Volker Reinhardt

DIE RENAISSANCE
IN ITALIEN

Geschichte und Kultur

C.H.Beck


Zum Buch

Die Zeit zwischen 1430 und 1560 gilt unbestritten als die faszinierendste Epoche der italienischen Geschichte, die emphatisch als kulturelle und zivilisatorische «Wiedergeburt» – als Renaissance – gefeiert wurde. Künstler, Architekten, Theoretiker und «Universalgenies» wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Palladio, Bramante oder Machiavelli, um nur einige wenige zu nennen, wirkten in dieser Zeit. Mächtige Familien, Herzöge und Päpste wetteiferten miteinander, um mittels der Kultur dem eigenen Machtanspruch Größe und Dauer zu verleihen. Volker Reinhardt erklärt, wie es zu dieser einzigartigen Verdichtung kam. Er beschreibt anschaulich die Entwicklung der italienischen Staatenwelt seit dem Spätmittelalter, Lebensstil und Selbstverständnis der Oberschichten, die Ausbildung höfischer Gesellschaften sowie die Hauptströmungen humanistischer Kultur und politischer Theorie. Am Beispiel wichtiger Persönlichkeiten, Werke und Schlüsselereignisse geht er der Frage nach, welche Wesensmerkmale die vielfältigen kulturellen Neuerungen zu einer gemeinsamen Epoche machen. Ein Ausblick auf die europaweite Ausstrahlung der italienischen Renaissance schließt das konzise und verlässliche Standardwerk ab.

Über den Autor

Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg, gehört zu den führenden Renaissance-Experten. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. die Biographien Leonardo da Vinci (2. Auflage 2019), Der Göttliche. Das Leben des Michelangelo (2010) und Machiavelli oder Die Kunst der Macht (C.H.Beck Paperback 2014, ausgezeichnet mit dem Golo-Mann-Preis für Geschichtsschreibung) sowie in C.H.Beck Wissen Die Medici (5. Auflage 2013) und Die Borgia (3. Auflage 2013).

Inhalt

Karte 1

Karte 2

1. Eine Epoche und ihre Grenzen

Bilder und Mythen der Renaissance

Jacob Burckhardt und die Folgen

Merkmale einer revidierten Epoche

2. Politik und Diplomatie zwischen Alpen und Ätna

Die Staatenlandschaft Italiens im 15. Jahrhundert

Condottieri, Allianzen und Abhängigkeiten

3. Grundzüge italienischer Politik zwischen 1430 und 1560

Die fünf Vormächte

Der «Geist von Lodi»: Strategien der Konflikteindämmung

Zwischen Frankreich und Spanien

Ergebnisse und Ende einer Epoche

4. Staaten und Eliten

Die Signorie: Geschichte und Gestalt

Signorien der Renaissance: Mailand, Ferrara, Urbino

Monarchien: Neapel und Rom

Republiken: Venedig, Genua, Siena, Lucca

5. Höfe und höfische Gesellschaften

Etappen der Hofbildung

Der Hof als Bühne

Der Hof als Herrschaftsmittel

6. Herrschaftsbilder und Ruhmeshallen

Hofbilder und Hofkünstler

Das Pantheon der Malatesta

Herrschaftsmanifeste im Vatikan

Gemalte Propaganda für Republik und Prinzipat

7. Italienischer Humanismus · Einheit, Vielfalt und Konkurrenz

Humanistische Studien und Grundüberzeugungen

Humanistische Geschichts- und Menschenbilder

Theologie, Neoplatonismus, Aristotelismus, Synkretismus

Verlorene humanistische Illusionen · Machiavelli und Guicciardini

Reformation und Glaubenswelten

8. Die italienische Renaissance in Europa

Literaturhinweise

1. Zur Epoche

2. Einzelstudien

Bildnachweis

Personenregister

Karte 1

Italien im Jahr 1559 (Fortsetzung nach Süden siehe Folgeseite)

Karte 2

Italien im Jahr 1559 (Fortsetzung nach Norden siehe vorgehende Seite)

