Karl-Heinz Leven

GESCHICHTE DER MEDIZIN

Von der Antike bis zur Gegenwart

C.H.Beck


Zum Buch

Die bis heute erzielten, unbestreitbar gewaltigen Erfolge der naturwissenschaftlichen Medizin reichen in manchen Bereichen an die geträumten Wunderoperationen des antiken Heilgottes Asklepios heran. In historischer Perspektive lässt sich diese Entwicklung in den jeweiligen wissenschaftlichen, technischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontext einordnen. Einen anregenden und kompetenten Überblick über diese Aspekte bietet die vorliegende kleine Medizingeschichte. Die historische Perspektive zeigt, dass unabhängig von den erzielten Fortschritten zahlreiche anthropologische Grundfragen der Heilkunde fortbestehen und die Medizin insgesamt eine soziale Wissenschaft ist.

Über den Autor

Karl-Heinz Leven, Mediziner und Historiker, lehrt als Professor für Medizingeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Im Verlag C.H.Beck hat derselbe Autor herausgegeben: Antike Medizin. Ein Lexikon (2005).

Inhalt

Abb.: Antike Elementen-, Qualitäten- und Säftelehre

Abb.: Pablo Picasso, Wissenschaft und Barmherzigkeit

Einleitung

Geschichte(n) der Medizin

Aufgaben der Medizingeschichte

Heilkunst und Heilkult:
Medizin in der Antike

Medizin im Alten Ägypten und in Mesopotamien

Die Aktualität der antiken Medizin

Medizin, Religion und der Traum von Asklepios

Hippokratische Medizin

Byzanz

Medizin im Islam

Von Alexandria nach Bagdad

Scharia, Medizin und Moderne

Mittelalter

Zum Begriff «Mittelalter»

Antike und arabische Tradition

Christentum, Medizin, Hospitalgedanke

Signalkrankheiten

Renaissance

Eine Epochengrenze

Akademische Spitzenforschung

Eine neue Signalkrankheit: Syphilis

Paracelsus

Aufklärung

Eine europäische Philosophie

Medizinische Entwicklungen

Vom Hospital zum Krankenhaus

Gesellschaft, «Medicinische Polizey» und Vakzination

Wende zur Naturwissenschaft –
Medizin im 19. Jahrhundert

Medizinische Konzepte nach 1800
und die Naturwissenschaften

Klinische Medizin und Forscherpersönlichkeiten

Frauenstudium

Medizin, Staat und Erster Weltkrieg

Antisemitismus, Eugenik, Rassenhygiene

Medizin im Nationalsozialismus

Voraussetzungen

Ärzte im «Dritten Reich»

Nürnberger Ärzteprozess und
«Vergangenheitsbewältigung»

Biomedizin

Eine Erfolgsgeschichte

Herausforderungen und Krisen

Seuchen: Ursprung, Ursachen, Bekämpfung

Die «Rache des Regenwaldes»? – Zur Aktualität der «Pest»

