Von der Frühzeit des Menschen
bis zur Gegenwart
Verlag C.H.Beck
Harald Haarmann legt mit diesem Buch erstmals in deutscher Sprache eine moderne Universalgeschichte der Sprachen vor. Er beschreibt, was wir über die Sprachfähigkeit der frühesten Menschen wissen, in welchen Stufen sich die komplexe Sprache des Homo sapiens entwickelte und wie die vergleichende Sprachforschung das Nostratische als älteste bekannte Sprachfamilie rekonstruiert hat. Haarmann versteht es meisterhaft, seinen Lesern die oft verschlungenen Wege der Herausbildung von Sprachfamilien, der Transformation und Ausgliederung alter und der Entstehung neuer Sprachen zu vermitteln. Dabei greift er auf neueste Erkenntnisse der Humangenetik, Archäologie und Migrationsforschung zurück, die die historisch vergleichende Sprachwissenschaft in letzter Zeit in erstaunlichem Maße bereichert haben. Ein Ausblick auf gegenwärtige Entwicklungen rundet den Band ab. Während zahlreiche kleine Sprachen sterben, steht das Englische am Beginn einer Ausgliederung, wie sie das Lateinische hinter sich hat. Nur wer die Geschichte der Sprachen kennt, kann solche Prozesse verstehen und bewerten.
Harald Haarmann, geb. 1946, gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern. Er wurde u.a. mit dem «Prix Logos» der Association européenne des linguistes, Paris, sowie dem «Premio Jean Monnet» ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck erschienen u.a. «Auf den Spuren der Indoeuropäer» (2016), «Das Rätsel der Donauzivilisation» (2. Aufl. 2012) sowie «Geschichte der Schrift» (4. Aufl. 2011).
Abkürzungen und Zeichen
Einleitung
1. Die Anfänge der Sprachevolution
Symbolische und verbale Kommunikation früher Menschen
Identitätsfindung und Sprachfähigkeit als kultureller Motor
Von der Protosprache des Neandertalers zur komplexen Sprache des Homo sapiens
Stadium 1: Kommunikation mit Signalen und Interjektionen
Stadium 2: Wortung der natürlichen und kulturellen Umgebung (ab ca. 150.000 vor heute)
Stadium 3: Elementares Sprechen über Dinge und Ereignisse (älter als 70.000 vor heute)
Stadium 4: Entwicklung komplexer Sprachstruk turen (ab ca. 70.000 vor heute)
Konstruktionspläne und Baumaterialien von Sprachen
Typologische Gliederung der Sprachen
Grundorientierungen im Sprachbau – Trends der Sprachentwicklung
Ausdrucksvielfalt und Umwelt
Schnee ist nicht gleich Schnee
Räumliche Orientierung
Farbskalen im Sprachenvergleich
2. Afrika und Eurasien (ab ca. 100.000 vor heute)
Afrika: Die alten Populationen, ihre Sprachen und ihre Nachkommen
Die Ursprünge kultureller und sprachlicher Vielfalt
Die Ausbreitung in Eurasien und frühe Kulturkontakte
3. Australien, Sibirien und die Neue Welt (ab ca. 65.000 vor heute)
Aborigine-Kulturen und Sprachenverbreitung in Australien und Neuguinea
Migrationen in den Pazifik und die Ausgliederung der Sprachen Ozeaniens
Sprachliche Drifts in der Arktis und Subarktis
Die Migrationen nach Amerika und die Ausgliederung der amerikanischen Sprachen
Die drei Migrationsschübe aus Nordostsibirien
Die altamerikanischen Hochkulturen
4. Auf den Spuren der ältesten Sprachen
Die alten Sprachen Eurasiens und Afrikas und ihre modernen Rückzugsgebiete
Im Fokus: Das Baskische und die altmediterranen Sprachen
Gibt es fossile Strukturen in der Architektur von Altsprachen?
Schnalzlaute
Archaische Eigenschaften im grammatischen Bau
Substratelemente im Wortschatz
Relikte alter syntaktischer Strukturen
5. Die Entstehung von Sprachfamilien (ab ca. 10.000 v. Chr.)
Die Sprachfamilien der Welt in der Gesamtübersicht
Exkurs: Historische Sprachforschung
Nostratisch und andere Urfamilien
Die Grenzen der historisch-vergleichenden Methoden
Vorstöße der Glottogonie
Die Sprachfamilien Südostasiens
Die austroasiatischen Sprachen
Konvergenzprozesse «alter» und «neuer» Sprachen in Südostasien
6. Die indoeuropäische Sprachfamilie (ab ca. 7000 v. Chr.)
Das Problem der «Urheimat»
Die Balkanregion?
Zwischen Kaspischem Meer, Wolga und Don?
Baupläne des Proto-Indoeuropäischen
Die sprachlich-kulturelle Indoeuropäisierung Europas
Die Migrationen von Indoeuropäern
Kontakte mit vor-indoeuropäischen Populationen
Die Ausgliederung in regionale Sprachzweige
Verwandtschaftsverhältnisse und Gliederungsmuster
Indo-Iranisch
Anatolisch
Griechisch
Mazedonisch
Italisch
Keltisch
Germanisch
Exkurs: Die historische Präsenz des Gotischen in West- und Ost europa
Im Fokus: Die Ausgliederung und Entwicklung des Deutschen
Slavisch
Baltisch
Thrakisch
Illyrisch
Messapisch
Albanisch
Armenisch
Phrygisch
Venetisch
Tocharisch
Im Fokus: Vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen
Das Lateinische im Vielvölkerstaat des Imperium Romanum
Entstehungsgeschichte und Ausbildung der klassischen Schriftsprache
Strukturelle Charakteristika des Schriftlateinischen
Strukturelle Charakteristika des Sprechlateinischen
Die Ablösung des Lateinischen durch romanische Regionalsprachen
Das nachantike Kulturerbe des Lateinischen in Westeuropa
7. Andere moderne Sprachfamilien (ab ca. 6000 v. Chr.)
Die uralische Sprachverwandtschaft
Die proto-uralische Grundsprache und einzelne strukturelle Entwicklungen
Die Ausgliederung der uralischen Einzelsprachen
Exkurs: Ostseefinnen und Balten im 2. Jahrtausend v. Chr.