1. Eine Epoche und ihre Grenzen

Bilder und Mythen der Renaissance

Die Renaissance in Italien als erster Abschnitt der europäischen Moderne ist ein folgenreiches Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Ob es sich dabei um eine Entdeckung oder eine Erfindung handelt, das heißt, ob und, wenn ja, wie man diese Epoche bestimmen und auf welchen Zeitrahmen man sie festlegen kann, darüber streiten Historiker bis heute lebhaft. Eine Einigung ist nicht in Sicht. Das Fehlen von Konsens schlägt sich am augenfälligsten in den stark voneinander abweichenden Datierungen nieder. Hier präsentiert so gut wie jeder Autor eigene Ansätze. «Maximalisten» stecken die Grenzen der Renaissance zwischen 1250 und 1650 ab; «Minimalisten» reklamieren meist nur den Großteil des 15. und die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts für «ihre» Renaissance. Skeptiker schließlich ebnen diese zu einer bloßen Episode im großen Fließen europäischer Geschichte zwischen 1000 und 1800 ein. Doch eine solch radikale Bestreitung der Epochentauglichkeit ist eher selten. Meistens wird der Begriff «Renaissance» aus Gewohnheit, als liebgewonnene, nützliche oder zumindest vertraute Konvention verwendet.

In krassem Gegensatz zum eher gedämpften Gebrauch in der historischen Wissenschaft ist in Belletristik und Medien ein sehr blutvolles Bild der italienischen Renaissance verbreitet: als Morgenröte sich selbst entfaltender, kühn zu neuen geistigen und geographischen Horizonten aufbrechender Individuen beiderlei Geschlechts mit ausgeprägter Neigung zu sex and crime. Diese Renaissance, für die Cesare und Lucrezia Borgia, amoralische Sprösslinge Papst Alexanders VI., als Prototypen in Anspruch genommen werden, hat sich als völlig immun gegen jedwede Bestreitung durch historische Fakten erwiesen und wird auch – siehe die Auflagenziffern historischer Romane, die um das Jahr 1500 in Venedig oder Rom spielen – unangefochten von solchen Widerlegungsversuchen weiterblühen. Daraus darf geschlossen werden, dass diese virtuelle Welt gebraucht wird – als Kontrastfolie zu einer bürokratisierten, ereignislos-vorhersagbaren Gegenwart; als eine Gegenwelt, in die man unerfüllte Erwartungen projizieren kann; als Beweis, zu was der Mensch, der nach dem klerikal beherrschten finsteren Mittelalter endlich von Sündenbewusstsein und künstlich eingepflanztem schlechtem Gewissen befreit ist, im Guten wie im Bösen fähig ist. Mit einem Wort: Die virtuelle Renaissancewelt wird als Überlebenshilfe in einer Überzivilisation gebraucht, die das Individuum zur bloßen Nummer degradiert. Diese Funktion erfüllte der Mythos Renaissance im Übrigen schon im Fin de siècle mit seiner grassierenden Renaissance-Mode, vor allem in der Literatur – man denke etwa an Heinrich Manns Roman Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy von 1903.

Dass sich die mit wissenschaftlichen Methoden erschließbare «wirkliche» Renaissance in Italien anders, vielschichtiger, spannungsreicher darstellt, ist ein Gemeinplatz; dass sie in diesem Licht zugleich spannender hervortritt – auch das gilt es im Folgenden zu belegen. Aus diesem – kühnen – Anspruch erklärt sich der Aufbau dieses Buches. Auf einen knappen Abriss zu den Wegen, Geschicken und Thesen der Renaissance-Forschung in den letzten anderthalb Jahrhunderten folgt der Versuch einer ebenso kurzen kritischen Bestandsaufnahme: Welche Erkenntnisse zu Staat, Gesellschaft, Kultur und Mentalitäten haben sich in welchem Maße als haltbar erwiesen? Und welches Bild der Renaissance in Italien lässt sich, auf diesem kleinsten, mehr oder weniger gemeinsamen Nenner aufbauend, entwerfen? Das am Ende dieser Einführung in Kurzform vorgestellte Epochentableau soll danach zu einem ausführlicheren Querschnitt durch die verschiedenen Aspekte und Lebenswelten der Zeit erweitert werden. Dabei werden Abschnitte zur politischen, diplomatischen und militärischen Geschichte der italienischen Staatenlandschaft vorangestellt, auf die Erläuterungen zu den verschiedenen politischen Systemen und ihren Führungsschichten folgen. An sie schließen sich Beschreibungen und Erklärungen von Höfen und höfischen Gesellschaften an. Diese leiten zum nächsten Themenbereich Mäzenatentum, Propaganda und Bilderwelten über, der in vielfältiger Weise mit dem nachfolgenden Kapitel zu den vorherrschenden kulturellen Strömungen, zu Weltbildern von Eliten und einfachen Leuten verknüpft ist. Am Ende steht ein Ausblick auf die Ausstrahlungen Italiens ins übrige Europa der Zeit.