Pest: Ereignis und Geschichte

Miasma und Kontagium

Gottesstrafe und Brunnenvergiftung

Spezifische Prophylaxe und Bekämpfung

«Alternative» Medizin

Gegenwartsproblematik und Begrifflichkeit

«Schulmedizin» und «alternative» Heilweisen

Samuel Hahnemann und die Homöopathie

Wunderheilung

Paranormales

Wunderheilungen in der Vormoderne

Bernadette Soubirous und die Anfänge von Lourdes

Medizinisch anerkannte Wunder

Wunderheilung – Wunsch und Wahrnehmung

Humanexperimente

Selbst- und Fremdversuche

«Paternalismus» und staatliche Regelungen bis 1931

Hippokratischer Eid, Nürnberger Kodex
und Genfer Gelöbnis

Hippokrates vor Gericht

Inhalt und Textgeschichte des Hippokratischen Eids

Genfer Gelöbnis und Nürnberger Kodex

Status des Embryos und Schwangerschaftsabbruch

Rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs

Schwangerschaftsabbruch in der abendländischen Geschichte seit der Antike

Schwangerschaftsabbruch und Embryonenschutzgesetz

Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Allgemein

Quellen und Spezialliteratur

Abbildungsnachweis

Namenregister

Abb.: Antike Elementen-, Qualitäten- und Säftelehre

Antike Elementen-, Qualitäten- und Säftelehre

Das dynamische Gefüge von Elementen (Feuer, Luft, Wasser, Erde), Qualitäten, Körpersäften (Blut, Schleim, schwarze Galle, gelbe Galle), Kardinalorganen (Leber, Herz, Gehirn, Milz), Temperamenten, Jahreszeiten und Lebensaltern ist durch das Viererschema wie in einer Momentaufnahme erfasst. Zurückgehend auf die vorsokratische Naturphilosophie und die hippokratisch-galenische Medizin, hat dieses Schema bis weit in die Neuzeit medizinisches Denken und Handeln geprägt.

Abb.: Pablo Picasso, Wissenschaft und Barmherzigkeit

Pablo Picasso (1881–​1973), Ciencia y caridad («Wissenschaft und Barmherzigkeit»), 1897, Picasso-Museum von Barcelona

Der kranken Frau im Bett wendet sich eine Ordensschwester zu, die der Kranken eine Tasse reicht. Auf ihrem Arm trägt sie das Kind der Frau. Auf der anderen Seite sitzt ein Arzt, der, den Blick von der Frau abgewandt auf seine Uhr gerichtet, den Puls der Frau fühlt. Das symbolische Bild zeigt die (natur-)wissenschaftliche Medizin und die auf Barmherzigkeit basierende Krankenpflege, vereint am Krankenbett, in sich ergänzenden Handlungen begriffen. Picasso war 15 Jahre alt, als er das Bild malte.

Einleitung

Das Fach Medizingeschichte ist an den deutschen Medizinischen Fakultäten seit mehr als hundert Jahren verankert. Das 1906 in Leipzig von Karl Sudhoff (1853–​1938) begründete Institut für Geschichte der Medizin war das erste dieser Art und wurde weltweit zum Vorbild. Sudhoff rang permanent mit dem Problem, dass sein Fach innerhalb der naturwissenschaftlichen Medizin als randständig, rückwärtsgewandt und wenig nützlich galt. Ungeachtet seiner in der Fachwelt hoch geschätzten wissenschaftlichen Leistungen (Institutsleitung, Publikationen, Fachzeitschrift [«Sudhoffs Archiv»], Projekte, internationale Kontakte, Kongresswesen) war Sudhoff gelegentlich recht ernüchtert; so schrieb er am 11. August 1918 an seinen Wiener Kollegen Max Neuburger (1868–​1955): «So sehr man das Fach liebt, so packt einen doch manchmal – bei der allgemeinen Geringschätzung – der Gedanke, daß man sein ganzes Leben einer nutzlosen Sache geopfert hat.» (Eulner 1970, S. 437)

Ein Jahrhundert später hat sich die Situation deutlich gewandelt. Die Medizingeschichte ist fester Bestandteil des medizinischen Curriculums. Jede(r) Studierende der Medizin (auch der Zahnmedizin und der Molekularen Medizin) absolviert Pflichtveranstaltungen in Medizingeschichte, so innerhalb des «Querschnittsbereichs Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin». Die Medizingeschichte hat in den vergangenen Jahrzehnten methodisch und inhaltlich den Anschluss an die allgemeine Geschichtswissenschaft vollzogen und zeigt eine innovative Vielfalt; so steht z.B. neben der traditionellen Anatomiegeschichte nun die Körpergeschichte, die diskursive Funktionen von Körperbildern und -vorstellungen untersucht (Eckart / Jütte 2014).

Die vorliegende Darstellung wendet sich an allgemein an der Medizingeschichte Interessierte, insbesondere auch an Studierende der Medizin, die einen kurz gefassten Überblick über die vielfältigen Aspekte der Geschichte ihres Faches suchen. Ziel ist es, diese zunächst chronologisch vom Alten Ägypten bis zur Hightech-Medizin zu umreißen. Diesem chronologischen Teil, der sich für die Moderne auf die deutsche Entwicklung konzentriert, folgt ein systematischer Abschnitt, der im Sinne einer historischen Anthropologie ausgewählte Probleme der Medizin in diachroner Perspektive abhandelt: Umgang mit Seuchen, Problematik der «alternativen» Medizin und der Wunderheilung, Humanexperiment, Bedeutung des Hippokratischen Eides, schließlich Schwangerschaftsabbruch und Status des Embryos. Auf Fußnoten und Quellenbelege wurde weitgehend verzichtet; das Literaturverzeichnis verweist auf Darstellungen zum gegenwärtigen Forschungsstand des Faches.

