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Titel

Für meine lieben Eltern
Anne & Herbert Freund

- 1 -

Elf Monate zuvor …

Er kam rasend schnell näher.

Ein gleißend heller Punkt, nicht größer als der Kopf einer Stecknadel. Ausgespuckt von tiefschwarzer Nacht und hinausgespien auf die Landstraße.

Ein Motorrad, dachte ich. Aber es war keines.

Nur wenige Sekunden später spürte ich meine Beine nicht mehr.

Nach einem verzweifelten Ausweichmanöver und der Kollision mit einem Baum war die Kraftstoffleitung gerissen.

Ich war plötzlich umgeben von Flammen, die über das ausgelaufene Benzin wie an einer Zündschnur entlang auf meine Beine zurasten.

Eingeklemmt unter dem umgestürzten Wagen, stemmten und gruben sich meine Handballen in das feuchte Erdreich, während ich verzweifelt versuchte, mich von dem brennenden Wrack wegzubewegen.

Ich presste meine Kiefer aufeinander, ächzte, stöhnte und schrie letztlich meine aufgestaute Qual in die Nacht hinaus.

Glas. Überall lag Glas herum. Ich hatte es sogar in meinen Haaren. Kein Fenster, das an meinem Wagen heil geblieben war. Ich hatte die Windschutzscheibe bersten sehen.

Mein Wagen war etliche Meter von der Fahrbahn abgekommen, die irgendwo da oben in schier unendlicher Ferne verlief. Eine Landstraße, wenig befahren, erst recht um diese Zeit. Halb zwei Uhr in der Nacht, vielleicht war es inzwischen auch später. Wieviel Zeit vergangen war, wusste ich schließlich nicht.

Der andere Wagen, der mit dem defekten Scheinwerfer, war längst auf und davon.

Beißender Qualm lag in der Luft. Mein Auto produzierte ihn im Überfluss. Ich hustete mir die Seele aus dem Leib, während meine Sicht von Tränen verschleiert war.

Meine Beine standen in Flammen.

Ich schrie wie noch niemals zuvor in meinem Leben.

Ich versuchte, mich aufzubäumen, um das entsetzliche Gewicht von meinen Knien und meinen Unterschenkeln zu nehmen. Ich griff in die Flammen, berührte glühend heißes Metall und sank irgendwann, in dem furchtbaren Augenblick, in dem ich mein Leben und mich selbst aufgab, in das feuchte Gras zurück.

Für mich war es vorbei. Keine Hoffnung auf Rettung.

Ausgespielt, Hendrik Torn.

- 2 -

„SCHAFFEN SIE DIE Treppe?“

Ich blickte nach oben, blinzelte gegen die Sonne. Die Konturen des Mannes nahm ich nur schemenhaft wahr.

Die Treppe.

Noch vor ein paar Wochen hätte sie für mich ein unüberwindbares Hindernis dargestellt. Alles in mir hätte sich gesträubt, meine Beine in einem derartigen Winkel anzuheben. Mit jedem Schritt ging die Angst davor, die nachgewachsene Haut oberhalb meiner Schienbeine könnte dem Druck nicht standhalten und würde reißen.

Ich presste meine Lippen aufeinander und nickte entschlossen.

Irgendwo da oben lag meine Zukunft. Dort sollte etwas beginnen, was ich im Stillen bereits als mein zweites Leben bezeichnete. Ein Leben ganz ohne Ärzte, ohne Verbandsschwestern und ohne Cannabis, das ich gelernt hatte zu inhalieren. Vielleicht sogar ein Leben ohne Schmerzen, auch wenn mir diese Vorstellung im Moment noch wie eine Utopie erschien.

Für einen Augenblick spürte ich eine Angst in mir aufkeimen. Die Angst davor, dass diese Zukunft einzig und allein an dieser Treppe scheitern würde. Der Kerl dort oben würde jeden meiner verzweifelten Schritte überwachen. Und er wäre der Erste, der zu Doktor Degner gerannt käme, um ihm davon zu erzählen, dass ich noch nicht so weit sei. Schlimmer noch, dass ich es mit Sicherheit niemals packen würde.

Die Angst wurde von einer Welle aus Wut abgelöst. Ja, ich begann, den Mann über mir zu hassen. Dafür, dass er in diesem Augenblick eine solche Macht über mich hatte, dass er von oben auf mich herabsah. Dass er vielleicht insgeheim hoffte, ich würde schon bei der dritten Stufe laut aufschreien und aufgeben. Vielleicht grinste er dabei.

Ich hob meinen rechten Arm und schirmte meine Augen gegen die Sonne ab.

„Natürlich“, sagte ich mit einem Lächeln.

Die Konturen des Mannes von der Wohnungsgesellschaft waren ein klein wenig klarer geworden. Er stand am oberen Ende der fünfzehn Stufen, und in seinem Gesicht lag eine Mischung aus Neugier und zur Schau getragener Besorgnis.

Ich packte die Griffe meiner Krücken fester und hievte mich die erste Stufe hinauf.

Na bitte.

Ich hoffte, der Kerl würde registrieren, wie leicht mir das gefallen war.

Wind zerrte an meinen Hosenbeinen und an meiner Jacke. Es war kalt oder frisch, wie man hier oben sagt.

Rechts neben mir rollten die Ausläufer weißer Wellen an den Strand. Eine Joggerin bewegte sich vorbei, mit Kopfhörern, die wie Ohrenschützer aussahen. Neben ihr rannte ein heller Labrador Retriever und hielt seine Schnauze in den Wind.

Ich setzte die gummierten Füße meiner Krücken auf der nächsten Stufe auf. Ich ächzte leicht, als ich das Hindernis überwand, und hoffte, dass der andere es nicht gehört hatte.

Natürlich hatte er das. Er wartete doch geradezu auf jedes kleine Anzeichen meiner Schwäche. Oder etwa nicht?

Mit einem Mal fühlte sich meine dicke Jacke zu eng an. Ich spürte, wie mir der Schweiß aus allen Poren ausbrach und sich auf meinem Rücken sammelte.

Ich hoffte, der andere hatte ausreichend Zeit mitgebracht.

Der Weg hier hinunter an den Strand war beschwerlich gewesen, und das, obwohl der Taxifahrer mich so nahe wie möglich an die Uferpromenade herangefahren hatte.

Ich spürte das Kribbeln in meinen Unterschenkeln. Da war etwas in mir, das diese Treppe nehmen wollte. Jede einzelne Stufe. An ihrem Ende lag die Verlockung. Die Verheißung eines besseren Lebens. Eines anderen Lebens. Dass sich Änderungen einstellen würden, damit hatte ich mich inzwischen abgefunden.

Stufe Nummer drei.