So umfassend dabei auf den neuesten Forschungsstand zurückgegriffen wird, so bleibt doch der Hinweis in eigener Sache angebracht, dass ein Versuch der Synthese und Neubestimmung der italienischen Renaissance bei allem Bemühen um ein ausgewogenes Urteil immer auch subjektiv eingefärbt ist. Offenbar reicht diese ein halbes Jahrtausend entfernte Zeit stärker in unsere Gegenwart hinein als rein chronologisch näher liegende Epochen, geht es dabei doch mehr oder weniger verborgen auch um die Moderne als Ganze und um ihr Produkt – um uns.

Jacob Burckhardt und die Folgen

Um die Moderne als Ganze ging es bereits 1860, als mit Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien ein einprägsames, suggestives, ja bezwingendes Bild der ersten Phase der europäischen Neuzeit zwischen Alpen und Ätna vor das Auge des gebildeten europäischen Publikums trat. In seinem thesenhaft angelegten Querschnitt durch alle Bereiche des öffentlichen und privaten, äußeren und inneren Lebens der Großen wie der Kleinen tritt die Renaissance in Italien, zwischen Ende des 13. und Mitte des 16. Jahrhunderts datiert, unvergleichlich lebendig und zugleich zutiefst doppeldeutig hervor. Durch nostalgische Beschwörung herangerückt, aber ebenso durch moralisches Grauen auf Distanz gehalten, vereinigt sie Licht und Schatten der gesamten Moderne in sich, die sie stürmisch einleitet. Die Welt entzaubernd, unerschrocken nach dem Wesen des Faktischen forschend, hebt sie alle überkommenen Legitimationen auf und löst damit die ununterbrochene Reihe der Revolutionen bis heute aus.

Hinter der Farbenpracht von Burckhardts Bilderbogen steht somit ein in sich geschlossenes kausales Modell, das eine unaufhaltsame Kettenreaktion erklärt: die Entdeckung des Ichs und der Welt, daraus resultierend die Auflösung vorher verbindlicher Weltbilder, Subjektivierung als Folge objektivierender Welterforschung, durch alle Schichten hindurch und daher mit einschneidenden Konsequenzen für den Alltag in allen seinen Schattierungen. Der Durchbruch zur Moderne aber vollzieht sich vorzeitig in Italien, weil hier zum einen die Membran zwischen Gegenwart und Antike rasch durchstoßen wird und zum anderen die feudale Ordnung schwach und aufgesetzt ist und somit Platz bietet für das große Experiment, für eine neue Politik als Kunst der Macht: Der Staat als Kunstwerk wird zum Laboratorium des neuen Menschen. Denn die seit dem späten 13. Jahrhundert siegreich ausgreifende Einzelherrschaft, die aller überkommenen Rechtfertigungen und Regeln spottende Tyrannis machtvoller Individuen, zieht sich in einer unerbittlichen Schule des Erfolgs skrupellose Machtmenschen, devote Machtdiener, aber auch deren modernen Gegentypus, den Machtverächter, heran. Von so viel Amoralität angeekelt, tritt dieser den Rückzug ins Privatleben an und bildet als Kunstmäzen oder Literat den neuen Geist der Individualität weiter aus. Im Anspruch des Einzelnen auf schrankenlose Selbstentfaltung lebt, so Burckhardt, die Renaissance in den europäischen Revolutionen der Folgezeit stetig gesteigert fort – und mit ihr die unheimliche Dialektik von Individualität und Machtstaat, der allein die heillos konkurrierenden Ansprüche der Individuen zu bändigen vermag und diese zugleich zu einer gestaltlosen Masse herabdrückt.

