MICHAEL LÜDERS

DIE SPUR DER
SCHAKALE

Thriller

C.H.Beck

Zum Buch

An einem eiskalten Osloer Wintermorgen liegt im Vorgarten von Berit Berglund, Chefin der Geheimdiensteinheit E 39, eine grotesk drapierte Leiche: Hauke Ingstad, stellvertretender CEO von «Nordic Invest», dem größten Staatsfonds der Welt. Als auch der Leiter des norwegischen Rechenzentrums Green Valley, Erling Opdal, tot aufgefunden wird, verdichten sich die Anzeichen, dass es jemand auf das Vermögen und den Datenschatz des ganzen Landes abgesehen hat. Welche Fäden zieht der amerikanische Investmentfonds «BlackHawk» bei diesen Machenschaften, was hat die kalifornische Datenkrake «Elendilmir» mit den Morden zu tun? Mit ihrem Team, der deutschen Journalistin Sophie Schelling, die sich vor dem Zugriff der NSA nach Oslo gerettet hat, und Harald Nansen, einem Geheimpolizisten pakistanischer Herkunft, nimmt Berit Berglund die Jagd auf, die bis in höchste Polizei- und Regierungskreise führt. Michael Lüders hat einen packenden, schockierend realistischen Politthriller geschrieben: Wer wissen will, wer die Welt regiert, muss nur der Spur des Geldes folgen.

Zum Autor

Michael Lüders, Autor und Orientalist, war lange Jahre Nahost-Korrespondent für DIE ZEIT, ist Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft und Islamexperte für Hörfunk und Fernsehen. Er hat bislang fünf Romane und einen Erzählungsband sowie eine Vielzahl von Sachbüchern veröffentlicht. Zuletzt erschien bei C.H.Beck Armageddon im Orient (32019).

Inhalt

I.

II.

III.

Für meinen Sohn Marlon
Mögest Du Leonard Cohen für Dich entdecken

Die folgende Geschichte ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder tatsächlichen Begebenheiten waren nicht beabsichtigt, aber unvermeidlich.

There is a crack in everything.
That’s how the light gets in.

Leonard Cohen

I.

Grauweiße Wolken zogen tief über die verschneite Hügellandschaft, türmten sich auf zu Gebirgen, zeichneten Fratzen und Figuren, windumtost im Werden und Vergehen. Matt das Himmelsblau, umspült von wattegleichen Eiskristallen, fahl erleuchtet von dünnen, hin und wieder aufscheinenden Sonnenstrahlen, die ihren Weg suchten im Dunkel des winterlichen Nordens.

In ruhigen Zügen atmete Sophie die klare Luft ein, sah in die weite, doch nicht unermessliche Ferne. Menschenleer war die Gegend, unregelmäßig gesäumt von Birken, Tannen und Kiefern, manchmal verdichtet zu kleinen Waldgebieten. Sie spürte die Kälte, die langsam von ihr Besitz ergriff, und beschloss, nach Røros zurückzukehren. Es gab keine Loipen, und der dichter werdende Schneefall würde bald schon alle Spuren verwischen. Fast jeden Morgen zog es sie hinaus in diese unberührt anmutende Natur und mehr noch in die fast vollkommene Stille, die sie umgab. Allein das knirschende Gleiten der Skier über den Schnee drang an ihr Ohr, manchmal der peitschende Wind, und sie empfand Ruhe und Frieden.

Sophie glitt einen langgezogenen Hang hinunter, wobei die Spitzen der Skier sich berührten, einem Pflug nicht unähnlich. Kinder, die diese Bremstechnik lernten, wussten meist nicht mehr, wie ein Pflug aussieht. Also lehrte man sie zu fahren, wie ein Stück Pizza geschnitten wird, wie ein V. Daran musste sie denken und lächelte innerlich, bevor sie unvermittelt eine Vollbremsung machte. Sie glaubte, etwas gesehen zu haben. Zu ihrer Rechten lag eine kleine Ansammlung knorriger, kurzstämmiger Birken, fast verschwunden unter schwerem Schneedach, zu ihrer Linken weite, offene Tundra. Dort entdeckte sie, keine hundert Meter entfernt, inmitten dichten Schneetreibens eine Gruppe äsender Rentiere. Normalerweise würden die scheuen Tiere den Menschen wittern und die Flucht ergreifen, aber der Wind kam aus der Gegenrichtung.

Plötzlich zerriss ein Schuss die Stille. Eines der hellbraunen Rene sackte in sich zusammen, die übrigen stoben in alle Richtungen. Erneut fielen Schüsse, zwei weitere Tiere gingen zu Boden. Wieder Stille, einzelne Rufe. Sophie duckte sich, versuchte die Lage zu erfassen. Drei Männer stapften durch den Schnee, in Richtung der erlegten Rene. Sie trugen Schneeschuhe und hatten ihre Jagdwaffen geschultert. Sie kamen von halbrechts, aus Richtung der Piste. Sophie schlug vorsichtig einen weiten Bogen, um nicht gesehen zu werden. Nach etwa einem Kilometer stieß sie auf den Forstweg, der allein hier hinauf führte. Die Reifenspuren waren nicht zu übersehen. Sie folgte ihnen und entdeckte hinter einer Kurve das dazugehörige Fahrzeug, einen roten Pick-up. Zwei junge Kerle vertraten sich frierend und rauchend vor dem Pritschenwagen die Füße, schlugen wiederholt die Arme um ihre Brust. Die Polizei zu verständigen erschien sinnlos, bis die eintraf, wären sie über alle Berge. Außerdem gab es hier keinen Handyempfang. Sophie schnallte die Skier ab und klemmte sie unter ihre Arme. Ruhigen Schrittes begab sie sich zu den Männern, grüßte freundlich, schon aus größerer Entfernung. Die beiden starrten sie an, einer warf seine Zigarette weg. Als Sophie sie erreichte, fragte der: «Na, Mädchen, ist dir gar nicht kalt, so ganz allein? Wenn du willst, können wir dich gerne wärmen.»

Unter der Plane des Geländewagens entdeckte Sophie ein totes Rentier. «Danke für das Angebot, aber ich komme klar. Was machen denn zwei so gutaussehende Jungs ganz alleine im Schnee? Tote Tiere begraben?»

«Ja, wir sind Naturfreunde. Wir baden auch im Winter nackt im Freien.»