Meinen Beruf, das Schreiben, hatte ich immer schon als Geschenk empfunden. Ich würde weiter von zu Hause aus arbeiten können, nur würde ich häufiger als üblich Pausen einlegen müssen. Die größte Herausforderung bestand im Augenblick noch darin, eine Position zu finden, in der die Schmerzen von einem wütenden Brüllen auf ein sanftes Murmeln abklangen. Auf ein Stadium, das ich mittlerweile in Gedanken ausblenden konnte, wenn ich mich nur gut genug darauf konzentrierte.

Stufe vier.

Eine Windbö traf mich mit voller Kraft, zog und zerrte an mir, versuchte, mich ans Ende der Treppe zurück zu katapultieren. Ich hielt der Kraft stand, stemmte mich dagegen, bäumte meinen Oberkörper auf.

Der Wind pfiff durch die offenen Treppenstufen und blies mir losen Sand ins Gesicht.

Ich setzte meine Krücken auf und bewegte mich weiter nach oben. Natürlich hatten andere Wohnungen zur Auswahl gestanden.

Oben in der Siedlung gelegen. Bei den anderen Häusern im Ort. Ebenerdig. Bequem mit dem Auto und zu Fuß erreichbar.

Aber die hatte ich nicht gewollt. Sie hätten kaum einen Unterschied zu meiner Stadtwohnung dargestellt.

Nein, ich wollte mit dem Wind und den Wellen kommunizieren, wenn ich tagsüber an meinem Laptop saß oder mich nachts schlafen legte.

Ich wollte die Einsamkeit. Wollte allein sein.

Und deshalb stand ich jetzt hier, quälte mich die Stufen nach oben. Nicht etwa, um dem Kerl da oben etwas zu beweisen. Oder mir.

Es handelte sich auch nicht um eine Flucht aus den beiden Reha-Aufenthalten, die hinter mir lagen und insgesamt drei Monate meines Lebens verschlungen hatten, das mir inzwischen so kostbar erschien.

Ich brauchte Ruhe, und die würde ich nur hier bekommen. Doktor Degner hatte mir einen Prospekt zukommen lassen, ein blaues Hochglanz-Faltblatt, auf das er einen gelben Post-it geklebt hatte, versehen mit zwei Reihen seiner dünnen Handschrift, die auf mich immer so ungelenk wirkte, als hätte er einen Magnum-Kugelschreiber aus Beton verwendet.

Ich wollte von Anfang an das Krähennest, und ich sollte es bekommen.

Es war noch weit vor der Saison, es gab noch keine Reservierungen. Es war die Zeit, in der die Menschen allenfalls damit begannen, ihren nächsten Urlaub zu planen oder zu buchen. Bis Ostern könnte ich es mir hier bequem machen, vorausgesetzt, ich würde wieder zu mir selbst finden und zu den Dingen, die mir wichtig waren, die mein Leben ausmachten.

„Für einen Moment dachte ich schon, Sie schaffen’s nicht“, sagte Ingo Lausen, der mich mit einem verkniffenen Lächeln ansah, als ich die fünfzehnte Stufe hinter mir gelassen hatte und schnaufend neben ihm stand.

Ich öffnete meine Jacke und bog mein Kreuz durch, die Krücken mit meiner rechten Hand umklammernd.

Es hatte viele dieser Momente gegeben, in denen ich dasselbe gedacht hatte. Aber die lagen weit hinter mir, und ich betete, dass es auch so bleiben würde.

Laut Doktor Degner konnten posttraumatische Symptome jederzeit auftreten. Laut seinen Aussagen waren diese Erscheinungen selbst nach über zwölf Monaten keine Seltenheit. Seine Stimme hatte damals, vor fünf oder sechs Wochen einen ernsten Unterton angenommen, als er so vor mir saß, das rechte Bein über das linke geschlagen, seine Brille an einem Bügel in der Hand haltend.

Keine Seltenheit bedeutete für mich damals, dass es mich mit Sicherheit treffen würde. Wie auch immer sich diese Symptome äußerten. Degner musste damals meine Verunsicherung gespürt haben, denn er machte sofort eine abwehrende Handbewegung und beugte sich in seinem schwarzen Arztstuhl aus knarzendem Kunstleder nach vorne.

„Ich rechne bei Ihnen nicht damit“, hatte er gesagt. „Aber es ist meine Pflicht, Sie zumindest darauf hinzuweisen.“

„Worauf genau?“, hatte meine Frage gelautet.

„Nun, man spricht allgemein von organischen Psychosen, die oftmals in Koexistenz mit einer Bewusstseinsstörung auftreten. Gestörte Wahrnehmungen, Halluzinationen, bis hin zu Wahnvorstellungen. Andere wiederum haben in dieser Zeit nur einige … lebhafte Träume.“

Ich hatte da gesessen und dem Mann mit den grauen Schläfen zugehört, während er mich aufmerksam beobachtete, als wolle er feststellen, inwieweit meine Träume (und ich hatte in dieser Zeit weitaus lebhaftere als mir lieb gewesen waren) möglicherweise noch meine Tage beeinflussten.

„Die meisten allerdings, die ein wirkliches Problem mit ihrem Trauma haben, greifen zu Alkohol oder Tabletten.“

Wieder dieser durchdringende, leicht stechende Blick. Zu jener Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich vor Degner nichts verbergen konnte. Und höchstwahrscheinlich traf diese Überlegung sogar den Nagel auf den Kopf. Hätte mein Arzt seinerzeit irgendwelche dieser Symptome an mir erkannt, hätte er vermutlich darauf verzichtet, den blauen Prospekt mit den Ferienhäusern an der Ostsee an mich zu adressieren.

„Machen Sie sich um mich keine Sorgen“, hatte ich geantwortet, und zwar nicht nur Doktor Degner.

Ich ertappte mich dabei, dass ich dieselben Worte auch Ingo Lausen gegenüber benutzt hatte.

Ich stand auf der kleinen Hochterrasse, die mit einem hölzernen Geländer umfasst war. Von dort blickte ich über den weiten, gelbgrauen Sand. Die Joggerin und ihr Hund waren in der Ferne längst zu winzig kleinen Punkten geworden, die sich an der leicht schäumenden Wasserlinie entlang in östlicher Richtung bewegten.

Ich drehte mich zu Lausen um, der in seinem dünnen, grauen Geschäftsanzug zu frieren schien.

Er langte in seine Tasche und zog einen kleinen Schlüsselbund heraus. Den Haustürschlüssel reckte er demonstrativ in die Höhe, als würde er mir die Pforte zum Paradies öffnen.

Aber vielleicht war es ja genau das, was mich hinter der vollverglasten Tür erwarten würde.