Die Kürze der Darstellung verlangt Auswahl, im chronologischen ebenso wie im systematischen Teil. Die Hightech-Medizin des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts kann hier nur angedeutet werden. Im Kontext der Humanexperimente wäre die Problematik der Tierversuche darzustellen. Zum Themenfeld Status des Embryos gehört die Geschichte der Reproduktionsmedizin, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die erste Auflage des Buches erschien 2008, die zweite überarbeitete 2017. Die vorliegende dritte ist überarbeitet und im Abschnitt über das Genfer Gelöbnis inhaltlich aktualisiert. Erneut geht ein herzlicher Dank an Dr. Stefan von der Lahr vom Verlag C.H.Beck, den besten Lektor, den ich kenne, und an seine Mitarbeiterin Andrea Morgan. In Erlangen unterstützten mich Prof. Dr. Fritz Dross, Dr. Angelika Kretschmer, Dr. Nadine Metzger, Renate Rittner, Rebecca Roperti, Andreas Thum, Dr. Susanne Ude-Koeller und Nina Vaughn. Den Hinweis auf das Picasso-Bild verdanke ich Rosemarie Leven.

Gewidmet ist der kleine Band meinem lieben akademischen Lehrer Professor Dr. med. Eduard Seidler, Kinderarzt und Medizinhistoriker in Freiburg, zu seinem 90. Geburtstag im April 2019.

Erlangen, im Januar 2019

KHL

Geschichte(n) der Medizin

Der Begriff «Medizin» ist ausgesprochen vielgestaltig. Er umfasst das professionelle Denken und Handeln von (approbierten) Heilern in ihrer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedingtheit ebenso wie das (praktische) Wissen um Gesundheit und Krankheit, weiterhin Konzepte, die auf empirischer Beobachtung ebenso beruhen wie auf philosophischen Theorien. Im gesellschaftlichen Kontext meint Medizin alle Aktivitäten und Überlegungen, die sich auf Gesundheit und Krankheit beziehen, d.h. nicht nur diejenigen der als «Ärzte» bezeichneten Personen. Kulturgeschichtlich gesehen, gehören Religionen und Ideologien ebenfalls zur Medizin. Auf einer abstrakteren Ebene spielen Macht und Gruppeninteressen eine Rolle: von Ärzten und Patienten, von Institutionen und Strukturen (Universitäten, Fakultäten, Kirchen, Versicherungen, pharmazeutischen Unternehmen, staatlichen Institutionen).

Die (wissenschaftliche) Medizingeschichte hat in der modernen naturwissenschaftlich geprägten Medizin eine besondere Aufgabe: die geisteswissenschaftliche Selbstreflexion und Ortsbestimmung einer in raschem Wandel begriffenen Disziplin. Damit trägt die historische Wahrnehmung zum Selbstverständnis der Medizin bei und ist geeignet, gegenwärtige Phänomene in ihrer Entwicklung und Kausalität darzustellen und zu analysieren. In historischer Perspektive wird die von vielen Zeitgenossen geteilte Anschauung, die gegenwärtige Medizin sei die beste und einzig denkbare, relativiert. Dies betrifft insbesondere die für die moderne Medizin wesenhafte Vorstellung des «Fortschritts». Zweifellos hat die naturwissenschaftliche Medizin seit dem späten 19. Jahrhundert enorme Fortschritte zu verzeichnen; die Heilkunde früherer Epochen mag von heute aus gesehen rückständig oder gar absurd, bestenfalls als Vorstufe der modernen erscheinen. Es ist jedoch unhistorisch, die Geschichte der Medizin von heute her und (nur) unter dem Aspekt des Fortschritts zu betrachten.