Sophie sah das Jagdgewehr auf dem Beifahrersitz. Sie ließ ihre Skiausrüstung zu Boden fallen, ergriff aber den rechten Ski mit beiden Händen. Den schlug sie demjenigen der beiden an den Kopf, der im Begriff stand, die Beifahrertür zu öffnen. Die Wucht des Schlages reichte aus, ihn auf die Motorhaube zu schleudern, von wo er reglos in den Schnee glitt. Ohne den anderen aus den Augen zu lassen, griff sich Sophie das Gewehr. Es war geladen. Der Kerl, der ihr gegenüberstand und ohne seinen großmäuligen Kumpan kindlich wirkte, war höchstens Mitte zwanzig. Er hatte schlechte Zähne und roch nach Alkohol.

«Ihr wisst, dass keine Jagdzeit für Rene ist?»

Der Mann nickte.

«Die Rene hier sind keine Wildtiere, das wisst ihr auch?»

Er blickte zu Boden.

«Ihr wildert auf Kosten der Samen, die deren Eigentümer sind.»

«Das Land hier gehört nicht den Kanaken!»

«Dir aber auch nicht, Klugscheißer. Ich will eure Ausweise, von dir und dem da.»

«Hab ich nicht dabei.»

«Entweder bekomme ich eure Ausweise oder ihr zieht euch beide aus und ich nehme eure Klamotten mit. Ich zähle bis zehn. Eins, zwei …»

Bei acht hatte sie die Papiere. Sie warf ihre Skiausrüstung nach hinten, zu dem toten Rentier. Langsam und stöhnend erhob sich der Bursche im Schnee. Den anderen hielt sie mit einer Bewegung des Gewehrs auf Abstand. Glücklicherweise steckte der Zündschlüssel. Sie fuhr rückwärts, bis sie eine geeignete Stelle zum Wenden fand. Keinen Moment zu früh, denn die übrigen Wilderer hatten mit einem weiteren erlegten Rentier den Forstweg erreicht. Im ersten Moment mochten sie geglaubt haben, ihre Kumpel kämen ihnen entgegen. Sophie lächelte und grüßte mit erhobenem Gewehr, als sie an ihnen vorbeischoss. Im Rückspiegel sah sie, wie einer der Männer auf sie anlegte, ein anderer aber dessen Arme in Richtung Boden niederdrückte. Sie stieß auf die Hauptstraße und fuhr zur Polizeistation in Røros.

Hauke Ingstad irrte unruhig von einer Bushaltestelle zur anderen, den Hauptbahnhof von Oslo in Sichtweite. Die klirrende Kälte drohte ihn zu lähmen. Kopf und Gesicht aber wollte er nicht bedecken. Wie ihn ausfindig machen, in dem Fall? Er gab vor, die Fahrpläne der Bus- und Straßenbahnlinien zu studieren, richtete dabei seine Blicke auf das Umfeld, suchte nach dem vertrauten Gesicht unter vorbeihastenden Passanten oder frierend an den Haltestellen Wartenden. Seit mehr als einer Viertelstunde war der Amerikaner überfällig, und Ingstad beschlich das ungute Gefühl, dass er nicht mehr kommen würde. Wenn sein Vertrauter der Verabredung fernblieb, hatte er seine Gründe. Gute Gründe, die eigene Sicherheit vermutlich. Auf keinen Fall durften sie auffliegen. Hier aber waren sie beide gut aufgehoben, unter Menschen, anonym.

Nichts. Als Ingstad sich zum Gehen wandte, spürte er einen kurzen, stechenden Schmerz an seinem Hals, vergleichbar einem Wespenstich. Er fasste dorthin, konnte aber nichts entdecken. Merkwürdig, dachte er, und bestieg die Straßenbahn, mit der er in Richtung Zentrale fuhr, zu Nordic Invest.

Die Männer betraten die «Fjellstua» zu viert, ein Restaurant im beschaulichen Zentrum von Røros, das einen exzellenten Ruf genoss und im Sommer Feinschmecker in Scharen anzog, weit über Mittelnorwegen hinaus. Sophie war gerade dabei, die Tische einzudecken. Es war noch früh, kurz nach Mittag, das Restaurant öffnete erst um 18 Uhr. Dennoch war die Tür nicht verschlossen, wie so häufig im arglosen Norden.

«Wir haben geschlossen», rief sie den Männern zu, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

«Du wirst doch einen alten Freund nicht zurückweisen.» Sie erkannte die Stimme sofort und sah auf. Der Sprecher durchbohrte sie mit Röntgenaugen. Natürlich tat er das – die Tür offen, Sophie unaufmerksam. Leichtsinn, der an Dummheit grenzte.

«Hallo Steinar. Hast du Hunger? Führst du deine Brigade aus?», fragte Sophie.

Steinar Kristiansen. Ehemals Elitesoldat, jetzt einer der härtesten Ausbilder im norwegischen Geheimdienst PST. Ihr Führungsoffizier in den ersten Monaten. Ein Dreckskerl, der alle Tricks kannte, um Menschen zu brechen.

«Was kannst du uns denn Schönes machen?» Seine Begleiter weiteten die Münder, bis sie beinahe von einem Ohr zum anderen reichten.

«Am Besten, ihr macht es euch selbst», erwiderte Sophie und zeigte auf die Küche. «Eier, Schinken und Zwiebeln findet ihr in der Kammer. Bei den Spaghetti könnt ihr euch ebenfalls bedienen. Ansonsten kann ich euch eine Tischreservierung für den Abend empfehlen, allerdings sind wir heute ausgebucht.»

Kristiansens voller, gelockter Blondschopf ließ ihn trotz seiner fast fünfzig Jahre jungenhaft erscheinen. Seine prankenartigen, wettergegerbten Hände zeugten von Tatkraft. Sein Gesicht war nicht schön, hinterließ den unbestimmten Eindruck, deformiert zu sein, was es möglicherweise auch war: ein Spiegelbild seiner Innenwelt. Die stahlblauen Augen wirkten einschüchternd, er lächelte nie.

«Eier, das ist gut», sagte er. «Die gibt es heute viel zu selten.»

Kristiansen mochte keine Frauen, das wusste jeder. Sophie respektierte er. Sie hatte die Grundausbildung im Nahkampf mit Auszeichnung bestanden. Und sie war eine hervorragende Schützin. Außerdem fiel es ihr schwer, Anweisungen zu befolgen. Auch das hatte sie mit ihm gemein.

«Setz dich», forderte er Sophie auf. «Du siehst mitgenommen aus. Machst du dir etwa Gedanken wegen der verdammten Wilderer?»

«Schlimmstenfalls hätte ich auf sie schießen müssen.»

«Und wenn schon. Es hätte nicht die Falschen getroffen.»