Die afroasiatische Sprachfamilie und ihre Ausgliederungen
Urheimat und frühe Migrationsbewegungen
Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der afroasiatischen Sprachen
Die Niger-Kongo-Familie
Die Sahelzone und die nilo-saharanischen Sprachen
Die sino-tibetischen Sprachen und ihre Verbreitung in Ostasien
Die austronesische Sprachfamilie: Von Madagaskar bis zur Osterinsel
Die altaische Sprachverwandtschaft
Im Fokus: Die Migrationen der Turkvölker und die Ausgliederung der Turksprachen
Die großen Sprachfamilien Amerikas
8. Sprachen und Technologien (ab ca. 5000 v. Chr.)
Die Ausbreitung des Ackerbaus – Synchrone und unabhängige Drifts
Die Ausbreitung der Eisenverarbeitung
Kombinierte Drifts in Schwarzafrika
Genealogische Beziehungen der Bantu-Sprachen
Die Anfänge der Metallverarbeitung und die Entstehung der ältesten Terminologie in Südosteuropa
Die Rolle von Kulturkontakten für die Verbreitung von Schriftsystemen
Die Ausbreitung von Religionen – Schrift als sakrales Symbol
Voralphabetische Schriften und ihre Ableger
Varianten des Alphabets
Die globale Geltung der Lateinschrift
9. Nachzügler der Neuzeit: Pidgins und Kreolsprachen
Kontaktlinguistische Bedingungen und Strukturmerkmale
Der Import von Kolonialsprachen
Pidginisierung in der Gegenwart
Pidgins und Kreolsprachen im weltweiten Überblick
Kreolsprachen als entwicklungsgeschichtliches Modell?
10. Gegenwart und Zukunft der Sprachen
Globale und territoriale Disproportionen in der Verteilung von Sprachen
Sprachkontakte als anthropologische Konstante
Sprachliche Dynamik im modernen Europa
Demographische und sprachlich Verhältnisse
Mehrsprachigkeit
Trends und Prognosen
Wachstum der «Großen»
Untergang der «Kleinen»?
Sprachenvielfalt im Globalisierungsprozeß
Die nationalsprachlich-englische Zweisprachigkeit in der digitalen Kommunikation
Bibliographie
Register der Sprachen und Sprachfamilien
[ ] |
Eckige Klammern kennzeichnen Sprachlaute, z.B. [i]. |
/ / |
Schrägstriche kennzeichnen Phoneme, d.h. Sprachlaute mit bedeutungsunterscheidender Funktion, z.B. /1/ wie in dt. Leim im Kontrast zu /h/ wie in dt. Heim. |
‹…› |
Deutsche Entsprechungen fremdsprachiger Wörter stehen in einfachen Anführungszeichen. |
∗ |
Ein Stern kennzeichnet eine rekonstruierte Form, die schriftlich nicht dokumentiert ist; dies gilt für sämtliche Formen der indoeuropäischen, uralischen und anderer Grundsprachen; die rekonstruierten Formen werden in diesem Buch in vereinfachter Schreibung wiedergegeben (Beispiel: proto-indoeuropäisch ∗hekuos ‹Pferd›). |
> |
Ein Pfeil steht für ‹entwickelt sich, wird zu›, also X > Y heißt: X entwickelt sich zu Y, d.h. Y ist entstanden aus X. |
«Est etiam sermo societatis humanae instrumentum.»
Juan Luis Vives (1492–1540)
Die Frage, wie die menschliche Sprache entstanden und wie es zu der kaum überschaubaren Sprachenvielfalt gekommen ist, hat seit frühesten Zeiten die Menschen beschäftigt. Welche Laute, Wörter, Äußerungen standen am Anfang? Wie ist es zu komplexen Sprachen mit einem vielfältigen Wortschatz und komplizierten grammatischen Strukturen gekommen? Nach welchen Bauplänen sind die Sprachen der Welt konstruiert? Was läßt sich über die Sprachen in Zeiten und in Regionen sagen, aus denen wir keine schriftlichen Hinterlassenschaften haben? Läßt sich eine Ursprache rekonstruieren für so große Sprachfamilien wie die indoeuropäische, zu der zwischen Westeuropa und Indien Hunderte von Sprachen gehören? Wie ist es zu dieser extremen Ausgliederung gekommen? Und was wird die Zukunft unserer Sprachenwelt sein? Werden die großen Sprachen immer weiter in Einzelsprachen zersplittern? Oder wird das Englische zur alles dominierenden globalen Supersprache?
Die vorliegende Weltgeschichte der Sprachen will Antworten auf solche Fragen geben. Aussagen über die Zukunft können freilich nur vorsichtige Prognosen sein, aber diese werden um so realistischer ausfallen, je besser man die lange Geschichte der Sprachen kennt. Diese Darstellung hat ihren Schwerpunkt auf dem Zeitraum von etwa 10.000 Jahren, in dem sich die großen Sprachfamilien und die derzeitige globale Sprachenvielfalt entwickelt haben; sie greift aber auch in die Frühzeit des Menschen zurück. Ein so weiter Überblick birgt Risiken. Zu vielen Entwicklungen, insbesondere sehr frühen, empirisch kaum faßbaren, gibt es unterschiedliche Theorien und Hypothesen; die wichtigsten werden in diesem Buch genannt, vor allem dann, wenn sich noch keine weitgehend einheitliche Meinung zu einer Frage herausgebildet hat. Der weite Überblick bietet aber auch Chancen, denn nur wenn man in evolutionsgeschichtlicher Perspektive die Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von verbaler Kommunikation begreift, kann man – so jedenfalls die Überzeugung, die diesem Buch zugrundeliegt – auch die Weltgeschichte der Sprachen nachvollziehen.
Die vorliegende Darstellung folgt chronologischen wie geographischen Entwicklungslinien: von den Anfängen der Sprachfähigkeit der Hominiden über die Ausbreitung menschlicher Populationen und ihrer Sprachen in die Alte und Neue Welt – aus Afrika in den Nahen Osten, von dort nach Europa und Südasien, sodann nach Australien und Neuguinea, in das östliche Sibirien und auf den amerikanischen Doppelkontinent, schließlich, erst im 10. Jahrhundert, nach Neuseeland –, über die Ausbildung der ältesten, rekonstruierbaren Zentren der heute bekannten Sprachfamilien – angefangen mit der nostratischen und eurasiatischen Superfamilie – bis zur Ausgliederung in regionale Zweige und Einzelsprachen, die unsere heutige Sprachenwelt ausmachen.
Es ist aber nicht möglich, die Entwicklung der rund 6400 Einzelsprachen der Welt flächendeckend in einem Band darzustellen. Allgemeine Trends werden zwar für alle Regionen erläutert; spezielle regionale Entwicklungen werden dagegen exemplarisch in verschiedenen Exkursen «unter die Lupe genommen», so die Verbreitung des Gotischen, die Ausgliederung des Lateinischen in die romanischen Sprachen, die Entstehung des Deutschen, die baltisch-ostseefinnischen Sprachkontakte, die Verbreitung der Turksprachen und der Bantusprachen, Sprachkontakte in Südostasien oder die Verbreitung der Sprachen in Ozeanien.
