Thukydides wurde um 460 v. Chr. in Athen geboren und lernte Rhetorik und Philosophie. Er war vertraut mit dem Werk Herodots, dessen Vorlesungen er selbst beiwohnte.

Später war er im attischen Militär als General tätig und nahm 424 v. Chr. als Flottenkommandant am Peloponnesischen Krieg (431-404) teil. Da er dabei den Fall der Stadt Amphipolis an den spartanischen Feind nicht verhindern konnte, wurde er für 20 Jahre aus Athen verbannt. Sein Exil verbrachte er in Thrakien, wo er den Verlauf des Krieges genau beobachtete und analysierte. Auf diese Weise schuf Thukydides sein umfangreiches Geschichtswerk. Nach Ende des Peloponnesischen Krieges (404 v. Chr.) kehrte Thukydides vermutlich nach Athen zurück, wo er um 400 v. Chr. verstarb.

Im Gegensatz zu Herodot, der heute als „Vater der Geschichtsschreibung“ gilt, kann Thukydides als Begründer der politischen Geschichtsschreibung und als Geschichtsphilosoph betrachtet werden. Denn der Gang der Ereignisse erscheint bei ihm nun nicht mehr dem Willen der Götter untergeordnet, sondern als ein Produkt menschlichen Handelns. Mit seiner Unterscheidung zwischen augenscheinlichen Anlässen und tiefer liegenden Ursachen historischer Ereignisse lieferte Thukydides überdies ein bis heute beachtetes methodisches Grundprinzip der systematischwissenschaftlichen Geschichtsschreibung.

Zum Buch

DER BEGRÜNDER DER POLITISCHEN
GESCHICHTSSCHREIBUNG

Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges sollte nicht nur die tatsächlichen Ereignisse schildern, sondern auch die anthropologischen Fundamente dieser Auseinandersetzung freilegen.

Zur Klärung der Vorgeschichte und der Ursachen des Krieges blickte Thukydides weit in die altgriechische Geschichte zurück, um daran die chronologische Darstellung des Krieges bis zum Jahr 411 v. Chr. anzuschließen.

Die sachliche Schilderung basiert auf Namen, Zahlen und ihrer chronologischen Anordnung. Thukydides zog auch archäologische Funde, Urkunden u.a. Quellen mit heran. Erstmals zeigte sich ein Geschichtsschreiber um Objektivität und Faktengenauigkeit bemüht, während er unbelegbare Traditionen, Legenden und Mythen aus seiner Erzählung ausklammerte.

Thukydides

Der Peloponnesische Krieg

THUKYDIDES

DER
PELOPONNESISCHE
KRIEG

Vollständige Ausgabe

Übertragen von August Horneffer
Durchgesehen von Gisela Strasburger
Eingeleitet von Hermann Strasburger

Mit 6 Karten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0191-1

www.marixverlag.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

ERSTES BUCH

ZWEITES BUCH (Frühjahr 431 – Frühjahr 428 v. Chr.)

DRITTES BUCH (Sommer 428 – Frühjahr 425 v. Chr.)

VIERTES BUCH (Sommer 425 – Frühjahr 422 v. Chr.)

FÜNFTES BUCH (Sommer 422 – Winter 416/15 v. Chr.)

SECHSTES BUCH (Winter 416/15 – Sommer 414 v. Chr.)

SIEBTES BUCH (Sommer 414 – Sommer 413 v. Chr.)

ACHTES BUCH (Sommer 413 – Sommer 411 v. Chr.)

Anhang

Zeittafel (mit Buch- und Kapitelverweisen)

 

Geographischer Index

 

Aus dem Schaffen August Horneffers

Karten

Griechenland (Übersicht)

Sphakteria

Delion

Amphipolis

Sizilien

Syrakus – Karte der Belagerung

VORWORT

Von den wenigen vollständigen Übertragungen des thukydideischen Geschichtswerkes ins Deutsche hat bisher nur die jetzt zweihundert Jahre alte des Göttinger Professors der Theologie J. D. Heilmann eine Art klassischer Geltung erlangen können. Aber diese für ihre Zeit vortreffliche Arbeit ist stilistisch veraltet und auch im philologischen Textverständnis zu weit überholt, als dass man sich noch mit ihr begnügen dürfte. Zweifellos besteht heute ein dringendes Bedürfnis nach einer verlässlichen und gut lesbaren Ausgabe des Thukydides in unserer Sprache.

Die hier vorgelegte Übersetzung muss als das beurteilt werden, was sie ist: die Arbeit eines Liebhabers. August Horneffer (1875–1955) war, seiner Ausbildung nach, Musikwissenschaftler und als Schriftsteller vorzugsweise auf den Gebieten der Philosophie und Pädagogik tätig. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eröffnete er gemeinsam mit seinem Bruder unter dem Titel »Antike Kultur« eine Sammlung von »Meisterwerken des Altertums in deutscher Sprache«, für die er selbst Übersetzungen von Werken des Herodotos, Platon, Demosthenes, Theophrastos, Cicero, Caesar und Tacitus verfasste. In dieser Reihe (bei W. Klinkhardt, Leipzig) erschien auch 1912 die erste Hälfte seiner Übersetzung des Thukydides: Buch I–IV. Buch V–VIII werden hier erstmalig aus dem Manuskript veröffentlicht, welches sich im Nachlass des Verfassers vorfand.

Horneffers Übersetzung ist vor allem durch das Bestreben gekennzeichnet, durch schlichte, im allgemeinen unpreziöse Wortwahl und durch Zerlegung der verwickelten syntaktischen Perioden des Thukydides in kleinere, leicht überschaubare Satzgebilde dem Leser die Schwierigkeiten der gedanklichen Aneignung zu erleichtern. Der Fachmann weiß, dass charakteristische logische Feinheiten, die bei Thukydides vielfach gerade im Satzbau stecken, hierbei geopfert werden müssen; dem Laien aber wird die Vereinfachung willkommen sein, und an seine Bedürfnisse ist bei dieser Ausgabe in erster Linie gedacht.

Horneffers Text wurde unter Heranziehung der übersetzenden und erklärenden Fachliteratur durchgehend am griechischen Original nachgeprüft und, soweit es mit der Pietät gegen den Verfasser vereinbar schien, in eine unter diesen Umständen vor der philologischen Wissenschaft vertretbare Form gebracht. Tiefer in die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks einzugreifen, fühlten sich die Herausgeber nur an gedanklich besonders wichtigen Stellen berechtigt.