Lausen schloss auf. Ich sah den Mann das erste Mal von hinten und erkannte, dass seine leicht fettigen Haare über den Kragen von Hemd und Sakko ragten.

Er öffnete die Tür, missachtete den Fußabtreter und war im nächsten Moment im Innern des Hauses verschwunden. Hinter der halb geöffneten Glastür konnte ich ihn nur als verzerrtes Abbild erkennen.

Ich folgte ihm und betrat zum ersten Mal das Haus, das mir in den kommenden zwei bis drei Monaten ein Heim werden sollte.

Die Glasfront, die hoch über dem Strand zum Wasser hinaus blickte, wurde von vier hohen, massiven Holzpollern gestützt, um die bisweilen, wenn der Sturm das Wasser in die Bucht drängte, die Ausläufer der Wellen spielten.

Aus dem Innern hatte der Betrachter einen herrlichen Ausblick über die Förde und die schlangenförmig verlaufende Küstenlinie, an der sich sandige Abschnitte mit solchen abwechselten, die mit zahlreichen kleineren und größeren Steinen versehen waren. Hier und da ragte ein Findling aus dem Sand.

„So geht es den meisten, die das erste Mal hier rauf kommen“, erklärte Lausen, der mich mit einem seichten Lächeln auf seinen schmalen Lippen beobachtet hatte.

Er lehnte mit dem linken Ellenbogen gegen einen dunklen Holztresen, der die Küche von dem großzügig angelegten Wohnbereich trennte.

Die Räume waren geschmackvoll eingerichtet und möbliert. Nichts, was meinen Sinn für Ordnung auf den ersten Blick störte. Im Gegenteil, ich sah mich bereits am Abend im Ledersessel sitzen (den ich in Richtung Ostsee drehen würde), mit einem guten Buch in der Hand, das von dezentem Licht der Stehlampe beschienen wurde.

Ein wenig abseits davon befand sich eine Couch mit einem Tisch in passender Höhe. Hier würde ich vielleicht in den nächsten Tagen wieder schreiben können.

Ein wenig hatte ich Skrupel vor dieser Situation, die sich vermutlich nicht weiter hinauszögern ließ. Wenn ich hier nicht wieder mit meinem Beruf Versöhnung schließen konnte, würde es mir vermutlich nie wieder gelingen.

Als mich der Unfall so unvermittelt traf, steckte ich mitten in der Arbeit an einem Roman über einen alternden Ermittler aus New York, dem ich den Namen Lucas P. Fulton verliehen hatte. Er war durch Misserfolge und Alkohol von der Spur, seiner Spur, abgekommen. Zudem hatte der Tod seines Partners dafür gesorgt, dass Fulton anfing, alles zu hinterfragen. Erst als das junge, französische Mädchen Colette in sein Leben trat, schöpfte er wieder ein wenig Hoffnung. Sie war der Grund dafür, dass er sich nicht, wie er es vorgehabt hatte, den Lauf seines Colts in den Mund geschoben hatte, um dann mit geschlossenen Augen abzudrücken. Aber auch Colette hatte ihre dunklen Geheimnisse, die sie vor Fulton hütete, bis sie sie auf dramatische Weise einholten. Ob es für Fulton und das Mädchen noch eine Zukunft gab, würde niemand mehr erfahren. Nicht einmal ich, denn ich hatte die Arbeit an diesem Buch abgebrochen. Nach meinem Unfall und der schmerzhaften, langsamen Genesung fand ich keinen Bezug mehr zu der Geschichte. Die Figuren erschienen mir hohl, eindimensional und hölzern. Sie hatten mir nicht das Geringste mehr zu sagen. Fast vierhundert Seiten, die nie das Licht der Welt erblicken würden, und vielleicht war das auch gut so.

Vielleicht war es Zeit, hier oben mit etwas Neuem zu beginnen. Was das sein würde, nun, das würden mir entweder das Murmeln der Wellen oder das Flüstern des Winds verraten.

„Sie sollten darauf achten, die Hintertür nicht allzu oft zu benutzen. Sie schließt etwas schlecht.“

Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Lausen seine Position am Tresen verlassen hatte und durch den Flur in Richtung der beiden Schlafzimmer gegangen war.

Ich drehte mich um und folgte ihm. Zwei praktisch eingerichtete Räume, in denen sich jeweils ein Bett, Kommoden, Schränke und Wäsche befanden.

Lausen blickte sich um und wirkte irgendwie erleichtert, als ich ihm folgte. Ich musste einen seltsamen Eindruck bei ihm hinterlassen, dachte ich. Aber es war mir vollkommen gleich, was er von mir dachte. Vielleicht war er auch bereits vorgewarnt worden, wer wusste das schon.

Lausen drängte sich an mir vorbei und öffnete eine Tür in meinem Rücken.

„Die Vorratskammer“, sagte er. „Die ist leider noch nicht allzu gut bestückt. Wir wussten nicht genau, wann genau Sie kommen würden.“

Nein. Ich hatte es bis zuletzt offen gehalten, ob ich überhaupt fahren würde. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mich vermutlich in meiner Stadtwohnung verkrochen, bis … ja, bis ich vielleicht wie Fulton geendet wäre. Ohne Aussicht auf ein Happy End.

„Der nächste Einkaufsmarkt ist eine ganze Ecke weg“, erklärte der Mann von der Wohnungsgesellschaft mit abschätzendem Blick auf die mehr oder weniger leeren Regale.

„Was heißt das?“, fragte ich. Nicht, weil es mich interessierte, sondern weil ich das Gefühl hatte, als erwarte Lausen eine Reaktion von mir.

„Naja, es sind ungefähr sieben Kilometer, und Sie …“, Lausen blickte auf meine Krücken, „… haben ja kein Auto.“

Er räusperte sich diskret. „Möglicherweise kann man mit dem Marktleiter sprechen, dass er Ihnen etwas hier heraus liefert. Oder ich gebe Ihnen die Nummer von Frau Schwarz.“

Wieder eine Pause. Gleiche Situation wie gerade eben.

Ich drehte mich zu ihm um, was mit den Krücken in der Enge des Wohnungsflurs zu einem Balanceakt für mich wurde.

„Verraten Sie mir, wer das ist?“

Lausen schloss die dünne Holztür. „Frau Schwarz ist unsere Reinigungskraft. Sie kümmert sich um die Häuser hier unten. Bisweilen übernimmt sie auch kleinere Besorgungen für unsere Mieter. Sie wohnt in Glücksburg, also gleich um die Ecke. Sehr zuverlässige Person. Und preiswert.“ Er zwinkerte mir zu.

„Warum nicht?“, entgegnete ich und bewegte mich an meinen Krücken zurück ins Wohnzimmer.