Über die Gesamtzahl aller Sprachen der Welt ist viel spekuliert worden. Schätzungen bewegen sich zwischen rund 2500 und 10.000 Sprachen. Beide Extremwerte sind unrealistisch. Nach neueren Erkenntnissen liegt die Zahl zwischen 6000 und 6500. Die Zahl der Sprachen zu bestimmen, ist jedoch mit vielen Unwägbarkeiten verbunden. Es besteht immer noch die Möglichkeit, daß bisher unbekannte Sprachen für die westliche Welt «entdeckt» werden. Zwar ist die große Zeit der Neuentdeckungen und Klassifizierungen längst vorbei – das war die Periode zwischen ca. 1750 und ca. 1950 –, aber in den unzugänglichen Bergtälern Papua-Neuguineas, in der Regenwaldzone des Amazonas-Gebiets oder im tropischen Westafrika dürfte auch heute noch die eine oder andere Sprache zu entdecken sein. Immerhin sind Neuentdeckungen bis in die jüngste Zeit gemacht worden. Manda, eine dravidische Sprache im indischen Bundestaat Orissa, wurde erst 1964 von westlichen Forschern entdeckt. Zu den Neuentdeckungen gehört auch das Suruí im brasilianischen Amazonasgebiet. Mit den damals rund 300 Sprechern dieser Indianersprache haben Weiße erst 1969 Kontakt aufgenommen (Derbyshire/Pullum 1986a: 14). Und erst Anfang der 1980er Jahre wurde das von rund 9000 Menschen gesprochene Jowulu im Süden Malis von europäischen Anthropologen «entdeckt».
Vor allem hängt die Zahl der Sprachen aber davon ab, was man unter einer Sprache versteht. Über das Verhältnis von Sprache und Dialekt sind bereits ganze Bibliotheken geschrieben worden, aber bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition (siehe Auburger 1993 zur Geschichte der Definitionen von «Sprache»). In der älteren Sprachwissenschaft wurden beispielsweise das Chinesische, das Saamische (Lappische), das Eskimo und das moderne Quechua als jeweils eine Sprache gezählt. Seit einigen Jahren geht der Trend der Sprachklassifizierung jedoch dahin, der gegenseitigen Verständlichkeit von regionalen Sprachvarianten und regionalen Sonderentwicklungen mehr Bedeutung beizumessen. Dadurch erhöht sich die Zahl der eigenständigen Sprachformen deutlich. Allein das Saamische wird heute als Gruppe von zehn Einzelsprachen klassifiziert (Sammallahti 1998: 6ff.).
Will man Sprachen voneinander abgrenzen, denkt man meist an ihre unterschiedlichen lexikalischen und grammatischen Strukturen. Sprachtheoretiker gelangen auf diese Weise zu einer Definition von Sprache als Regelapparat, den wir Grammatik nennen. Dieser Regelapparat repräsentiert die Sprache, der wiederum Dialekte als Subsysteme untergeordnet sind. Solche rein formalen Kriterien lassen jedoch die kommunikative Funktion von Sprachen außer acht. Daher wird oft die Frage, ob sich Sprecher unterschiedlicher Dialekte bzw. Sprachen gegenseitig verstehen, zum weiteren Kriterium für die Abgrenzung von Sprachen gemacht.
Aber auch Verständnisbarrieren sind kein ausreichendes Kriterium, um von einer anderen Sprache und nicht nur von einem Dialekt zu sprechen, wenn es eine gemeinsame schriftsprachliche Variante gibt. Für das Bairische und das Sächsische etwa existiert eine gemeinsame Standardsprache. Obwohl viele Sachsen Schwierigkeiten haben, Bairisch zu verstehen, handelt es sich nicht um unterschiedliche Sprachen. Aus dem gleichen Grund werden Schwyzertütsch oder das österreichische Deutsch nicht als unabhängige Sprachen vom Deutschen getrennt. Dahinter steht ein – in diesem Falle staatlich übergreifender – sprachpolitischer Konsens. Wenn der wegfiele, würde das gemeinsame Dach der Schriftsprache kaum ausreichen und wir hätten es mit mehreren Sprachen zu tun. In Lappland dagegen führt das Fehlen einer gemeinsamen Standardsprache verbunden mit Kommunikationsbarrieren zwischen den regionalen Schriftsprachen trotz ähnlicher struktureller Differenzen wie zwischen deutschen Dialekten dazu, daß mehrere regionale Sprachen des Saamischen unterschieden werden.
Angesichts solcher Stolpersteine lassen sich Sprachen nicht allgemeingültig definieren. Pragmatisch könnte man von einer eigenen Sprache sprechen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: (1) Es muß sich um ein System von Lauten, grammatischen Formen und Wörtern handeln, das sich strukturell von anderen Systemen unterscheidet; (2) dieses System muß als multifunktionales Kommunikationsmittel sowie als kulturelles Identitätssymbol verwendet werden; (3) und es muß sich von anderen Sprachen durch Verständlichkeitsbarrieren ihrer Sprecher absetzen. (4) Schließlich darf es keine abweichende Schriftform einer Standardsprache geben. Die Ausprägung einer eigenen Schriftform ist zwar keine Voraussetzung für die Bezeichnung als Sprache, denn es gibt viele schriftlose Sprachen, wohl aber eine markante Eigenschaft von Sprachen.
Dieser pragmatischen Definition zufolge ist das Deutsche eine eigene Sprache, da es sich strukturell beispielsweise vom Französischen unterscheidet, und für die Sprecher von Nachbarsprachen nicht verständlich ist, sofern diese nicht Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache erlernen. Das Deutsche ist zudem der Motor für die Ausgestaltung einer deutschen Kultur, die entscheidend durch die deutsche Schriftsprache geprägt ist. Die Sprecher des Deutschen identifizieren sich als Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft, die ihnen einen sprachspezifischen Freiraum für die Kommunikation bietet. Was hier über das Deutsche gesagt worden ist, gilt ähnlich für die Identifizierung aller anderen Sprachen dieser Welt, unabhängig davon, ob sie viele oder wenige Sprecher haben, ob sie schriftlos sind oder geschrieben werden, oder in wie vielen Ländern sie verwendet werden.
Bei sehr weit verbreiteten Sprachen stellt sich die Frage der Abgrenzung auch im Hinblick auf ihre verschiedenen Varianten. Vom Englischen im Singular zu sprechen, übergeht beispielsweise die Tatsache, daß es außer dem britischen und amerikanischen Englisch eine ganze Reihe weiterer Varianten wie Canadian English, Caribbean (insbesondere Jamaican) English, Antipodean English (in Australien und Neuseeland), South African English, Black English (Ebonics), African varieties of English (Krio), Asian English (u.a. in Indien, Singapur, Malaysia) sowie zahlreiche pidginisierte Formen des Englischen gibt, in denen sich Einflüsse von Nationalsprachen in verschiedenen Regionen der Welt spiegeln (Todd 2001; siehe Kapitel 9). Die Unterschiede zwischen regionalen und sozialen Varianten des Englischen sind erheblich, und es gibt inzwischen eine «International Association for World Englishes». Das Englische steht heute – wie das Lateinische im Frühmittelalter (siehe Kapitel 6) – an der Schwelle zur Entstehung von Tochtersprachen.
