ROH


Es ist schon viel darüber geschrieben worden, was passieren kann, wenn ein Mann, desorientiert, weil seine Verlobte, Geliebte oder Frau ihn vor Kurzem verlassen hat, für ein oder mehrere Drinks in eine Bar oder in ein Wirtshaus geht, um die Trauer im Alkohol zu ertränken.

Was Erik geschah, ist nicht alltäglich.

Er konnte den Verlust seiner Verlobten Simone nicht verwinden. Immerzu klammerte er sich an den Gedanken, dass sie es sich doch vielleicht überlegen und zu ihm zurückkehren würde. In seiner verzweifelten Hoffnung zieht der Mensch oftmals die unglaublichsten Umstände in Betracht, um der Hoffnung realistischen Nährboden zu geben. Er hatte sie angerufen, sie besucht, ihr Blumen geschickt, hatte gebettelt, gefleht, gedroht, geweint. Er hatte sie wenigstens so weit gebracht, dass sie Mitgefühl für ihn empfand und ihm mit leidendem Blick sagte: „Ich verstehe dich ja, und ich würde auch gerne weiter mit dir zusammenleben, aber ich kann es nicht.“
Sie hatte es auf die unterschiedlichen Charaktere zurückgeführt, die zusammen nicht leben konnten.

Und obwohl er wusste, dass sie recht hatte, linderte nichts seinen Schmerz. Das einzig Hilfreiche ist Zeit. Viel Zeit. In der Zwischenzeit leiden viele, und nicht wenige von diesen vielen ertränken sich in nicht wenig Promille.
So saß auch er in einer Bar und tat sein Bestes.
Er trug die typische Kleidung eines Leidenden, eine jämmerliche Mischung aus gewollter Eleganz und unverhohlenem Elend.
Eine Jeans, die eigentlich hätte gewaschen werden müssen, ein Dreitagebart, der bei einem Leidenden alles andere als ansprechend aussieht, ein Hemd, das schick sein sollte, aber ungewollt den Seelenzustand verriet, weil es zu weit aufgeknöpft und somit aus der Form geraten war, und die ungeputzten Schuhe paarten sich mit dem aufgedunsenen Gesicht und den frisch gewaschenen Haaren, die schütter wirkten.

Die Lederjacke hatte er über die Rückenlehne des Barhockers geworfen, und er schüttete einen Drink herunter und bestellte sofort darauf einen neuen. Eigentlich war Gin Tonic nicht so sein Fall, doch heute tat ihm der bittere Geschmack gut.

Er hatte sich eine Bar mit passendem Ambiente ausgesucht, dunkel und leise, im Hintergrund Blues und Jazz statt des allgegenwärtigen Lounge-Gesäusels, und es war eine Bar, in die er nur gerne ging, wenn er wie jetzt frustriert war, denn ansonsten bevorzugte er andere Bars und Clubs.

Die Drinks waren teuer, aber gut gemixt, und das Publikum war gemischt. Es war eine Mixtur aus Singles und Pärchen, Abenteurern und den schon von weiter Ferne auszumachenden One-night-stands.

Hie und da durchzuckte wie ein Blitz ein schrilles Kichern die Bar, ab und an ein Grollen eines tiefen Lachens, einmal der Taifun eine Lachkrampfes von vier oder fünf Personen, die in einer Ecke saßen und allem Anschein nach etwas zu feiern hatten.

Er hingegen zelebrierte sein Elend- auch eine Art des Festes.

Allerdings fiel er nicht auf als der Leidende, der allein unter lauter gutgelaunten Menschen den Pol der Traurigkeit bildete, das Zentrum der Melancholie, um das alles Lustige und Unbeschwerte kreiste wie Planeten um eine Sonne.

Die Zeiger der Uhr schienen nicht nur mit jedem Ruck, den sie taten, die Zeit vor sich herzuschieben, sondern auch seine Traurigkeit, als wären sie Baggerschaufeln, die über ein Feld der Frustration glitten und zu einem immer größer werdenden Berg an auftürmten.

Je später es wurde, desto miserabler fühlte er sich.

Er hing seinen Gedanken nach. Sie führten ihn langsam aber stetig zum großen, unausweichlichen Finale, zum absolut Letzten, und es wäre vielleicht tatsächlich so weit gekommen, wäre es nicht passiert, dass sich in seinen ohnehin schon mächtig eingeschränkten Sichtbereich etwas Fremdartiges einschob, etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit einsog wie ein Schwarzes Loch Millionen von Sternen.

Er war noch nicht richtig betrunken, dazu hatte es ihm an Zeit gemangelt.

Und jetzt das.

Jeder Mensch hat sein Schönheitsideal, mag es sein, wie es will. Es lächelt von Zeitungen oder von Monitoren und Displays entgegen oder wartet unerkannt tief im Innern einer Begierde, die niemals erkannt und niemals geweckt wird. Doch er sah es nun.

Es stand etwa zwanzig Meter weiter auf der anderen Seite am Eingang. Eine Frau, wie man sie sich nur in Träumen erdenkt. Sie erweckte nicht ein sehnendes Verlangen nach Liebe und Geborgenheit, wie es einen Mann in seiner Situation des öfteren überfällt, vielmehr war es eine Art der Erregung, wie sie tiefer, und körperlicher nicht hätte sein können. Ein Gefühl, das ihn dazu zwang, den Blick haften zu lassen.

Sie war der Fixstern, die anderen waren Meteore, kurzlebig und klein.

Sie war herrlich und strahlend.

Sie trug ein enges, kurzes Kleid aus smaragdgrünem Satin, ihr Teint war irgendwie südländisch, südamerikanisch möglicherweise. Ihr Haar war dicht und durch und durch schwarz, ihre Augen dunkelbraun, ihre Lippen voll, kaum geschminkt. Sie war sich ihrer Schönheit gewiss und schien es nicht nötig zu haben, sich unter einer dicken Schicht Make-up zu verbergen. Sie benutzte es vielmehr zur Untermalung ihrer Makellosigkeit, ihre Natur offenbarend. Sie war ein Naturkunstwerk, und das wusste sie.

Überhaupt schien sie nicht so herausgeputzt wie Frauen, die es nötig hatten. Sie war schlicht, sie war einfach und gerade deshalb so teuflisch wunderbar. Ihr Gesicht zeigte den Anflug von Selbstbewusstsein, aber auch Scheu, Natürlichkeit, trotz ihrer kurzen Haare, die sie wild zur Seite gekämmt hatte.