Einer aus der Truppe reichte ihm eine Mappe mit Fotos. Kristiansen legte sie Aufnahme für Aufnahme vor ihr auf den Tisch, wie ein Pokerspieler sein Blatt. Sie zeigten einen Mann im Schnee liegend. Bekleidet nur mit Hemd und Hose sowie einer Krawatte. Er trug weder Schuhe noch Strümpfe. Auf dem Mund, den Augen und den Nasenlöchern waren kleinere Ansammlungen vereisten Schnees zu erkennen. Keine Frage, der Mann war erfroren.

«Weißt du, wer das ist?», fragte Kristiansen.

«Nein.»

«Hauke Ingstad, die Nummer zwei von Nordic Invest.»

«Dem norwegischen Pensionsfonds?»

«Dem größten Staatsfonds der Welt, ja. Mit einem Vermögen von rund 950 Milliarden Dollar.»

Er sah Sophie erwartungsvoll an, als rechne er mit einem Zeichen der Anerkennung.

«Tja», fuhr er fort. «Vorgestern entführt, gestern frühmorgens aufgefunden. Und jetzt rate mal, wo.»

Sophie verzog keine Miene.

«Im Garten deiner Freundin Berit Berglund. In Bygdøy, Oslos schönstem Villenviertel. Ruf sie an, wenn du mir nicht glaubst. Ich bin nur der Überbringer der Botschaft.» Er machte eine kurze, effektvoll gesetzte Pause. «Jedenfalls – wie es aussieht, sind deine ruhigen Tage hier vorbei. Das hier ist euer Ding. Jetzt kannst du zeigen, was du draufhast.»

Den polizeilichen Untersuchungsbericht ließ er auf dem Tisch liegen.

Der Mann hatte sich als Pizzabote ausgegeben und mit der Frau am Empfang ein paar Worte gewechselt. Die wies ihm daraufhin den Weg zum Fahrstuhl. In der zweiten Etage eilte er ins Vorzimmer des Generaldirektors von Nordic Invest. Ohne die beiden anwesenden Sekretärinnen zu beachten, stieß er die Tür des Tagungsraumes auf. Dort hatte sich kurz zuvor die Chefebene zu einer Besprechung eingefunden. Bei ihrer Befragung erklärten die Teilnehmer später, der Mann habe den Pizzakarton in eine Ecke geschleudert und sei zielstrebig auf den stellvertretenden CEO Hauke Ingstad zugesteuert. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, habe der Eindringling eine Pistole aus der Innentasche seines Overalls gezogen, eher beiläufig, ohne sie auf jemanden zu richten. Mit der anderen, freien Hand packte er Ingstad an der Krawatte und zerrte ihn vom Stuhl, zog ihn anschließend in Richtung Tür hinter sich her. Die Krawatte wurde dabei zum Strick, so dass sein Opfer nur röchelnde Laute von sich geben konnte. Die übrigen Anwesenden gaben nachfolgend zu Protokoll, Ingstad habe ungewohnt apathisch gewirkt, die ganze Zeit schon, als hätte er unter Drogen gestanden. Die Vorstandsrunde verharrte in einer Art Schockstarre, einzig ein Wagemutiger sprang auf und rief: «Was soll das?!» Der Unbekannte richtete daraufhin seine Waffe erst auf ihn, dann auf Ingstad. Niemand regte sich, bevor nicht beide, Täter und Opfer, entschwunden waren.

Die Bänder der Überwachungskameras zeigen, dass sie auf ihrem Weg in die Tiefgarage noch mehreren Personen begegnet sind. Man sieht, wie sie irritiert innehalten. Einer der Befragten erklärte, er habe an einen Scherz geglaubt, eine verlorene Wette oder dergleichen. Einzig eine Frau, gerade aus ihrem Wagen gestiegen, fragte lautstark: «He, was ist hier los?» Daraufhin, so ihre spätere Aussage, sei der Mann an sie herangetreten, ohne seinen Würgegriff bei Ingstad zu lockern. Er habe sie schweigend fixiert. Mehr nicht. Eine solche Aura – das hätte sie noch nie erlebt. So unerbittlich und furchteinflößend, ohne ein einziges Wort! Sie beschrieb ihn als Mittvierziger, «schattig das Gesicht, mit groben Poren». Nähere Angaben konnte niemand machen, auch die Videoaufnahmen waren keine Hilfe, da er sein Gesicht mit Hilfe einer Schirmmütze gut zu verbergen wusste. Passend zur weißroten Arbeitskleidung, der eines bekannten Lieferservices.

In der Tiefgarage hatte der Entführer Ingstad gezwungen, sich in den Kofferraum eines weißen Volvo-Kombis zu zwängen. Anschließend verlor sich das Auto im Stadtverkehr von Oslo.

Laut gerichtsmedizinischem Befund war Ingstad bereits vor der Entführung ein Beruhigungsmittel verabreicht worden, offenbar in flüssiger Form. Der entsprechende Befund war doppelt unterstrichen. Das Sedativum sei möglicherweise über die Halsschlagader in den Kreislauf gelangt. Darauf verweise eine leicht gerötete Schwellung an der entsprechenden Eintrittsstelle. Dieser Befund werfe eine Reihe von Fragen auf. Vor allem die nach dem Urheber und der Art der Verabreichung – ein normaler medizinischer Vorgang jedenfalls sei ausgeschlossen.

Torvald Berglund, Sterne-Koch und Eigentümer der «Fjellstua» in Røros, stand da, die Hände auf den Tresen gestützt, Sophie an seiner Seite. Eine Weile folgten sie schweigend der Sondersendung im Fernsehen, die über den gewaltsamen Tod des stellvertretenden CEO des größten Staatsfonds der Welt berichtete. Erst einen Tag nach dem Fund der Leiche, wie Sophie sehr wohl bemerkte. Die Reporter ergingen sich in Spekulationen, niemand wusste Genaues. Keiner erwähnte, wo die Leiche gefunden worden war, nämlich im weitläufigen Garten von Torvalds Schwester Berit und deren Mann. Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Wer aber hatte die entsprechende Regieanweisung gegeben? Ihre Mentorin im norwegischen Geheimdienst war nicht irgendwer. Vormals Staatssekretärin im Außenministerium, jetzt Leiterin einer neu gegründeten Spezialeinheit vor allem für Auslandseinsätze. Interne Bezeichnung E 39, nach der Europastraße, die Norwegen mit Dänemark verband. Ihr Auftrag: Informationen beschaffen, politische Entwicklungen beobachten, Korruption und organisierte Kriminalität bekämpfen.

«Hat Berit dich angerufen?», fragte Torvald.

«Ich habe sie angerufen.»