Schließlich erschweren voneinander abweichende Selbst- und Fremdbenennungen die Identifizierung einzelner Sprachen. Für die rund 6400 Sprachen der Welt sind fast 40.000 unterschiedliche Namen in Gebrauch. Indien ist ein Paradebeispiel für die Schwierigkeiten, verläßliche Sprachenstatistiken zu erstellen. Die Zahl der Sprachen ist erheblich reduziert, wenn man ältere mit neueren Zählungen vergleicht (Moseley/Asher 1994: 206f.). Nach dem Zensus des Jahres 1971 wurden in Indien 1652 Sprachen gezählt. Läßt man eine Reihe unsicherer Zuordnungen beiseite, wurden in der Zählung von 1981 insgesamt 1302 Sprachen aufgeführt. Und nach dem Zensus von 1991 waren es nur noch 418. Für diese Diskrepanz gibt es verschiedene Gründe: Sprachen, die früher separat gezählt wurden, werden in modernen Übersichten als regionale Varianten bestimmten Einzelsprachen zugeordnet. Beispielsweise wurden 1971 das Bihari, Bhojpuri, Maithili, Rajasthani, Harauti, Malvi, Marwari, Mewari, Kumauni, Garhwali und Hindustani als eigene Sprachen gezählt, zwanzig Jahre später aber mit einer Fremdbezeichnung als «Hindi» zusammengefaßt. Zudem sind Sprachen häufig unter verschiedenen Namen bekannt, so daß es zu Mehrfachzählungen oder fehlerhaften Zuordnungen gekommen ist.
Unterschiedliche Namen sind aber nicht nur für exotische Sprachen außerhalb Europas in Gebrauch. Auch die Benennungen der Sprachen unseres Kontinents sind Wandlungen unterworfen. Vor hundert Jahren sprach man vom Provenzalischen und meinte damit die lokale romanische Sprache Südfrankreichs. Heute ist vom Occitanischen (bzw. Okzitanischen) die Rede. Dies ist eine überregionale Bezeichnung, die verschiedene Dialekte einschließt, darunter auch das Provenzalische. Früher wurden die saamischen Sprachen Lappisch genannt. Dies ist eine Fremdbenennung, die von den Saamen als abwertend empfunden wird. Überhaupt geht der Trend dahin, Eigenbenennungen zu bevorzugen. Daher heißt das Tscheremissische heute meist Mari, das Wotjakische Udmurtisch oder das Jurakische Nenzisch.
Für die Abgrenzung einer eigenen Sprache ist heute nicht zuletzt auch das Selbstverständnis ihrer Sprecher von Bedeutung. Auf der Pyrenäenhalbinsel gab es für die traditionelle Romanistik vier romanische Sprachen, nämlich Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch und Galicisch, sowie das Baskische. Heute dagegen gelten in Spanien aufgrund des Selbstverständnisses der Sprecher auch das Aragonesische, Leonesische, Aranesische, Estremeño und das Mirandesische als eigene Sprachen (Ammon/Haarmann 2006).
Alle Schwierigkeiten, Sprachen voneinander abzugrenzen, sind letztlich Symptome ihres ständigen Wandels. Sprachen können miteinander verschmelzen, sie können regional oder sozial eigenständige Varianten ausbilden, die irgendwann als eigene Sprachen wahrgenommen werden, aber sie können auch untergehen. Sprachen sind auch bei schriftlicher Fixierung immer im Fluß und daher oft so schwer als klar abgegrenzte Einheit zu greifen. Aufgabe der historischen Sprachforschung ist es, Sprachen zu identifizieren und ihre Herkunft und Entwicklung nachzuzeichnen.
Eine der prominentesten Erklärungen für die Vielfalt der Sprachen ist der Mythos vom Turmbau zu Babel in der Hebräischen Bibel: Als Strafe für ihre Hybris läßt Gott die Menschen in verschiedenen Sprachen sprechen. Dagegen wurde immer wieder die Utopie eines Zustandes gesetzt, in dem alle Menschen in der gleichen Sprache sprechen. Durch das Pfingstwunder, von dem das Neue Testament berichtet, wird die babylonische Sprachverwirrung aufgehoben. Vor allem in Renaissance und Barock haben viele Gelehrte versucht, eine rationale Universalsprache zu konstruieren. Mit solchen Entwürfen verband sich meist die utopische Hoffnung auf eine vernünftige und friedliche Weltgesellschaft. Seit der Renaissance haben Gelehrte auch die Sprachen der Welt in Sammelwerken dokumentiert (siehe Kapitel 5). Die Zahl solcher Unternehmungen ist groß, denn der ständige Zuwachs an Wissen über bis dahin unbekannte Sprachen forderte zu immer neuen Kompilationen heraus. Aber es dauerte noch bis zum 18. Jahrhundert und zur Aufklärung, bis Gelehrte die Sprachenvielfalt nicht mehr auf den Turmbau zu Babel zurückführten. Bezeichnenderweise war es ein Jesuit, Lorenzo Hervás y Panduro (1735–1809), der im 17. Band seiner 21bändigen Enzyklopädie «Idea dell’Universo …» (1778–87) als erster die Vermutung äußerte, es müsse mehrere Grundsprachen als Quellen der modernen Sprachen gegeben haben.
Im 19. Jahrhundert haben Wissenschaftler versucht, die Sprachenvielfalt systematisch darzustellen, um von hier aus ihren Ursprung zu erkunden. Sprache galt als wichtiges Merkmal nationaler Identität. Die «Reinheit» der Nation sollte sich auch in der Reinheit, Unvermischtheit und altehrwürdigen Tradition der Sprache erweisen. Die Rekonstruktion einer Protosprache der Indoeuropäer oder Uralier war solchen Idealen verpflichtet. Damit hing die Vorstellung zusammen, man könne Sprachverwandtschaften in der Form von Stammbäumen veranschaulichen. Das klassische Bildmodell eines Baums, aus dessen ursprachlichen Wurzeln Einzelsprachen erwachsen und sich ausgliedern, hat August Schleicher (1821–1868) 1861 in seinem zweibändigen Werk «Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen» (1861–62) für die indoeuropäischen Sprachen vorgelegt.
Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Vergleich mit Stammbäumen zunehmend in Frage gestellt. Die Idee lokal isolierter «Ursprachen» ohne Außenbeziehungen ihrer Sprecher zu Nachbarkulturen wurde aufgegeben, ebenso die Vorstellung von einheitlichen Proto-Sprachen ohne interne soziale oder dialektale Variation. Heutzutage wird die Bedeutung von Sprachkontakten betont, und für das Stadium des Proto-Indoeuropäischen beispielsweise hat man inzwischen die Differenzierung einer Normalsprache und eines mythopoetischen Sprachstils erkannt (Beekes 1995: 41ff.). Neue Sprachen haben meist verschiedene Wurzeln. Die Geschichte der Sprachen gleicht eher einem komplizierten Geflecht als einem sich immer weiter verästelnden Baum. Trotzdem lebt die Stammbaum-Metaphorik bis heute weiter; häufig ist von «Verästelungen», «Zweigen» und «toten Ästen» der Sprachentwicklung die Rede. Denn alternative Visualisierungen haben bei weitem nicht die gleiche Suggestivkraft wie der Sprachstammbaum, etwa Wellendiagramme wie die von Bloomfield (1933) und Anttila (1989) oder eine geometrische Netzstruktur (Forster et al. 1998)
Zur Veranschaulichung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sprachen werden auch graphische Modelle verwendet, mit denen Anthropologen die Familienverhältnisse in Gesellschaften mit unterschiedlichen Sozialstrukturen darstellen (siehe Kapitel 2, 6 und 7). Hier dominiert die Idee der Verwandtschaftsbeziehungen in der Deszendenzlinie von einer Generation zur nächsten, wobei die Erweiterung des Familienverbandes in den jüngeren Generationen jeweils auf separaten Ebenen veranschaulicht wird.
