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2017
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Druck: Athesia Druck, Bozen
ISBN 978-88-6839-291-8
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Der Besuch meiner Enkelin Sole
ist immer wieder eine große Freude.
Als sie kürzlich wieder hier war und wir es uns zum Geschichtenerzählen gemütlich machten, fragte sie mich spontan:
„Nonno, hast du auch Nonni gehabt?“
„Ja, Sole, ich hatte zwei Nonni und zwei Nonne, die aber längst gestorben sind. In Erinnerung geblieben ist mir insbesondere meine Nonna väterlicherseits. Sie hieß Anda Carlina de Rustlea. Unsere Großmutter erzählte uns immer schöne, spannende, aber auch aufregende Geschichten, die sich im Laufe ihres langen Lebens zugetragen hatten.
Beispielsweise jene, welche sich eines Tages auf ihrem Hof „Rustlea“ ereignete. Nonna war auf dem Hof ihrer Vorfahren aufgewachsen, die zusätzlich noch einen kleinen Gemischtwarenladen unterhielten, den einzigen im oberen Grödner Tal. Hier gab es alles zu kaufen, was im einstigen bäuerlichen Gröden sonst nicht zu haben war. Eines Nachts im Jahre 1836 wurde dort eingebrochen und fünf Menschen wurden zu Tode erdolcht. Einer Frau gelang jedoch die Flucht durch die Hintertür des Hauses. Halbnackt, frierend und außer sich vor Angst erreichte sie den nächsten Hof. Die Bewohner liefen zur Kirche und schlugen mit Glockengeläut Alarm. Die Einbrecher ergriffen daraufhin mit ihrer bescheidenen Beute die Flucht. Es lag jedoch noch an einigen Stellen Schnee, denn der Winter war noch nicht vorbei. Sie hinterließen daher Fußspuren und so konnte die Fluchtrichtung und damit ihre regionale Herkunft herausgefunden werden. Den Gendarmen gelang es nach langer Suche im benachbarten Fleimstal dann, die Einbrecher zu ermitteln und festzunehmen. Südtirol war noch Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und ein Polizist hieß damals noch Gendarm1.
Mein Nonno väterlicherseits dagegen war ein eher wortkarger Mann. Gelegentlich erzählte er von seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg. Drei Jahre hatte er währenddessen auf dem Marmolatagletscher (3300 m über Meeresspiegel) in Kälte bei Eis und Schnee und unter italienischem Kanonenbeschuss ausharren müssen. Zuweilen rühmte er sich, 1909 in der Hofburg Innsbruck von Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet worden zu sein in seiner Eigenschaft als Schützenhauptmann der Schützenkompanie Wolkenstein. Anlass war der 100. Jahrestag des Tiroler Aufstandes gegen die Bayern und gegen Napoleon im Jahre 1809 gewesen.“
„Erzähle doch bitte weiter, erzähle mir von deiner Jugend, von dem, was du erlebt hast. Wie war es denn, als du ein Kind warst, und wie war es danach, als du älter wurdest? Und wie hast du Nonna kennengelernt?“, bettelte Sole.
Lächelnd erwiderte ich: „So viele Fragen auf einmal. Aber ja, liebe Sole, ich will gern versuchen, dir nach und nach alle Fragen zu beantworten. Dein Interesse freut mich, denn unser eigenes Dasein, somit auch deines ist tief verwurzelt im vergangenen Leben unserer Ahnen. Doch zurück zu deinem Wunsch, die Geschichten aus meinem Leben zu erfahren. Das wird eine lange Reise in die Vergangenheit und du wirst Geduld brauchen, mich zu begleiten. Am besten schreibe ich für dich diese von mir erlebten Erfahrungen auf. Dann kannst du alles lesen, und wenn du magst, setzen wir uns hier wieder an den Kamin und reden miteinander weiter. Was meinst du dazu?“
***
Es war ein schöner, ruhiger Herbsttag. Der Lärchenwald färbte sich allmählich golden, Roggen und Gerste waren bereits geschnitten und das „Gromet“, das letzte Heu, gemäht und unter Dach und Fach gebracht. Hoch am Himmel zog ein Adler seine weiten Kreise. Unser kleiner Bergweiler war wie ausgestorben. Plötzlich aber kam Bewegung in die verträumte Landschaft: Eine senffarbene Autokolonne, bestehend aus bis dahin noch nie gesehenen, militärischen Kraftfahrzeugen, dekoriert mit roten Fahnen und Hakenkreuzen auf weißem Feld, rollte die letzte Steigung zu unserem Haus heran. Die bedrohlich wirkenden Fahrzeuge hielten auf dem kleinen Platz vor dem nachbarlichen Gasthof und bewaffnete Soldaten stiegen aus. Es wurden Befehle erteilt und binnen kürzester Zeit standen über 100 Soldaten einsatzbereit in Reih und Glied, Gewehr bei Fuß.