„Ich lasse Ihnen meine Karte da“, sagte Lausen. In meinem Rücken hörte ich ihn hantieren. Das Klicken eines Kugelschreibers. „Die Nummer von Frau Schwarz habe ich auf die Rückseite geschrieben. Sie ist im Grunde immer zu erreichen. Manchmal kann es sein, dass ihr Sohn dran geht. Ist ein etwas komischer Bursche. So ein – wie sagt man – Gruftie oder so. Aus der Gothic-Szene.“

Lausen sah, dass ich ihn anstarrte. Dann brach er ab und stieß ein kurzes Lachen aus. „Sorry, ich quatsche so vor mich hin, und dabei weiß ich ja noch nicht mal, ob Sie das Haus überhaupt mieten wollen.“

„Ich nehme es“, gab ich zurück.

Lausens Grinsen wurde breiter. „Schön. Sehr schön. Sie werden es hier sehr ruhig haben. Wissen Sie, ich meine, können Sie schon absehen, für wie lange?“

„Müssen wir das jetzt schon konkret festlegen?“, fragte ich.

Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Ist kein Problem. Rufen Sie einfach die Tage durch, und dann trage ich es bei uns ein. Haben Sie noch Fragen, Herr Torn?“

„Im Augenblick nicht“, antwortete ich automatisch, ohne über seine Worte nachzudenken.

Irgendwie wuchs in mir der Wunsch, allein zu sein. Auf die kalten Wellen hinauszublicken und an nichts zu denken.

„In Ordnung“, sagte Lausen und steckte seinen Kugelschreiber weg. „Dann helfe ich Ihnen aber noch mit Ihrem Gepäck.“

Ich wartete ab, bis Lausen die beiden Koffer und die Reisetasche nacheinander die Treppe hinauf gewuchtet hatte. Als er wieder vor mir stand, deutete er, etwas atemlos, auf den Flur zum Schlafzimmer. „Soll ich …“

„Nein“, wiegelte ich ab. „Das schaffe ich schon allein. Vielen Dank.“

Er drückte meine Hand und verabschiedete sich, nicht ohne noch einmal auf seine Visitenkarte hinzuweisen, die er auf der Ecke des Tresens platziert hatte.

Ich beobachtete, wie Lausen die Treppe hinunterstieg. Der Wind erfasste sein beinahe schulterlanges Haar und wirbelte es durcheinander.

Dann war er verschwunden, und ich war allein.

Ich atmete tief durch, ließ die Stille besänftigend auf mich einwirken und blickte durch die klaren Fensterscheiben auf die Ostsee hinaus.

Hier könnte etwas Neues beginnen. Ich fühlte es in diesem Augenblick mit einer ungeheuren Intensität. Vielleicht handelte es sich dabei auch um eine Vorahnung meinerseits.

Denn genau so sollte es schließlich kommen.

- 3 -

ICH STAND AM Tresen und drehte das kleine Kärtchen in meinen Händen, während ich noch immer auf die Flensburger Außenförde hinausblickte. Auf der Ostseite erkannte ich den Leuchtturm von Holnis, rot-weiß gestreift.

Der Strand zu Füßen des Krähennests war menschenleer. Dieses Haus befand sich (und mit ihm noch ein paar andere) ein gutes Stück abseits des Touristentrubels. In einiger Entfernung befand sich, am südlichen Rand der Halbinsel, der Ortsteil Drei, wo sich in wenigen Monaten die Bade- und Kurgäste tummeln würden.

Jetzt strich der noch empfindlich kalte Wind über die wenigen verbliebenen, winterfesten Strandkörbe und über den darüber gelegenen Campingplatz, der um diese Jahreszeit eine mehr oder weniger freie Fläche war.

Dr. Degner, der alte Fuchs, hatte nicht zu viel versprochen. Dies war die Idylle, nach der ich so lange vergeblich gesucht hatte. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf. Sie streiften ziellos durch mein Leben, blieben kurz an Gabriele hängen, die ich niemals Gabi genannt hatte, nicht einmal in den sieben Jahren, in denen wir verheiratet gewesen waren. Es lag so lang zurück. Vieles hatte ich verdrängt, vergessen, entsorgt.

Ein Gutes war dieser Verbindung allerdings entsprungen. Unsere gemeinsame Tochter Melina war inzwischen mit ihrer Schulausbildung fertig. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, zu studieren. Musik und … das andere Fach, das ich immer wieder vergaß und das mir nicht einmal einfallen wollte, wenn ich mich voll darauf konzentrierte. Sie hatte ihr Studium an der Europa-Universität in Flensburg aufgenommen. Es war ein gutes Gefühl, sie so dicht in meiner Nähe zu wissen. Ich würde sie anrufen, das gehörte zu den Dingen, die ich mir fest vorgenommen hatte. Und während ich an meine Tochter dachte, kam ich zu dem Schluss, nicht mehr allzu lange mit der Kontaktaufnahme zu warten.

Meine Trennung von ihrer Mutter war im Streit verlaufen. Wir beide hatten es uns nicht zum Ziel gesetzt. Die Dinge hatten sich einfach so entwickelt. Gabriele wusste, was mit mir geschehen war, so nahe standen wir uns immerhin noch. Aber das war auch alles. Halt, nein, ich erinnere mich sogar an einen kurzen Besuch von ihr. Damals, vor einigen Monaten, als ich noch an das Krankenhausbett gefesselt war, in der festen Überzeugung, dass mich eine schwere Wundinfektion dahinraffen würde. Ich war so sehr mit dieser Vorstellung beschäftigt, dass ich kaum Erinnerungen an dieses Zusammentreffen habe. Kurz war es gewesen. Und nicht sonderlich erbaulich, für keinen von uns.

Es gibt eben Dinge, die man besser ruhen lassen sollte. So auch die Deponie, die auf den Trümmerstücken unserer Ehe gewachsen war.

Der Gedanke an Melina brachte mich darauf, dass ich tatsächlich kaum etwas im Haus hatte. Also legte ich Lausens Visitenkarte auf den Tresen und griff nach dem Hörer des Wandtelefons. Ich tippte die Nummer in die Tastatur und wartete auf ein Lebenszeichen. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit wurde am anderen Ende abgehoben.

„Ja?“

Eine männliche Stimme unbestimmbaren Alters.

„Ich würde gerne mit Frau Heidrun Schwarz sprechen“, antwortete ich.

Es folgte ein kurzes Zögern.

„Meine Mutter ist noch unterwegs. Wer wünscht sie zu sprechen?“ Die Stimme des Mannes hatte einen leicht nasalen Ton bekommen.

Ein flüchtiges Lächeln huschte mir über das Gesicht. Ich nannte dem Mann, den ich für den Sohn der Frau hielt, meinen Namen und mein Anliegen.