Die Medizin hat sich, seitdem sie in der Antike als schriftliche «Kunst» (griech. techne, lat. ars) in Erscheinung trat, mit ihrer Geschichte befasst. In der gesamten «Vormoderne», die im Blick auf die Medizin von der Antike bis gegen 1800 reicht, gehörte die Tradition untrennbar zur jeweiligen Gegenwart. Die meisten Mediziner glaubten über viele Jahrhunderte, die überlieferten Autoritäten nicht übertreffen, sondern bestenfalls einholen zu können. Als der französische Philosoph und Mediziner Emile Littré (1801–​1881) im Jahr 1839 begann, die dem «Vater der Medizin», Hippokrates, zugeschriebenen Schriften, das sog. Corpus Hippocraticum, herauszugeben, fügte er dem griechischen Originaltext eine französische Übersetzung bei, damit zeitgenössische Ärzte diese Texte lesen und für ihre eigene Praxis nutzen könnten. Als 1861 der zehnte Band seiner Hippokrates-Ausgabe erschien, hatte die Medizin inzwischen eine dramatische Wende zur Naturwissenschaft vollzogen. Hippokrates und die vormoderne Medizingeschichte entrückten in einen musealen Bereich, den die neue Medizin gerne den Philologen und Historikern überließ.

Das Ausscheiden der Medizingeschichte aus dem Diskurs der naturwissenschaftlichen Medizin bewirkte allerdings auch eine Professionalisierung des Faches: nach 1900 entstanden, ausgehend von Deutschland, Lehrstühle an den Universitäten, ferner Fachgesellschaften und Fachzeitschriften für Geschichte der Medizin. Seither ist auch das akademische Fach Medizingeschichte ständig herausgefordert, seine Existenzberechtigung zu begründen.

Über Jahrzehnte, bis gegen 1970, waren die Medizinhistoriker überwiegend historisch interessierte Ärzte; ihr Hauptinteresse galt der Entwicklung des medizinischen Denkens, den prägenden ärztlichen Gestalten und der Geschichte von Entdeckungen. Diese Medizingeschichte von Ärzten für Ärzte fügte sich in das Fortschrittsdenken der naturwissenschaftlichen Medizin ein. Medizinhistoriker waren bereit und in der Lage zu zeigen, dass die Medizin des 20. Jahrhunderts einen unbezweifelbaren Höhepunkt der Entwicklung darstellte – mit ständiger Aussicht auf weiteren Fortschritt. Diese Sichtweise war zwar nicht «falsch», neigte aber zu unhistorischen Werturteilen. Seit den 1970er Jahren orientiert sich die professionelle Medizingeschichte am Standard der allgemeinen Geschichtswissenschaft; zahlreiche Medizinhistoriker der Gegenwart sind in erster Linie ausgebildete Historiker, und die Sozialgeschichte der Medizin ist zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand geworden. In deutlicher Abkehr von der früheren «Heroengeschichte» untersucht die Sozialgeschichte der Medizin Fragen von Macht und Chancenungleichheit im historischen Kontext.

Aufgaben der Medizingeschichte

Gegenstand der naturwissenschaftlichen Medizin sind objektivierbare Befunde, die am Patienten (oder an von ihm stammenden Proben vielerlei Art) erhoben werden. Das seit 1858 dominante medizinische Konzept (Zellularpathologie, verfeinert zur Molekularmedizin im 20. Jahrhundert) misst dem subjektiven Krankheitserleben vergleichsweise geringe Bedeutung bei. Andere Dimensionen von Gesundheit und Krankheit (soziale, religiöse, ökonomische) sind zwar gesellschaftlich und gelegentlich professionspolitisch außerordentlich wichtig, in der universitären Lehre spielen sie jedoch kaum eine Rolle.