Die wenigen Bewohner unseres kleinen Weilers kamen aus ihren Häusern gelaufen, begrüßten die Wehrmachtssoldaten mit Heil-Hitler-Rufen, Kinder schwangen Papierfähnchen mit Hakenkreuz. Ich flüchtete angstvoll in den Wald oberhalb unseres Hauses und schaute mir aus sicherer Entfernung das Treiben der Soldaten an. Mit diesem – für das weitere Schicksal unseres Landes einschneidenden – Tag begann mein Bewusstseins- und Wahrnehmungsvermögen deutlich zu werden und sich meine Erinnerung zu festigen: Es war der 9. September 1943.
Die Wehrmachtssoldaten besetzten das benachbarte Gasthaus. Während der folgenden Tage beobachtete ich das Geschehen und erwarb von ihnen meine ersten deutschen Sprachkenntnisse. Bisher sprach ich nur Ladinisch. Mir waren zwar einzelne Begriffe wie „Dableiber“ und „Optanten“ schon vorher bekannt, aber nicht deren Bedeutung. Sie gründeten auf ein ominöses Abkommen zwischen Hitler und Mussolini von 1939, wonach Südtirol vollkommen italienisiert werden sollte, eine der vielen ethnischen Säuberungen der faschistischen Regime. „Optanten“ waren demnach jene Südtiroler, die sich zum Dritten Reich bekannten und nach Norden ziehen oder aber in den besetzten Gebieten Osteuropas angesiedelt werden sollten. Die „Dableiber“ hingegen bekannten sich zum Verbleib in Italien und durften zunächst in der angestammten Heimat bleiben.
Allerdings unter der Voraussetzung, sich absolut und widerspruchslos der faschistischen Vorherrschaft Italiens und seiner kulturellen Willkür zu unterwerfen. Das jahrhundertealte Brauchtum Südtirols, einschließlich das Tragen von Trachten, wurden abrupt verboten und jedwede heimatliche Tradition strengstens untersagt.
Die Übergriffe in die Identität der Bevölkerung gingen so weit, dass sogar die jeweiligen Familiennamen systematisch italienisch übersetzt oder einfach italienisiert wurden. Aus Mahlknecht wurde „Molinari“ und aus Mutschlechner „Muzzi“ usw. Deutsche und ladinische Ortsnamen waren schon zuvor italienisiert worden: Aus Pfitsch wurde „Vizze“, aus Klockerkarkopf „Vetta d’Italia“, aus Burgeis „Burgusio“ und aus Freienfeld „Campo di Trens“. Ich war zwar mit dem Namen Erich getauft worden, meldeamtlich aber als „Enrico“ eingetragen. Die von Hitler und Mussolini vereinbarte ethnische Säuberung Südtirols sollte konsequent und innerhalb kürzester Zeit durchgeführt und abgeschlossen werden.
Die einseitige Aufkündigung des sogenannten „Stahlpaktes“ zwischen Italien und dem Dritten Reich am 8. September 1943 beendete zwar die Abwanderung, doch bis zur Gleichstellung der einheimischen Bevölkerung mit den in den Jahren faschistischer Vorherrschaft zwangsweise zugezogenen Einwanderern aus dem Süden des Stiefelstaates sollten noch Jahrzehnte vergehen und viel Blut vergossen werden.