Sprachhistoriker und Sprachursprungsforscher (Paläolinguisten bzw. Glottogonen) haben seit dem 19. Jahrhundert bis in die jüngste Zeit hauptsächlich aus lexikalischen Vergleichen Rückschlüsse auf Verwandtschaften zwischen Sprachen gezogen. Dabei wurde die Wandelbarkeit eines Wortschatzes meist unterschätzt. Nur wenige Wörter halten sich über Jahrtausende, die meisten über Jahrhunderte, einige nur über Jahrzehnte, bis sie durch neue Ausdrücke ersetzt werden. Das geschieht meist durch den Kontakt mit anderen Kulturen und Sprachen. Seit einiger Zeit erleben wir beispielsweise eine Zunahme englischer Wörter im Deutschen. Die Sprachkontaktforschung hat deutlich gemacht, wie instabil lexikalische Strukturen sind. Lexikalische Vergleiche können daher nur für einen relativ überschaubaren Zeitraum und nur auf der Grundlage mündlicher oder schriftlicher Zeugnisse Auskunft über Verwandtschaften zwischen Sprachen und über Sprachentwicklungen geben.
Mit der Humangenetik wurde in den letzten zwanzig Jahren eine neue Möglichkeit erschlossen, Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Sprachen zu untersuchen. Die Verbreitung der Sprachen hängt in ihrer Frühzeit, das heißt vor allem in der Zeit, für die wir noch keine schriftlichen Hinterlassenschaften haben, direkt mit der Ausbreitung menschlicher Populationen in alle Teile der Welt zusammen. Prähistorische Migrationen können häufig lediglich anhand der genetischen Veränderungen rekonstruiert werden, die sie in der Bevölkerungszusammensetzung bestimmter Regionen bewirkt haben. In letzter Zeit ist der humangenetischen Forschung mit der Kartierung einzelner Gene und ihres Vorkommens ein entscheidender Durchbruch gelungen. Anhand des männlichen Y-Chromosoms können beispielsweise das Ursprungsgebiet und mögliche Wanderbewegungen lokaler Bevölkerungsgruppen erschlossen werden (Jobling/Tyler-Smith 2003). Im Unterschied zu anderen Chromosomen (d.h. Kettenmolekülen) sind rund 90 Prozent der genetischen Informationen des Y-Chromosoms stabil, und sein über das männliche Erbgut tradierter «Fingerabdruck» kann über lange Zeiträume und über weite Verbreitungszonen identifiziert werden. Mit Hilfe der Humangenetik lassen sich Migrationen über mehrere zehntausend Jahre zurückverfolgen. Humangenetiker blicken damit in eine zeitliche Tiefe, die historisch-vergleichenden Sprachforschern verschlos sen bleibt. Sie können nur ca. sechs, nach Ansicht einiger Forscher maximal zehn Jahrtausende (Atkinson/Gray 2006) erkunden.
Die historische Sprachforschung hat sich insbesondere für die Verbreitung des Ackerbaus in der Folge von Migrationen interessiert. Die Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen mit der Verbreitung des Ackerbaus von Kleinasien aus in Beziehung zu setzen, hat viele Anhänger gefunden; dies hat andere Theorien zur Urheimat der Indoeuropäer, die es seit dem 19. Jahrhundert gibt, in den Hintergrund gedrängt. Auch über die Frage nach den Indoeuropäern hinaus wurde die Verbreitung des Ackerbaus für die Ausgliederung der großen Sprachfamilien verantwortlich gemacht und war der Schlüssel zu groß angelegten Versuchen, die Entstehung der weltweiten Sprachenvielfalt zu erklären. Allerdings ist die Reichweite dieses Ansatzes begrenzt, denn oft wird übersehen, daß die Ackerbau betreibende Bevölkerung in vielen Regionen keinen Anteil an der Verbreitung bestimmter Sprachen hatte, weil sich diese Wirtschaftsform nicht überall mit migrierenden Populationen verbreitete, sondern als Folge der Akkulturation lokaler Bevölkerungsgruppen durchsetzte. Trotzdem hat der Vergleich von Kulturtransfers wie des Ackerbaus mit der Wanderung von Sprachen viel zu unserem Wissen um die Geschichte der Sprachen beigetragen.
Die moderne historische Sprachforschung ist auf eine Zusammenschau verschiedener Ansätze angewiesen: Der Vergleich von Wortschätzen muß um Erkenntnisse der historischen Migrationsforschung ergänzt werden, die sich ihrerseits vor allem auf die Humangenetik und die Archäologie stützt. Eine Zusammenschau dieser Ansätze führt, wie in diesem Buch gezeigt werden soll, in vielen Fällen zu erstaunlichen Übereinstimmungen zwischen den Ergebnissen der Sprachforscher und der Humangenetiker – aber oft auch zu signifikanten Abweichungen, die für die Sprachforschung neue Fragen aufwerfen.
Seit den 1990er Jahren wird intensiv erforscht, nach welchen Mustern die Evolution von Sprache erfolgt (s. Haarmann 2004b). Auftrieb erhielt dieses Forschungsfeld durch die Untersuchung der Kreolsprachen. Die Simplifizierung sprachlicher Strukturen, die bei der Entstehung von Pidgins und Kreolsprachen zu beobachten ist, wurde zum Schlüssel, um die Entstehung menschlicher Sprache überhaupt zu erklären: Demnach ist die menschliche Sprache ursprünglich den umgekehrten Weg von simplen zu immer komplexeren Strukturen gegangen. Dieser Erklärungsansatz wird inzwischen jedoch zunehmend skeptisch betrachtet (Mufwene 2001: 126ff.). Es gibt keine allgemeine Tendenz zu komplexeren Strukturen. Je nach kommunikativen Bedürfnissen werden sprachliche Strukturen komplexer oder einfacher. Der Fokus der Forschung richtet sich daher inzwischen weniger auf die Gesamtentwicklung als auf bestimmte Stadien der Sprachentwicklung. Diese folgen keinem bestimmten Prinzip, sondern jeweils eigenen Mustern und Geschwindigkeiten, die mal sehr langsam, dann wieder beinahe sprunghaft sein können.