„Ich weiß nicht, ob es sich heute noch einrichten lässt“, gab er nach einer Weile des Überlegens zurück. „Aber ich werde es ihr selbstverständlich ausrichten. Wie, sagten Sie, war der Name?“

„Hendrik Torn“, erwiderte ich. Ich legte auf und schüttelte den Kopf. Als ich ihn wieder anhob, nahm ich in der Tür der Glasvitrine eine Spiegelung wahr.

„Vorsicht, Torn“, sagte eine männliche Stimme.

Ich rührte mich nicht, blinzelte nur.

In dem Sessel, der noch immer in der Position stand, in der ich ihn vorgefunden hatte, kauerte eine Gestalt.

Sie hockte dort mit vornübergebeugtem Oberkörper, die Unterarme auf die Knie gestützt und die Hände gefaltet. Auf der von mir aus gesehen rechten Armlehne lag ein Hut mit breiter Krempe.

„Mit dem Burschen stimmt was nicht“, sagte der Mann, dessen Spiegelbild ich nur vage wahrnahm. Angedeutet, wie der Hauch des Frühlings, der draußen in der Luft lag.

„Fulton“, sagte ich leise, noch immer ohne mich umzudrehen. „Wie kommen Sie hierher?“

„Ist ’ne lange Geschichte“, sagte Lucas P. mit gedehntem amerikanischen Akzent. „und nicht weiter relevant. Ich bin hier, um Sie zu warnen, mein Freund.“

Ich rang mir ein müdes Lächeln ab. „Sie wollen mich warnen? Nachdem ich Ihnen so übel mitgespielt und Ihre Story nicht beendet habe?“

Er deutete im Spiegelbild der Vitrine eine vielsagende Handbewegung an. „Kümmern wir uns nicht weiter darum, Torn. Aber Sie sollten in diesen Tagen Ihre Augen und Ohren offen halten. Könnte zumindest nicht schaden.“

„Habe ich denn etwas zu befürchten?“, fragte ich. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich die Worte wirklich laut sagte, oder ob sich diese ganze Unterhaltung nur in meinem Kopf abspielte. Das Beruhigende, wenn es denn überhaupt etwas Beruhigendes an dieser Szene gab, war, dass ich wusste, dass sie nicht real war. Ich wusste, dass Fulton nicht existierte. Er war eine Romanfigur, noch dazu eine, die nicht einmal das Licht der Welt erblickt hatte. Ich konnte diese Sache jederzeit beenden, wenn ich wollte. Ich brauchte mich nur umzudrehen, um einen leeren Sessel vorzufinden.

Dennoch interessierte mich, was der Mann zu sagen hatte.

„Es sind hier ein paar Dinge im Gange“, antwortete Fulton und veränderte seine Sitzposition. Für einen Moment glaubte ich wirklich, das leise Knarzen der mit Kunstleder bezogenen Sitzfläche wahrzunehmen. „Mehr kann ich darüber nicht sagen. Noch nicht. Aber wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mir den jungen Schwarz einmal genauer ansehen. Ist nur ein gut gemeinter Rat von mir.“

„Danke, Mister Fulton. Ich werde ihn beherzigen.“

Und damit drehte ich mich langsam um und starrte auf den Ledersessel. Natürlich war er leer, und auch die Spiegelung auf der Vitrine, hervorgerufen durch das einfallende Sonnenlicht, war verschwunden.

Das Telefon klingelte und riss mich aus meinen Gedanken.

Ich drehte mich um und nahm den Hörer von der Wand.

„Heidrun Schwarz hier“, sagte die Stimme, „mein Sohn sagte mir eben, dass Sie angerufen hatten. Sie sind draußen in Holnis?“

Für eine Frau besaß sie eine tiefe Stimme. Zudem war sie ein wenig außer Atem, als wäre sie gerade gerannt.

„Ich bin nicht gut zu Fuß“, leitete ich ein. Diese Feststellung hatte gute Chancen, von einer fachkundigen Jury zur Untertreibung des Jahres gewählt zu werden. „Ich bräuchte für die nächsten Tage einige Lebensmittel.“

„Verstehe schon“, antwortete die Schwarz. „Herr Lausen hat mich auch schon deswegen informiert. Ich hätte Sie also sowieso angerufen.“

Klang nach einem hektischen Nachmittag im Hause der Schwarz’, dachte ich.

Ich gab ihr ein paar Dinge durch, von denen ich glaubte, mich besser zu fühlen, wenn ich sie im Haus hätte.

Heidrun Schwarz hörte geduldig zu und notierte. Ich hörte ihren Filzstift im Hintergrund über das Papier quietschen.

„Wann können Sie hier sein?“, fragte ich.

„Na, also anderthalb Stunden werden Sie mir schon geben müssen“, kam es zurück.

„Perfekt“, sagte ich und bedankte mich. Kurz bevor sie auflegte, hörte ich eine männliche Stimme, vermutlich die ihres Sohnes. Es klang so, als würde er sich über mich erkundigen wollen. Aber vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet. Besten Dank, Fulton, alter Kumpel.

Erneut klingelte das Telefon an der Wand, und ich stöhnte innerlich auf. In der festen Annahme, es handele sich um Heidrun Schwarz, die noch eine Nachfrage hatte, riss ich den cremefarbenen Hörer von der Wand.

„Ja?“

„Spricht da etwa mein Lieblingspatient?“

„Doktor Degner“, entfuhr es mir. Ich hatte seine Stimme sofort erkannt. „Was verschafft mir das Vergnügen?“

Ein kurzes, hartes Lachen in der Leitung.

„Als ob Sie sich freuen würden, mich zu hören. Ich wollte nur einmal nachhaken, ob Sie Ihren Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt haben. Und natürlich fragen, ob Sie gut angekommen sind.“

„Es ist alles bestens“, antwortete ich. „Ich bin seit etwa einer Stunde hier und habe es noch nicht bereut.“

„Sehr schön. Sie sind mit allem versorgt, nehme ich an?“

Ich erzählte ihm von meinem Telefonat mit Frau Schwarz.

„Ach, die gibt es immer noch?“, kam es zurück. „Nicht zu fassen.“

„Sie kennen die Frau?“, hakte ich nach.

„Aber natürlich. Vor ein paar Jahren haben Maybrit und ich dort unseren Sommerurlaub verbracht. Frau Schwarz hat uns jeden Morgen frische Brötchen an die Türklinke gehängt. Sagen Sie, gibt es den Kachelofen im Wohnzimmer noch?“

„Ja“, gab ich knapp zurück.