Die Begriffe „Optanten“ und „Dableiber“ hatten für mich nur insofern Bedeutung, als auch in meinem engeren Familienkreis Abschied genommen wurde. Einige Verwandte hatten sich für den Weg „Heim ins Reich“ entschieden – und dieser Anlass wurde gebührend gefeiert. Meine Brüder und ich durften von der Ofenbank in der warmen Stube die Abschiedsfeier miterleben. Die Stimmung war zunächst sehr lebhaft und aufgelöst. Nach einem üppigen Abendmahl im Kreise der engsten Verwandten mit Fleisch und Gemüse vom eigenen Hof und hausgebackenem Brot wurde alles kräftig mit Rotwein begossen. Bald wurden patriotische Lieder angestimmt, wovon mir eines deutlich in Erinnerung geblieben ist, auch weil wir es später in der Schule gesungen haben:
Heute wollen wir ein Liedlein singen,
Trinken wollen wir den kühlen Wein;
Und die Lieder sollen dazu klingen,
Denn es muss, es muss geschieden sein.
Gib mir deine Hand,
Deine weiße Hand.
Lebewohl mein Schatz, leb’ wohle,
Denn wir fahren, denn wir fahren
Gegen Engeland.
Unverständlich war mir allerdings dann der unmittelbare Stimmungsumschwung. Warum war man zum Ende dieser schönen Feier hin plötzlich so traurig und bedrückt? Vater und Mutter sowie die Verwandten wurden schweigsam, lagen einander bewegt in den Armen und ließen schließlich schmerzliche Tränen fließen.
Jenen Optanten, die sich für das Verlassen der angestammten Heimat entschieden hatten, wurden für ihren Neubeginn irgendwo im Dritten Reich oder in den besetzten Gebieten im Osten Europas entsprechende Entschädigungen zugesagt, und zwar wertmäßig in gleicher Höhe wie der bisherige Besitz, den sie aufgeben mussten. Um die Bestandsaufnahme dieses seit Generationen bewirtschafteten, kargen Familienerbes kümmerten sich ehrenamtliche Beamte des Dorfes.
Von einem erfuhr ich Jahre später die absonderlichsten Geschichten, die sich im Zusammenhang mit der Erhebung besagten Eigentums ergeben hatten sowie auch von den Vorstellungen der betroffenen Kleinbauern in Bezug auf ihre künftige Heimat, möglicherweise in der Slowakei oder – wie für uns Ladiner ursprünglich geplant – auf der Krim. So wurden einem Kleinbauern als Ersatz für seinen ererbten Besitz zwei Möglichkeiten geboten: entweder ein Hof mit Birnbäumen im Obstgarten oder aber einen etwas kleineren Hof, der aber dafür mit mehreren Apfelbäumen bepflanzt war. Der Kleinbauer beriet sich ausführlich mit seiner Frau und entschied sich schließlich für den Hof mit Birnbäumen. Die Frage, in welchem Land sich der versprochene Hof befände und was mit dessen Eigentümern geschehen solle, wurde erst gar nicht gestellt.
Der Sohn eines anderen Kleinbauern, der ebenfalls mit Kind und Kegel das Land verlassen wollte, hatte jedoch Bedenken und äußerte sie: „Was ist, Vater, wenn Hitler den Krieg verliert?“ Darauf die väterliche Antwort: „Wenn Hitler den Krieg verliert, ist Gott ungerecht.“ So tief war der Glaube an Hitlers Endsieg – selbst noch nach dem Angriff Deutschlands auf Sowjetrussland – auch im südlichen Tirol verankert.
Zunächst normalisierte sich das Leben im Dorf trotz allem wieder. Bis zu dem Zeitpunkt, der alles von Grund auf änderte: Nach und nach wurden die Männer zu den verschiedenen Waffengattungen einberufen, unabhängig vom Tauglichkeitsgrad. So auch mein Vater, der trotz einer erheblichen Sehschwäche zur Fliegerabwehr einberufen wurde.
Nunmehr musste Mutter allein eine mehrköpfige Familie versorgen und sich um den Haushalt kümmern. Das Brennholz für die Küche und die Heizöfen mussten wir Kinder aus dem umliegenden Wald herbeischaffen. Meine älteren Brüder pflegten unterdessen einen unbekümmerten, freundschaftlichen, sogar kameradschaftlichen Umgang mit den Wehrmachtssoldaten von nebenan. Das sicherte uns oft die Versorgung mit Lebensmitteln und Süßigkeiten. Wir durften abends sogar die für die Wehrmachtssoldaten gedrehten Propagandafilme mit ansehen, in denen der Überfall auf die Sowjetunion sowie die Heldentaten der Waffen-SS und der Wehrmachtssoldaten in sämtlichen Kriegsgebieten Europas und Afrikas verherrlicht wurden.
