Sein letzter Cache

 

von Franziska Frey

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Text Copyright  © 2015 Franziska Frey

ISBN 978-3-7375-5670-5

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist ein frei erfundener Krimi. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht gewollt.

 

 

DANKE....

 

... meinen Freunden, meinen Cacherfreunden, meinem Kollegium und meiner Familie.

 

Schreiben hilft.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Prolog

21. November, morgens

21. November, Spätnachmittag

21. November, abends

22. November, 7 Uhr

22. November, vormittags

22. November, etwas später

eine Stunde später

22. November, nachmittags

zur gleichen Zeit

22. November, abends

zur gleichen Zeit

23. November, morgens

zur gleichen Zeit

23. November, später Vormittag

23. November, nachmittags

zur gleichen Zeit

eine halbe Stunde später

23. November, abends

24. November,  morgens

24. November, 9 Uhr

24. November, 14 Uhr

24. November, 16 Uhr

25. November, 9 Uhr

zeitgleich

25. November, nachts

26. November. morgens

zeitgleich

nach der Mittagspause

1.Dezember, später Vormittag

Rückblick: 11. Oktober

18. November

3. Dezember, mitten im Wald

zur gleichen Zeit

Nachwort

 

 

Prolog

 

Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich.

Ihrer Meinung nach hatte sie alles einkalkuliert.

Dennoch kamen die ewigen Fragen, die sie sich bereits im Vorfeld gestellt und allesamt ausgeräumt hatte, wieder hoch.

Was, wenn er nicht der erste war?

Was, wenn sie jemanden anderen mit hineinzog?

Was, wenn sie, wie auch immer, entdeckt würde?

Würde sie durchhalten?

 

Die Fragen kreisten in ihr und mit ihnen ihr Gewissen.

Hätte sie doch hingehen und beobachten sollen, um notfalls eingreifen zu können?

Aber auch das hatte sie im Kopf tausendmal hin- und herbewegt.

Ihre Entscheidung war richtig.

 

 

Sie musste warten.

So war das Spiel.

Mehr konnte sie nicht tun.

21. November, morgens

 

Er atmete tief durch. Die kalte Novemberluft trat in seine Lungen ein. Er tippte die letzten Koordinaten in sein GPS-Gerät ein. Das Rätsel war nicht ohne, er musste lange suchen, um die entscheidenden Hinweise im Wald zu finden. Aber bei den 4568 Caches, die er schon auf seiner Liste hatte, war ihm nichts zu schwer. Er musste weiter querfeldein und steil einen Hügel hoch stapfen. Wie weit er schon von seinem Mountainbike entfernt war, konnte er kaum schätzen – sein GPS zeigte 4,8 km Luftlinie an. Es ging geradeaus durch eine lichte Lärchenschonung. Wenn seine errechneten Koordinaten stimmten, mussten es noch ungefähr 350 Meter sein. Gut, dass sein GPS seinen Weg anzeigte, er war sich nicht sicher, ob er den Rückweg aus der Vorstellung heraus finden würde. Wenigstens hatte das Wetter trotz Vorhersage gehalten. Regen fand selbst er unangenehm, dann konnte Klettern unmöglich gemacht werden.

Noch 100 Meter. Er begann sich umzuschauen, um mit seinen geübten Cacheraugen das getarnte Versteck zu suchen. Noch 50 Meter – vielleicht unter dem Baum? Er wusste nicht ganz genau, wo das „Final“, wie die letzte Station des Mysterycaches genannt wurde, war. Dazu war es eben ein „Mystery“ – ein Rätselcache, bei dem man erst Rätsel lösen musste, um zum Final, zur Enddose, zu gelangen. Das war noch ein ganz besonderer Kick.