Die neuzeitliche Geschichtswissenschaft ist Leitdisziplin des universitären Faches «Medizingeschichte»; ihr Gegenstand ist die Medizin, ihre Methoden sind historisch. Geschichte ist, so eine gängige Definition, «nicht ein maßstabsgerecht verkleinertes Modell der Vergangenheit, sondern ein mentales Phänomen, nämlich präsente und relevante Vergangenheit in narrativer Struktur mit erklärendem und sinnstiftendem Charakter» (Jordan 2002, S. 104). Geschichte, gleich welcher Thematik, hat demnach stets einen Gegenwartsbezug; dies gilt für esoterisch erscheinende Themen (Medizin im Alten Ägypten) ebenso wie für zeithistorische Themenfelder (NS-Medizin, Geschichte der Gesundheitspolitik nach 1945).

Die Frage, ob man aus der Geschichte lernen könne, wird von Historikern eher verneint: «Die Geschichte lehrt uns nicht, was wir tun sollen, wohl aber, womit wir rechnen müssen.» (Demandt 1997, S. 9)

Die Medizingeschichte trägt zum Verständnis der Gegenwart und aktueller Entwicklungen bei. Sie stellt gleichsam die Anamnese der heutigen Medizin, zeigt Knotenpunkte der Entwicklung, Wege und Irrwege. Da medizinisches Denken und Handeln sog. «anthropologische Konstanten» wie die Begegnung von Arzt/Heiler und Krankem, den Umgang mit chronischer, ansteckender oder psychischer Krankheit, Gender-Fragen u.a. umfassen, ergeben sich aus der Kenntnis der Geschichte interessante Analogien zwischen verschiedenen Epochen. So tritt die Professionalisierung der Ärzte im 19. Jahrhundert umso deutlicher hervor, wenn man im Vergleich hierzu den heterogenen «Heilermarkt» der Vormoderne betrachtet. Ein Vergleich der Gesundheitspolitik im Kampf gegen die Syphilis um 1900 mit derjenigen im Kampf gegen AIDS seit den 1980er Jahren zeigt die charakteristischen Übereinstimmungen und Unterschiede in der Auffassung einer sexuell übertragbaren Krankheit. Schließlich ist die heute sog. «Fortschrittsfalle», die als ökonomisches Problem wahrgenommen wird, ein Analogon zu der um 1900 grassierenden «Degenerationsangst», wonach die mit neuem Selbstbewusstsein auftrumpfende naturwissenschaftliche Medizin fürchtete, durch ihre heilenden und lindernden Eingriffe Krankheiten geradezu zu züchten.

Die Medizingeschichte hat die Aufgabe, Medizin(en) in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext zu erfassen und zu deuten. Sie geht hierbei stets selektiv vor; indem sie problematisiert, hat sie eine analytische Funktion und dient, anders als die Medizinethik, nicht dazu, gegenwärtige Zustände oder Entwicklungen zu begründen oder zu rechtfertigen. Die Medizingeschichte ist ein Instrument zur kritischen Wahrnehmung der sozialen Dimension der Heilkunde.

Heilkunst und Heilkult:
Medizin in der Antike

Medizin im Alten Ägypten und in Mesopotamien

Die ägyptische Kultur, deren mythisches Alter bereits in der griechischen Antike bestaunt wurde, stand in vielen Bereichen in einer Wechselbeziehung mit den Kulturen im östlichen Mittelmeerraum. Dies gilt für die Bronzezeit (minoische und mykenische Kulturen), die sog. Archaische Zeit Griechenlands und für die spätere «klassische» Welt im 5. Jahrhundert v. Chr.; Quellen für unsere Kenntnis der ägyptischen Heilkunde sind neben medizinischen Geräten, bildlichen Darstellungen und Inschriften insbesondere auf Papyri überlieferte medizinische Texte. Eine für Ägypten einzigartige Quelle sind die Mumien, die sich, begünstigt durch klimatische Umstände, in großer Zahl erhalten haben. An ihnen lassen sich mittels der Paläopathologie Krankheitsbefunde nach modernen naturwissenschaftlichen Kriterien erheben, so etwa die Krankheitszeichen der Lepra und der Tuberkulose. Seit einigen Jahren versucht man, molekularmedizinisch die Erreger von Infektionskrankheiten, etwa Diphtherie, nachzuweisen. Abgesehen von vielfältigen technischen Problemen im Umgang mit sog. «ancient DNA» schafft der Nachweis moderner Krankheitseinheiten an Mumien nicht historische, sondern medizinische Erkenntnis. Da im Alten Ägypten andere Konzepte galten als in der modernen Medizin, ist es nahezu unmöglich, zwischen der gelungenen Identifikation eines Falls von Tuberkulose an einer Mumie und den in ägyptischen medizinischen Texten geschilderten Krankheitsbildern eine Brücke zu schlagen. Hinzu kommt, dass naturwissenschaftlich abgesicherte Diagnosen stets nur Einzelfälle betreffen und keineswegs die Epidemiologie einer Krankheit im Alten Ägypten abbilden.