Die Anmerkungen, von denen einzelne auf Horneffer selbst zurückgehen, wurden möglichst knapp gehalten. Erläuterung der Ortsnamen findet der Leser im geographischen Register, welches mit einigen wenigen Verbesserungen aus der Ausgabe von G. Boehme übernommen ist.

Hermann Strasburger

EINLEITUNG

Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, das eine wie das andere, sind sowohl Wissenschaft als auch Kunst. Nur diejenigen Werke geschichtlicher Darstellung behaupten Rang und Wirkung über einen Kreis fachlicher Interessenten hinaus und über die Jahrhunderte hinweg, die an beiden Bereichen gleichmäßigen Anteil haben. Eher noch, so zeigt sich, wird dem Historiker von Mit- und Nachwelt die schwächere wissenschaftliche Originalität als der Mangel an einprägsamer Gestaltungskraft nachgesehen. In dieser volkstümlichen Wertung steckt eine Ahnung des Richtigen, wie es Theodor Mommsen, selbst in beiderlei Hinsicht einer der größten Historiker aller Zeiten, in seiner Rektoratsrede von 1874 als tiefe Einsicht ausgesprochen hat: »Der Geschichtsschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten.« Damit meint Mommsen nicht etwa nur den Darsteller, sondern durchaus auch den Forscher: Denn »der Schlag, der tausend Verbindungen schlägt, der Blick in die Individualität der Menschen und Völker spotten in ihrer hohen Genialität alles Lehrens und Lernens«.1

Diese Sätze gelten bereits für die Entstehung der abendländischen Geschichtskunde im klassischen Zeitalter der Griechen, im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Die Geschichtswissenschaft, so wie wir noch heute ihr Wesen verstehen, ist von Künstlern begründet worden: Herodot und Thukydides. Nicht nur als Meisterwerke der Erzählungskunst haben gerade ihre Bücher als einzige von den nicht wenigen Geschichtswerken ihres Jahrhunderts das Altertum überlebt, sondern auch als wissenschaftliche Leistungen mit vollem Recht, da ihre Divinationskraft für die wesentlichen und schöpferischen Züge der historischen Aufgabe sie so hoch über den gleichzeitigen Gelehrtenbetrieb der neu entstehenden Disziplin hinaushob, dass sie dieser auch wissenschaftlich die überzeitlich lebensfähigen Impulse zu geben vermochten, also das Verdienst der Gründertat auch in dieser Hinsicht ihnen gebührt.

Aus der eminent künstlerischen Wesensart der Geschichtswissenschaft versteht es sich noch mehr als aus dem zufälligen Mangel an Quellenzeugnissen, dass man die Entstehung dieser Disziplin nicht eigentlich erklären, das heißt als das logische Produkt von geistigen Komponenten und Vorstufen zeigen kann. Man kann, und das soll im Folgenden zunächst kurz geschehen, einige Voraussetzungen und Einflüsse benennen, die höchstwahrscheinlich begünstigend oder auch hemmend gewirkt haben, aber im Kern bleibt das Phänomen irrational, zumal die Unmittelbarkeit seiner Frühvollendung, weil sie individueller Genialität entspringt.

Historisches Denken ist den Griechen altgewohnt. Das älteste literarische Zeugnis griechischen Geistes, die Ilias, die wohl der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. angehört, zeigt diese Bewusstseinsform bereits so hoch entwickelt, dass wir ihr ein noch wesentlich höheres Alter zuschreiben müssen. Andererseits geht die Kunst des Schreibens, wie man seit der kürzlichen Entzifferung der Schreibtafeln aus Pylos und Mykenä weiß, bei den Griechen bis mindestens in die Mitte des 2. Jahrtausends zurück. Wenn es nun zu geschichtlichen Aufzeichnungen, auch in primitivem Chronikstil, offenbar nirgends im griechischen Raum vor dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. kam, obwohl einzelne andere Künste und Wissenschaften schon weit vorangeschritten waren, so muss die späte Entwicklung der Geschichtskunde erstaunen. Der Hauptgrund, der sich für sie anführen lässt, ist die vormalige Vertretung der Geschichte durch den Mythos.

Eine reinliche Bewusstseinsscheidung zwischen Mythos und Geschichte haben die Griechen in ihrer Gesamtheit im Altertum niemals, das heißt auch nicht seit dem Bestehen der Geschichtsschreibung, durchgeführt; es war auch schon deshalb gar nicht von ihnen zu erwarten, weil die religiöse Aufklärung, die im 6. Jahrhundert ansetzt und im 5. Jahrhundert ihre eigentliche Blütezeit hat, nur eine verhältnismäßig kleine Schicht ergriff und im volkstümlichen Denken nie wirklich Wurzeln fasste. Solange aber der Glaube an die olympischen Götter als menschengestaltige Wesen fortbestand, fehlte einer Wahrscheinlichkeitskritik an den alten Sagen das durchgreifende Werkzeug. Lediglich hat das Einsetzen der Geschichtsschreibung an ungefähr der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert dem Wuchern des Mythos eine untere zeitliche Grenze gezogen. Aber was aus der Zeit vordem an »geschichtlichen« Traditionen durch poetische Festlegung, wie beispielsweise in den homerischen Epen, oder durch mündliche Weitererzählung bewahrt worden war, galt auch kritischen Geschichtsdenkern des späteren Altertums als im Kern wahr und damit als die älteste griechische Geschichte. Zwar beginnt die junge griechische Geschichtswissenschaft, deren Wegbahner der Ionier Hekataios von Milet ist (Blütezeit um 500), eben mit der kritischen Aufarbeitung aller dieser älteren Stoffbestände. Die Sagen werden in ein chronologisches System eingeordnet und dabei die zahllosen Widersprüche zwischen den lokalen Traditionen aufgedeckt und nach Möglichkeit ausgeglichen, allzu fabulöse Auswüchse mit rationalistischer Wahrscheinlichkeitskritik abgeschnitten. Aber was übrig bleibt, ist nun die sozusagen wissenschaftlich überprüfte Geschichte des griechischen Altertums, beruhend vor allem auf dem Gerüst der für authentisch gehaltenen Herrscherstammbäume, die von den Göttern über die Heroen bis zum Anschluss an die historischen Königsfamilien hinabführen. Diese quasi wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte der alten Zeit, die wir als Genealogie und Mythographie rubrizieren,2 unter deren Begründern Hekataios von Milet, Akusilaos von Argos und Pherekydes von Athen hervorragen, geht neben der gleichzeitig aufkommenden Pflege der Zeitgeschichte weiter; Hellanikos von Mytilene, ein vielseitig gelehrter Historiker der Zeit zwischen Herodot und Thukydides, hat beides nebeneinander betrieben. Nach dieser Gründerzeit verliert dann allerdings die Mythographie ihre lebendigen Impulse und sinkt zum Handbuchstoff herab. Vor allem stagniert sie in kritischer Hinsicht. Es bleibt im ganzen Altertum dabei, dass Homer ein gelehrter Mann war, der verlässliche Auskünfte über Geschichte, Geographie und andere Wissenszweige vermittelt. Selbst Thukydides in seiner sogenannten »Archäologie«, der kritischen Darstellung der griechischen Urgeschichte (I, 2–19), einer der großartigsten Proben historischen Denkvermögens, behandelt ihn als solchen, indem er die Erzählung der Ilias als geschichtliche Angaben nimmt, von denen lediglich ein gewisses Maß an natürlicher dichterischer Übertreibung und gelegentlich politisch unglaubhafte poetische Motivierungen in Abrechnung zu bringen seien.