Noch 10 Meter – vielleicht in der Baumspalte? Er trat das nasse Laub beiseite. Nichts. Wäre auch zu einfach gewesen. War immerhin ein T5, die schwerste Cachestufe. Nur mit Hilfsmitteln zu machen. Also wahrscheinlich ein Klettercache. Er hielt das GPS in die Luft und schaute gleichzeitig in die Baumwipfel. Nichts zu sehen. Es musste aber hier sein oder die Koordinaten waren nicht genau. Er ging die letzten Schritte, bis das GPS die ersehnte NULL anzeigte. Hier musste es sein. Er schaute senkrecht an der Buche vor ihm hinauf. Schätzungsweise 15 bis 18 Meter hoch, recht stabil im Wuchs. Hier würde er, wenn er einen Cache selbst legen würde, durchaus einen auf dem Baum verstecken. Man kam sogar ohne große Kletterausrüstung den Baum hinauf. Als erfahrener Sportler lehnte er diese zusätzliche Sicherung durch Seil, Karabinerhaken und Klettergurte ab. Außerdem hätte man dann besser im Team cachen müssen. Das lag ihm nicht, er war ein Einzelcacher. Immerhin hatte er schon zirka 300 Klettercaches ohne Sicherungen nur mit einem Seil und seiner Spezialausrüstung gehoben. Auch T5er, bei denen dringend auf zusätzliche Ausrüstung hingewiesen wurde. Dem Sportler war nichts zu schwer.

Er lief die Buche nochmals aus unterschiedlichen Richtungen an. Das GPS bestätigte durch seine Anzeigen seine Vermutung: Hier oben musste der Cache sein! Immer wieder verringerte das GPS seine Meterzahl auf Null oder annähernd Null, wenn er an der Buche eintraf. Er schaute ein letztes Mal hoch – also los! Er packte aus seinem Rucksack die Steigeisen aus. Eigentlich waren die für einen Gang im Schnee über einen Gletscher gedacht, da hatte er sie auch schon öfter eingesetzt auf der Suche nach Gletschercaches in den Alpen – früher auch auf ordinären Bergtouren. Aber die Zeiten der banalen Extremwanderungen waren für ihn schon seit sechs Jahren vorbei, seitdem er das Geocaching für sich entdeckt hatte. Nun war er immer auf der Suche nach den Dosen, die ihm jedes Mal wieder den Kick gaben, wenn er sie fand und öffnete. Jedes Mal – und sei es eine noch so einfache banal gelegte Ein-Stern-Anfängerdose. Den größten Kick gaben ihm jedoch die FTFs, die „First to finds“, die Dosen also, die jemand gerade neu versteckt hatte irgendwo und die dann durch die Reviewer, die Kontrolleure, die den Cache auf Richtigkeit kontrollierten, im Internet freigegeben wurden. Sobald dies geschah, bekam er eine Mail und konnte innerhalb kürzester Zeit losziehen. Im Kofferraum seines „Cachemobils“, wie die Autos im Cacherjargon hießen, einem allradbetriebenen wendigen Jeep, lag seine Cacherausrüstung immer bereit.

Er hatte schon eine beachtliche Liste dieser FTFs auf seiner eigenen Cacherhomepage verzeichnet. Am stolzesten war er auf die T5/D5-FTFs, also die schwierigsten der schwierigen Caches. Schwierigkeit Fünf von Fünf und Terrain Fünf von Fünf. Eigentlich hatte er bis auf einige FTFs in seinem Gebiet, die das „Team Geohasen“ gehoben hatte, alle neuen Caches als FTF gehoben. Sein Beruf machte es möglich, denn er konnte sich seine Zeit so einteilen, dass er fast immer der erste am neuen Cache war.

Keiner merkte, dass er inzwischen viel mehr Zeit für sein Hobby als für seinen Beruf verwandte. Das Gehalt stimmte nach wie vor und er hatte die Arbeit absolut routiniert und wie er fand perfekt und professionell im Griff. Er liebte es, in die Augen der Frauen zu schauen, die als Chefinnen so stark waren, und dann die Angst flackern zu sehen, weil sie vollkommen abhängig von ihm und seinem Urteil waren. Sie gaben alles und nicht selten ging es auch um alles, nämlich um ihre berufliche Existenz, die er mit ein paar Blättern Papier auf den Weg der Vernichtung und der Schließung der Institution bringen konnte.  War man erst mal durchgefallen, konnte es die Gemeinde ganz schnell mit der Schließung auf den Weg bringen. Inzwischen standen 168 Objekte auf seiner Liste. Davon waren 98 durchgefallen und davon widerum immerhin 14 anschließend geschlossen worden. Darauf war er besonders stolz.

