein verstand man bis zum Beginn der Französischen Revolution von 1789 unter diesem Begriff staatliche Veränderungen, daneben zuweilen geistige, gesellschaftliche, aber nicht Rebellion und sozialen Aufruhr. Man «verfügte über kein Wort, das einen Umschwung bezeichnet hätte, in dem die Untertanen selbst zu Herrschern werden.» (H. Arendt).[11]
Erst die Französische Revolution selbst ändert den Revolutionsbegriff und das Revolutionsbewußtsein. Man kann geradezu den Moment des Umschwungs zum modernen Revolutionsbegriff fixieren. Als dem König Ludwig XVI. am Abend des 14. Juli 1789 vom Sturm auf die Bastille durch den Pariser Pöbel berichtet wurde, soll er entsetzt gerufen haben: «C’est une révolte!» Das war die herkömmliche Auffassung des Ereignisses. Der Berichterstatter, der Duc de la Rochefoucault-Liancourt, Großmeister der Garderobe, soll erwidert haben: «Non, Sire, c’est une révolution.»
Hannah Arendt sagt zu diesen Worten: «Durch diese Worte hindurch meinen wir noch heute zu sehen und zu hören, wie eine große Volksmenge sich in Bewegung setzt, wie sie einbricht in die Straßen und Paris überflutet, und Paris war damals nicht nur die Hauptstadt Frankreichs, sondern die Kapitale der gesamten zivilisierten Welt. Wir meinen zu sehen, wie der Aufstand des Volkes für Freiheit sich sogleich mit dem Aufruhr des Großstadtmobs verbindet, wie sie beide zugleich auftreten, unwiderstehlich in ihrer Massenhaftigkeit. Und es ist, als erscheine diese Masse des Volkes zum erstenmal im hellen Licht der Öffentlichkeit und mit ihr das Elend, die Erniedrigung und Beleidigung der Armen und Unterdrückten, die durch Jahrhunderte hindurch in der Finsternis ihrer ‹Schande› gehalten worden waren. Das Unwiderrufliche, das damals geschah in der Hauptstadt der zivilisierten Welt und was Führern und Zuschauern der Ereignisse gleichermaßen schlagartig evident wurde, war, daß der öffentliche Raum – der, soweit unsere Erinnerung reicht, immer denen vorbehalten war, die bereits frei waren, nämlich befreit von der Sorge und Not um die Lebensnotwendigkeiten, um die unabweisbaren Bedürfnisse des menschlichen Körpers – nun plötzlich sich dieser ungeheuren Mehrheit der Menschen öffnen sollte, die nicht frei sind, weil sie getrieben werden von der Sorge um den täglichen Lebensunterhalt. Aber Liancourt sah mehr. Er sah mit leibhaftigen Augen, wie unter diesem Ansturm die alte Ordnung zusammenbrach. Die Soldaten hatten nicht geschossen, die Instrumente der Autorität funktionierten nicht mehr. Dies war das Ende, das sich lange angekündigt hatte.»[12]
Wir können das von unserer Begriffsgeschichte her noch verdeutlichen: Liancourt tut geradezu etwas Revolutoäres, wenn er den Massenaufruhr mit dem hohen, für staatliche Veränderungen und geistige Fortschritte gebräuchlichen Ausdruck «Revolution» kennzeichnet. Es ist beinahe eine Ehrenbezeichnung. Und die Revolutionäre werden diese Anschauung verbreiten. Nicht nur das Unwiderstehliche, Übermenschliche, das geschichtlich Notwendige des Aufruhrs ist damit gekennzeichnet, wie Hannah Arendt ausführt: der Anspruch, die rechte Ordnung herzustellen, wird damit in der Nachfolge der englischen Glorreichen und übrigens auch der eben geschehenen amerikanischen Revolution für die politische, die geistige und die soziale Seite des Aufruhrs gemacht. Ich sage: herzustellen, nicht: wiederherzustellen. Anfangs glaubte man zwar, wie üblich, restaurieren zu können, aber entscheidend wird für die Französische Revolution und ihr modernes Revolutionsbewußtsein, daß sie etwas Neues will – gegen den Wortsinn Revolution –, daß sie einen gewaltigen und gewaltsamen Fortschritt in der menschheitlichen Entwicklung will. Begriffsgeschichtlich typisch ist dafür auch, daß das Wort Revolution 1789 ein Kollektivsingular wird. Man spricht von «der» Revolution, der «großen» oder der «permanenten» Revolution.