«Sie war bestimmt sauer, dass Kristiansen hier war.»

«Allerdings. Er ist von Trondheim hierher gefahren, um mich zu informieren.»

«Nicht seine Aufgabe.»

«Er tut, was er kann.»

«Um Berit bloßzustellen.»

«Das meine ich.»

Torvald, Witwer mit Specknacken und Glatze, war Sophie eine große Hilfe gewesen. Der Endfünfziger hatte sie eingeführt in die kleine ehemalige Bergbaustadt, wo jeder jeden kannte. Jahrhundertelang war in Røros Kupfererz gefördert worden. Gewaltige Abraumhalden aus Schlacke prägten noch immer das Ortsbild. Mit Hilfe einer früheren Nachbarin Torvalds, einer pensionierten Lehrerin, hatte sie ohne viel Aufhebens Norwegisch gelernt. Offiziell war Sophie eine Auswanderin, die der Liebe wegen gekommen war und auch nach deren Ende bleiben wollte, was ihr allgemein hoch angerechnet wurde.

«Hat Berit dich aufgefordert, nach Oslo zu kommen?», fragte Torvald.

«Nein.»

«Das spricht für sie. Aber du wirst trotzdem fahren, wie ich dich kenne.»

«Ich muss.»

«Du musst gar nichts. Du wirst nur wieder in eine Geschichte hineingeraten, die dir nicht guttut. Wie damals, in Marokko.»

«Ich kann nicht anders, Torvald.»

«Ich weiß. Du bist eine Getriebene. Aber du machst dich unglücklich. Røros ist nicht gerade der Nabel der Welt. Und gerade deswegen lässt es sich hier wunderbar leben.»

Sophie nickte und entschuldigte sich. Lief die paar Schritte zu ihrer kleinen Wohnung nebenan, packte ein paar Sachen. Berit hatte sie nicht angerufen. Wahrscheinlich dachte sie wie Torvald. Vielleicht war es wirklich ein Fehler, nicht einfach zu bleiben, überlegte Sophie auf dem Weg zum Bahnhof.

Aker Brygge. Ein angesagtes Geschäftsviertel in Oslo unweit des Hafens. In der Nachbarschaft Jungunternehmer, eine Galerie, Cafés. E 39, die Spezialeinheit, firmierte als Import-Export-Firma. Sophie gab den Code für die Eingangstür ein, die sich summend öffnete. Über die Freitreppe lief sie in die oberste Etage, wo Berit Berglund von ihrem Büro aus auf den Oslofjord starrte.

«Hallo, Sophie», begrüßte sie ihre Vertraute, ging auf sie zu und umarmte sie. Sophie spürte Berits leichten Anflug von Verlegenheit, angesichts dieses für sie ungewöhnlichen Überschwangs.

«Ich freue mich, dass du hier bist. Aber ich wäre dir nicht böse gewesen, wenn du vorerst bei Torvald geblieben wärest.»

«Ich weiß.»

Bewusst hatten sie in den letzten Monaten kaum Kontakt gehalten. Keep a low profile. Zweimal war Berit in Røros gewesen, weil sie sich Sorgen um ihren Bruder machte. Er trank zu viel. Meist hatte er sich unter Kontrolle, manchmal nicht. Dann sorgte Sophie dafür, dass der Betrieb im Restaurant weiterlief und niemand etwas merkte. Berit wusste das sehr zu schätzen. Nur halb im Scherz hatte sie Sophie empfohlen, diese Erfahrung als Teil ihrer künftigen Aufgaben anzusehen. Geduld haben, beobachten, im richtigen Moment eingreifen: Geheimdienstarbeit unterscheide sich nicht grundsätzlich von dem, was die Polizei leiste – auf anderem Gebiet, mit ausgefeilteren Methoden.

Der Smalltalk konnte warten, und Sophie fragte nach den neuesten Ermittlungsergebnissen. Berit schüttelte den Kopf. Keinerlei Hinweise auf den Entführer oder seine möglichen Auftraggeber. Die Spurensicherung war abgeschlossen – nichts. Da seien Profis am Werk gewesen.

«Das ergibt doch keinen Sinn», fuhr Berit fort. «Diese merkwürdige Inszenierung. Und warum haben der oder die Täter die Leiche vor unserer Haustür abgelegt?»

«Ich würde sagen, da schickt dir jemand eine Botschaft.»

«Daran haben wir auch schon gedacht. Aber wer? Und warum?»

Sophie trat ans Fenster und blickte auf den Oslofjord. «Schau dir das an. Alles ist in Bewegung. Die Menschen, die Zeiten. Und jeder da draußen hat eine Geschichte zu erzählen. Die seines Lebens. Hauke Ingstad kann nicht mehr reden. Aber bei ihm sollten wir ansetzen. Bei seiner Geschichte.»

«Na, viel Erfolg. Nach allem, was ich von ihm weiß, war er der geborene Langweiler. Nichts an ihm war auffällig. Sagen seine Kollegen, sagt sogar seine Frau. Er hat den Job als stellvertretender CEO wohl nur bekommen, weil er nie widersprochen hat.»

«Der Schein kann trügen. Sieh mich an. Was macht die Öffentlichkeitsarbeit von Nordic Invest? Spielen sie den Mord herunter?»

«Sie haben eine Pressemitteilung herausgegeben, in der sie ihrer tiefen Betroffenheit Ausdruck verleihen. Ansonsten verweisen sie auf die laufenden Ermittlungen.»

«Hast du vor, die Chefs zu vernehmen?»

«Der Geheimdienst nimmt den Fonds unter die Lupe? Wie stellst du dir das vor?»

«Nationale Sicherheit. 950 Milliarden Dollar sind kein Taschengeld.»

«Das wäre dann nicht unsere Aufgabe. Sondern die von PST, im Auftrag der Regierung.»

«Das sieht Kristiansen offenbar anders.»

«Sophie! Wir haben dieses wunderbare Gebäude, aber ich bekomme in den nächsten Monaten bestenfalls zwei oder drei festangestellte Mitarbeiter, wohlgemerkt leihweise. Und dich. Das nenne ich eine Beerdigung erster Klasse. Wäre dieser Mord nicht dazwischengekommen, hätte ich mich heute beschwert, und zwar ganz oben.»

Sophie überlegte. «Hast du was dagegen, wenn ich mich mal mit Hauke Ingstads Frau unterhalte?»

«Hat die Polizei schon getan. Nichts.»

«Was ist mit den Medien. Sind die an ihr dran?»

«Nein. Wir haben sie abgeschirmt. Und ihr mehr oder weniger einen Maulkorb verpasst.»