Er liebte es auch, in den ersten Gesprächen am Telefon und vor Ort den freundlichen Versteher zu spielen, den, der alles toll fand und er sparte auch nicht mit Lob. Das wog sie in Sicherheit, sie wurden auf den letzten Metern nachlässig, nahmen den Druck aus dem Kollegium raus und machten dann die entscheidenden Fehler. Die ließ er natürlich in der eigentlichen Beurteilung nicht durchgehen wie viele seiner Weichei-Kollegen, sondern hackte auf ihnen mit wachsender Begeisterung herum. Sagen konnte man viel. Was nachher zählte, waren die knallharten Fakten – und er fand in jedem Objekt, wie er es nannte, die Schwachstellen, an denen er sich mehr oder weniger aufgeilen konnte. Er betrachtete das als seinen beruflichen Sport.

Obwohl ihn das Objekt vor acht Monaten fast an den Rand seiner Möglichkeiten gebracht hatte. Da war doch tatsächlich fast nichts zu kritisieren gewesen. Ein paar Sachen hatte er dann doch gefunden, sodass die Bewertung schließlich noch mit „durchgefallen“ bewertet werden konnte. Alles Weitere war Routine.

 

Das gesamte Kollegium war dennoch ungeheuer sauer - sie hatten wohl nur mit Bestbewertungen gerechnet, hahaha – und er musste Einiges an bösen Bemerkungen einstecken, bevor er mit rechtlichen Schritten drohte. Dann war Ruhe und es liefen sogar Tränen, wahrscheinlich in dem Fall Wuttränen.

Den Kick bei der Arbeit gaben ihm vor allem die weinenden und verzweifelten Frauen, wenn er am Ende seines Arbeitsprozesses stand und das Ergebnis verkündete. Wie einfach er das erreichen konnte, wie er das brauchte und wie er das liebte – genauso wie die jungen Geliebten, die er in Massen verbrauchte und dann wieder aus seinem Leben stieß.

Schneisen der Vernichtung zu schlagen machten ihn besonders an. Sowohl beruflich als auch privat. Ihm konnte keiner was. Das hatte er oft genug in dienstlichen und privaten Verfahren bewiesen, die er allesamt gewonnen hatte. Ihm konnte keiner was und er konnte allen was.

Ja, sein Leben war perfekt und eine tolle Kombination aus Macht, Befriedigung, Gefahr und Geld. 

 

Dieser FTF würde eine richtig gute Bewertung auf der geocaching-Internet-Seite durch ihn bekommen. Es hatte Spaß gemacht, die Rätsel zu lösen und bis hierher zu kommen. Sein Intellekt war richtig gefordert worden. So etwas mochte er besonders, entweder die körperliche oder die geistige Herausforderung. Am allerbesten war die Kombination von beidem und das versprach dieser Cache. Was er komisch fand, war, dass dieser Owner, also der Besitzer und Verstecker des Caches, ihm unbekannt war. Eigentlich waren ihm alle Owner der Umgebung geläufig – zumindest ihre Nicks, wie man die fantasievollen Namen, die man sich beim Geocachen gab, nannte. Der Owner, „ins2015“, hatte erst 36 Caches gefunden und noch keinen versteckt. Dafür war die Ausarbeitung wirklich professionell gelungen. Hut ab. Wahrscheinlich war es ein sogenannter „Sockenpuppenaccount“, also ein Zweitname bei geocaching, hinter dem sich ein bekannter Cacher aus was für Gründen auch immer verstecken wollte.

 

Er zog die Steigeisen über seine ebenfalls gletschertauglichen Bergstiefel, hängte sich einen Hammer und ein Seil um den Hals, nahm eine dicke Krampe in die Hand  und schaute noch einmal fachmännisch den Baum hinauf. Keine Spuren zu sehen, aber das hieß nichts. Der Owner oder eventuelle Erstfinder konnten mit Hilfe einer Kletterausrüstung diesen Baum so erklommen haben, dass keine Spuren hinterlassen wurden, das war ihm klar. Er hatte da so seine eigenen Methoden. Ganz einfach würde es dennoch nicht werden, viel Hilfe bot diese Buche nicht. Egal, los, wer konnte wissen, ob ihm nicht weitere Cacher auf der Spur waren, also keine Zeit vergeuden. Am meisten Angst hatte er vor dem „Team Geohasen“, na ja, Angst war das falsche Wort, eher einen sportlich, konkurrierenden Druck, der ihn schon oft zu Höchstleistungen angetrieben hatte. Mit Erfolg – die meisten FTFs hatte er!