Am späten Abend eines kalten Wintertages mit stürmischem Schneetreiben ergab sich in unserem Hause plötzlich eine ungewöhnliche Hektik und Unruhe. Mehrere Frauen, nervös und sehr aufgeregt, rannten hin und her, gingen aus dem Haus, kamen wieder. Wir Kinder wurden derweil zur Oma ins Nachbarhaus geschickt – offenbar störten wir. Immer wieder war von einem Stabsarzt die Rede, der jeden Augenblick erwartet wurde. Was ein Stabsarzt sei und weshalb er so dringend erwartet wurde, wusste ich nicht, wohl aber, dass hier etwas sehr Bedeutsames geschehen sollte. Dann wurde das Geheimnis gelüftet. Ein Wehrmachtssoldat wollte von meinem älteren Bruder wissen, wie viele Geschwister wir seien. „Vier, nein fünf“, rief er voller Begeisterung, „einer wurde soeben geboren!“ Welche Freude, offenbar auch für die Soldaten. Sie beschenkten uns mit einer solchen Fülle an Süßigkeiten – damals eine rare kulinarische Kostbarkeit–, sodass wir kaum vermochten, unsere Schätze heimzutragen.
An dieses Ereignis sollte ich Jahrzehnte später aufgrund einer seltsamen Begegnung wieder erinnert werden. Anlässlich der Ski-Weltmeisterschaften 1978 in Garmisch-Partenkirchen wurde ich zu einem Empfang des deutschen Bundespräsidenten Walter Scheel eingeladen. Ein älterer Herr sprach mich dort an und fragte nach meiner Heimat. Dann wollte er wissen, ob mir ein kleineres Haus am Ende von Wolkenstein bekannt sei. Der Mutter der dort wohnenden Familie hatte er als Stabsarzt kurz vor Weihnachten 1944 bei einer Entbindung beigestanden.
„Die Frau ist mir sehr wohl bekannt“, staunte ich, „sie ist meine Mutter, und das damals geborene Kind ist mein Bruder Arnold.“
„Dann bestellen Sie bitte Ihrer Mutter einen herzlichen Gruß von Dr. Neureuther, ich bin der Vater von Christian Neureuther.“
Christian Neureuther war im alpinen Rennsport einer der erfolgreichsten Athleten der Bundesrepublik Deutschland und ist mit der Olympiasiegerin von 1976, Rosi Mittermaier, glücklich verheiratet. Mit beiden bin ich gut befreundet.
Aber zurück zu den Kriegsjahren. Unser bis dahin relativ ruhiger Alltag im friedlichen Dorfleben sollte sich bald wieder verändern. Die Fenster der Häuser mussten nachts abgedunkelt werden, tagsüber flogen ununterbrochen Flugzeuggeschwader über das Tal. Ein von der „Flak“ getroffener Bomber musste seine gefährliche Last abwerfen und die Bomben, die unweit unseres Hauses fielen, ließen den Boden erzittern. Die Frauen aus unserer Nachbarschaft kamen immer öfter zu meiner Mutter, suchten beieinander Trost und beweinten ihre Männer und Söhne, die gefallen waren. Dafür hatte ich allerdings nur wenig Verständnis: An manchen Tagen war auch ich beim Spielen hingefallen und mir dabei blutige Wunden an Beinen und Händen zugezogen, aber niemand weinte, auch Mutter nicht. Nur ich.
Mit den ersten Schultagen setzte die damals übliche politische Indoktrination ein. „Wer ist unser Führer?“, wollte die Lehrerin als Begrüßung wissen.
„Adolf Hitler ist unser Führer“, mussten wir stehend im Chor antworten. Wer der Größte, der Mächtigste, das höchste menschliche Wesen überhaupt sei, wussten wir allerdings nicht. Wir suchten angestrengt nach Antworten: vielleicht der Vater, der Pfarrer oder etwa der liebe Gott?