Die seit der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. erhaltenen Fachtexte der ägyptischen Medizin sind größtenteils Rezepte bzw. chirurgische Abhandlungen. Die Rezepte sind gegliedert in Symptome, Diagnose, Behandlung; Letztere bestand aus magischen Ritualen, pragmatischen Verrichtungen und Arzneimittelgaben. Eine für moderne Betrachter naheliegende Scheidung von «magischer» und «empirischer» oder «rationaler» Medizin ist weder möglich noch sinnvoll. Innere Krankheiten wurden in der ägyptischen Medizin auf das Wirken von Dämonen zurückgeführt und mit entsprechenden Ritualen angegangen. Hinzu kam das Konzept von schädlichen Schmerz- und Schleimstoffen, die Kanäle im Körper blockierten und mit Abführmitteln bekämpft wurden. Hierfür war vermutlich die Analogie zu den in Ägypten wichtigen Bewässerungskanälen maßgeblich. An Heilmitteln wurden mineralische, pflanzliche und tierische Stoffe verwendet. Die ägyptische Medizin kam ohne Anatomie aus; die Praktik der Mumifizierung war – gegen das Zeugnis des Alten Testaments (Gen 50,2) – keine ärztliche Aufgabe, sondern wurde von spezialisierten Einbalsamierern vorgenommen.

Zeitlich parallel zur ägyptischen entwickelte sich die mesopotamische Medizin, die durch keilschriftliche Texte auf (gebrannten) Tontafeln seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. reich belegt ist. Ähnlich der ägyptischen war auch die mesopotamische Heilkunde aus magischen und empirisch-«rationalen» Elementen zusammengesetzt; die Tätigkeiten von «Arzt» (asu) und «Beschwörer» (ashipu) ergänzten einander und waren nicht eindeutig voneinander getrennt. Als Heilmittel wurden Pflanzen, Mineralien und tierische Substanzen verwendet. Spezifisch für die mesopotamische Medizin war die sog. «Dreckapotheke», die (vermeintliche) Verwendung ekelerregender menschlicher und tierischer Exkremente und Sekrete. Tatsächlich dürfte es sich um Tarnbezeichnungen für geheim gehaltene Ingredienzien gehandelt haben, was bereits in der griechisch-römischen Antike nicht mehr bekannt gewesen zu sein scheint. Für die mesopotamische Medizin sind chirurgische Eingriffe an der Körperoberfläche und die Behandlung von Frakturen, weiterhin Schädeltrepanationen bezeugt.

Zwischen der ägyptischen, mesopotamischen und hethitischen Medizin bestand über viele Jahrhunderte ein inhaltlicher und personeller Austausch; die achämenidischen Könige des Perserreichs des 6./5. Jahrhunderts v. Chr. beschäftigten ägyptische Hofärzte, die nach einer von Herodot (ca. 485–​425 v. Chr.) erzählten Episode (3, 132) gegen den griechischen Arzt Demokedes von Kroton (um 500 v. Chr.) spektakulär unterlagen. Hervorzuheben ist, dass die griechische Medizin des 5. Jahrhunderts v. Chr. inhaltliche und formale Parallelen zur mesopotamischen Medizin zeigt, die den engen kulturellen Kontakt zwischen dem Vorderen Orient und der Mittelmeerwelt erweisen. Die mit dem Namen des Hippokrates verbundene Heilkunde ist daher keine losgelöste Neuschöpfung, sondern beruht teilweise auf dem Kulturtransfer aus der älteren mesopotamischen Welt. Unbestreitbar ist allerdings, dass es neben diesen tradierten Elementen genuin griechische Anteile einer neuen, bis heute ausstrahlenden Medizin gab.