 

Mit der Spitze voran rammte er sein rechtes Steigeisen in das Baumholz. Der Baum schien unter dieser Attacke zu ächzen. Das störte ihn allerdings nicht. Er hatte in seinem Leben noch nie viel Rücksicht auf andere genommen, seien es Menschen, Tiere oder Pflanzen gewesen. Da störten ihn auch die strengen Regeln des Geocachings nicht, die verlangten, dass man beim Cachen auf die Natur in besonderer Weise achten sollte. Ihm war das egal, Hauptsache, er kam zu seinem Cache.

Die Buche war so gesund und stand in ihrem Saft, dass er doch auf die Krampen zurückkommen musste und er rammte mit Hilfe seines Hammers die erste Krampe in das Baumholz. Der Baum schien zu vibrieren, bis er die Krampe festgeschlagen hatte und darauf zu stehen kam. Aus dieser Höhe konnte er sein Seil über den ersten Querast werfen, um dann mit Hilfe der Steigeisen den Stamm hochzuklettern. Er rammte weitere Wunden in den Baum und setzte sich leicht keuchend auf den Ast in ungefähr fünf Metern Höhe. Nach oben hin verjüngte sich der Baum, allerdings war der nächste stabil aussehende Querast erst weit über ihm zu sehen. Von hier aus hatte er bereits eine bessere Sicht nach oben in die Baumkrone, die um diese Jahreszeit sehr licht war und dadurch besser einsehbar. In der Mitte kamen mehrere Äste zusammen und bildeten etwas, das von unten aussah wie eine natürliche Mulde. Dort konnte der Final liegen, aber bis dahin war es noch eine Strecke von wieder ungefähr drei Metern in die Höhe.

Er schlug eine weitere Krampe in den Stamm hinein, kletterte hoch und zog sich an einem kleineren Ast weiter. Wieder konnte er das Seil über den stabilen Ast werfen, um dann den Stamm mit den Steigeisen weiter zu verletzen und hochzuklettern. Er prüfte den Ast auf Standfestigkeit für seine durchtrainierten 80 Kilo und zog sich hoch. Jetzt lag die Baumkrone noch knapp über drei Meter über ihm und machte einen einladenden Eindruck. Das konnte man ohne Seil schaffen. Er schlug eine letzte Krampe in den Ast, stellte sich hinauf und stemmte sich höher, um sich auf einen kleinen Ast zu stellen. Jetzt lag die Baumkrone fast zum Greifen nah vor ihm und er konnte aus den Augenwinkeln die Ecke einer dunkelgrünen Kiste erspähen. Glücksgefühle durchwallten ihn, er hatte also wieder mal die richtige Spur gefunden. Einen letzten Schritt musste er auf einen abgestorbenen Querast setzten, dann konnte er nach dem Ast greifen, der zur Krone gehörte und sich daran hochziehen. Er legte alle Energie in das Greifen und verlegte seine ganze Kraft in die Arme.

 

Was war das?

Es war glitschig.

Seine Hände rutschten ab, warum auch immer.

In Zehntelsekundenschnelle verlor er die Kontrolle über seine Hände und seinen Körper.

Während er krachend auf den unteren Ast fiel, durchzuckte ihn sein letzter Gedanke: „Nicht gehoben.....“

 

 

21. November, Spätnachmittag

 

„Team Geohasen“ keuchte in leichtem Regen durch den Wald. Die letzten beiden Stationen hatten sie wirklich gefordert. Für eine Station mussten sie Hunderte von Metern weit durch den Wald stapfen, bergauf und bergab. Die letzte Station vor dem Final lag unter Wasser hüfttief in einem Bach. Sie hatten so was schon befürchtet, daher hatte Matthias seine Wathose im Rucksack mitgenommen. Seine Hände und Füße waren immer noch eiskalt vom Bachwasser. Aber immerhin hatte der Hinweis  in dem wasserdichten Döschen sie nach einigem Hin- und Herüberlegen und Internetrecherchen zum Final geführt. Barbara seufzte. Schon wieder einen Hügel hoch durch eine Lärchenschonung. Sie waren schon den gesamten Nachmittag unterwegs gewesen und langsam fing es an zu dämmern. Sie mochte es nicht sonderlich, während der Dunkelheit im Wald zu zweit abseits von jeglicher Zivilisation unterwegs zu sein. Aber das würde sie Matthias nie eingestehen. Immerhin war sie nicht allein und mit Matthias im Team hatten sie schon so manchen Fund im Wald bei Nacht gehoben. Der Kick nach dem FTF war bei ihr dann doch einfach zu groß. Sie mochte diese Wettrennen um den FTF. Mit Matthias als „Team Geohasen“ war es einfach gut und sie hatte sich noch nie gefährdet gefühlt.