Die Lehrerin lief hochrot an und bebend vor Zorn schrie sie uns belehrend an: „Adolf Hitler ist der Größte, Adolf Hitler ist der Mächtigste, Adolf Hitler ist unser Führer!“
Diese unverzeihliche Bildungslücke sollte gebührend bestraft werden und wir mussten eine Stunde nachsitzen.
Dann kamen neue Schüler in die Schule und sie fielen allein schon aufgrund ihrer seltsamen Kleidung auf: schwarze Reithosen, Stiefel und eigenartige Kopfbedeckungen. Meine neue Klassenkameradin hieß Eva. Eva war blond, sehr schüchtern, und ihrem Aussehen und ihrer Sprache nach eine „Reichsdeutsche“. Als Ladiner waren wir nur „Volksdeutsche“.
Eines Tages kam Eva weinend in die Schule und selbst die Lehrerin vermochte sie nicht zu trösten. Auch uns Buben berührte ihr offensichtlich tiefer Schmerz sehr. Sie hätte kein Frühstück bekommen, schluchzte sie. Am nächsten Tag kamen weder Eva noch ihre Geschwister in die Schule und wir haben sie nie wieder gesehen.
Erst Jahre später erfuhr ich mehr über Evas Herkunft und verstand auch die Ursache ihres ergreifenden Weinkrampfes: Adolf Hitler hatte in jenen Tagen Selbstmord begangen, das Dritte Reich war zusammengebrochen und auf dem Reichstag wehte die sowjetische Fahne. Sie erfuhr dies offenbar von ihrer Mutter, denn Eva war die Tochter von Martin Bormann, der seine Familie gegen Kriegsende aus Sicherheitsgründen nach Wolkenstein gebracht hatte.
Martin Bormann war der persönliche Sekretär Adolf Hitlers und Leiter der Partei-Zentrale der NSDAP sowie Reichsminister, somit einer der mächtigsten Männer des Dritten Reichs. Ein internationales Gericht hat ihn 1946 zwar zum Tod durch den Strang verurteilt, doch er ist unauffindbar geblieben. Über seinen Verbleib wurde jahrzehntelang gerätselt, bis 1972 bei Bauarbeiten in der Nähe des Lehrter Bahnhofs in Berlin seine Gebeine gefunden wurden.
Die Familie Bormann bekam in Südtirol unmittelbare Hilfe und Eva hat anonym bis zu ihrem frühen Tod in Südtirol gelebt. Ich bedauere, ihr nie mehr begegnet zu sein.
Die Kinder von „Dableiber“-Familien mussten zunächst separate Klassen besuchen, was uns allerdings nicht daran hinderte, gemeinsam mit den „Optanten“-Kindern die Schule zu schwänzen. Es war viel spannender, den Luftkrieg, der sich auch an unserem Himmel abspielte, im Freien mitzuerleben, als in den dunklen und feuchten Luftschutzschächten, die in kurzer Zeit in den Berg gebohrt worden waren, zu verbringen. Von den tausenden Flugzeugen, die dröhnend über das Tal flogen, wurden allerdings nur die wenigsten getroffen. Eines zerbarst über uns in Flammen und zerschellte in den Bergen, fürwahr ein einprägsames Schauspiel.
Und wieder wurden Gefallene beweint, darunter auch der Sohn unseres Lehrers, den wir Kinder auch aufgrund seines herausragenden Könnens beim Skifahren besonders bewunderten. Franz Dellago war im hohen Norden gefallen. Viele Jahre später habe ich im Landkreis Kirkenes in Norwegen vergeblich nach seiner Grabstätte oder einem Ehrenmal gesucht. Die hier gefallenen Wehrmachtssoldaten seien alle in einem Ehrenmal bei Narvik beigesetzt worden, so der deutsche Generalkonsul von Kirkenes, den ich befragt hatte.