Die Aktualität der antiken Medizin

Wenn im abendländischen Kontext von «antiker Medizin» die Rede ist, so ist stets die griechische Heilkunde gemeint, deren prägende Kraft bis heute anhält. Das deutsche Wort «Arzt» leitet sich von dem griechischen archiatros («Erzarzt», Titel für antike Hofärzte) ab. In der Terminologie der naturwissenschaftlichen Medizin werden überwiegend griechische und lateinische Begriffe verwendet, darunter solche, die bereits in der Antike in einer medizinischen Bedeutung begegnen (Beispiel «Nephritis», aus nephros, «Niere», und dem Suffix -itis, «Entzündung»); andere Wörter sind synthetisch aus griechischen (und/oder lateinischen) Wortstämmen jüngst erschaffen worden (z.B. «Lithotripsie», [Nieren-]«Steinzertrümmerung»). Latein und Griechisch sind ihrer Eindeutigkeit wegen geeignet, als Gerüst für die Fachsprache zu dienen, die an die lebenden Weltsprachen, insbesondere Englisch, anschlussfähig ist. In der gegenwärtigen klinischen Terminologie entstehen ständig englische Begriffe, die in fast all ihren Bestandteilen auf lateinische und griechische Wortstämme zurückgehen, darunter viele Hybridbildungen, z.B. das Akronym AIDS für «Aquired Immune Deficiency Syndrom».

Ein weiterer Grund der westlichen Medizin, die Sprachen der Antike weiter zu benutzen, liegt in der (un-)ausgesprochenen Verankerung der naturwissenschaftlichen Medizin in der Tradition; die Namen «Hippokrates» und «Aesculap» haben einen mythischen Beiklang, der auch im Rahmen eines Kongresses zur molekularen Medizin gelegentlich gut tönt und sich ferner für die Vermarktung von Heilweisen oder -produkten eignet. Diese Rückbesinnung auf eine – meist idealisierte Vergangenheit – zeigt Hoffnungen und Wünsche, die nicht quantifizierbar oder im Kernspintomogramm abbildbar sind. Die fortschrittsorientierte hochtechnisierte Medizin zeigt, ungeachtet ihrer notwendigerweise (latent) vorhandenen Geringschätzung «überholter» Theorien und Heilweisen, ein Bedürfnis nach Traditionen und überlieferten Werten.

Medizin, Religion und der Traum von Asklepios

In der griechischen Antike finden sich in den frühesten Quellen (Homer, Ilias und Odyssee, 8./7. Jahrhundert v. Chr.; Hesiod, 7. Jahrhundert v. Chr.) enge Verbindungen zwischen Medizin und Religion. Krankheiten und plötzlicher (Seuchen-)Tod wurden dem strafenden Eingreifen von Göttern zugeschrieben; Abwehrmittel waren Bußrituale, als Experten wurden Traumdeuter und Seher herangezogen. Demgegenüber war eine praktisch orientierte, vom Arzt (griech. iatros) betriebene Medizin für Verletzungen und äußerlich sichtbare Erkrankungen zuständig. Mit dem Aufkommen der naturkundlichen «hippokratischen», d.h. auf den Arzt Hippokrates von Kos zurückgeführten Medizin im 5. Jahrhundert v. Chr. wandelte sich das Bild. Die hippokratische Medizin entwickelte, aufbauend auf den spekulativen Theorien der ionischen Naturphilosophie, Erklärungsmodelle für Gesundheit und Krankheit. «Anblick der nichtoffenkundigen sind die erscheinenden Dinge» (ὄψις γὰρ τῶν ἀδήλων τὰ φαινόμενα [opsis gar ton adelon ta phainomena]) – entsprechend diesem Motto (Kirk / Raven / Schofield 1994, S. 419) des Philosophen Anaxagoras (ca. 500–​428 ​v. Chr.) erklärten hippokratische Ärzte (unsichtbare) Körpervorgänge über Analogien, etwa durch den Vergleich der Verdauung mit einem Kochungsprozess. Diese hochspekulative medizinische Theorie verband sich mit Empirie und praktischem Heilwissen.