„Arschkalte Flossen trotz Taschenofen“, sagte Matthias. „Nimm du mal das GPS!“ Barbara schaute auf die Anzeige. Noch 350 Meter. Sie liefen auf einen Mischwald zu, der sich an die Lärchenschonung anschloss. Noch 150 Meter. Es wurde dunkler. Die eng stehenden Bäume verschluckten das eh schon weniger werdende Dämmerungslicht. „Rechts lang, Matthias“ sagte Barbara. Noch 60 Meter. „Wart mal...“ sagte sie zu ihm. Irgendwas stimmte nicht. Schräg vor ihr sah sie im letzten Licht etwas Großes, Rotes auf dem Boden liegen. „Matthias, was ist das?“ sagte sie. Das GPS zeigte genau in die Richtung des Roten.  „Wahrscheinlich das Final“, gluckste der, „ist wohl ein Zelt oder ein Schlafsack oder eine halb eingegrabene rote Munitionskiste“. Sie stapften weiter und versuchten, mit den Augen zu erkennen, was das war. „Oh Gott“, sagte Barbara, „ich glaub, da liegt wer!“ Als sie noch näher kamen, setzte ihr Verstand aus und sie schrie, schrie, schrie durch den einsamen Wald....

 

Matthias hielt sich die Ohren zu vor Barbaras gellenden Schreien. Als ausgebildetem Rettungssanitäter war ihm innerhalb weniger Sekunden klar, dass der dort liegende Mann mausetot war und das schon seit einigen Stunden. Das Allerschlimmste war aber, dass sie beide den Mann kannten. Es war „bigC“, ihr Cacherkonkurrent, mit dem sie sportlich um die FTFs in ihrem Gebiet wetteiferten. Wie oft waren sie mit ihm um einen FTF unterwegs – meistens war „bigC“ der erste, manchmal sie. Eigentlich mochte Matthias ihn nicht besonders. Er fand ihn arrogant, schnöselig und vor allem sehr angeberisch. Aber sportlich war er, das konnte man ihm nicht aberkennen, sportlich war er. Als das „Team Geohasen“ vor einigen Wochen mal als erste am Cache war und er sich um Minuten verspätet hatte, konnte er mit einem lockeren Spruch seine „Niederlage“ verkraften. Auf den Cacherevents in der Region hatten sie bei ein paar Bierchen mit ihm mehrmals durchaus amüsante Gespräche geführt. Vor allem an Barbara schien er mehr als interessiert – nicht, dass Matthias eifersüchtig war, er hatte mit seiner Freundin Helga eine mehr als gute langjährige Beziehung, die es ihm erlaubte, mit Barbara ausgedehnte Cachertouren zu unternehmen. Barbara war da lockerer – eigentlich wusste er gar nicht, ob sie aktuell einen Freund hatte oder nicht. Darüber sprachen sie auch nicht, war nicht weiter interessant für ihn auf ihren gemeinsamen Touren. „bigC“ war auf jeden Fall der Typ „Frauenversteher“. Matthias war immer schon schleierhaft gewesen, warum Frauen in seinem Alter auf so viel ältere Männer stehen konnten, auch wenn die wie „bigC“ noch recht gut aussahen. Er war groß gewachsen und schmal, Typ Athlet, gut durchtrainiert. Seinen blonden, kurzgeschnittenen Locken konnten anscheinend in Kombination mit seinen großen braunen Augen nur wenige Frauen widerstehen. Er kannte sich da als Mann nicht so aus. Seine Cacherklamotten und seine Ausrüstung waren immer auf dem neuesten Stand. Er musste vor Geld nur so stinken. Auf einem Cacherevent hatte er gesehen, dass er ein Cabrio fuhr. Eben ein Angeber.