Das Wesen kritischen Geschichtsdenkens bei den Griechen ist unserer Zeit im Ganzen zu fremdartig, als dass wir eine sichere gefühlsmäßige Vorstellung davon entwickeln könnten, wie ungefähr Griechen einer bestimmten Intelligenz-, Bildungs- oder Zeitstufe auf eine ihnen präzise gestellte historisch-kritische Frage reagiert haben würden, etwa die, ob bezüglich der Glaubhaftigkeit der Taten des Theseus oder des Solon oder des Themistokles nicht vielleicht doch ein gradueller Unterschied bestände. Wahrscheinlich aber wäre zwar die Begründung der Antwort nach unserem Gefühl mehr oder weniger kindlich, die Antwort selbst jedoch nicht ganz so naiv ausgefallen. Wer die geschichtliche und verwandte Literatur der Griechen von ihren poetischen Anfängen bis in die Spätantike hinein daraufhin betrachtet, kann sich nicht im Zweifel darüber sein, dass der Sinn für politische und damit auch historische Realität im allgemeinen Volksbewusstsein von Jahrhundert zu Jahrhundert merklich zugenommen hat. Das ist der Erfahrungsschatz der Menschheit, der sich von Generation zu Generation zwangsläufig vermehrt, eine Entwicklung, die von wissenschaftlichen Einflüssen und dem jeweiligen Niveau der zeitgenössischen Geschichtsschreibung wohl beschleunigt oder verzögert, gefördert oder zurückgeworfen werden kann, im Ganzen aber doch von ihnen unabhängig sich vollzieht. Dies lässt sich gerade auch an den Jahrhunderten zeigen, die der Begründung der Geschichtskunde vorausgehen. Denn der Mythos hat sich bezeichnenderweise gar nicht bis an die durch diese ihm gezogene Zeitgrenze heranzuschieben vermocht. Sein Stoff beginnt schon wenige Generationen nach dem Trojanischen Krieg, das heißt historisch in Zahlen sowohl der antiken als auch der modernen Zeitrechnung ausgedrückt, noch vor der Jahrtausendwende in den dünnen Streifen der nach unten überbrückenden Stammbäume zu versickern. Mit dieser Zeit bereits endete praktisch also der von den Mythographen später zusammengestellte geschichtliche Stoff. Ehe Herodot in der Zeit zwischen etwa 450 und 430 durch eigene Sammelarbeit aus mündlicher Kunde die Grenze der griechischen Geschichte von unten her bis in die Zeit um 700 v. Chr. hinaufschob, lag zwischen dem Bereich des Mythos und den gegenwartsnahe erinnerten Perserkriegen ein gewaltiger, in seiner historischen Ganzheit vom griechischen Geschichtsbewusstsein ignorierter Zeitraum, eine Lücke, die auch Herodot nicht mehr ganz schließen konnte, oder vielleicht besser gesagt: nicht schließen wollte, weil er selbst offenbar doch ein Gefühl für den qualitativen Unterschied zwischen mythischer und historischer Überlieferung besaß. Was freilich in diesem historischen Niemandsland von selbst gewachsen war, das waren mündliche Lokaltraditionen, halb legendärer, halb historischer Natur, vor allem die Gründungsgeschichten und Kulte der einzelnen Städte und Landschaften betreffend, wozu die ständigen Um- und Neusiedlungen griechischer Volkstumsgruppen in diesem »Zeitalter der Kolonisation« dauernd neuen Anlass boten. Einige von ihnen wurden im 7. und 6. Jahrhundert auch in Epen gefasst, deren schwacher Nachhall nicht für eine besondere Fruchtbarkeit und Bedeutung dieser Entwicklungsstufe zeugt. In Prosa aufgeschrieben wurden auch sie offenbar zu allermeist erst in und nach der Zeit, in der Herodot in seinem zeitlich und räumlich umfassenden Werk den Rahmen spannt, der sie zusammenhalten kann: im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung.

Was nunmehr von der vor den Perserkriegen liegenden älteren Geschichte aus mündlicher Tradition etwa noch gewusst wurde, davon können wir uns, da alle lokalgeschichtlichen Werke der Zeit, wie das des Charon3 über seine Heimatstadt Lampsakos und die einschlägigen Monographien des Hellanikos,4 für uns bis auf geringfügigste Reste verloren sind, ein lebendiges Bild nur aus dem von Herodot dargebotenen Material machen. Gewiss sind Herodot bei seiner Umfrage einzelne wichtige Nachrichten aus älterer Zeit entgangen – manche von ihnen sind auf Nebenwegen der Überlieferung sogar noch bis zu uns gelangt –, gewiss hat er auch enzyklopädische Vollständigkeit des geschichtlichen Wissens keineswegs angestrebt, aber schwerlich trügt der Schein, wenn wir aus der Stoffsammlung Herodots summarisch etwa so folgern: dass die Kunde über die Perserkriege, insbesondere den Xerxeszug, im Ganzen noch vorzüglich war, und auch die aus dem Menschenalter davor (von Herodot aus gesehen der Großvätergeneration) noch leidlich zusammenhängend und von nicht ungünstigem Gewichtsverhältnis zwischen Geschichte und Legende, dass aber mit noch weiterem Zurückschreiten in die Vergangenheit die historische Qualität und Kohärenz sich außerordentlich stark verdünnte und in einzelne Legenden- und Anekdotenstreifen nach oben auslief.5 Wenn die griechische Geschichte bei Herodot bis in die Zeit um 700 zurückzureichen scheint, so nur deshalb, weil es ihm gelang, lose Einzelzüge aus örtlichen Traditionen mit Hilfe der orientalischen Herrscherstammbäume in ein leidlich richtiges chronologisches Gerüst zurückzuordnen und ihnen durch Einbettung in die reichlichere Tradition des Orients den Anschein eines Zusammenhangs zu geben.