Diese Thesen lösten neben nationalistischen Debatten darüber, welches Land das Erstgeburtsrecht der Renaissance für sich in Anspruch nehmen dürfe, auch andere Seltsamkeiten aus (etwa die hitzige Diskussion über den «heidnischen» Charakter der Zeit). Lässt man diese Auseinandersetzungen außer Acht und resümiert stattdessen die (vor intellektuellen Exzessen allerdings auch nicht immer geschützten) seriösen, bis heute fortwirkenden «revisionistischen» Ansätze der Forschung, so setzt die Kritik zuerst an Burckhardts Bild des Mittelalters an. Seinem idealtypischen Konzept einer vorindividuellen, von verbindlichen kollektiven Glaubens- und Weltvorstellungen bestimmten Zeit stellten europäische Mediävisten ein entschieden moderneres Bild entgegen. Belege für Individualität, Naturforschung und vor allem intensive Wiederentdeckungen des Altertums im Mittelalter wurden gesucht und gefunden, mit der unerwarteten Folge, dass es jetzt auf einmal mehrere Renaissancen gab. Sie reichten von der Zeit der Karolinger bis zum frühen 13. Jahrhundert und stellten die Einzigartigkeit der Renaissance als Wiederentdeckung und Wiedererschließung der Antike zumindest in Frage. Ähnlich erging es dem Humanismus des 14. und 15. Jahrhunderts, der jetzt gleichfalls an einen Proto- oder Prä-Humanismus des hohen Mittelalters angebunden und dadurch in seiner Neuartigkeit relativiert wurde.

Hoben diese Neubewertungsversuche bis zum ersten Viertel des 20. Jahrhunderts in ihrem Bemühen, die von Burckhardt so tief angesetzte Zäsur zwischen Mittelalter und Renaissance einzuebnen, noch überwiegend auf eher vage Größen wie Epochengeist und Weltanschauungen ab, so wurde der Nachweis ausgeprägter Kontinuitätslinien zwischen den Epochen ab den 1930er Jahren durch Paul Oskar Kristeller und seine Schüler viel konkreter geliefert. Umfassende Textvergleiche zeigten, wie viel die lateinische Grammatik und Rhetorik des 15. Jahrhunderts mittelalterlicher Sprachpflege verdankt und wie eng viele literarische Gattungen der Humanisten an ältere Vorläufer anknüpfen. Nach 1945 wurde dieses neue Konzept eines gleitenden, stufenreichen Übergangs vom Spätmittelalter in eine Renaissance, die gleichwohl in ihren Umrissen noch erkennbar bleibt und mit deutlichem zeitlichem Vorsprung in Italien einsetzt (oder sogar ganz auf Italien beschränkt bleibt), allmählich zum vorherrschenden Paradigma, vor allem in der angelsächsischen Welt, wo seit jeher die ausgeprägteste Burckhardt-Skepsis bestand. Wohl nicht zufällig war und ist der intellektuelle Widerstand gegen dieses mehr oder weniger nivellierte Bild der italienischen Renaissance in Italien am deutlichsten, wo Humanismushistoriker wie Eugenio Garin die Innovativität der Elitenkultur des 15. Jahrhunderts stärker betonen und auch an der Modernität des Renaissancestaates und seiner Strukturen stärker als anderswo festgehalten wurde (Federico Chabod).

Inzwischen nämlich wurde der Graben auch von der Seite der Frühneuzeit-Historiker immer mehr zugeschüttet. Dabei spiegelte das sich wandelnde Bild der italienischen Renaissance fundamentale Neuausrichtungen der Geschichtswissenschaft und ihrer Methode nach dem Zweiten Weltkrieg wider. Ein stärker «von unten» fokussierter Blick erschloss die in überwältigendem Maße traditionelle Mentalität der einfachen Leute, wie sie sich in Tagebüchern oder Prozessakten finden lässt. Auch die kollektive «Weltanschauung» städtischer Oberschichten wurde jetzt als vorherrschend konservativ bestimmt (Felix Gilbert). Ebenfalls ab den 1960er Jahren stürzte Burckhardts hochragendes Konstrukt des modernen Tyrannenstaates in sich zusammen. Untersuchungen wie die von Giorgio Chittolini wiesen im Gegenteil auch hier überwiegend bewahrende, ja traditionelle Grundzüge nach. Ähnliche Tendenzen brachen sich in der Sozialgeschichte Bahn; sie belegten die Einseitigkeit von Burckhardts Individualisierungskonzept, soweit es über einzelne herausragende, aber eben auch untypische Individuen hinaus auf soziale Schichten Anwendung findet. Die überwältigende Mehrheit der Italiener aller gesellschaftlichen Schichten lebte, so das Fazit, auch in der Renaissance solide in Ordnungsrahmen eingebettet, wobei sich allenfalls eine Verlagerung hin zu kleineren Einheiten, etwa der Kernfamilie statt des weiteren Sippenverbandes, nachweisen lässt.