„Ach, das waren schöne Zeiten damals“, schwelgte Degner in Erinnerungen. Aufgrund unserer zahlreichen langen Sitzungen und Gespräche wusste ich, dass sich diese Zeiten für ihn, zumindest vorübergehend, verschlechtert hatten. Das gerahmte Foto seiner Frau war von einer Woche auf die andere von seinem Schreibtisch verschwunden. Es war die Zeit, in der der Mann mit dem weißen Kittel dunkle Augenränder mit sich herumtrug und bisweilen unausgeschlafen wirkte. Auch musste er in dieser Zeit das Rauchen wieder angefangen haben, wie ich damals beiläufig feststellte.

„Sagen Sie, Torn, wie sieht es im Augenblick auf Ihrer Skala aus?“

Diese Frage war mittlerweile zischen uns so etwas wie ein Ritual geworden. Ich hatte eine Zahl zwischen eins und zehn zu benennen, wobei letztere den höchsten Grad des aktuellen Schmerzempfindens darstellte.

Es hatte viele Tage gegeben, an denen ich ihm die volle Punktzahl genannt hatte. Unangenehm viele Tage. Tage, an denen ich ihm am liebsten eine Zwölf in sein interessiert dreinblickendes Gesicht mit dem Grübchen unter dem kräftigen Kinn geschrien hätte. Und Degner hatte es gewusst, da war ich mir sicher. Er hatte mir stets gegenüber gesessen und während meiner Antwort scheinbar geschäftig in meine Krankenakte geblickt, die inzwischen einen dicken, braunen Papphefter füllte.

„Ich ziehe heute eine Vier“, sagte ich. Und wieder sah ich ihn in Gedanken sitzen, wortlos nicken und eine kurze Notiz in die Akte kritzeln.

„Ich stelle Ihnen ein neues Rezept aus“, sagte Degner entschlossen. „Ich werde es an die Apotheke in Glücksburg faxen, ist Ihnen das recht, Torn?“

„War mir nicht bisher alles recht, wenn es nur meinen Zustand verbessert hat?“, fragte ich zurück.

„Ah, nun mal nicht so pessimistisch“, hörte ich ihn sagen. „Sie haben einen langen Weg hinter sich. Ein steiniger Weg. Niemand weiß das besser als ich. Aber jetzt geht es nur noch bergauf. Das verspreche ich Ihnen.“

Für einen kurzen Moment dachte ich an die Treppe, die zum Krähennest hinaufführte. „Wenn Sie es sagen.“

„Am besten Sie setzen sich mit der Apotheke telefonisch in Verbindung, damit man Ihnen die Tabletten liefert. Haben Sie noch ausreichend Salbe?“

„Könnte nicht schaden, wenn Sie noch einen Fünflitereimer dazu schreiben“, gab ich mit einem Lächeln in den Mundwinkeln zurück.

„Verstehe“, antwortete Degner, der meine Antwort offenbar nicht einmal als Scherz aufgefasst hatte.

Plötzlich kam mir ein Gedanke. „Da Sie gerade Frau Schwarz erwähnt haben: haben Sie damals auch ihren Sohn kennengelernt?“

Ich hörte förmlich, wie Degner stutzte. „Lieber Himmel, ja. Den hatte ich beinahe völlig vergessen. Unscheinbares Kerlchen, ziemlich blass. Ging, glaube ich, damals noch in die Schule. Manchmal hatte sie ihn dabei, wenn sie Besorgungen machte. Er half ihr immer die Tüten tragen. Warum fragen Sie?“

„Ach, nichts weiter“, gab ich scheinbar gleichgültig zurück. „Ich hatte ihn nur vorhin am Telefon, und er schien mir etwas seltsam, das ist alles.“

„Ich glaube, der Bursche interessiert sich für die schwarze Szene. Sieht immer alles ziemlich gruselig aus, aber ich glaube, der Bengel ist harmlos. Haben Sie schon einen Plan, was Sie unternehmen werden, Torn?“

„Nicht den geringsten“, gab ich lächelnd zurück.

„Naja, Sie wollten ja die Ruhe genießen, und davon haben Sie da draußen reichlich. Wenn Sie besser zuwege sind, sollten Sie sich mal rüber nach Glücksburg fahren lassen, um sich das Wasserschloss anzusehen. Maybrit und ich …“ Er brach ab, räusperte sich.

„Ich werde sicher darauf zurückkommen“, versprach ich.

„Nun gut. Dann wünsche ich Ihnen einen erholsamen Aufenthalt, mein Lieber. Und Sie wissen, dass ich das durchaus ehrlich meine, nach allem, was wir beide zusammen durchgemacht haben.“

„Das weiß ich zu schätzen“, antwortete ich. „Ich werde mir Mühe geben, Sie nicht zu enttäuschen.“

„Das wollte ich hören“, erwiderte Degner lachend. „Und falls etwas sein sollte: Meine Nummer haben Sie ja.“

Wir verabschiedeten uns, und ich hängte ein weiteres Mal den Hörer ein. Ich spürte ein leichtes Ziehen in meinen Unterbeinen, hervorgerufen von dem vielen Stehen.

Ich schlurfte langsam zu dem Sessel hinüber (meine Krücken hatte ich am Tresen stehenlassen) und ließ mich hineinfallen. Vorsichtig und umständlich drehte ich ihn herum, so dass ich auf das Wasser blicken konnte.

Die Luft war klar und man konnte bis hinüber nach Dänemark blicken, wo in der Ferne die beiden Türme der Kirche von Broager zu sehen waren. Um diese Kirche und die Entstehung ihrer Doppeltürme rankte sich eine uralte Sage, wie ich irgendwo gelesen hatte.

Der Ritter des Schlosses, der den Bau der Kirche beaufsichtigte, ließ seine schwangere Frau zurück, um in den Krieg zu ziehen. Sofern sie einen Sohn gebar, solle sie einen spitzen Turm errichten lassen. Wurde es ein Mädchen, sollte an dieser Stelle ein stumpfer Turm entstehen. Als der Ritter nun eines Tages wieder nach Broager zurückkehrte, sah er aus der Ferne bereits zwei spitze Türme leuchten.

Ich blickte so lange über das glänzende Wasser zu den beiden Türmen hinüber, bis ihre Konturen langsam verschwammen und mir die Augen zufielen.

Als ich sie wieder öffnete und aus meinem Schlaf hochschreckte, blickte ich in das bleiche Gesicht eines Mannes, der mich höhnisch angrinste.

- 4 -

„ZIEMLICH LEICHTSINNIG VON Ihnen, die Tür offen zu lassen.“

Ich blinzelte, versuchte, ein klares Bild zu bekommen.

Der junge Mann mit den langen schwarzen Haaren stand direkt vor mir. Er hielt meine Krücken in der Hand und hielt sie mir vor die Nase.

„Ich dachte, die gehören Ihnen.“

Ich erkannte, wie er mich ansah. Etwas glänzte in seinen Augen. Ein Anflug von Ironie, vielleicht sogar Schadenfreude, überlegte ich.