Die Sprachentwicklung ist geeignet, die Chaostheorie zu bestätigen, denn es hängt mehr oder weniger vom Zufall ab, ob einmal eingeführte Techniken eine dominante oder eine marginale Rolle im Sprachsystem übernehmen. Es gibt keine Regel, nach der ein bestimmter Strukturtyp in einer Sprache den Vorrang hat, etwa isolierend als Hauptkomponente des Chinesischen, flektierend als Hauptkomponente des Lateinischen, agglutinierend als Hauptkomponente des Türkischen oder polysynthetisch als Hauptkomponente des Navaho (zur Erklärung dieser Typologie siehe Kapitel 1). Die Strukturtypen können sich vielmehr innerhalb einer Sprache verändern. Aus dem stark flektierenden Altenglischen hat sich zum Beispiel eine isolierende Sprache (Neuenglisch) entwickelt. Eine solche Entwicklung ist auch charakteristisch für den Wandel vom Altpersischen zum modernen Farsi (s.S. 177). Die uralischen Sprachen haben von einem isolierenden Frühstadium aus agglutinierende und später auch flektierende Techniken entwickelt.
Durch Sprachkontakte wird die Vielfalt sprachlicher Ausdrucksformen weiter erhöht, indem sich lautliche und grammatische Strukturen zweier Sprachen durchdringen und sich dadurch teilweise wandeln. Die Kreolsprachen illustrieren solche Prozesse eindrucksvoll. Benachbarte Sprachen entwickeln sich häufig strukturell in eine ähnliche Richtung, und Sprachen formieren sich aufgrund ähnlicher Techniken zu sogenannten arealen Gruppierungen oder Sprachbünden (Masica 1992a). Solche Gruppierungen sind in verschiedenen Regionen der Welt entdeckt worden, beispielsweise in Südosteuropa (Balkansprachbund), im Baltikum, in Äthiopien, in Südostasien und in Zentralamerika.
Neue Sprachen können aus Fusionen von Sprachen oder aus Abspaltungen entstehen. Fusionsprozesse sind typisch für die Entstehung des Deutschen, Englischen, Jiddischen, Afrikaans, Albanischen und Rumänischen sowie von Kreolsprachen. Aus Abspaltungen entstanden sind Sprachen wie das Ukrainische und Weißrussische, die sich aus einer bis ins Mittelalter einheitlichen ostslavisch-altrussischen Basis ausgliederten, das Spanische und Portugiesische (aus einer ibero-romanischen Ausgangsbasis) oder das Hindi und Urdu (ausgehend von einer neuindischen Basis). Bis heute entstehen neue Sprachen, wie die Ausbildung neuer Pidgins auf der Basis des Französischen in den Immigrantenvierteln am Rande von Paris beweist. Auch das Letzeburgische, ursprünglich ein deutscher Dialekt, ist eine relativ neue Sprache, die seit dem 19. Jahrhundert als Schriftsprache verwendet wird und 1984 in der Verfassung als Nationalsprache Luxemburgs anerkannt wurde (Kollwelter 1993).
Neue Sprachen können auch durch politische Umbrüche entstehen. Bis zur Auflösung des alten jugoslawischen Staatsgebildes war das Serbokroatische als gemeinsames Kommunikationsmedium der Serben, Kroaten und Bosnier in Gebrauch. Die gemeinsame Schriftsprache, die um 1850 in bewußter sprachpolitischer Gestaltung entstanden war, wurde in Serbien und Bosnien in kyrillischer und lateinischer, in Kroatien in lateinischer Schrift geschrieben und überdachte als Standardsprache alle regionalen Dialekte. Im Zuge des Bürgerkriegs in den Jahren 1991–1995 wurde sie schließlich aufgegeben, seitdem manifestieren sich – gleichsam als sprachlich-kulturelle Grenzziehung – lexikalische, lautliche und grammatische Regionalismen in immer größerer Zahl. Die kulturellen Unterschiede mit der katholischen Tradition in Kroatien, der orthodoxen in Serbien und der muslimischen in Bosnien spiegeln sich auch sprachlich: Inzwischen treten das Kroatische, Serbische und Bosnische als drei getrennte Sprachen auf.
Es gibt keine Sprache auf der Welt, die sich nicht irgendwann aufspalten, in einer anderen Sprache aufgehen oder sogar ganz untergehen würde. Tausende von Sprachen sind im Verlauf der Menschheitsgeschichte ausgestorben. In vielen Fällen sterben irgendwann die letzten Sprecher (z.B. des Manx-Gälischen oder Wotischen); oft haben sich immer mehr Sprecher an eine dominante Sprache assimiliert (z.B. Sprecher kleiner Sprachgemeinschaften in Sibirien an das Russische); es können sich aber auch die grammatischen und lexikalischen Strukturen so grundlegend ändern, daß die frühere Sprache irgendwann als untergegangen gilt. Von einem Massensterben von Sprachen kann heute dennoch keine Rede sein. Trotz der Gefährdung vieler Zwergsprachen ist die Entwicklung weniger katastrophal, als häufig angenommen (siehe Kapitel 10).
Es gibt keine Gesetze, nach denen Sprachen entstehen, sich weiterentwickeln und untergehen. Sprachen mutieren eher zufällig in die eine oder andere Richtung. Es setzen sich die Sprachen durch, die ihrer Umwelt, das heißt den Bedürfnissen der meisten Sprecher, am besten angepaßt sind. Kleine Sprachen können in Nischen für ganz bestimmte Zwecke überleben. Große Sprachen können andere dominieren und schließlich verdrängen. Sprachen ähneln damit Lebensformen in der Flora und Fauna. Seit den 1960er Jahren wird daher Sprachenschutz auch als «Artenschutz» verstanden (Kloss 1969: 287ff.). Viele Sprachforscher haben den Vergleich mit biologischen Existenzformen aufgegriffen (Mufwene 2001: 13ff.). Er ermöglicht eine ökologische Betrachtungsweise der Prozesse, in denen die Sprachen sich über die Alte und Neue Welt ausgebreitet, den «natürlichen Biotopen» angepaßt haben und ihr strukturelles Instrumentarium entsprechend den Erfordernissen einer immer komplexer werdenden Kulturentwicklung verfeinert haben, sowie der Gefährdungen, denen sie etwa durch den Assimilationsdruck einer dominanten Sprache ausgesetzt sind.
Mein besonderer Dank gilt dem Lektorat des Verlags C.H.Beck. Petra Rehder hat mir mit freundlicher Hartnäckigkeit immer wieder anschauliche Beispiele abverlangt, genauere Erklärungen eingefordert und für eine übersichtliche Gliederung gesorgt. Ulrich Nolte hat das Buch von der ersten Idee bis zur Fertigstellung mit Umsicht begleitet.