Das jüngste und letzte Kriegsopfer unseres Dorfes war übrigens keine 18 Jahre alt. Sein Vater hatte kurz vor Kriegsende im Gespräch mit einem örtlichen Nazibonzen den Endsieg Adolf Hitlers bezweifelt. Als Strafe wegen „Wehrkraftzersetzung“ wurde tags darauf sein Sohn einberufen. Der Tod des Jungen berührte jedoch unseren strammen Hitler-Getreuen wenig, er verstand sich auch nach dem Zerfall des Naziregimes als Dorfkoryphäe.
Noch ein Zwischenfall der Kriegsjahre ist mir unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Er ereignete sich auf dem Schulweg. Mein älterer Bruder hatte mit dem Sohn von Dableibern einen unter Schulkindern üblichen Streit. Ein Wehrmachtsoffizier, der gerade vorbeikam, wollte den Streit schlichten.
Mein Bruder begrüßte ihn in strammer Haltung und mit nach vorn gestrecktem rechten Arm sagte er: „Heil Hitler, er sagt immer „deutsche Schweine“ zu uns.“
Der Soldat antwortete nicht, zog aber seine Dienstwaffe und zielte auf das Kind. Die Geste sollte als Warnung gemeint sein, doch die Angst fuhr uns allen in die Glieder. Ich sehe heute noch das blasse Gesicht unseres zu Tode erschreckten Schulkameraden vor mir.
Aber auch an einen heiteren Zwischenfall kann ich mich noch gut erinnern. Es war Muttertag, ein Tag, der gemäß den Richtlinien der NSDAP in einem besonders festlichen Rahmen gefeiert wurde. Überaus ehrerbietig lobte man die Frauen, die das Reich und somit Adolf Hitler mit Nachwuchs beschenkt hatten. Im Falle von besonders zahlreichem Nachwuchs wurden sie mit dem „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“ausgezeichnet.
Ein Parteioberer, der zu diesem Anlass aus der Kreisstadt Bozen angereist war, hielt vor den versammelten Frauen und den wenigen in der Heimat verbliebenen älteren Männern eine mit frenetischem Beifall quittierte, flammende Ansprache.
Ein Kleinbauer war von dieser Rede so sehr ergriffen, dass er seinen Freund fragte, mit welchen Worten man einem solch tapferen Patrioten angemessen Anerkennung zollen könne.
Der als Schlitzohr bekannte Freund riet ihm mit ernster Miene „mein Beileid“ zu sagen, das seien in solchen Fällen genau die richtigen Worte.
Der Kleinbauer erhob sich, schritt mit stolzem aufrechten Gang auf den Redner zu, streckte den Arm zum Hitlergruß aus und sprach, tief überzeugt von der eigenen, männlichen Würde, die entscheidenden Worte: „Mein Beileid!“
Der feurige Redner lief knallrot an, während sich die versammelte Gemeinde vor Lachen krümmte.
Und wieder kam Bewegung in unseren Alltag. Bei den Wehrmachtssoldaten herrschte plötzlich reges Treiben. Gewehre und sonstige Feuerwaffen wurden im offenen Gelände verbrannt und die mit schweren Kisten beladenen Lastkraftwagen fuhren talwärts. Nach knapp zwei Jahren nahmen die Wehrmachtssoldaten von Mutter und uns Kindern wehmütig Abschied. Der Krieg war zu Ende.
Aber noch nicht ganz, denn wenige Tage nach Abzug der Wehrmachtssoldaten fuhren wieder Lastfahrzeuge mit schwer bewaffneten Männern vor, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung, also vom Grödner Joch kommend. Diese Männer trugen keine Uniformen, nur die roten Halstücher wiesen sie als Zugehörige einer geschlossenen Einheit aus. Es waren sogenannte Partisanen. Sogenannt deswegen, weil sie aus einem Gebiet angereist kamen, in dem alle bis zum Zerfall des Mussolini-Regimes vornehmlich Duce-getreue Faschisten gewesen waren.
Auf der Suche nach „Nazis“ stürmten sie mit vorgehaltenen Waffen die Häuser, selbst meine alte „Ava“, meine Großmutter, wurde mit der Waffe bedroht. Der Bevölkerung wurde ein knapper Befehl erteilt: Häuser, an denen nicht binnen kürzester Zeit eine italienische Flagge wehte, würden angezündet, in Schutt und Asche gelegt. Aber wer in unserem Dorf hatte schon eine italienische Fahne? Mit einer Ausnahme – unser Haus. Meine Mutter hatte noch vor Kriegsende an ausgebombte italienische Eisenbahner zwei Zimmer vermietet. Unmittelbar nach Eintreffen der Partisanen hissten diese die Trikolore am Fenster der von ihnen bewohnten Räume. Dieser Tatbestand wurde meiner Mutter noch viele Jahre nach Kriegsende als Verrat angelastet und sie wurde als politische Opportunistin beschimpft.