Hinter ihm war ein Geräusch. Jemand kam die Treppen hinauf. Ich sah zwei große, braune Papiertüten, bevor sie von der leicht untersetzt wirkenden Frau auf den Boden gestellt wurden. Die Farbe ihres Haars war annähernd die gleiche wie die ihres Sohnes, nur dass ihres lediglich schulterlang trug.

Sie kam aufgeregt näher und wischte sich im Gehen die Hände an ihren Hosenbeinen ab.

„Sie müssen Herr Torn sein. Ich bin Heidrun Schwarz, wir hatten heute telefoniert.“ Sie drängte ihren Sohn beiseite, der mich noch immer herausfordernd ansah. Lauernd und abschätzend wie eine Hyäne, dachte ich. Ich entschied mich dafür, den Burschen nicht zu mögen. Nun ja, zumindest nahm ich mir fest vor, auf der Hut zu sein, ganz so wie es mir mein imaginärer amerikanischer Freund geraten hatte.

„Ich habe Ihnen die Einkäufe hierher gestellt“, erklärte Heidrun Schwarz und deutete auf die beiden prall gefüllten Tragetaschen. „Soll ich es Ihnen noch auspacken?“

Ein Teil von mir hätte dieses Angebot nur zu gerne angenommen, doch der andere Teil, der dominantere, wollte die beiden merkwürdigen Gestalten so schnell wie möglich wieder aus dem Haus haben. Aus meinem Haus.

„Nicht nötig“, beeilte ich mich, zu versichern. „Das schaffe ich schon allein.“

Heidrun Schwarz warf einen skeptischen Blick auf meine Krücken, die ihr Sohn in diesem Moment gegen den Sessel lehnte. „Ganz wie Sie meinen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich dann gleich abkassieren.“

„Natürlich nicht“, gab ich zurück, sammelte mich für einen Moment und stemmte mich dann aus dem Sessel hoch.

Wie um es dem Milchgesicht zu beweisen, nahm ich nur eine Krücke mit und bewegte mich damit zur Garderobe hinüber, an der meine Jacke hing. Ich fingerte meine Brieftasche heraus und kehrte damit zu Mutter und Sohn zurück.

„Was haben Sie ausgegeben?“, fragte ich Heidrun Schwarz und kam das erste Mal dazu, die Frau etwas ausgiebiger zu mustern. Sie trug blaue Jeans und eine einfache Windjacke. Ihre Füße steckten in braunen, mit Kunstfell gefütterten Halbstiefeln. Insgesamt machte sie einen stämmigen Eindruck. Ihr Gesicht verriet noch Spuren der Bräune, die sie sich offenbar vor einiger Zeit im Solarium geholt hatte. Das Braun war jedoch dabei, einem ungesund wirkenden Gelbton zu weichen, was ihr einen leicht kränklichen Ausdruck verlieh.

Ihre Augen wirkten wachsam und waren von zahlreichen Krähenfüßchen umgeben.

Aufmerksam war auch ihr Sohn Gunnar. Mir entging durchaus nicht sein Blick, mit dem er verfolgte, wie ich das Geld für die Einkäufe abzählte.

Heidrun Schwarz hatte mir inzwischen den Betrag genannt und legte mir den Kassenbon auf den Tresen.

Ich nahm drei Fünfziger aus meiner Brieftasche und drückte sie ihr in die Hand. „Der Rest ist für Sie.“

„Vielen Dank“, gab sie, ein wenig erstaunt und positiv überrascht, zurück. „Falls Sie noch etwas benötigen sollten, rufen Sie mich einfach an. Meine Nummer haben Sie ja.“

Ich nickte ihr freundlich zu und versicherte, dass ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach schon in ein oder zwei Tagen wieder bei ihr melden würde, wenn der Kaffee ausgegangen sei.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich ihren schlaksig wirkenden Sohn, der genau verfolgte, wie ich meine Brieftasche auf den Tresen legte.

„Bleiben Sie für länger?“, fragte er, als er meinen Blick bemerkt hatte.

„Ich weiß noch nicht genau“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ziemlich sicher aber erst einmal für zwei Monate. Vielleicht auch länger.“

Dann werden wir uns ja künftig häufiger sehen, sagte sein Blick. Laut fragte er: „Wovon leben Sie?“

„Gunnar, jetzt lass’ doch“, flüsterte seine Mutter in seinem Rücken.

Der junge Mann, ich schätzte ihn auf Anfang Zwanzig, lächelte entschuldigend. „Was denn? Die Frage wird doch noch erlaubt sein. Oder bin ich Ihnen damit zu nahe getreten, Herr Torn?“

Erwartungsvoll und wieder mit einem ironischen Glitzern in den Augen sah er mich direkt an.

Nein, ich mochte ihn nicht. Die gezwungen gedrechselte Ausdrucksweise passte nicht zu ihm. Sein Aufzug, die Art, wie er sich gab und wie er redete, ließen mich mehr und mehr zu der Überzeugung gelangen, dass der Junge eine Rolle spielte. Vielleicht war das normal für sein Alter, dachte ich. Was wusste ich schließlich mit meinen nahezu fünfzig Lenzen von den jungen Leuten von heute?

Ich dachte kurz an Melina. Sie hätte mir sicher einiges darüber verraten können, aber der Kontakt zu ihr hatte sich gewissermaßen ausgedünnt. Meine Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter hatten sicherlich ihren Teil dazu beigetragen.

„Ich schreibe“, antwortete ich, um mich selbst aus dieser Gedankenkette herauszureißen.

„Ah“, machte Gunnar. „Für Zeitungen nehme ich an? Sie sind Journalist?“

„Nein“, gab ich lakonisch zurück. „Ich schreibe Romane. Novellen, Erzählungen. Echte Bücher.“

Ein Grinsen unternahm einen kurzen Ausflug über sein weißes Gesicht. Mein Gott, ich glaube tatsächlich, dass der Junge Schminke oder weißes Puder benutzte, um diesen Teint zu erhalten.

„Müsste ich etwas von Ihnen kennen?“, fragte er. Dabei sah er sich demonstrativ um, als erwarte er in meiner Nähe ein randvoll mit meinen Werken vollgestopftes Regal.

„Kann schon sein“, erwiderte ich. „Die Gunst des Mörders war vor zwei Jahren kurz auf der Spiegel-Bestsellerliste.“

Gunnar Schwarz legte Daumen und Zeigefinger an sein Kinn. „Ah, ja. Der Stoff wurde sogar verfilmt, habe ich recht?“

Ich gebe zu, dass er mich mit dieser Frage überraschte.