Was der Überlieferung aus diesen Jahrhunderten geschadet hat, ist aber nicht nur der natürliche progressive Traditionsverlust, der sich mit der zeitlichen Entfernung einstellt, sondern gewiss auch das nachfolgende, sie hoch überragende und beschattende gemeinsame Erlebnis der Griechen: die Perserkriege. Andererseits verdankt sie es wohl eben diesem, dass sie sich überhaupt gerettet hat. Es ist natürlich nicht zu beweisen, hat aber alle Wahrscheinlichkeit, dass ohne das die hellenische Menschheit verbindende und aufrüttelnde Erlebnis der großen Freiheitskämpfe Herodot nicht zu etwas geworden wäre, was es bisher in dieser Sinngebung nicht gab: zum Historiker. Und sicher ist jedenfalls, dass ohne die Perserkriege Herodot niemals auf den Leitgedanken verfallen wäre, unter den er die Erforschung auch der älteren griechischen Geschichte gestellt hat: die Darstellung des Gegensatzes zwischen Griechen und Barbaren und seine aitiologische Zurückverfolgung bis in die älteste historisch noch fassbare Vergangenheit.

Die Perserkriege sind also der erste historische Kristallisationspunkt der griechischen Geschichte, sowohl als Volkserlebnis wie auch als geistiger Ausgangspunkt ihres Historikers. Griechisch gedacht, müssten wir eigentlich sagen: der zweite, denn der gleiche Vorgang hat sich schon einmal im mythischen Bereich abgespielt, der ja für den Griechen ebenfalls Geschichte ist. Dieser ältere Kristallisationspunkt der Überlieferung war der Trojanische Krieg. Auch hier ein wirklich historischer Kern, beziehungsweise mehrere durch die Arbeit der Volks- und Dichterphantasie zusammengeschlossene Kerne; nach heutigem Stand der Forschung: Zerstörung von Troja VII A um 1200 v. Chr., kombiniert mit älteren Erinnerungen an bedeutende Machtbildungen im griechischen Mutterland, vor allem das Königtum von Mykenä. Was in jedem Fall wahr, das heißt historisch daran ist, das ist die Größe einer Vergangenheit, die in der wirtschaftlichen und politischen Zerbröckelung durch die nachfolgenden Wanderungsstöße nachträglich zum kostbaren Nationalbesitz aller Hellenen wird, von ihren Dichtern und Sängern mit immer neuen »Erinnerungszügen« ausgestattet. Damit war der Boden bereitet für den großen Mann, Historiker im damaligen, Dichter in unserem Sinn, der den Kristallisationspunkt für eine wahrscheinlich noch ziemlich verworrene und trübe Tradition schuf: die Ilias. Ohne die Ilias gäbe es keine Odyssee, gäbe es auch nicht den sogenannten epischen Kyklos, die der Ilias nachträglich vorgebauten und an die Odyssee angeschlossenen Epen, welche den Sagenkreis als Ganzes ausschöpfen und erweitern. Mit diesem quasi-historischen Kontinuum wird nun fast alles, was von griechischen Götter- oder Heldensagen noch da ist oder neu geschaffen wird, in nähere oder fernere Beziehung gesetzt; gar nicht hoch genug kann der geschichtsschöpferische Impuls veranschlagt werden, der von der Ilias auf die Organisation und Neuschöpfung der griechischen Götter- und Heldensagen ausging. Dass aber dann, nachdem diese Kraft sich erschöpft hat, der Faden abreißt und sowohl die Epik verfällt wie auch der Anschluss nach unten an die Wirklichkeitsgeschichte nicht gefunden wird, das liegt außer an der politischen Zersplitterung der Hellenen und der verhältnismäßigen Schwäche der einzelnen kleinen Staatsgebilde, die keine Aktion von geschichtsbildender Kraft und Deutlichkeit haben, an einigen besonderen Wesenszügen des griechischen Geistes, die sich ins Gedächtnis zu rufen für das Verständnis des griechischen Geschichtsdenkens im Ganzen, wie gerade auch für Herodot und Thukydides, wichtig ist.

Die Griechen sind von Herkunft ein Kriegervolk, und sie besitzen nicht nur die heroische Vergangenheit der Wanderungszeit, sondern nach ihrer Sesshaftwerdung haben sie auch untereinander und mit ihren Nachbarn Kriege geführt, bis mehr noch der Machtspruch der Römer als die Entvölkerung ihrer Städte ihrer kämpferischen Unrast Einhalt gebot. Auch unter der Verfeinerung von Geist und Sitte sind daher heroische Ideale immer die eigentlichen Triebkräfte ihres Denkens und Handelns geblieben. Deren vornehmstes ist das ριστεύειν:

»Allzeit allen voran der Beste zu sein und der Erste«.6

Dieser Gedanke – »Das Agonale«7 – beherrscht alles Denken und Tun griechischer Männer: sich hervorzutun in der Schlacht, im Wettkampf, in der Arbeit, im Spiel, auch in jeglicher geistigen Leistung. Noch in klassischer Zeit wurde nach Schlachten, wie in einem Wettkampf, eine Rangfolge der tapfersten Kämpfer in den verschiedenen Waffengattungen, ja im Perserkrieg sogar noch eine entsprechende Liste für die Bewährung der einzelnen griechischen Städte im gemeinsamen Abwehrkampf offiziell festgestellt. Aber die große Tat ist für den Griechen allein noch nicht Erfüllung, sondern erst wenn ihr der gebührende Ruhm bei der Mit- und Nachwelt zuteil wird. Das Streben nach der äußeren Anerkennung ist, sofern berechtigt, für Griechen mit keinerlei peinlichem Beigeschmack behaftet, gilt im Gegenteil als ein Zeichen von vornehmer Gesinnung. Dabei kommt eine besondere Bedeutung dem Nachruhm zu – übrigens auch im Denken der Römer –, da dieser das in den religiösen Vorstellungen fehlende oder mindestens als unerfreulich geschilderte Weiterleben nach dem Tod vertritt. So wurde es denn schon in der ältesten Zeit als das Wesen der Aufgabe eines Dichters angesehen, die κλέα νδρν zu singen (Ilias IX, 189), das heißt die ruhmvolle Kunde von großen Mannestaten lebendig zu erhalten, worunter in erster Linie Kriegstaten verstanden wurden.