 

Barbara schrie immer noch gellend und die Tränen spritzten ihr aus den Augen. Sie war auf die Knie gesunken und schlug fortwährend die Fäuste vor den Kopf. „Barbara“, sagte Matthias laut, hockte sich zu ihr und schüttelte sie an den Schultern. „BARBARA!!!“ Sie reagierte nicht und schrie weiter. Er verpasste ihr mit voller Wucht eine Ohrfeige. Das brachte erfahrungsgemäß Leute unter Totalschock wieder etwas zur Besinnung. Barbara fiel um wie ein Sack Mehl und lag wimmernd auf dem Boden. „Entschuldige, entschuldige“ murmelte er, hob sie auf und zog sie in seine Arme. Sie wehrte sich nicht und weinte leise weiter. Sie bebte am ganzen Körper. Erst jetzt merkte er, dass er auch ganz zitterig war und seine Beine ihn nicht länger gut getragen hätten.

„Ich muss die Polizei anrufen“ sagte er zu Barbara und kramte sein Handy aus der Tasche. Das Allerletzte, was er jetzt gebrauchen konnte, wäre das Signal „Kein Empfang“. Aber beim Blick auf das leuchtende Display sah er erleichtert, dass es „NUR NOTRUF“ anzeigte. Das genügte.

„Matthias Kannenheim“ meldete er sich. „Hier gibt es einen Toten.“ „Sagen Sie uns bitte die genaue Adresse“ erwiderte der Polizist am anderen Ende.  „Kann ich nicht, das ist mitten im Wald. Aber ich kann Ihnen unsere Koordinaten geben.“ antwortete Matthias. „Sie werden feste Schuhe brauchen, da müssen Sie mindestens eine halbe Stunde weglos zu Fuß gehen, und es regnet. Bitte, kommen Sie so schnell wie möglich und bringen Sie einen Arzt mit. Meine Freundin hier hat scheinbar einen schweren Schock.“

 

21. November, abends

 

Kommissarin Günnur Meier rieb sich die Augen. Sie hatte ja schon einige Tote im Laufe ihrer Kommissarstätigkeit gesehen, aber das war doch ziemlich skurril: Der Tote lag seltsam verrenkt auf dem Rücken mit ausgestreckten Armen und Beinen. Ein Rinnsal geronnenen Blutes floss aus seinem Mund und war trotz der Feuchtigkeit des eingesetzten Regens noch deutlich zu erkennen. An seinen Schuhen waren Steigeisen festgeschnallt. Ein Hammer lag neben seiner linken Schulter, den er anscheinend an einem Seil um den Hals getragen hatte.  „Wozu brauchte der Mann in diesem deutschen Mittelgebirgswald Hammer, Bergschuhe und Steigeisen?“ fragte sie laut. Ihr Kollege Felix Beimann von der Spurensicherung zuckte mit den Schultern. „Ich finde den Inhalt des Rucksackes auch seltsam: Da sind neben einem Smartphone und einer Thermoskanne Kaffee noch Wathose und Regenjacke, ein Abfallgreifer, diverse Haken und Schnüre, eine Faltstrickleiter, eine Riesentaschenlampe, eine kleine Taschenlampe, mehrere Aidshandschuhe und ein Helm mit Stirnlampe drin.“

„Hat der eine Extremexpedition vorgehabt oder was?“, fragte Günnur lakonisch. Es hätte sie nicht weiter gewundert, denn das Team hatte tatsächlich über eine Stunde im Nieselregen vom kleinen Waldweg bis hierher gebraucht. Solche Tatorte liebte sie als Fan eleganten Aussehens besonders. Eine Stunde durch die freie Wildnis, über Stock und Stein bei Wind und Wetter – zum Glück war November und die schlimmste Zeckenalarmzeit vorbei.  Sie hatte ihre Grundausrüstung für derartige Außeneinsätze bei der Arbeit im Schrank lagern, sodass sie sich aus ihrem geliebten Bürooutfit schnell umziehen konnte.

Trotz ihrer wasserfesten halbhohen Wanderschuhe hatte sie aber auch noch nasse Strümpfe bekommen, als sie in ein Loch – bestimmt so ein verlassener Fuchs- oder Kaninchenbau – getreten war und das nasse Laub in ihre Stiefelschäfte gekrochen war. Das trug nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden bei, denn als Frau und türkischstämmige Mitbürgerin mit südländisch warmen Genen neigte sie in extremem Maße zu kalten Füßen. Von Kälte konnte jetzt keine Rede mehr sein, es waren arktische Temperaturen in ihren Strümpfen. Zum Glück wusste sie, dass Extremitäten nicht so schnell erfrieren können, denn wie schon so oft spürte sie ihre Füße kaum noch. Ihr Mann Tobias würde Einiges zu tun haben heute Nacht. 