In der Geschichte der Sprachen gibt es keinen Urknall. Die Entstehung von Sprache und Kultur ist nicht abrupt, sondern in evolutiven Schüben erfolgt, und die Entwicklungsdynamik war auch zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich intensiv. Die längste Spanne in der Geschichte der Sprachen liegt im Dunkel der Vorgeschichte, also in einer Zeit, als es noch keine schriftliche Überlieferung gab. Das älteste Experiment mit der Schrifttechnologie fand um die Mitte des 6. Jahrtausends v. Chr. in der Donauzivilisation statt, deutlich vor der Zivilisation der Sumerer. Die Anfänge des Schriftgebrauchs in Mesopotamien werden um 3200 v. Chr. datiert. Die mehr als 7000 Jahre Schriftgeschichte mögen vom Standpunkt des modernen Betrachters aus lang anmuten. Aus der Perspektive der Sprachgeschichte, die irgendwann in grauer Vorzeit einsetzt, ist dies aber nur ein kurzer Abschnitt.
Genau genommen ist die Vorzeit gar nicht so grau, denn aus der Frühzeit gibt es allerlei visuelle Manifestationen des menschlichen Geistes, und indirekt kann aus den Bildern und Symbolen, die die Menschen auf Felswände gemalt oder in diese gehauen haben, auf den Entwicklungsstand des abstrakten Denkens ihrer Schöpfer geschlossen werden. Sprache ist ein Produkt des abstrakten Denkens, denn die Verwendung von Sprache setzt die Fähigkeit voraus, lautlichen Ausdrucksformen eine symbolische Bedeutung beizumessen. Aber bevor sich dieser Symbolgebrauch als effektives Kommunikationssystem voll entfaltet hatte, mußte erst eine Reihe von Entwicklungsstadien durchlaufen werden.
Die Geschichte von Sprache beginnt nicht erst mit dem modernen Menschen (Homo sapiens sapiens), obwohl dies von manchen Archäologen behauptet wird (Mithen 1996). Diese Hominiden-Spezies tauchte nach humangenetischen Rekonstruktionen vor rund 150.000 Jahren auf (Marean/Assefa 2005: 98ff.). Die Fähigkeit, Sprache zu verwenden, ist allerdings wesentlich älter. Und die evolutiven Anfänge sprachlicher Kommunikation waren eingebunden in ältere, nonverbale Interaktionsstrategien (Gesten, Posen, Mimik, also Körper«sprache»), aus deren Vielfalt sich sprachliche Mittel als selb ständiges System spezialisierten.
Die Entwicklung der Hominiden hat sich vor rund 7 Mio. Jahren von den Primaten abgekoppelt. Verschiedene Menschenarten bevölkerten gleichzeitig die Erde, die meisten entstanden und blieben in Afrika und starben auch dort aus. Allein in dem Zeitraum zwischen 5 und 1 Mio. Jahren vor heute lebten nicht weniger als zwei Dutzend Hominiden-Spezies in der Alten Welt (Lewin/Foley 2004: 296ff.). Bis vor etwa 2 Mio. Jahren waren die meisten von diesen Menschenarten allerdings schon ausgestorben. Wesentlich flexibler in der Anpassung an ihre natürliche Umgebung blieben der Homo habilis, der Homo erectus, der archaische und der moderne Mensch übrig. Schließlich war aber der moderne Mensch die einzige Hominiden-Spezies, die alle anderen Arten, auch den zur gleichen Zeit existierenden archaischen Menschen überlebte.
Der archaische Mensch (Homo neanderthalensis) lebte vor ca. 400.000 bis 30.000 Jahren. Die Fähigkeit, Sprache zu verwenden, hat er mit Sicherheit besessen. Dies kann man allein aus der Existenz des sogenannten Sprachknochens schließen, ein Charakteris tikum des Skelettbaus sowohl des modernen als auch des archaischen Menschen. Er wurde im Jahre 1989 in Kebara (Israel) entdeckt: «Dieser kleine Knochen in U-Form liegt zwischen der Zungenwurzel und dem Kehlkopf (Larynx) und ist verbunden mit den Muskeln des Kiefers, der Larynx und der Zunge. Nach Größe und Form ist der Sprachknochen von Kebara praktisch identisch mit dem des modernen Menschen» (Lewin/Foley 2004: 467). Auch das Gehirnvolumen des Neandertalers, das sich nicht wesentlich von der Gehirnmasse des modernen Menschen unterscheidet, deutet auf eine für die Sprachverwendung ausreichende Kapazität. Ihm fehlte allerdings eine entscheidende physiologische Komponente, der Vorderlappen im Gehirn. Gerade diese Gehirnregion ist verantwortlich für spezialisierte organisatorische und planerische Aktivitäten. Der Neandertaler mag sich auf seine Jagdzüge eingestellt haben, ein vorausschauendes strategisches Denken blieb ihm allerdings versagt.
Zweifellos war also die Sprache, die der Neandertaler verwendete, weniger komplex als die des modernen Menschen, und schon die Artikulationsbasis für die Produktion von Sprachlauten war beschränkter. Dies bedeutet, daß das Lautsystem der Neandertalersprache weniger differenziert war als selbst die einfachsten Lautsysteme moderner Sprachen (s.u.). Was die sprachlichen Welten des archaischen und modernen Menschen voneinander trennt, ist die organisatorische Infrastruktur ihrer Kommunikationsmedien. Der moderne Mensch hat von Anbeginn komplexe Sprache verwendet, der Neandertaler dagegen eine rudimentäre Protosprache, deren Bau wesentlich simpler und deren Wortschatz weniger differenziert waren als die Strukturen komplexer Sprachen.
Die Anfänge der Sprachtätigkeit liegen aber noch weiter zurück. Es gibt keinen Grund, dem Homo erectus, der vor ca. 1,9 Mio. bis 0,4 Mio. Jahren Afrika, Asien und Europa besiedelte, die Fähigkeit abzusprechen, Sprachlaute zu artikulieren. Dazu war er anatomisch in der Lage (s.u.). Was diese Hominiden zum Zweck ihrer kommunikativen Interaktion produzierten, war aber vermutlich bestenfalls ein rudimentäres, an menschlichen Stimmtönen orientiertes Signalsystem, wenn auch komplexer als die wenigen Lautzeichen, die Affen als Warn- und Fürsorgesignale verwenden. Vom Standpunkt der Fähigkeit, eine Skala differenzierter Laute mit symbolischer Bedeutung zu produzieren, erfüllt die Kommunikation des Homo erectus wohl die Minimalanforderungen für Sprache.
Die Sprachfähigkeit des modernen Menschen ist also keine kommunikationstechnologische Revolution dieser Spezies. Sie blickt auf eine Geschichte von über 1 Mio. Jahren zurück. Wollen wir aber noch frühere Evolutionsphasen in Betracht ziehen, verlieren wir uns ganz im Spekulativen. Auf die Frage, ob der Homo habilis (ca. 5–1,6 Mio. Jahre vor heute) Sprachlaute produzieren konnte, wird man auf absehbare Zeit keine schlüssige Antwort finden. Bisher geht man davon aus, daß dies anatomisch problematisch war, und außerdem fehlen Hinweise auf eine symbolische Aktivität dieser Spezies.