Diese vorzügliche Funktion der epischen Dichter im Bewusstsein der Allgemeinheit geht später mit folgerichtiger Selbstverständlichkeit auf die Historiker über. Herodot bezeichnet es im ersten Satz seines Werkes als den Sinn seiner Forschung und Darstellung, »dass nicht durch die Zeit verblasse, was von Menschen geschah, noch die großen Taten und Wunderwerke (ργα μεγάλα τε κα ϑωμαστά), die von Hellenen wie von Barbaren vollbracht wurden, in Ruhmlosigkeit versänken ...« Er selbst fasst ργα hier in weiterem Sinn, ist es doch wesentlich mehr als Kriegstaten, was er dem Gedächtnis erhalten will – in dieser Hinsicht schließt sich Thukydides mit der Monographie über einen großen Krieg wieder enger an die Thematik der Ilias an – aber noch im gleichen Satz deutet Herodot bereits auf das ργον μέγιστον (wie Thukydides das genannt haben würde) hin, dem er ein Drittel seines ganzen Werkes und die höchste Entfaltung seiner Darstellungsmittel widmen wird: den Kriegszug des Xerxes gegen Griechenland. Und an diesem Thema wird auch bei Herodot der agonale Gedanke deutlich, zu dem Thukydides sich in der Einleitung seines eigenen Werkes mit größter Ausführlichkeit bekennt: dass in den großen Wettstreit auch der Künder des Ruhmes sich einzustellen hat, dass er nur »der Rede werte« Taten (ξιόλογα) und im Sinn des Aristiegedankens nach Möglichkeit und in erster Linie die größten seiner Forschung und Darstellung erreichbaren zu würdigen berufen ist, die weniger bedeutenden entsprechend zu vernachlässigen hat. Dies ist der eigentliche Grund, dass der Chronikstil bei den Griechen niemals gedeihen konnte und vor allem nicht, wie doch vielfach bei anderen Völkern, der Geschichtsschreibung als Vorstufe vorangegangen ist. Es sind zunächst nur die ργα μέγιστα, die größten Taten und Ereignisse, die Kristallisationspunkte der geschichtlichen Überlieferung werden und den großen Künder auf den Plan rufen; die Legitimation der Darstellung besteht darin, dass der erwählte Gegenstand frühere an Bedeutung übertrifft. So wie Herodot zu Anfang seiner Schilderung des Xerxeszuges (VII, 20 f.) ausführt, dass nach seinen Forschungen kein Krieg der Vergangenheit, auch der Trojanische nicht, sich mit diesem Ereignis habe messen können, so beginnt Thukydides mit dem umständlichen, wissenschaftlich geführten Nachweis, dass es ργα μέγιστα bis auf seine Zeit nur drei gegeben habe, den Trojanischen Krieg, den Perserkrieg und den Peloponnesischen Krieg, und dass von diesen, so wie der Trojanische Krieg durch den Perserkrieg, der Perserkrieg wieder durch den Peloponnesischen Krieg an Ausdehnung und Entfaltung von Machtmitteln weit übertroffen worden sei (I, 1–23).

Die große griechische Geschichtsschreibung, begründet durch Herodot und Thukydides, stammt also vom Heldenepos ab und ist sich dieser Herkunft offenkundig dankbar bewusst, denn sie arbeitet auch stilistisch ausgiebig und zu ihrem Vorteil mit den von den Epikern erarbeiteten Kunstmitteln. Wohl auch dieser Blutstropfen, nicht allein die persönliche Größe ihrer ersten Vertreter ist es, was ihr gegenüber der rein wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die in der Generation vor Herodot mit Hekataios beginnt, die Überlegenheit und Überlebenskraft sichert. Aber nicht minder unwegdenkbar aus ihrer Erschaffung und weiterwirkenden Schöpferkraft ist das wissenschaftliche Erbgut, welches aus der ionischen Naturwissenschaft über Hekataios zu ihr kommt. Nicht erst die politische Selbstbewusstwerdung der Griechen durch den Perserkrieg lässt ein neues Zeitalter anbrechen, in welchem die mythische Geschichtsbetrachtung nicht mehr das tägliche Leben beherrscht, sondern nur noch in der kultischen Feier und im Theater gepflegt werden kann; sie verstärkt nur den seit dem 6. Jahrhundert von Ionien her wirkenden Kraftstrom eines neuen Realitätsbedürfnisses und auch einer neuen Realitätsfähigkeit des griechischen Menschen, die, von den Sophisten aus dem theoretischen Wahrheitsstreben der Wissenschaft zur praktischen Lehre für das tägliche Leben transformiert, der geistigen Entwicklung der Nation eine entscheidende Wendung geben. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Anstöße, die von den beiden großen geschichtlichen Erlebnissen der Zeit, dem Perserkrieg und dem Peloponnesischen Krieg, ausgingen, nicht mehr das Epos regenerieren können – wenn auch über den Perserkrieg in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts noch ein epigonales Epos entstand, dessen Verfasser, Choirilos von Samos, seinen Stoff Herodot entnahm –, sondern das neue Mischwesen: die Geschichtsschreibung hohen Stils, erzeugen. Man kann sich auch nicht vorstellen, dass etwa Herodot oder Thukydides persönlich zufällig hätten in die direkte Nachfolge Homers treten wollen und als Epiker, wiewohl beide mit höchster Erzählungskunst begabt, etwas Bleibendes geleistet hätten; die Atmosphäre, in der der Mythos gedeihen könnte, ist zerstört, und gerade Herodot und Thukydides wollen ihn ja gar nicht, sondern setzen die ganze Kraft ihres Künstlertums in Geist und Form an den Sieg des neuen Wahrheitsbegriffs im geschichtlichen Feld, an die Verlebendigung und Erhaltung der vergangenen geschichtlichen Realität.

In dieser Entwicklung, welche die neue Disziplin der Geschichtsschreibung in rund hundert Jahren von den ersten Anfängen auf eine im Altertum und Mittelalter nie annähernd wieder erreichte Höhe hinaufführt, ist Thukydides ohne die Vorgängerschaft Herodots ebenso undenkbar, wie Herodot ohne die des Hekataios, wie Hekataios ohne das spezifische aufklärerische Fluidum seiner Heimatstadt Milet.