Sophie wurde einen Verdacht nicht los, den sie aber für sich behielt. Kaum vorstellbar, dass die Ermordung von Hauke Ingstad mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hatte. Mit Sophies Widersachern beim amerikanischen Geheimdienst NSA. Die Leiche in Berits Garten aber, die gab ihr zu denken. Galt die Botschaft tatsächlich Berit? Oder aber doch ihr selbst, Sophie? Ein Gruß aus der Vergangenheit? Das wäre absurd und wenig plausibel. Aber auch undenkbar? Es war wie beim Billard. Man konnte mit der Kugel direkt auf eine der Taschen zielen oder aber über Bande spielen.

Die Polizisten in Zivil ließen sie passieren. Ingstads Haus lag auf einer Anhöhe im Reichenviertel Abbedikollen, die einen unverstellten Blick auf den Oslofjord erlaubte: das Maß aller Dinge in der Hauptstadt. Sophie klingelte an der Haustür. Eine Frau mit übernächtigtem Gesicht, die Haare unfrisiert, öffnete und musterte sie.

«Entschuldigen Sie bitte die Störung, Frau Ingstad, ich …»

«Ich soll nicht mit Journalisten reden», sagte die Angesprochene mit belegter Stimme.

«Ich bin – ich war eine Kollegin Ihres Mannes. Eine seiner engsten Mitarbeiterinnen.»

«Seine Gespielin, wollen Sie sagen?» Die Verbitterung, die in ihren Worten mitschwang, war nicht zu überhören. «Entschuldigen Sie bitte», setzte sie nach einer kurzen, unguten Pause hinzu. «Wollen Sie reinkommen?»

Die beiden Panorama-Glasscheiben im Wohnzimmer, die von der Decke bis zum Boden reichten, waren in der Mitte unterbrochen von einer Wand aus rostroten Ziegelsteinen mit eingelassenem Kamin. Sofa und Sessel waren aus hellgrauem Leder, zur Rechten befand sich ein Esstisch. Die beiden Seitenwände waren von Bücherregalen gesäumt. Frau Ingstad begab sich auf die Suche nach einem Aschenbecher, fand ihn nicht. In erster Linie aber suchte sie wohl jemanden, irgendjemanden, der ihr zuhörte. Das Unglück zeigte sich in ihren flackernden Augen.

«Möchten Sie einen Kaffee?», fragte sie.

Wenig später kam die Witwe mit einer French Press Kaffeekanne aus der Küche. Sie setzte sich Sophie am Couchtisch gegenüber und schlug ihre langen, ansehnlichen Beine übereinander.

«Die Polizei war auch schon hier», sagte sie. «Die haben sich überhaupt nicht interessiert für das, was ich ihnen gesagt habe. Ich musste nicht mal ein Protokoll unterschreiben.»

«Was haben Sie denn gesagt?»

«Dass mich das nicht wundert.»

«Was?»

«Dass es so gekommen ist. Rauchen Sie?»

Sophie schüttelte den Kopf.

«Ich meine, halb Norwegen hasst Nordic Invest.»

«Ich darf doch?» Sophie schenkte ihr und sich selbst Kaffee ein.

«Die schwimmen in Geld, und das ganze Land geht vor die Hunde. Die Schulen, die Straßen, alles gammelt vor sich hin. Die könnten doch auch mal was für uns tun. Für die ganz normalen Leute.» Sie zündete ihre Zigarette an.

Fast hätte Sophie aufgelacht. Als wäre dieser Luxus hier normal. Sie beschloss, die Frau einfach reden zu lassen. Sie machte offenbar die Firma verantwortlich dafür, dass ihre Ehe gescheitert war. Solange Sophie ihr vermittelte, eine geduldige Zuhörerin zu sein, würde sie möglicherweise einiges von Interesse erfahren.

Doch wusste die Witwe nur wenig über die beruflichen Aktivitäten ihres Mannes, kannte auch seine Freunde nicht. «Ich glaube nicht, dass er welche hatte. Für ihn gab es nur seine Geschäftspartner und seine Hausangestellte. Mich.» Zu Hause sei er aber selten gewesen, hier gearbeitet habe er nie. Lieber habe er endlos im Büro gesessen oder sich auf ihre «Sommerresidenz» in Ostøya zurückgezogen. Ein «schönes Holzhaus» mit «prima Fachwerk».

«Wo genau ist das?», fragte Sophie.

«Warum wollt ihr das denn alle wissen? Der andere Typ von der Firma hat auch danach gefragt.»

«Welcher andere – Typ? Wen meinen Sie?»

«Keine Ahnung. Ich kann mir Namen nicht merken. Jedenfalls war der nicht von hier. Der konnte nur Englisch. Ein Amerikaner, sagte er.»

Sophie war elektrisiert. «War er irgendwie – schattig im Gesicht? Mit groben Poren?»

«Nein, wie kommen Sie denn darauf? Stehen Sie auf solche Typen? Der war ziemlich helle im Kopf, würde ich meinen … Groß, Ende dreißig. Macht was mit Computern. Die Haare müsste er sich mal wieder waschen. Er hätte meinem Mann zugearbeitet. Sagte er.»

Sophie musste an sich halten, um nicht laut zu fluchen. Da hatten die Polizisten draußen wohl Mittagsschlaf gehalten.

«Jedenfalls – wäre es nach mir gegangen, hätten wir die Hütte in Ostøya längst verkauft.» Sie nahm einen tiefen Zug und blies Sophie den Rauch der Zigarette ins Gesicht. «Und soll ich Ihnen was verraten?»

Sie stellte ihre Beine nebeneinander und lehnte ihren Oberkörper weit nach vorne. Fast verschwörerisch raunte sie: «Jetzt, wo mich niemand mehr daran hindern kann, genau das zu tun, bringe ich es fast nicht mehr übers Herz.»

***

Die Zentrale der Sondereinheit E 39 in Aker Brygge war ein Backsteingebäude. Eine ehemalige Lagerhalle, umgebaut, mit Loft-Ambiente. Drei geräumige Etagen, alles noch unfertig, unaufgeräumt. Kreuz und quer standen Umzugskisten mit Computern und Büromöbeln in den Gängen. Der Fahrstuhl war eingefasst von einer gusseisernen Freitreppe, die das Gebäude zu tragen schien – noch aus der Zeit, als Norwegen zu Schweden gehörte. Auf der mittleren der drei Etagen gab es zwei kleinere Zimmer mit Notbetten. Eines bezog jetzt Sophie. Da Berit vollen Einsatz erwartete, hatte sie auch den Einbau einer Küche veranlasst. Es war ihre Idee gewesen, Sophie erst einmal nach Røros zu schicken und Gras über deren Vorgeschichte wachsen zu lassen. Gleichzeitig hatte Sophie im nahegelegenen Trondheim eine paramilitärische Ausbildung durchlaufen, ein halbes Jahr lang. Der Vorschlag war ihr sehr entgegengekommen. Es entsprach nicht ihrem Naturell, sich der NSA oder sonstigen Schattenmächten zu beugen.

