Vorwort
Als junger Fachbereichsleiter für Fragen des Älterwerdens betrat ich 1976 zum ersten Mal ein Altenheim. Während meines Studiums hatte ich erfahren, dass die Defizit-These vom Alter hinfällig sei und dass der Mensch auch im Alter lernfähig bliebe. Beseelt von dieser damals neuen Erkenntnis, entwickelte ich den Ehrgeiz, die brachliegenden „Potenziale“ der Alten zu fördern. Ich organisierte unter anderem Gesprächskreise, Sprachkurse und Gymnastikkurse in Altenheimen. Bei meinen Besuchen bemerkte ich einige wenige BewohnerInnen, die sich anders, jedenfalls nicht wie gewöhnliche Erwachsene verhielten. Sie wussten nicht, wo sie sich befanden, konnten ihr Alter nicht angeben, sie verliefen sich, kramten unentwegt in ihren Taschen oder saßen fast regungslos auf ihrem Stuhl.
Ich begann mich für diese Menschen zu interessieren und war sehr bald von ihnen fasziniert. Der Begriff „Demenz“ war damals kaum bekannt. Man ging von einem geradezu natürlichen Abbau im Alter aus und betrachtete das verwirrte und verrückte Verhalten der Menschen als eine besonders fortgeschrittene und bedauernswerte Form des Abbaus. Ich war dagegen überzeugt, die verschütteten Fähigkeiten dieser Menschen reaktivieren zu können und versuchte es mit einem Training, das sich Realitätsorientierung nannte. Aber alle Versuche waren vergebens. Könnte man die Menschen nicht einfach lassen wie sie sind und ihnen eine Umgebung schaffen, in denen sie in Ruhe verrücken dürfen?
Ich begann, spezielle Angebote für diese Menschen zu entwickeln und legte dabei sehr viel Wert auf Erinnerungen, Sinne und Gefühle. Ich wollte von ihnen nicht wissen, wann und wie sie früher getanzt haben, sondern habe mit ihnen getanzt und sie mit mir. Die Menschen ihrerseits wollten von mir nicht wissen, was ich beruflich mache, was ich studiert habe und was ich kann. Sie achteten dagegen sehr auf den Klang meiner Stimme, auf meinen Geruch und die Art, wie ich mich bewegte und ob ich mir Zeit für sie nahm.
Es war wohltuend und entspannend mit Menschen zusammen zu sein, die einfach sie selber waren und ihren Gefühlen, sowohl den schönen als auch den nicht so schönen, freien Lauf ließen.
Meine Schwärmereien über die Menschen mit Demenz und ihren Eigen-Sinnigkeiten fanden in den 1970er und 1980er Jahren kein Gehör. Bekannte und Freunde wunderten sich über meine Erzählungen und Angehörige wollten wissen, wie das von der Norm abweichende Verhalten der Menschen mit Demenz zu verhindern wäre. An den sinnlichen Fähigkeiten und den Erlebniswelten der Menschen mit Demenz waren sie nicht interessiert. Als ich einem Ehepaar, deren Mutter mit farblich unterschiedlichen Strümpfen in die Stadt ging, erklären wollte, dass ihre Mutter ihre bunte Kleidung gewiss schick fände, brachen sie das Beratungsgespräch kopfschüttend ab.
Heute weiß die Fachwelt sehr viel mehr über Demenz und die Menschen, die davon betroffen sind. Für die Kinder, Partner, Verwandten, Bekannten und Freunde ist es aber jedes Mal das erste Mal, dass sie hautnah miterleben, wie sich ein vertrauter Mensch vom Verstande weg entwickelt. Sie müssen sich das Wissen, die Erfahrungswerte und einige bewährte Strategien für den Umgang mit Menschen erwerben. Das ist, wie im Interview mit Sophie Rosentreter nachzulesen ist und wie ich in 40-jähriger Beratungstätigkeit mit Angehörigen erlebt habe, manchmal ein schmerzhafter Prozess. Dieser Band möchte Hilfestellung sein, den alltäglichen Umgang mit Menschen mit Demenz zu erleichtern.
Was erwartet Sie beim Lesen dieses Buches?
Eine zentrale Schwierigkeit, vor der die Angehörigen1 stehen, ist die Kommunikation. Wie redet man mit den Menschen, wie kann man sich verständigen, wie erfährt man ihre Wünsche, wie teilt man sich ihnen mit?
Beispiel
„Ich weiß nicht, was ich mit ihm reden soll“, entschuldigt sich ein Mann, weil er seinen Freund, der sich geistig stark verändert hat, nicht mehr besucht.
„Ich habe meinen Mann zu Hause, bin aber trotzdem alleine. Man würde sich ja auch gerne unterhalten und das ein und andere besprechen. Das geht nicht mehr“, klagt eine Ehefrau.
Wer sich einem Menschen mit Demenz mitteilen, Kontakt zu ihm aufnehmen, sich bei ihm erkundigen, sich einfach unterhalten will, stößt, das zeigen die Klagen des Bekannten und der Angehörigen, schnell an Grenzen. Man wird nicht verstanden, man spürt keine Resonanz, man kann keine Absprachen treffen, man findet keine Themen, die für beide interessant sind. Geduldig versucht man Unverständliches zu deuten und kommt dennoch nicht weiter.