Hekataios, ein vornehmer Bürger von Milet, der während des Aufstands der ionischen Städte gegen die Perserherrschaft (499–494) wiederholt mit Ratschlägen an seine Landsleute hervorgetreten ist, welche ihn als einen Mann von Weltkunde und unabhängiger Urteilskraft zeigen (Her. V, 36 u. 125), hat die Kunst der für wissenschaftliche Zwecke in seiner Heimat ausgebildeten Prosa zur schriftlichen Darstellung seiner Forschungen in zwei großen Werken benutzt, die, ohne selbst schon Geschichte zu sein, der Geschichtswissenschaft Bahn brachen. Schon erwähnt wurde das wahrscheinlich spätere dieser beiden Bücher: die γενεαλογαι (Stammbaumkunde), welches die Lehre von den Familienzusammenhängen der Götter und Heroen, deren Ahnherr Hesiod ist, mit rationalistischer Wahrscheinlichkeitskritik in ein chronologisches Schema presste und damit eine quasi geschichtliche Darstellung des mythischen Zeitalters gab. Als ein bald kränkelnder und keine geistige Frucht mehr tragender Nebenzweig der Geschichte wurde die Mythographie im Altertum noch lange gepflegt, aber dem Fortgang der Geschichtswissenschaft war damit nur eine Sackgasse eröffnet; dankenswert vielleicht am meisten deshalb, weil Herodot, teils aus instinktiver Skepsis, teils weil er diesen ihm lästigen Teil der Vergangenheit als hiermit ausreichend aufgearbeitet betrachten durfte, an ihre nochmalige Begehung keine Zeit mehr verlor.

Grundlegend aber für die Geschichtskunde war das ältere, vermutlich in den letzten beiden Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts entstandene Werk: die περοδος γῆς (»Umwanderung der Erde«). Fußend auf der ersten Erdkarte, dem Werk seines Landsmanns Anaximandros von Milet (ca. 610– 545 v. Chr.), die er im Einzelnen wohl vielfach berichtigte und ergänzte, schuf Hekataios hiermit die erste geographische Darstellung der gesamten den Griechen bekannten Welt, wobei er in die offenbar knapp gehaltene und klare topographische Schilderung auch ethnographische Informationen und gelegentliche lokalhistorische Notizen einflocht. Als Grundlage dienten ihm dabei, wie schon dem Anaximandros, und bis zu einem gewissen Grad auch als formales Vorbild ältere περιηγήσεις und περπλοι, das heißt Beschreibungen von Reiserouten zu Land und längs der Küsten zur See, eine Literatur, die wir uns nach einigen erhaltenen, allerdings späteren Stücken noch ganz gut vorstellen können: trockene, sehr kurz gefasste Reisehandbücher, die mit Orts- und Entfernungsangaben, Notizen über Häfen, Ankerplätze, Wasserstellen, Verpflegungsmöglichkeiten, eigentümliches Verhalten der Bevölkerung, usw. usw., vor allem den praktischen Bedürfnissen reisender Kaufleute dienten. Es versteht sich, dass in diesem Wissenszweig, der schon vor den Zeiten der homerischen Epen geblüht zu haben scheint, immer ein ungleich stärkerer Wirklichkeitssinn herrschte als in gleichzeitigen geschichtlichen Erzählungen; denn dass es folgenreicher war, wenn die Geographie als wenn die Geschichte nicht stimmte, das spürte man gegebenenfalls am eigenen Leib. Über die selten bereisten oder nur aus Erzählungen der Randvölker bekannten Gebiete musste man natürlich Übertreibungen und Schwindeleien in Kauf nehmen, wie es ja auch noch Herodot erging; aber im Ganzen wehte auf diesem Gebiet die reine Luft der Sachlichkeit. Hekataios hat durch eigene ausgedehnte Reisen die ihm vorliegenden schriftlichen und mündlichen Berichte nachgeprüft und ergänzt, sicher in sehr weitem Ausmaß.

Diese Tätigkeit des Forschens durch eigene Erkundung und Umfrage ist es, was die Griechen στορα (vom Verbum στορεῖν) nannten. Der Terminus begegnet uns zuerst bei Herodot, war aber sicher schon Hekataios geläufig. Herodot bezeichnet sein Werk im Einleitungssatz, der den Titel vertritt, als στορης πόδεξις, das heißt Darlegung seiner Forschungsergebnisse, und gebraucht den Ausdruck häufiger. Thukydides dagegen übt die gleiche Tätigkeit, ohne sie so zu nennen; er sagt von ihr nur schlicht ξυγγράφειν: »zusammenschreiben«. Erst vom 4. Jahrhundert an bezeichnet στορα (meist im Plural στοραι) die Darstellung selbst, nunmehr auf geschichtliche Stoffe beschränkt. Die Römer meinen dann mit historia sowohl die Vergangenheit als auch ihre Darstellung, genau wie wir das Wort Geschichte verwenden.

Hekataios hat durch sein geographisches Werk den Griechen erstmals den Raum der Oikumene in seiner Ganzheit gezeigt, damit zugleich den realen Raum der »Weltgeschichte« und ihrer eigenen jüngeren Geschichte, die sie zu dieser Zeit noch immer nicht als ein selbstständiges Erlebnis ihrer fernen mythischen Vergangenheit entgegenzusetzen vermochten. Wir wissen nicht genug, um versichern zu können, dass dies ein Ereignis von mehr als literarischer und wissenschaftlicher Wirkung war, einer Wirkung allerdings, die allein schon als wegbereitend für Herodot von außerordentlicher Bedeutung ist, – aber, sei es nun reiner Zufall, Humor oder Tiefsinn des Weltgeistes, es ist erstaunlich zu sehen, wie dieser geistigen Bereitstellung das »weltbewegende« Ereignis, das Ganzheitserlebnis der griechischen Menschheit, welches ihr geschichtliches Denken entzündete: das Erlebnis der Perserkriege, noch in der gleichen Generation nachgefolgt ist, und es ist immerhin des Nachsinnens wert, ob man bereits für Hekataios, wie für Herodot und Thukydides gewiss, eine Wechselwirkung zwischen dem Geist des Historikers und der Strukturierung der geschichtlichen Ereignisse annehmen darf. Denn die Forschungsergebnisse des Hekataios und besonders seine verbesserte Erdkarte spielten eine beträchtliche Rolle in der Planung des ionischen Aufstands gegen die Perserherrschaft, welcher die Angriffe der Perser auf das griechische Mutterland auslöste und damit wiederum die innergriechischen Machtverlagerungen, welche zum Peloponnesischen Kriege führten. Ja, es ist einleuchtend vermutet worden, dass an der Gesandtschaftsreise des Aufstandsführers Aristagoras nach Sparta und Athen, welcher durch eine Demonstration der neuen Erdkarte und der Forschungsergebnisse des Hekataios über das Perserreich die Athener zu der verhängnisvollen Hilfeleistung an die Ionier zu verleiten vermochte, Hekataios persönlich beteiligt war.