Umstürzend war auch der Perspektivenwechsel im wirtschaftlichen Bereich. So gut wie nichts bleibt von der älteren Auffassung, dass sich in der Renaissance zukunftsweisende ökonomische Innovationen hin zu kapitalistischen Produktions- und Vermarktungsmethoden vollzogen, die dann im Zeichen der von Spanien und dem Papsttum erzwungenen «Gegenreformation» ab etwa 1560 wieder einer auf Grundrentenbezug und adeligen Lebensstil fixierten Mentalität weichen mussten. Stattdessen trat immer deutlicher hervor, dass die revolutionären Neuerungen in Handel, Bankwesen und Textilproduktion überwiegend in eine viel ältere Zeit, ins 12. und 13. Jahrhundert, zurückreichten. Wie es darüber hinaus schon damals und auch danach immer wieder Phasen ausgeprägten «Rückzugs» in den Erwerb von Land und Lehen gab und überhaupt, sozial und wirtschaftlich gesehen, die Grenzen zwischen Stadt und Land, Kommerz und «Feudalität» fließend verliefen. Vor allem aber sind die knapp zweihundert Jahre nach der Großen Pest von 1347/48 im Zeichen dramatischer Bevölkerungsaderlässe als ein Zeitraum erst stark schrumpfender und sich im Laufe des 15. Jahrhunderts auf reduziertem Niveau einigermaßen konsolidierender Produktions- und Handelsverhältnisse erwiesen. Vor diesem Hintergrund ist es ein aussichtsloses, ja widersinniges Unterfangen, die künstlerischen Ausdrucksformen der Frührenaissance, wie sie sich zuerst im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts entwickelten, als Spiegel ganz konkreter sozialer und wirtschaftlicher Wandlungen zu erfassen. Die auf die antike Tradition des freistehenden Standbildes zurückgreifenden Skulpturen Donatellos, die Bauformen des Altertums wiederaufnehmende Architektur Brunelleschis und die zentralperspektivisch angelegten Bilder Masaccios lassen sich keiner «modernen», frühkapitalistischen Auftraggeberschicht zuordnen. Die Florentiner Oberschicht war zu dieser Zeit Großhändler, Bankier und Grundbesitzer in Personalunion, ihre Geschmacksvorlieben sind nicht entlang sozioökonomischer Trennlinien aufzuteilen.

Merkmale einer revidierten Epoche

Was also bleibt? Soll man die Renaissance in die Rumpelkammer der abgetanen Mythen verweisen und damit als Epoche abschaffen, wie es Peter Burke in seiner kurzen Übersicht von 1988 tut – derselbe Autor, der anderthalb Jahrzehnte zuvor in einer der ausgewogensten, die Burckhardt’schen Überzeichnungen behutsam korrigierenden Neubewertungen der italienischen Renaissance noch zu einem moderat gegenteiligen Ergebnis kam? Überblickt man die Forschung der letzten Jahrzehnte, speziell einer Betrachtungsweise, die die Grenzen zwischen Kunst-, Ideen- und Geistesgeschichte zugunsten einer ganzheitlichen Kulturgeschichte auflöst, so zeichnen sich Umrisse eines neuen Bildes der Renaissance in Italien ab. In dieser Perspektive stellt sich der Zeitraum von etwa 1430 bis 1560 als durch zahlreiche Kontinuitätslinien an Traditionen rückgebundene, in mancher Hinsicht konservative, in anderen Sektoren aber auch entschieden innovative, somit exemplarisch kontrastreiche Einleitungs- und Ausbildungsperiode der Neuzeit dar – als ein Zeitraum somit, in dem Italien in wesentlichen Bereichen Modernisierungsprozesse vorwegnahm, die das übrige Europa vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis ins Zeitalter Ludwigs XIV. hinein nachvollzog und weiter ausbildete.