Sophie trat an ein Fenster, unter sich das Lichtermeer. Einsam fühlte sie sich nicht. Sie hatte sich an ihr neues Leben gewöhnt, ein Leben auf Abruf. Ihr früheres in Berlin war Vergangenheit, die Zukunft ungewiss. Selten dachte sie über den nächsten Tag hinaus.

Warum dieser Mord? Diese absurde Inszenierung? Sie schaltete ihren iPod ein, legte sich auf den Boden, den Kopf auf die Hände gestützt. Miles Davis. Musik hörte sie nur leise. Um keinen möglichen Eindringling zu überhören. Gedankenfetzen überfielen sie, Bilder aus Marokko drängten sich ihr vor Augen. Diese folgenschwere Reise, die Himmelstreppe in der Wüste. Der Eremit, zum Greifen nah! Der ahnte, was geschehen würde. Militärische Drohnen über dem Dorf, die ständige Angst der Bewohner vor dem Tod aus der Luft. Gourrama, so hieß es. Am Ende der Welt. Hatte sie gedacht. Dann der furchtbare Angriff zweier US-Hubschrauber. Bis alle tot waren. Alle. Auch ihr Freund und Begleiter Hassan Maliki. Nein, doch nicht alle. Sie hatte überlebt. Als Einzige. Berlin. Die Wochenzeitung, für die sie damals gearbeitet hatte. Die nichts wissen wollte von dem, was sie erzählte. Was sie erlebt hatte. Die lieber der offiziellen Darstellung folgte. Al-Qaida habe die Dorfbewohner niedergemetzelt. Sie aber hatte nicht lockergelassen, die Verbindungen höchster politischer Kreise mit der Ölindustrie aufgedeckt. Geriet ins Visier der NSA.

Sophie richtete sich auf. Vor allem ins Visier von Vera Cochrane, ihrer Intimfeindin beim zweitgrößten amerikanischen Geheimdienst. Ohne Berits Einsatz wäre Sophie wohl nicht mehr am Leben. Sie hatte ihr zu einem Neuanfang in Norwegen verholfen. Egal, in welche Geschichte sie hineingeraten mochte – dieses Mal würden die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen!

Berit sah übernächtigter aus als Sophie, obwohl auch sie schlecht geschlafen hatte. Ihr kurzgeschnittenes, graumeliertes Haar erschien noch ein wenig grauer. Tiefe Ringe hingen unter den Augen, ihr volles, leicht kantiges Gesicht war übersät von Furchen, wie nach einer Schlacht. Und die führte Berit an zwei Fronten. Sie war Chefin einer Phantomeinheit, gleichzeitig wurde sie von verschiedenen Seiten angehalten, federführend bei den Ermittlungen tätig zu werden. Immerhin sei ihr die Leiche quasi vor die Füße gefallen. Auch die Polizeiführung hatte sie ermutigt, und dieser allgemeine Zuspruch machte sie misstrauisch. Sie war lange genug Politikerin gewesen, um zu wissen, «dass Freibier immer seinen Preis hat».

Sophie überlegte, Berit ein wenig aufzuheitern, aber ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wie. Sie hatte einen Flipchart vorbereitet, auf dem sie die wichtigsten Erkenntnisse und Fragen zusammengestellt hatte.

«Willst du noch einen Kaffee, Berit?»

«Nein. Schieß los.»

«Da ist zunächst mal der Amerikaner. Der Ingstads Witwe aufgesucht hat. Ich habe bei der Polizei nachgefragt. Die wissen selber nicht, wie der ins Haus gekommen ist, ohne aufzufallen. Dafür gibt es zwei Erklärungen. Entweder haben die gepennt, oder sie haben ihn bewusst durchgelassen.»

«Warum hätten die das tun sollen?»

«Keine Ahnung. Aber ansonsten waren die Brüder ja durchaus wach. Jedenfalls haben sich mehrere Journalisten beschwert, dass die Polizei sie bei ihrer Arbeit behindert hätte. Weil sie nicht zu Ingstads Haus durften.»

«Vielleicht ist denen der Amerikaner einfach durchs Netz gegangen.»

«Ich weiß es nicht. Aber die entscheidende Frage lautet doch wohl: Was hatte der Unbekannte mit Ingstad zu tun? Dass der nur irgendein Zuträger war, glaube ich nicht. Da läuft irgendein Film, von dem wir noch gar nichts wissen.»

«Du gehst auf sehr dünnem Eis, Sophie.»

«Ich trage nur Indizien zusammen, Berit. Ich würde mich sehr wundern, wenn der Pizzabote keine Auftraggeber hätte.» Ein Gedanke überfiel sie. «Sag mal – wer hat eigentlich eure Nachbarn vernommen?»

«Eine Polizeistreife, nehme ich an.»

«Gut. Ich kläre das. Außerdem brauchen wir ein Organigramm von Nordic Invest. Wer dort welche Führungsposition bekleidet, was genau Ingstad da getrieben hat, ob es unter den Managern Streitigkeiten gab.»

«Das machen wir zusammen. Da kannst du nicht alleine hin.»

«Ich weiß. Ich brauche Zugriff auf Ingstads Computer. Kriegst du das hin?»

«Das sollte gehen.»

«Na ja, Berit, diese Geschichte ist nicht das, was man sich so wünscht. Aber der Ausblick von hier oben gefällt mir. Lass dir von einer Heimatlosen gesagt sein: Die Schönheit und die Wahrheit finden am Ende zusammen, glaubst du nicht?»

Berits Gesichtszüge erhellten sich: «Also, im Zweifel ist mir die Schönheit lieber. Die ist weniger flüchtig.»

Der Amerikaner besorgte sich einen Stadtplan und entdeckte Ostøya am südwestlichen Ende von Oslo. Eine kleine, überschaubare Insel in den felsigen Ausläufern des Fjordes. In einem Internetcafé holte er sich weitere Informationen. Er selbst führte keine Elektronik mit sich. Nur im Notfall verwendete er Prepaid-Handys, die er nach einmaligem Gebrauch wegwarf. Auf der Insel gab es einen Bauernhof und einen Golfclub. Und einige unbezahlbare Sommerresidenzen, hervorgegangen aus den früheren Katen von Bauern und Fischern. Das ist der Lauf der Dinge, dachte er. Alles fängt mal klein und bescheiden an, dann starten einige durch bis ganz nach oben und setzen sich dort fest. Alle anderen können sehen, wo sie bleiben.