„Vielleicht wollte er den Wald mit dem Abfallgreifer säubern?“ scherzte Felix. Günnur sah ihn schief an und tippte sich an die Stirn. Er hatte schon diverse Fotos von der männlichen Leiche gemacht, kramte in der Seitentasche seiner Wanderhose und zog ein Gerät heraus, das für ein Handy ein seltsames Format hatte. Es sah nahezu altmodisch dick aus, fand Günnur. Außerdem hatte der Tote ja das neueste Handymodell in seinem Rucksack gehabt. Wozu dann noch eins? „Ah, ein GPS-Gerät“ sagte Felix. „Langsam wird mir einiges klar.“ „Wie jetzt?“ fragte Günnur.  „Das muss ein Geocacher sein“ sagte er.

„Häh?“ fragte Günnur mit einem Gesichtsausdruck, den man normalerweise dämlich nennen würde. Bei ihr sah das Minenspiel immer noch gut aus.

„Maaaaannnn, Günnur, du sitzt echt auf der Leitung“ sagte Felix ungeduldig. „Torsten macht das doch auch!“

Bei Günnur klackte es dunkel im Gehirn. Klar, ihr dicker gemütlicher Kollege Torsten, der hatte ihnen mal von seinem großen Hobby erzählt, bei dem man mit einem GPS-Gerät rumlief und irgendwelche Dosen mit Zetteln suchte. Hatte sie sich damals schon gefragt, wie blöd manche Hobbys sein müssen, bei denen man sich mit Technik bewaffnet bei Wind und Wetter durch die Wälder schlägt, ewig lang komische Rätsel lösen muss und danach noch im Internet irgendwas einträgt. Das hatte sie schon damals überhaupt nicht interessiert. Technik, Rätsel und einsame, unheimliche Orte bekam sie in ihrem Job genug. Da interessierte sie es auch, aber nicht in ihrer Freizeit, da benötigte sie einen anderen Ausgleich. Wer’s braucht, hatte sie damals gedacht und vermutet, dass Torsten bei seiner Arbeit nicht genügend ausgelastet ist. 

Gut. Dann hatten sie mit ihrem engsten Kollegen zumindest einen Fachmann in ihrer Nähe, den sie ausquetschen konnten, denn dass das ein Unglücksfall mit Todesursache oder sogar ein Mordfall werden könnte, war ihr schnell klar.

„Haben Sie schon eine Idee, woran er gestorben ist?“ fragte sie den Arzt.

Der wiegte den Kopf, was sie im Schein der schlechten Beleuchtung gerade noch erkennen konnte. „So aus dem hohlen Bauch heraus vermute ich, dass sein Rückgrat gebrochen ist und wahrscheinlich auch sein Schädel. Vielleicht ist er aus dem Baum gestürzt, auf einen Ast gekracht, dabei ist sein Rückgrat gebrochen und dann hat er hier unter dem Kopf einen Stein. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er auf dem schwer aufgeschlagen ist.  Näheres kann ich nach der Obduktion sagen. Aber das können Ihre Kollegen vor Ort wohl besser rekonstruieren, schätze ich!“ sagte er zu Günnur und deutete auf die Spurensicherer.

 