„Ja“, sagte ich leise und verspürte das Bedürfnis, wieder in meinen Sessel zu sinken. Doch diese Blöße wollte ich mir vor den beiden, vor allem vor dem jungen Schwarz, nicht geben.

„Waren Sie mit dem Film-Ergebnis zufrieden?“, hakte er nach. Er schien diese Situation, warum auch immer, voll auszukosten, während es seine Mutter sichtlich weiter drängte. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und blickte nach draußen, wo sich nach und nach die Dunkelheit auf den Strand zu senken begann.

„Ich hätte einen anderen Hauptdarsteller genommen“, antwortete ich und fügte genau wie für mein bisheriges Leben in Gedanken dazu.

Gunnar Schwarz nickte mehrfach und tat, als müsse er erst reiflich über meine Worte nachdenken.

Dann deutete er tatsächlich eine Verbeugung an, bevor er sich verabschiedete und sich umwandte.

„Denken Sie an die Tür“, sagte er im Gehen und zwinkerte mir listig zu. So wie vielleicht der Wolf gezwinkert haben mochte, als er das erste Mal das Haus der sieben Geißlein inspizierte.

Ich folgte den beiden bis zur Glastür. Dieses Mal nahm ich beide Krücken zur Hilfe. Ich verschloss die Tür, als sie auf die Treppe hinausgetreten waren und blickte ihnen hinterher.

Am Fuß der Treppe, bereits einige Schritte auf dem harten Sand, drehte sich der Bursche noch einmal zu mir um und winkte.

Ich hob die Hand und sah zu, wie Mutter und Sohn sich gegen den Wind stemmten und nach rechts abdrifteten, wo vermutlich ihr Wagen nahe der Uferpromenade geparkt war.

Sie gerieten aus meinem Gesichtsfeld und blieben vorerst verschwunden.

Mein Blick wanderte zurück zu den beiden Einkaufstaschen. Jetzt bereute ich es, das Angebot der Frau nicht angenommen zu haben. Ich fühlte mich ausgelaugt und erschöpft.

Meine Beine schrien nach ihrer Salbe. Das Feuer hatte einen Großteil der Talgdrüsen zerstört, was zur Folge hatte, dass meine Haut an diesen Stellen leicht austrocknete und rau wie feines Schmirgelpapier wurde.

Das war nur eins der kleinen Dinge, die mich täglich an den Unfall vor über einem Jahr erinnerten. Ein anderes war die Bildung von Knochengewebe in der Nähe meiner Fußgelenke, die zu Schwellungen führte und mir an manchen Tagen das Gehen zur Hölle machte. Doktor Degner hatte schnell eine passende medizinische Begrifflichkeit dafür gefunden. In unseren kleinen Plaudereien in seiner Praxis in Hamburg Eppendorf sprach er gerne von einer heterotrophen Ossifikation. Warum ich mir ausgerechnet diesen Begriff gemerkt habe, weiß ich nicht. Vielleicht aus dem Grund, weil ich ein Feindbild für meine Schmerzen benötigte.

Seit einigen Monaten verwendete ich nun also eine Fettsalbe, die in einer monströsen blauen Tube abgefüllt war. Sie war nahezu durchsichtig und klebte mit einem ekelhaften Gefühl an meinen Füßen, Knöcheln und Unterschenkeln.

Ich beschloss, dass die Einkaufstüten würden warten müssen, selbst wenn Heidrun Schwarz etwas aus der Tiefkühlabteilung besorgt hatte (was mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall war, denn ich hatte ungefähr ein halbes Dutzend Pizzen bestellt).

Humpelnd gelangte ich zu meiner Reisetasche, in der sich neben meinem Kulturbeutel auch mein Notfallset befand. Eine schwarze Ledertasche, die doppelt so groß war wie die, in der ich mein Rasierzeug und den übrigen Krempel aufbewahrte.

Ich öffnete die Reißverschlüsse und fingerte die blaue Tube heraus, die noch bis zur Hälfte mit Fett gefüllt war.

Damit ließ ich mich in den Sessel fallen und verbrachte die nächste halbe Stunde damit, meine Hose aufzukrempeln und meine Beine mit der schmierigen Substanz einzucremen.

Als ich damit fertig war (und meine Finger mangels eines Taschentuchs in meinem Hosenbein abgewischt hatte) und aufblickte, war es bereits dunkel geworden.

Auf der anderen Seite der Flensburger Förde sah ich einige Lichter funkeln, die ich dem dänischen Sonderborg zuordnete.

Aber da war noch etwas. Etwas, das ich anfangs für eine Einbildung hielt, ähnlich vielleicht der Spiegelung in der Vitrine. Es gab noch ein Licht, und es geisterte über den Strand. Zuerst dachte ich an den Leuchtturm. Er war ebenfalls zum Leben erwacht, jedoch auf der genau entgegengesetzten Seite.

Ich reckte meinen Hals, versuchte, meinen Oberkörper länger zu machen als er war, um dem Geheimnis des Lichts auf den Grund zu gehen. Aber als ich mich endlich aufgerafft hatte, war es verschwunden. Genauso unauffällig, wie es sich in meine Aufmerksamkeit geschlichen hatte.

Plötzlich packte es mich. Ich wankte wie auf glänzenden Stelzen auf die beiden Einkaufstaschen zu, hakte den Griff einer Krücke durch die erste Tüte und zog sie hinter mir her.

Ich öffnete den Kühlschrank, stopfte beide Taschen nacheinander hinein und drückte die Tür hinter ihnen zu. Ich wartete, bis die Gummierung der Tür sich mit einem leisen, zischenden Geräusch festgesaugt hatte.

Etwa eine halbe Stunde später lag ich im Bett, das ich zuvor umständlich mit der Wäsche aus der Kommode in meinem Zimmer bezogen hatte.

Irgendwo unter mir spülte die nächtliche Ostsee sanfte Wellen an den Strand. Ich lauschte ihrem Murmeln und bildete mir sogar ein, den trockenen Sand, auf den sie trafen, knistern zu hören.

- 5 -

DER NÄCHSTE TAG brachte mir einige Begegnungen, von denen wenigstens zwei unvorhersehbar waren. Was ich allerdings mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass jede für sich mein weiteres Leben nachhaltig beeinflussen sollte.

Ich hatte eine ruhige Nacht verbracht. Fern schienen mir jene Zeiten zu sein, in denen ich zu Hause im Bett gelegen hatte, um gegen die Decke zu starren und im Angesicht des allgegenwärtigen Schmerzes auf den Anbruch des nächsten Tages zu warten.

Ich war durch ein Geräusch geweckt worden, das ich nicht zuordnen konnte. Mühsam schälte ich mich von der bequemen Matratze herunter, zunächst das rechte Bein, dann das linke, bis ich den Eindruck hatte, dass sie mir gehorchen würden.