Viel würde auf der Insel jetzt nicht los sein, Golfer oder Sommerfrischler waren kaum zu erwarten. In einem Baumarkt kaufte er einige Werkzeuge, von einem Taxi ließ er sich unweit der Insel absetzen und ging zu Fuß weiter. Es war früh am Nachmittag, doch die Dämmerung hatte schon eingesetzt. Da der Fjord in dieser Höhe von einer dicken Eisschicht bedeckt war, erreichte er sein Ziel ohne Boot. Auf der Insel lag der Schnee kniehoch. Daran hatte er nicht gedacht. An Skier oder Schneeschuhe. Nur mühsam kam er voran, schwitzte trotz der Kälte aus allen Poren. Die Häuser befanden sich überwiegend auf der Südseite und lagen weit auseinander. Er suchte eine Eingangstür mit volkstümlichen Motiven. Und dann, fast am Ende seiner Kräfte, fand er sie tatsächlich. Eine Holztür, darin eingeschnitzt zwei stämmige Bauernfiguren mit lüstern wirkenden Gesichtszügen, die aufgetragene Farbe schon etwas verblasst. Im Hintergrund Bäuerinnen mit frisch gemähtem Heu inmitten einer Sommerlandschaft; die reetgedeckten Häuser fehlten ebenso wenig wie die Kirche.

Nice kitsch, dachte der Amerikaner und schraubte mühelos das Türschloss auf. Norweger waren überaus vertrauensselig, kein Alarm störte seine Arbeit. Bevor er eintrat, warf er einen Blick zurück. Schweres Grau lastete auf der Insel, heftiger Schneefall hatte eingesetzt. Seine Spuren würden sich bald schon verlieren. Vorsichtshalber befestigte er das Schloss wieder, man konnte nie wissen.

Drinnen war es eisig kalt, nicht anders als draußen. Das Haus bestand aus zwei Etagen. Unten befanden sich die Küche und das Wohnzimmer, eins geworden durch den dominanten, gut drei Meter langen Tisch, der offenbar aus früheren Schiffsplanken gefertigt war. An einer Wand stand eine Kommode, an einer anderen stapelte sich das Kaminholz. Auf knarrender, steil aufragender Treppe gelangte er in die obere Etage. Dort befand sich ein einziges, geräumiges Zimmer, das gleichzeitig als Schlaf- und Arbeitszimmer diente, unterhalb der Dachschräge. Der Amerikaner zögerte, das Licht einzuschalten und begnügte sich mit seiner Taschenlampe. Zunächst machte er sich über die Aktenordner her. Zog sie nacheinander vom Regalbrett, überflog den Inhalt.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein. Seine Anspannung ließ ihn die Kälte vergessen. Er räumte die Ordner wieder ein. Nichts. Spontan war er nach Oslo gereist, weil Ingstad ihm «die letzten noch fehlenden Beweise» angekündigt hatte. Oder gab es die möglicherweise gar nicht schriftlich? Hatte Ingstad diese Beweise mit ins Grab genommen? Er überlegte, dessen Computer einzuschalten, aber wie sollte das gehen, ohne den Code zur Entsperrung? Während er nachdachte, hörte er eine Stimme. Eine, die sich dem Haus zu nähern schien, jedenfalls wurde sie nicht leiser. Eine Männerstimme. Und das, was war das? Eine Art – Seufzen? Stöhnen? Wimmern? Die Stimme war unangenehm. Dunkel, fordernd, ein Befehlston. Und der Mann redete Englisch!

Zwei Personen also? Sie mussten die Haustür fast schon erreicht haben. Er sah sich nach einem Fluchtweg um. Das Fenster! Vorsichtig versuchte er es hochzuschieben, vermied jeden Lärm. Doch der Hebel bewegte sich nicht. Vielleicht war das Fenster von außen eingefroren. Jemand trat mit voller Wucht gegen die Tür. Es krachte ein weiteres Mal, und die Tür flog auf. Der Amerikaner warf sich zu Boden, robbte vor zum Rand der Treppe. Von dort konnte er beobachten, was unten geschah.

Keuchend und stöhnend stürmten ein Mann und eine Frau herein, stolperten fast übereinander. Der Mann fluchte und suchte etwas, vermutlich den Lichtschalter. Instinktiv zog der Amerikaner seinen Kopf zurück, im rechten Moment, denn auf einmal war die untere Etage hell erleuchtet. Der Mann fluchte noch immer. Die Frau konnte der Amerikaner nicht erkennen, sie war außerhalb seines Blickfeldes. Lag sie am Boden, war sie gefesselt? Sie hörte nicht auf zu stöhnen.

Der Mann ließ sich auf einen Stuhl fallen, erhob sich wieder. Ging wohl auf die Frau zu, herrschte sie mit amerikanischem Akzent an, sie solle endlich aufhören zu wimmern. Dem Geräusch nach zu urteilen ratschte Klebeband über Haut. Die Frau schrie kurz, der Amerikaner im Obergeschoss hörte ein Klatschen. Vielleicht hatte der Mann ihr eine Ohrfeige verpasst.

«Wo sind die Unterlagen?»

«Aber ich weiß es doch nicht! Ich weiß nicht mal, was Sie meinen!» Sie schluchzte.

Die Witwe, durchfuhr es den Amerikaner. Die Stimme – das war ganz eindeutig Hauke Ingstads Witwe. Heiß und kalt wurde ihm, in kurzer Abfolge.

Ein dumpfes Geräusch war zu hören, sie schrie auf. Hatte der Mann ihr einen Fußtritt versetzt?

«Ich will dir nicht wehtun», sagte der. «Aber ich habe keine andere Wahl, wenn du dich weiter dumm stellst.»

«Bitte, lassen Sie mich gehen …»

«Gib mir, was ich haben will, und du kannst tun und lassen, was du willst.» Sein Tonfall war ruhig und sachlich. Doch war die unterschwellige, nachklingende Drohung kaum zu überhören.

«Ich … Ich …» Die Witwe versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Der Amerikaner empfand Mitleid mit ihr. Aber was sollte er tun?

«Ich will doch gar nichts von dir. Ein bisschen guter Wille, und wir beide sind die besten Freunde. Das willst du doch auch, oder?»

«Natürlich will ich das», versicherte sie.