Etwas abseits saß der junge Mann, der sie telefonisch benachrichtigt hatte. Er hatte um einen Arzt für seine Freundin gebeten, aber inzwischen benötigte er ihn mindestens genauso. Er war kalkweiß im Gesicht und atmete kurz und stoßweise, hockte auf einen Baumstumpf und die Sanitäter hatten ihn in eine warme Decke gehüllt. Etwas weiter weg lag auf dem Waldboden Erbrochenes – sie würden noch feststellen, ob es vom Toten, von ihm oder von seiner Freundin stammte. Immerhin hatten sie seinen Namen, Matthias Kannenheim, seine Freundin hieß Barbara Groß. Sie lag mit geschlossenen Augen in einer Notfalldecke auf einer Tragbahre und hatte inzwischen eine Beruhigungsspritze bekommen. Beide waren absolut unfähig, eine Aussage jeglicher Art zu machen. Das Einzige, was sie herausbekommen hatten, war, dass beide den Toten kannten. „Er lag da einfach...“ hatte der junge Mann immer wieder gestammelt und „Ich mach das nie wieder!“ und hatte den Kopf geschüttelt. Es war nicht aus ihm herauszubekommen, was er nie wieder machen wollte, weder durch Nachfragen noch durch gutes Zureden. Druck hätte sowieso nichts gebracht, das wussten alle hier Anwesenden. Die junge Frau hatte noch gar nichts gesagt, war völlig unfähig zum Sprechen, man sah es ihr an. Inzwischen war sie in einem Stadium der starren Apathie angekommen und lag teilnahmslos auf ihrer Tragbahre. Ab und zu wischte ihr der Arzt den Regen aus dem Gesicht. 

Beide hatten allerdings energisch die Köpfe geschüttelt, als sie gefragt wurden, ob sie gesehen hätten, wie der Mann gestorben ist und ob sie etwas mit seinem Tod zu tun hätten. Genickt hatten sie widerum auf die Frage, ob sie ihn kannten. Der junge Mann stammelte etwas wie „Bigßie“, was keiner verstand. Die drei schienen unabhängig voneinander hierher gekommen zu sein. 

Günnur war froh, wenn sie die beiden ohne Schwierigkeiten aus diesem Stück Urwald, wie sie es insgeheim schon getauft hatte, wieder heil in die Zivilisation bekämen. Sie hatte inzwischen über Funk, denn das verdammte Handy ging ja im Urwald nicht, noch mindestens vier Mann Verstärkung angefordert mit einer weiteren Tragbahre, denn so wie es aussah, waren beide nicht wirklich in der Lage aus eigener Kraft dieses verfluchte Stück Natur zu verlassen.

Schon auf dem Weg zum Toten war es stockdunkel gewesen und aus dem leichten war ein mittelschwerer Regen geworden. Zum Glück hatten sie leistungsstarke Taschenlampen und Scheinwerfer dabei. Allein schon die Ausrüstung brauchte einige Träger, Sherpas, wie sie ihre Kollegen liebevoll nannte. Sie selbst hatte auch einen schweren Rucksack getragen. Zwar war sie südländisch zierlich, „aber oho!!!“ wie ihre Kollegen immer zu sagen pflegten. Der Rucksack wog locker 15 Kilo, machte ihr aber auf dem Weg weniger zu schaffen als die verdammten kalten Füße. Ärgerlicherweise hatte sie ihre Ersatzsocken vergessen. 

Bis die Verstärkung ankam, würde es frühestens 22 Uhr sein. Toll. Mal wieder eine Nachtschicht für alle, dachte Günnur. Kontraproduktiv zu ihrem Namen, der auf Türkisch „Tageslicht“ bedeutete. Das war auch die Tageszeit, die ihr mit Abstand mehr lag als die Nacht. Glücklicherweise kam ein unvorhergesehener nächtlicher Einsatz  eher selten vor, denn solche Todesfälle waren in der sonst beschaulichen Universitätsstadt nicht die Regel. Tobias war zu Hause bei den Kindern. Bevor sie loszogen, hatte sie ihn noch angerufen und ihm gesagt, dass es später werden könnte, sie hätten einen Todesfall im Wald. „Im Wald???? Es regnet doch!“ hatte er ungläubig gefragt.  „Glaubst du, das interessiert den Toten?“ hatte sie ironisch erwidert. Nächtliche Einsätze und Schichten bei Wind und Wetter waren ihm von ihr durchaus ab und an bekannt. Er konnte sich seine Zeit als Unidozent besser einteilen, sodass die Kinder nie wirklich alleine waren. Sie brauchte also nicht die besorgte Mutter zu sein und wandte ihre Gedanken wieder dem vor ihr liegenden Mann zu, auf den es inzwischen wie aus Kübeln goss.

„Oh nein, macht mal die Planen drüber!“ herrschte sie die Kollegen von der Spurensicherung an. „Wir sind noch nicht fertig!“

Der Mann war aber bereits von oben und unten klatschnass. Der Fundort -  oder sollte man Tatort sagen? – war nicht mehr weiter zu untersuchen, alle eventuellen Beweise schwammen vor ihren Nasen buchstäblich weg.