Diese Hominiden-Spezies hat ihren Namen nach der in der Evolution neuen Fähigkeit und Bereitschaft (latein. habilis ‹fähig›), Werkzeuge zu benutzen und auch selbst grob zu bearbeiten (Conroy 1990: 352f.). Dies waren in der Anfangszeit lediglich natürliche Objekte wie Steine, Äste oder Knochen, die der Homo habilis so, wie er sie vorfand, zum Schlagen, Stochern und Hebeln verwendete. Erst viel später bearbeitete er auch Steinwerkzeuge selbst, indem er sie nutzgerecht abschlug. Die ältesten Werkzeuge mit Bearbeitungsspuren haben ein Alter von rund 2,6 Mio. Jahren (Lewin/Foley 2004: 311ff.).
Wenn Hinweise auf Sprachgebrauch im Fall des Homo habilis fehlen, wie begründet sich dann der Rückschluß, daß der Homo erectus fähig war, Sprache zu verwenden? Es gibt keine physische Dokumentation für dessen Sprachgebrauch und auch keine anthropologischen Merkmale wie etwa den Sprachknochen beim Neandertaler. Immerhin hat der Homo erectus aber seine Fähigkeit zu symbolischer Tätigkeit unter Beweis gestellt, und dies ist eine elementare Vorbedingung für den Gebrauch von Sprache. Wenig bekannt selbst in Expertenkreisen, für die Beurteilung mentaler Kapazitäten früher Hominiden-Spezies aber von enormer Bedeutung, ist die Entdeckung abstrakter Zeichenverwendung durch den Homo erectus.
In einer Höhle (Azych-Höhle) in der Region Berg-Karabach im westlichen Teil Aserbaidschans wurden in den 1980er Jahren Siedlungsspuren des Homo erectus gefunden. Auffallend an dem Fund war die Anordnung der Artefakte um eine Feuerstelle, auf deren einer Seite ein Bärenschädel plaziert war, bei dem der Unterkiefer fehlte. An anderer Stelle lagen zwei Unterkieferknochen in Kreuzform übereinander. Der Bärenschädel verdient besondere Aufmerksamkeit, denn in dessen Oberfläche sind abstrakte Zeichen eingekerbt. Der sowjetische Archäologe, der die Höhle untersucht hat, sagt zur Enstehung der eingekerbten Zeichen auf dem Schädel: «Sämtliche Kerben sind mit einem spitzen Werkzeug mit beidseitigen Kanten gemacht worden. Die Kerben scheinen im Zusammenhang mit bestimmten religiösen Ideen der Azych-Leute zu stehen» (Gusejnov 1985: 68).
Diese Fundanalyse wird zur Sensation, wenn man das Alter der Höhlensiedlung dazu in Beziehung setzt: Die Datierung liegt bei ca. 430.000 Jahren. Dieser visuelle Beweis für intentionale symbolische Tätigkeit stammt demnach aus der Spätphase der Existenz des Homo erectus. Gleichzeitig ist dieser Fund geeignet, das hohe Alter des Bärenkults zu demonstrieren. Auffassungen vom Höhlenbären als verehrungswürdigem Wesen haben offensichtlich eine lange Tradition, die in der kulturellen Evolution weit über die ältesten mythischen Vorstellungen des modernen Menschen zurückreicht.
Die Fundlage in der Azych-Höhle mochte selbst von Kulturforschern jahrelang für eine Ausnahmeerscheinung gehalten werden. Kürzlich sind weitere Objekte mit Ritzungen als Beweis für die Fähigkeit des Homo erectus zu symbolischer Tätigkeit gefunden worden, und zwar an dem ältesten bisher bekannten Wohnplatz des Homo erectus in Europa (in der Höhle von Kozarnika in Nordwestbulgarien). Die Ritzungen sind in Gruppen von zwei und drei Einzelzeichen auf dem Schienbeinknochen einer altsteinzeitlichen Bovina-Spezies (Auerochse?) plaziert. Das Alter der Kulturschicht mit dem Knochenfund wird mit ca. einer Mio. Jahren angegeben (Guadelli 2004).
Die Ritzungen des Homo erectus lassen keinen Zweifel an dessen Fähigkeiten zu symbolischen Ausdrucksformen. Damit ist auch klar, daß diese Hominiden-Spezies die Voraussetzung dafür hatte, abstrakte lautliche Symbole (d.h. Sprache) zu verwenden. Diese Fähigkeit, sich von den Gegebenheiten der realen Umwelt zu lösen, symbolische Vorstellungen zu entwickeln und diese an akustische und/oder visuelle Bedeutungsträger zu binden, hat sich in der Evolution vom Homo erectus zu anderen Hominiden-Spezies (zum archaischen und modernen Menschen) immer weiter verfeinert. Im Vergleich am stärksten ausgeprägt ist die symbolische Aktivität bei unserer Spezies (Lewis-Williams 2002).
Die stufenweise Entfaltung der Sprachfähigkeit während der Evolution vom Homo erectus bis zum modernen Menschen mutet in sich schlüssig und konsequent an. Aber was veranlaßte den Menschen, den Übergang von der Verständigung mit Gesten zur Kommunikation mittels Sprache zu vollziehen? Was motivierte den Menschen, seine sprachliche Kommunikation zu verfeinern und komplex auszubauen? Warum hat die Evolution nicht nur einen einzigen Bauplan für Sprache produziert, sondern eine Vielzahl von Konstruktionsmustern? Antworten auf diese Fragen findet man, wenn man in eine Richtung schaut, die erst in der modernen Evolutionsdebatte erschlossen worden ist: die Erkenntnisse der Identitätsforschung.
Die Fähigkeit des Menschen zu vorausschauendem Denken, zu zeitungebundener Planung, zur Kontrolle über die Natur ist nicht das Ergebnis passiver Anpassung an die Gegebenheiten der natürlichen Umwelt. Vielmehr gibt es eine mentale Kraftquelle, die gleichsam wie ein Motor für das gesamte Handeln des Menschen in seinem kulturellen Umfeld fungiert, und das ist die Identität. Identität ist nicht statisch. Der Mensch steht zeit seines Lebens im dynamischen Prozeß seiner Identitätsfindung, die ihn zum Handeln in sozialen Verbänden, zum Aufbau von Kultur und zur Vorausschau in die Zukunft motiviert.
Identität ist keine vorgegebene Matrix. Sie ist in einem ständigen Wandel begriffen, denn die Gruppenbeziehungen eines Individuums verändern sich mit fortschreitendem Alter: in der Kleinkindzeit, in der Schul- und Berufsausbildung, in Partnerschaftsbeziehungen, im Familienverband, im sozialen Netz der Gesellschaft usw. Das angestammte kulturelle und soziale Milieu wird – ebenfalls identitätsgesteuert – aufrechterhalten, verändert oder auch zugunsten eines anderen aufgegeben.