Moralisch bedenklich war jedoch eher das Verhalten einiger junger Damen aus begüterten Familien unseres Dorfes. Zwei Jahre zuvor bespuckten sie auf offener Straße die von der Wehrmacht entwaffneten und gefangen genommenen „Carabinieri“, aber jetzt erheiterten sie die Tanzabende der blutrünstigen Partisanen.
Bald wurde bekannt, dass diese Partisanen der letzten Stunde von einem sogenannten Dableiber in unser Tal gerufen wurden. Er übergab ihnen auch eine Liste mit den Namen jener Optanten, sie sich aufgrund ihrer Hitlertreue während der deutschen Besatzung gegen ihn und seine Familie besonders hervorgetan hätten. Etwa ein Dutzend Männer, die mit diesem Herrn schon vor Kriegsbeginn sowohl politisch als auch geschäftlich in Konflikt geraten waren, wurden gefangen genommen und in das benachbarte Tal verschleppt. Im Keller eines besetzten Hauses wurden sie unter menschenunwürdigen Umständen eingesperrt.
In einem nachträglich verfassten Tagebuch sowie in weiteren Schriften eines Überlebenden dieser Razzia lässt sich nachlesen, wie schwer die Gefangenen misshandelt und gefoltert wurden. Beispielsweise fesselte man jeweils zwei von ihnen mit auf dem Rücken festgebundenen Händen und befestigte sie per Henkersknoten um den Hals an Rohrleitungen, sodass sie mit den Zehen gerade noch den Boden berührten. In dieser Position mussten sie sich gegenseitig beschimpfen und bespucken. Einer von ihnen wurde mit Benzin begossen und angezündet. Seine Kameraden löschten zwar das Feuer, doch die Brandspuren zeichneten sein Gesicht für den Rest seines Lebens.
Fünf Gefangene, darunter auch mein Schullehrer und ein Cousin meiner Mutter, wurden auf einen Lastwagen geladen und abtransportiert. Man wollte sie angeblich in der Nachbarprovinz Belluno aufgrund ihrer Nazi-Zugehörigkeit vor Gericht stellen, so jedenfalls der Vorwand. Auf der nächsten Passhöhe angelangt mussten sie plötzlich aussteigen und sich selbst mit der Schaufel ein Grab ausheben. Dort schoss man sie hinein. Es war der 17. Mai 1945, zwei Wochen nach Kriegsende.
Dank eines Dorfpfarrers der unmittelbaren Umgebung konnten die Überreste der Opfer dieses blinden Hasses Jahre später gefunden, ausgegraben und auf dem heimatlichen Friedhof beigesetzt werden. Gegen die Täter wurde zwar ermittelt und auch ein Gerichtsverfahren eingeleitet. Doch verlief dies ebenso im Sande wie die meisten anderen Verfahren gegen Urheber von Gräueltaten, die als Racheakte nach Kriegsende begangen wurden. Grund hierfür war die zwischen den größten politischen Parteien Italiens vereinbarte Amnestie, dank welcher sich die Verbrecher ihrer Verantwortung entziehen konnten.
Nicht nur über diese grausame Bluttat, über Hunderte von anderen blutigen, hasserfüllten Racheakten, die sich in Italien nach Kriegsende unter dem erhebenden Begriff „Widerstand“ ereigneten, schweigt sich die offizielle Geschichtsschreibung Italiens aus. Mit wenigen löblichen Ausnahmen, wie auch der Historiker und Schriftsteller Paolo Pansa, der in seinem Buch „Das Blut der Besiegten – Il sangue dei vinti“ Dutzende grausamer Racheakte, die Monate und Jahre nach Kriegsende begangen wurden, aufgedeckt und mit stichhaltigem Beweismaterial belegt hat.