Der Mensch mit Demenz hört nicht zu, ist geistig abwesend, bleibt nicht bei der Sache oder bringt alles durcheinander. Er wiederholt sich, stellt die Frage, die man ihm schon dreimal beantwortet hat, ein viertes Mal oder brabbelt Unverständliches vor sich hin. Er stellt unerfüllbare Forderungen, behauptet Dinge, die nicht stimmen können und verheddert sich in Widersprüchen. Gutgemeinte Erklärungen, Appelle und gutes Zureden prallen an ihm ab. Das sind zugegebenermaßen schlechte Voraussetzungen für ein vernünftiges Gespräch oder einen auf Verständigung abzielenden Dialog.
Beispiel
Eine Tochter hat sich ausgiebig Zeit für ihren Vater genommen, danach geht sie in die Küche, um das Essen vorzubereiten. Ihr Vater will nicht alleine sein und ruft nach ihr. Die Tochter erklärt ihm, dass sie doch gerade lange bei ihm war, er einsehen solle, dass sie kochen müsse und verspricht ihm, danach wieder für ihn da zu sein. Ihr Vater ist einverstanden, aber sobald die Tochter den Raum verlässt, ruft er erneut.
Worauf sollte die Tochter in diesem Beispiel achten und wie kann sie sich in dieser Situation verhalten? Um die Beantwortung dieser Fragen geht es in diesem Band. Die Autoren bieten den Angehörigen Überlegungen, Hinweise und Tipps an, wie sie in alltäglichen Situationen den Menschen mit Demenz begegnen können. Sie zeigen Wege und Möglichkeiten auf, die eine Kommunikation mit diesen Menschen und eine wertschätzende und respektvolle Begegnung erleichtern, es Ihnen, den Angehörigen, aber auch ermöglichen, Freiräume für sich zu gestalten und sich selbst gegenüber nicht so streng zu sein.
In dem Beispiel könnte sich die Tochter vorstellen, dass ihr Vater ohne Halt und Sicherheit ist, wenn sie den Raum verlässt. Auf seinen Verstand, der ihm helfen könnte, seine Situation angemessen zu bewerten, kann er sich nicht mehr verlassen. Er weiß nicht, dass er nur vorübergehend alleine gelassen und sich die Tochter bald wieder um ihn kümmern wird. Was könnte jetzt alles um und mit ihm geschehen? Er weiß es nicht und in seiner Not bleibt ihm nichts anderes übrig, als um Hilfe zu rufen.
Mit dieser Einschätzung bieten sich der Tochter verschiedene Möglichkeiten, dem Vater und sich selbst gerecht zu werden. Sie kann den Vater vorübergehend im Nebenraum sich selbst überlassen, um das Essen vorzubereiten. Die Entscheidung klingt vernünftig, hilft ihr aber nicht, denn nun leiden beide. Vater leidet an dem Alleinsein und die Tochter an dem ständigen Rufen. Als Alternative böte sich an, das Essen in Gegenwart von ihrem Vater zuzubereiten, in dem sie ihn mit in die Küche nimmt oder mit ein wenig Aufwand die Vorbereitungen bei ihm im Wohnzimmer oder am Bett erledigt. Sie könnte ihn aber auch, wenn sie Abstand von Vater braucht, alleine zurücklassen und versuchen, das dauernde und damit anstrengende Rufen zu unterbrechen, indem sie sich immer wieder mal kurz bei ihm blicken lässt. Ungewöhnlich, aber durchaus praktikabel wäre es auch, wenn sich die Tochter einen Kopfhörer aufsetzt, um vor dem Rufen geschützt zu sein.
Im ersten Kapitel werden am Beispiel eines Mannes, der von seiner Ehefrau und seinen Kindern am Anfang seiner Veränderungen begleitet wird, typische Kommunikationsprobleme beschrieben und besprochen. Der Neurologe Ingo Kilimann und die Sprachforscherin Svenja Sachweh erklären die Hintergründe für das ungewohntes Verhalten von Menschen mit Demenz. In einem Gespräch mit dem Alternsforscher Andreas Kruse wird der tiefe Respekt vor der Personalität der Menschen mit Demenz betont. Im zweiten Kapitel geht es um Alltagsprobleme, die auftreten, wenn die Demenz weiter vorangeschritten ist. Auch hierzu findet der Leser Erklärungen aus neurologischer Sicht. Im dritten Kapitel beschreiben Angehörige und Praktiker, die sich intensiv mit Menschen mit Demenz beschäftigt haben, ihre Erfahrungen sowie erprobte Methoden für eine gelingende Kommunikation (z. B. Validation, Einsatz von Klängen, Einsatz von körperlichen Kontakt etc.).
Der Herausgeber wünscht allen Angehörigen starke Nerven und viel Kraft, um die sich täglich und manchmal stündlich wiederholenden Herausforderungen gelassen und ruhig so zu meistern, dass sie und die Menschen mit Demenz mit ihren Gefühlen, Stimmungen, Launen und Eigensinnigkeiten gut über den Tag kommen.
Tönisvorst, Juli 2020
Erich Schützendorf