«Hier also hat dein Mann am liebsten gearbeitet, sagst du?»

«Ja … Hier war er immer sehr gerne …»

«Ist aber arschkalt.»

«Nur im Winter.»

«Im Winter hat er also hier nicht gearbeitet?»

«Ich weiß es nicht … Wahrscheinlich war er da vor allem in seinem Büro bei Nordic Invest.»

«Und wo hat er gearbeitet? An diesem Riesentisch?»

«Keine Ahnung … Gut möglich. Oder an seinem Schreibtisch.»

«Wo ist der? Oben?»

«Ja … In seinem Arbeitszimmer.»

Der Amerikaner geriet in Panik. Angetrieben von den stampfenden Schritten des Mannes, der nunmehr die steile Treppe hochstieg, robbte er unter das Doppelbett. Keinen Moment zu früh, schon schaltete der Mann das Licht in der oberen Etage ein. Der Amerikaner konnte ihn nur bis etwa in Höhe der Knie sehen. Vermutlich verschaffte er sich einen Überblick. Dann riss er die Aktenordner aus den Regalen, blätterte darin, ließ sie auf den Boden fallen. Fluchte und kämpfte sich wieder die Treppe hinunter. Kehrte zurück, mit der Frau.

«Zeig mir, wo er seine Unterlagen aufbewahrt.»

«Ich weiß es nicht. Ich nehme doch an, hier.»

«Mache ich den Eindruck, ich hätte bereits gefunden, was ich suche?»

«Aber was … Was suchen Sie denn?»

«Duftmarken, ich brauche Duftmarken. Wenn ich die habe, finde ich auch, was ich suche.»

Der Kerl erweckte den Eindruck, nicht ganz bei Sinnen zu sein.

«Kannten Sie meinen Mann?», fragte die Frau unvermittelt.

«Die Fragen stelle ich, nicht du.»

Überraschend klar und furchtlos setzte sie nach: «Waren Sie das? Haben Sie ihn entführt und … umgebracht?»

Er versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Das Geräusch schwerer Schuhe auf Holzboden. Der Amerikaner lag schweißnass auf dem Rücken. Der Abstand zwischen dem Lattenrost und seinem Gesicht betrug gefühlt keinen Zentimeter.

«Wo sind die Unterlagen!», herrschte der Mann sie an.

«Ich weiß es nicht!»

«Blödsinn! Du warst doch seine Frau.»

«Ich … Es tut mir leid.»

Schnaubend atmete der Mann aus. «Siehst du, was das ist?», fragte er.

Jetzt hörte der Amerikaner sie atmen. «Eine … Eine Pistole», antwortete sie schwach.

«Sehr richtig. Das ist eine Pistole. Und solltest du daran zweifeln: Sie ist geladen.»

Ein Schuss löste sich, begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall. Die Witwe schrie.

«Das Loch in der Decke lasse ich dir zur Erinnerung. Und jetzt hör mir gut zu. Dein Mann besitzt Aufzeichnungen, für die sich auch andere interessieren. Du wirst mir helfen, sie zu finden. Entweder hier oder in seinem Büro. Haben wir uns verstanden?»

Die Witwe sackte wimmernd zu Boden. Der Amerikaner konnte kaum glauben, dass sie Handschellen trug. Hoffentlich entdeckte und verriet sie ihn nicht. Sie bemühte sich, wieder aufzustehen, was ihr aber nicht gelang.

«Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich weiß es wirklich nicht …»

«Los, steh auf!»

«Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe …»

Der Mann riss sie vom Boden empor, schleuderte sie ans Bücherregal. «Du tust jetzt, was ich dir sage! Nimmst jedes einzelne Buch aus dem Regal und siehst nach, ob sich darin irgendwelche Notizen oder Papiere befinden. Versuch ja nicht, mich für dumm zu verkaufen. Wir finden schon, was wir suchen. Wenn nicht hier, dann im Büro deines Mannes. Haben wir uns verstanden?»

In diesem Moment geschah etwas, das der Amerikaner nicht sofort einordnen konnte. Er vernahm ein dumpfes Geräusch. Der Mann stöhnte, die Witwe schrie. Hatte sie ihn angegriffen, mit einem Gegenstand auf ihn eingeschlagen? Der Tumult währte nur kurz, zwei Paar Beine stolperten in Richtung des Bettes, unter dem er lag. Oh mein Gott, dachte der Amerikaner, als auf einmal jemand auf die Matratze flog. Die Witwe. Vor Schmerz hätte er beinahe aufgeschrien, als der Lattenrost kurz nachgab und seitlich auf sein Gesicht drückte. Der Mann hatte die Balance gerade noch gewahrt, machte ein paar Schritte zurück.

«Habe ich dir nicht gerade gezeigt, was das ist?», zischte er.

«Ja! Um Himmels willen, es tut mir leid …!»

«Sag das nicht mir, sag das meinem kleinen Freund hier», verlangte er.

Der Amerikaner unter dem Bett drohte die Kontrolle über sich zu verlieren. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Alle seine Sinne verlangten danach, sich endlich aus der Enge zu befreien. Stattdessen hörte er einen aberwitzigen Vortrag über «den kleinen Freund» und den fehlenden Respekt der Witwe diesem «Kumpel» gegenüber. Er schien ihr mit der Pistole über Kopf und Gesicht zu streichen und verlangte, dass sie sich für ihre «Unhöflichkeit» entschuldige. Ihr Gestammel ging mehr und mehr über in ein Flüstern.

Bis sich erneut ein Schuss löste. Versehentlich, dem Fluchen des Mannes nach zu urteilen. Als die Witwe zur Seite kippte und ihre schulterlangen schwarzen Haare, durchtränkt von Blut, unvermittelt neben seinem Gesicht auftauchten, eine Fingerlänge entfernt, entfuhr dem Amerikaner ein Schrei.

Halb kam er selbst unter der Matratze hervor, halb wurde er gezogen. Der Mann hatte ihn am Hemdkragen gepackt und stellte ihn an die Wand. Der Amerikaner blickte in ein großporiges, gebräuntes, von Falten durchzogenes Gesicht, das an einen Trapper oder sonstigen frühen Pionier denken ließ. Dessen schlammbraune Augen schienen sich in ihn hinein zu bohren, ein kalter, sezierender Blick, der sich anfühlte wie ein Messer am Hals.

«Wer zum Teufel bist du?», fragte der Mann.

«Ihr Liebhaber», entgegnete der Amerikaner.

Der Mann hielt ihm die Pistole an die Schläfe.

«Und da unten hast du auf sie gewartet, unterm Bett?»