Die Französische Revolution von 1789 ist also faktisch und bewußtseinsmäßig die erste europäische Revolution im vollen Sinne. Erst von ihr aus können wir versuchen zu definieren, was wir noch heute unter einer Revolution verstehen. Ich tue es im Anschluß an die vorsichtige Definition von Karl Griewank: «Ganz eindeutig ist der Name der Revolution bisher nur geworden für bestimmte geschichtliche Gesamtphänomene, in denen sich dreierlei verbindet: Der stoßweise und gewaltsame Vorgang (Durchbruch, Umbruch) insbesondere in bezug auf die Umwälzung von Staats- und Rechtsverhältnissen; weiter ein sozialer Inhalt, der in Gruppen- und Massenbewegungen, meistens auch in offenen Widerstandshandlungen derselben in Erscheinung tritt, und schließlich die ideelle Form einer programmatischen Idee oder Ideologie, die positive Ziele im Sinne einer Erneuerung, einer Weiterentwicklung oder eines Menschheitsfortschrittes aufstellt. Mag das eine oder andere dieser Elemente für spezielle Begriffsbestimmungen der Revolution entbehrlich sein, so bilden sie zusammen doch erst die ‹Revolution› im Vollsinne, die sich deutlich von der Fülle ständiger und schwer voneinander zu trennender Wandlungserscheinungen in der Geschichte abheben läßt.»[13]
Das Ganze läßt sich auch einfach in den berühmten drei Schlagworten der Französischen Revolution fassen: Liberté, Égaliré, Fraternité.
Liberté –: das ist die politische Seite der Revolution; die Anschauung, daß das Volk oder ein großer Teil des Volkes tyrannisiert wird, d.h. daran gehindert wird, seine politischen Rechte wahrzunehmen und die Politik seines Landes mirzubestimmen. Gegen die als Tyrannis empfundene Herrschaft (meist von neuen fremden Herrschern, aber auch von eigenen, besonders im Absolutismus) berief man sich früher auf die alten Privilegien: in der Schweiz, in den Niederlanden, in der englischen Revolution. Später berief man sich auf das natürliche Recht des Menschen auf Freiheit: z.T. schon in der Glorreichen Revolution (Locke), dann in der amerikanischen und französischen Revolution. Ihre Erklärung der Menschenrechte war freilich nur eine allgemeine Grundlage. Die speziellen politischen Rechte (und Pflichten) waren bei Amerikanern und Franzosen nicht althergebracht, sondern mußten vermittels einer Verfassung festgelegt werden.
Égalité –: das ist die soziale Seite der Revolution; die Anschauung, daß die ungleiche rechtliche und damit ungleiche gesellschaftliche Stellung der Menschen in der ständischen Gliederung abgeschafft werden muß. Hierfür gab es in den Empörungen unterer städtischer Schichten und in den Bauernaufständen seit dem Spätmittelalter historische Vorbilder und Vorläufer, aber wir sahen, wie neu diese Seite für eine Revolution war.
Fraternité –: das ist, könnte man sagen, die geistige Seite der Revolution; die Anschauung, die erstmals in der Französischen Revolution auftaucht, daß die ganze Nation zusammengehört, und darüberhinaus die ebenso erstmalige Anschauung, daß die Ideen dieser Revolution – Freiheit und Gleichheit – Menschheitsideen sind und der ganzen Welt mitgeteilt werden müssen; denn alle Menschen sollen Brüder sein. Ein geistiger oder zum Teil auch ideologischer Fanatismus also, den es früher nur bei religiösen Bewegungen gab, zuletzt bei den reformatorischen. Deshalb war auch Tocqueville, einer der bedeutendsten Analytiker der Französischen Revolution, der Meinung, daß die Französische Revolution eine politische Revolution gewesen sei, die in der Art religiöser Revolutionen verlaufen sei.[14]
In der Tat wurde ja die Französische Revolution durch diesen ihren Sendungswillen zur Mutter aller späteren Revolutionen bis zur russischen von 1917, während die englische Revolution des 17. Jahrhunderts einen Sendungswillen so gut wie überhaupt nicht gekannt hat.
Tatsächlich und bewußtseinsmäßig ist also die Französische Revolution eine große Epoche, etwas außerordentlich Neues in der europäischen Geschichte. Man kann sie nur vergleichen mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit durch die Reformation, aber viele Historiker halten den Einschnitt der Französischen Revolution für weit tiefer, weil es ein geistiger, politischer und sozialer Umbruch war. Über die Tatsache der beiden ersten Umbrüche sind sich heute alle Historiker einig, nicht so über den sozialen Umbruch, worauf noch später einzugehen sein wird.