Vergegenwärtigen wir uns hier in wenigen Umrisslinien die zeitgeschichtliche Situation, welche den Ablauf der Perserkriege und damit die Entstehung des Peloponnesischen Krieges bestimmte; dass wir es können, verdanken wir vor allem Herodot und Thukydides.

Nach der endgültigen Sesshaftwerdung der von Norden in die südliche Balkanhalbinsel eingewanderten griechischen Stämme, die sich der Gemeinsamkeit ihrer Abkunft, ihrer Sprache und Religion stets bewusst waren und sich durch sie streng von allen »Barbaren« unterschieden fühlten, sind bis zur zweiten Hälfte des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts nennenswerte Ansätze zu territorialen Machtbildungen im griechischen Raum nicht gemacht worden. Zwar hatte die von der Übervölkerung des griechischen Mutterlandes in Bewegung gesetzte lebhafte Kolonisationstätigkeit griechische Siedlungen und griechischen Wirtschaftseinfluss an fast alle Küsten des Mittelmeers und rings um das Schwarze Meer vorgetrieben, aber ohne Unterschied zwischen Alt- und Neugründungen blieb die angestrebte staatliche Einheit stets und überall die Polis: der kleine, wirtschaftlich im wesentlichen autarke Gemeindestaat, bestehend aus einem städtischen, meist befestigten Mittelpunkt und dem von der Bevölkerung dieser Gemeinde bewirtschafteten Hinterland; nur vereinzelt finden sich landschaftliche Zusammenschlüsse auf der Grundlage dörflicher Streubesiedlung. Die Unzahl dieser sich vielfach untereinander befehdenden Kleinstaaten bedingte, so kräftig das innere politische Leben der einzelnen Poleis auch entwickelt sein mochte, eine allgemeine Schwäche der griechischen Stoßkraft überall da, wo größere politische Gebilde dem Griechentum von außen entgegentraten. So wurde beispielsweise die griechische Kolonisation aus Mittel- und Norditalien von den Etruskern, aus dem Westen Siziliens und aus Afrika westlich der großen Syrte von den Karthagern, aus dem Inneren Kleinasiens von den Lydern im Wesentlichen herausgehalten. Mit der Beendigung der Lyderherrschaft durch den um 550 von Kyros begründeten persischen Staat kam das gesamte griechische Siedlungsgebiet auf dem kleinasiatischen Festland unter die Oberhoheit der Perser. Zu etwa der gleichen Zeit begann sich im Mutterland als erste neuartige Machtbildung die Führerstellung (griechisch »Hegemonie«) von Sparta in der Peloponnes abzuzeichnen. Dieser einst von dorischen Einwanderern auf der Knechtung der achäischen Vorbevölkerung im Eurotastal errichtete und im 7. Jahrhundert auf die benachbarte Messenische Ebene erstreckte Kriegerstaat lebte von der Fruchtbarkeit der beiden blühenden Landschaften und konnte sich durch sie einen fast völligen wirtschaftlichen Abschluss nach außen und damit eine starke Stabilität der eigenartigen inneren Gestaltung des Staates ermöglichen. Die Dauerversklavung der Vorbewohner von Lakonien und Messenien (Heloten genannt) erlaubte der an Zahl nicht starken und eher zum Rückgang geneigten spartiatischen Oberschicht, gänzlich ihren kriegerischen Idealen zu leben und die militärische Überlegenheit über alle Nachbarstaaten zu erringen, verbot allerdings zugleich kriegerische Unternehmungen fern der Heimat. So beschränkte sich der politische Ehrgeiz der Spartaner im Wesentlichen auf eine Vormachtstellung in der Peloponnes, die in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts durch ein fast die ganze Halbinsel umfassendes System von Waffenbündnissen Spartas mit den einzelnen Städten und Landschaften besiegelt wurde. Von größeren Städten der Peloponnes stand nun nur noch Argos außerhalb, dessen Kraft von Sparta nach langwierigen Kriegen bald nach der Wende zum fünften Jahrhundert gebrochen wurde. Nächst Sparta war das bedeutendste Mitglied des Peloponnesischen Bundes die reiche Handels- und Seestadt Korinth, die über die einzige nennenswerte Flotte in der Peloponnes, eine der größten im griechischen Raum, verfügte; die Interessen Spartas und Korinths ergänzten sich, ohne einander zu stören. Nach dem Aufbau des Peloponnesischen Bundes hatte Sparta nicht nur die Hegemonie in der Peloponnes, sondern genoss die Autorität eines zu militärischer Führung berufenen Staates im ganzen hellenischen Raum; aber, wiewohl wiederholt zu Hilfeleistungen aufgefordert, hielten sich die Spartaner von überseeischen Konflikten fern, so auch im Aufstand der kleinasiatischen Griechen gegen die Perserherrschaft in den Jahren nach 500.

War der spartanische Staat im 7. und 6. Jahrhundert den Weg von wirtschaftlicher und kultureller Aufgeschlossenheit zur Verhärtung und Erstarrung in den nach außen und innen exklusiven Idealen einer fiktiv alten, der sagenhaften Gesetzgebung des Lykurg zugeschriebenen Staatserziehung gegangen, und bildete bedächtiger Konservativismus, ja politisches Phlegma noch bis in die Zeiten des Peloponnesischen Krieges hinein das Gepräge der spartanischen Art, so war das Wesen und der Entwicklungsgang Athens gänzlich entgegengesetzt. Die beweglicheren Ionier waren von alters her stolz auf die Gastlichkeit ihres Landes und die Weltoffenheit seiner Bewohner; der für eine dichtere Bevölkerung zu karge Boden Attikas verwies sie früh auf auswärtige Handelsbeziehungen, deren natürliche Wege bei der Gunst der Küsten und Häfen über das Meer gingen. Seit dem Beginn des 6. Jahrhunderts wurde die politische Herrschaft eines großgrundbesitzenden Adels auf vorwiegend evolutionäre Weise durch eine allmähliche Demokratisierung abgelöst; auf dem timokratischen Rechtsstaat Solons baute die milde, um das Wohl der arbeitenden Bevölkerung bemühte Tyrannis des Peisistratos weiter; nach dem Sturz der Tyrannenfamilie verwirklichte Kleisthenes die Demokratie durch die Verschmelzung der Gesellschaftsklassen in dem kunstreichen Werk seiner Phylenordnung. Toleranz gegen eine in Attika sich ständig vermehrende gewerbetreibende Fremdenbevölkerung (Metoiken) und verhältnismäßige Humanität in der Behandlung der Sklaven, die im Staatsdienst sogar zu Vertrauensaufgaben herangezogen wurden, hielten mit dieser Entwicklung Schritt. Diese Verhältnisse entbanden ein starkes politisches Kraftpotenzial, das Freiheitsbewusstsein einer daseinsfreudigen Bürgerschaft, welches bereits Herodot als die eigentliche Wurzel der späteren Größe Athens erkannt hat.