Diese gewissermaßen vorgezogenen zukunftsweisenden Entwicklungen Italiens in der Renaissance bestanden vor allem in der immer intensiveren Nutzung von Propaganda und «Medien». Dabei setzten Herrscher und Eliten Italiens nicht nur auf das werbewirksam geschriebene Wort, sondern in steigendem Maße auf die Überredungsmacht von Bildern, Statuen und Bauten. Parallel dazu entwickelte sich der vorher rudimentär angelegte Hof zu einer prunkvoll ausgestatteten Bühne, auf welcher der Herrscher in einer immer exklusiveren Umgebung Prestige nach innen und außen zu gewinnen und zugleich seine einheimische Führungsschicht im Blickfeld bzw. unter Kontrolle zu behalten versuchte. Die sich damit im Lebensstil der höfischen Gesellschaft vollziehenden Wandlungen, neue Normen des Schönen und des Anstands, aber auch veränderte ästhetische Leitbilder und ihre Umsetzung in Ideen und Kunstwerken, waren also unmittelbar mit Neuformierungen und Neusortierungen an der Spitze von Staat und Gesellschaft verknüpft – und nur im Zusammenhang mit ihnen zu erfassen. Über diese primären Merkmale hinaus zeichneten sich im selben Zeitraum zwei weitere Entwicklungen ab, die ältere Ansätze verstärkt fortsetzten und dadurch für die Epoche als solche charakteristisch wurden: fortschreitende soziale Ausdifferenzierung, vor allem als definitive Bestätigung, Verfestigung und Heraushebung von Führungsgruppen verstanden; und eine langsamere, keineswegs geradlinige, doch nach der Mitte des 16. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossene äußere Arrondierung und Konsolidierung der einzelnen Staaten wie der politischen Landkarte als Ganzer. Ohne Frage gewichtet dieser Versuch einer Epochenbestimmung stark die «virtuellen» Aspekte einer in der sozialen und politischen Realität viel immobileren, nicht selten sogar rückwärtsgewandten Zeit. Die Rechtfertigung einer solchen Definition könnte aber gerade darin zu sehen sein, dass die «Medien» der Renaissance bis heute ihre Propagandabotschaften so wirkungsmächtig zu vermitteln vermögen – nicht zuletzt dadurch, dass sie den Mythos der Renaissance am Leben halten.

2. Politik und Diplomatie zwischen Alpen und Ätna

Die Staatenlandschaft Italiens im 15. Jahrhundert

Der moderne Souveränitätsbegriff ist für eine Aufgliederung der italienischen Staatenlandschaft im 15. Jahrhundert nur begrenzt tauglich. Statt einer klar konturierten, festgefügten Ordnung stellt sie sich als ein komplexes Geflecht von Bündnissen, Abhängigkeits- und Schutzverhältnissen dar. In seinen Feinheiten nur den gewieftesten Diplomaten der Zeit ganz zugänglich, lässt es sich am ehesten als ein dicht gewobenes Netz mit mehreren Mittelpunkten und zahlreichen, sich nicht selten überkreuzenden Verstrebungen vorstellen. Denn diese annähernd gleichrangigen und gleich starken Zentren waren zum Teil untereinander, vor allem aber mit den darunter rangierenden mittleren, kleinen und winzigen politischen Gebilden vielfältig verbunden. Auch wenn einige dieser Fäden mehr oder weniger auf Dauer gesponnen waren, war das Ganze doch permanent in Bewegung. Anstöße und Erschütterungen gingen von den Expansionsbestrebungen der Großen, aber auch von den Schutz- und Sicherheitsbedürfnissen der Kleinen aus.

Diese unterschiedlichen Interessen knüpften eine Fülle klientelärer, auf wechselseitigem Nutzen, Geben und Nehmen beruhender Beziehungen. Kam dem Patron dabei die Pflicht zu, seinen «Schutzbefohlenen» (raccomandati) gegen äußere Bedrohungen zu sichern, so hatte dieser die Macht und nicht zuletzt das Prestige seines Protektors zu mehren. Ausschlaggebend für die Haltbarkeit dieses klientelären Verhältnisses war der Erfolg, das heißt der Gewinn, den beide Seiten daraus zogen; fiel er ungenügend oder einseitig aus, ließ sich der Pakt aufkündigen. Gerade die schwächeren Glieder solcher Verkettungen auf Zeit waren, bildlich gesprochen, darauf angewiesen, das politische Gras wachsen zu hören, also Machtveränderungen auf der obersten Etage frühzeitig zu registrieren, um sich gegebenenfalls nach einem neuen Patron (oder auch mehreren) umzusehen. Die gesamten Verästelungen dieses Geflechts zu übersehen, ja nur seine wichtigsten Regeln zu verstehen, fiel gerade Außenstehenden schwer. Und doch hat einer von ihnen, der französische Diplomat Philippe de Commynes (1447–​1511), das riskante Spiel auf der diplomatischen Bühne Italiens in den 1490er Jahren nicht nur virtuos zu meistern gelernt, sondern auch in seinen Mémoires eindrucksvoll beschrieben.