Sie hat zu ganz neuen, viel reicheren Forschungen und Ergebnissen über die menschliche Geschichte und Gesellschaft geführt.
Die moderne Geschichtswissenschaft ist eigentlich durch die Französische Revolution entstanden. Soviel man auch vorher geforscht und dargestellt hat, so ausgebildet das weltgeschichtliche Denken auch schon im 18. Jahrhundert war – einen existentiellen Wert bekam die Frage nach der Vergangenheit erst durch diesen radikalen Versuch, mit aller Vergangenheit zu brechen. Der Engländer Edmund Burke war der erste, der, so freiheitsbewußt er selber war (was man daran sehen kann, daß er als Engländer sogar Verständnis für die amerikanische Revolution gezeigt hatte), gegen diesen Bruch mit aller Überlieferung, der nur in eine Schreckenszeit auslaufen konnte, den Wert der Tradition und Sinn der organischen, natürlichen Entwicklung (der Evolution) deutlich machte. Hatten doch diese positiven Werte in England zu der schönen Glorreichen Revolution geführt! Damit hat er auf die politische und histotische Auffassung in England und besonders auch in Deutschland stark eingewirkt. Gegen das weltweite Sendungsbewußtsein der Französischen Revolution, das sich ja unter Napoleon in die Eroberung des Kontinents verkehrte, hob die deutsche histotische Schule, besonders Ranke, die Eigentümlichkeit jeder europäischen Nation hervor. So bildete sich der Historismus aus, nicht einfach abgestoßen von der Revolution, sondern in höchstem Maße angeregt durch sie zu vertiefter geschichtlicher Erkenntnis.
Ebenso ist die Gesellschaftslehre, die Soziologie, durch die Französische Revolution entstanden, nämlich durch das Licht, das dieses historische Ereignis plötzlich in die ganze Tiefe der sozialen Schichtung eines Volkes warf. Die Gesellschaftslehre von Auguste Comte und viele andere gründeten sich darauf. Besonders hell wurde natürlich das Bürgertum beleuchtet. Von seinem Sieg her deutete man die Revolution als Übergang von der ständisch gegliederten zur industriellen Gesellschaft. Man erkannte dabei die umwälzende Bedeutung der neuen naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen für die Machtsteigerung des Bürgertums. Die Frage, ob nicht überhaupt Naturwissenschaft und Technik die eigentliche Revolution dieser Zeit und der eigentliche große Bruch mit der ganzen bisherigen Geschichte bedeutet haben, hat seither nicht geruht, ebensowenig die andere, ähnliche Frage, ob nicht die «industrielle Revolution» die eigentliche war.
Soviel zur Sonderstellung der Französischen Revolution, die ich hier vor allem von der Begriffsgeschichte aus klarzumachen versucht habe.
La Révolution française n’a existé dans sa réalité, dans son langage, dans certaines de ses vérités, qu’un sièle après 1789. Il a fallu un siècle!
Fernand Braudel 1985[15]
Einen Schritt näher treten wir an die Untersuchung der Französischen Revolution heran, wenn wir uns nun mit der bisherigen Erforschung ihrer Geschichte beschäftigen, mit der Geschichte der Geschichtsschreibung über die Französische Revolution. Diese Fragestellung wirkt immer etwas wie Selbstbespiegelung oder Inzucht der Geschichtswissenschaft, längst ist aber ihr großer erkenntnisfördernder Wert zutagegetreten.
Sich nicht mit der bisherigen Literatur auseinanderzusetzen, sie nicht oder nur das allerneueste zur Kenntnis zu nehmen, heißt: flach und einseitig, ohne Berücksichtigung anderer Gesichtspunkte schreiben. Originelle Ideen können sehr alt sein. «Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen», wie Hermann Heimpel einmal gesagt hat.[16] Eine solche Nichtberücksichtigung bedeutet auch, daß man in weit höherem Maße, als einem bewußt ist, die wenige (neueste) Literatur kopiert, die man kennt, – einfach weil man ihre Fragwürdigkeit und Einseitigkeit nicht erkennen kann. Es heißt, daß man sich über seine eigenen Voraussetzungen, über die Voraussetzungen des eigenen Standpunktes nicht klar wird. Ältere Literatur ist in der Geschichtswissenschaft im allgemeinen weit weniger veraltet als etwa in naturwissenschaftlichen Fächern.