Freilich, als Athen den Ioniern im Aufstand gegen die Perser die von den Spartanern weislich versagte Unterstützung gewährte, indem es zwanzig Schiffe entsandte, war dies nur eine vorwitzige Provokation, die weder dem militärischen Rangverhältnis der Stadt zu Sparta, geschweige denn zur Macht des Großkönigs auch nur annähernd entsprach. Denn Athen verfügte damals nur über eine kleine Flotte von altmodischen Fünfzigruderern, mit welcher es sich kaum der, ebenfalls nicht starken, Flotte der benachbarten Aigineten erwehren konnte. Seemächte von Bedeutung waren damals nur Korinth und seine Tochterstadt Kerkyra. Erst dem Weitblick des Themistokles wurde es verdankt, dass nach 493 der Piräus zu einem befestigten Kriegshafen ausgebaut wurde und 483 nach einem Misserfolg gegen Aigina die athenische Volksversammlung sich zur Investition der neuen Staatseinkünfte aus den Silbergruben von Laureion im Bau einer Kriegsflotte von hundert Schiffen vom modernen Trierentyp bestimmen ließ, wobei Themistokles mehr die von Persien als die von Aigina drohende Gefahr im Auge hatte. Dieses Jahrzehnt entschied den Aufstieg Athens in die erste Reihe der griechischen Mächte. 490 setzte sich Athen zu Lande mit seinem Hoplitenheer bei den Hellenen in Respekt, als dieses unter Führung des Miltiades in der Bucht von Marathon ein persisches Expeditionskorps vernichtend schlug, 480 konnte es im Kampf gegen die gewaltige Invasionsarmee des Xerxes in der Seeschlacht von Salamis mit seiner neuen Flotte abermals die Wende herbeiführen, die ganz Hellas aus größter Gefahr errettete. Seitdem galt Athen als führende Seemacht Griechenlands; die etwa gleichzeitig mit der seinigen gebaute Flotte der Syrakuser lag zu weit ab, um in der Politik des griechischen Mutterlandes mitzuzählen.

Alsbald nach der glorreichen Vertreibung der Perser wurde die neue Rangstellung Athens politisch verwirklicht. Die Inselstädte der Ägäis und die befreiten Griechenstädte der kleinasiatischen Küste benötigten ein dauerhaftes Schutzbündnis gegen einen erneuten Zugriff des persischen Riesenreiches und beauftragten Athen im Jahre 478 mit seiner Gründung und Führung. Nicht ungern zunächst überließen die Spartaner den Athenern die ihnen unbequeme Rolle der Hegemonie zur See und zogen sich ganz aus den weiteren Kämpfen gegen die Perser zurück. Als Vertrauensmann der Bundesgenossen organisierte der Athener Aristeides den Seebund, indem er die Satzung entwarf und die Pflichtanteile der einzelnen Bundesmitglieder, die hauptsächlich in der Gestellung von Schiffen und Bemannung oder, soweit dies nicht möglich war, in Geldbeiträgen bestanden, festlegte. Zum Gerichtsort für Streitfragen innerhalb des Bundes wurde Athen bestimmt, zum Aufbewahrungsort der Bundeskasse zwar zunächst das Apollonheiligtum auf Delos, athenische Finanzbeamte jedoch zu ihren Verwaltern.

Mit der Einrichtung des Delisch-Attischen Seebundes war der Grundstein zu einem bisher in der griechischen Geschichte unerhörten Machtaufbau einer einzigen Stadt gelegt. Im ständigen Anwachsen durch etwa fünfzig Jahre hindurch umfasste die athenische Symmachie bei Ausbruch des Peloponnesischen Krieges an vierhundert Poleis als Mitglieder. Die schon anfänglich starke Überlegenheit der athenischen Flotte innerhalb des Bundes steigerte sich unaufhörlich dadurch, dass bevölkerungsschwächere Kleinstädte vor allem auf den zahlreichen, dürftig von Fischerei und Landwirtschaft lebenden Inselchen der dauernden Einsatzbereitschaft müde wurden und ihren Leistungsanteil in Geld abzulösen vorzogen; die aus diesen Mitteln zu erstellenden Schiffe baute, bemannte und unterhielt dann – nominell für den Bund – die Polis Athen. Nur wenige größere Inseln mit eigenen bedeutenden Flotten: Samos, Chios und Lesbos, konnten innerhalb des Bundes die Selbstständigkeit echter Bundesgenossen behaupten; die Kleinen hingegen gerieten gänzlich in wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit von Athen, zahlungsunfähige oder unwillige Mitglieder wurden von Athen mit größter Schärfe zur Erfüllung ihrer Pflichten angehalten, einzelne Aufstandsversuche sofort mit brutaler Gewalt gebrochen (Thuk. I, 99). Der erste Konfliktsfall dieser Art, der Abfall und die ihm folgende Unterwerfung von Naxos, gehört bereits der Zeit um 470 an. Bezeichnend für die allmähliche Verwandlung des gemeinhellenischen Kampfbundes gegen Persien in eine rein athenische Herrschaft ist die Überführung der Bundeskasse von Delos nach Athen im Jahre 454, mehr noch aber die als selbstverständlich behandelte Tatsache, dass auch nach dem offiziellen Friedensschluss mit Persien im Jahr 449 der Bund unverändert weiter bestand. Tatsächlich war zu dieser Zeit Athen auch wohl kaum mehr in der Lage, sich der gewonnenen Machtstellung freiwillig wieder zu begeben, ohne die Rache der Unterdrückten heraufzubeschwören. Es gab vielleicht die Möglichkeit des Maßhaltens, nicht aber die des Zurückgehens auf dem einmal von Athen beschrittenen Weg. Nicht nur der Hass der eigenen Untertanen bedrohte die neue Großmacht, sondern sie musste auch mit der militärischen Eifersucht Spartas rechnen und der wirtschaftlichen von Korinth. Das Verhältnis zum Peloponnesischen Bund, dem einzigen griechischen Machtblock außerhalb des attischen, bildete ein Kernproblem der athenischen Außenpolitik, dessen pflegliche Behandlung von Anfang an unter dem Austrag innerpolitischer Rivalitäten in Athen zu leiden hatte.