Michael Brenner

GESCHICHTE
DES ZIONISMUS

C.H.Beck


Zum Buch

Als Theodor Herzl 1897 den Ersten Zionistischen Kongress einberief, wurde er von Juden und Nichtjuden als Träumer verspottet. Ein halbes Jahrhundert später, 1948, wurde der Staat Israel gegründet. Dieses Buch beschreibt knapp und anschaulich die politische Bewegung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Rückkehr der Juden auf ihren historischen Boden und in die staatliche Souveränität bewirkte. Es informiert über die Vorgeschichte des Zionismus im frühen 19. Jahrhundert, die wichtigsten europäischen Zentren und Positionen des frühen Zionismus, die Herausbildung unterschiedlicher zionistischer Parteien, die wachsende Einwanderung von Juden nach Palästina sowie den sich zuspitzenden Konflikt zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung. Dabei zeigt sich, dass der Zionismus in hohem Maße von Ereignissen wie der Dreyfus-Affäre, dem Ersten Weltkrieg, dem Übergang Palästinas von türkischer in britische Herrschaft und der Ermordung des Großteils der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs geprägt wurde. Ein abschließendes Kapitel fragt nach dem Weiterwirken des Zionismus in Israel von der Staatsgründung bis zur Gegenwart.

Über den Autor

Michael Brenner, geboren 1964, ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Center for Israel Studies an der American University in Washington, DC. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Jüdische Kultur in der Weimarer Republik» (2. Aufl. 2016), «Propheten des Vergangenen» (2006) sowie «Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates» (2. Aufl. 2016).

Inhalt

Karte 1

Karte 3

1. Jüdische Gesellschaft im Umbruch:
Die Vorgeschichte des politischen Zionismus

Religiöse Ursprünge

Amerikanische Utopien

Zionismus und europäischer Nationalismus

Aufbruch in Russland

Die Politisierung der jüdischen Gesellschaft

Der «Centralverein deutscher Staatsbürger
jüdischen Glaubens»

Autonomisten, Bundisten und Agudisten in Osteuropa

2. Ein internationaler Nationalismus:
Die Topographie des frühen Zionismus

Wien

Paris

München

Basel

Odessa

Tel Aviv

3. Von der Vision zur Realität:
Die jüdische Einwanderung nach Palästina

Der «Alte Jischuw»

Die beiden Einwanderungswellen
vor dem Ersten Weltkrieg

Neue Lebensformen:
Landarbeit und hebräische Sprache

Auf dem Weg zu einer bürgerlichen Gesellschaft

Gründermythen

4. Ein Zionismus oder viele Zionismen?
Die Formierung zionistischer Parteien

Anfänge der Aufsplitterung

Juden und Araber

Unterschiedliche Wege zum jüdischen Staat

Die Rolle der Religion

Wirtschaftsordnung

5. Der lange Weg zum jüdischen Staat:
Palästina als britisches Mandatsgebiet

Zionismus in der Diaspora

Palästina unter den Briten

Teilungspläne

6. Zionismus oder Postzionismus?
Die zionistische Idee nach der Staatsgründung

Staat ohne Frieden

Pluralismus oder Zerrissenheit?

Israel ohne Zionismus?

Weiterführende Literatur

Zeittafel

Personenregister

Karte 1

Die Entwicklung des Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Zahlen in Klammern hinter den Ländernamen geben die jüdische Bevölkerung um 1880 an.

Karte 3

1. Jüdische Gesellschaft im Umbruch:
Die Vorgeschichte des politischen Zionismus

Nur wenige nationale Bewegungen haben den historischen Gang eines Volkes so radikal verändert wie der Zionismus die jüdische Geschichte während des letzten Jahrhunderts. Anfangs auch von vielen Juden verlacht oder bekämpft und nur eine von mehreren politischen Bewegungen im modernen Judentum darstellend, wurde der Zionismus nach der Katastrophe des europäischen Judentums für nahezu alle Juden zum Symbol der Hoffnung auf ein Weiterleben. Für die einen wurde der 1948 gegründete Staat Israel zur neuen Heimstätte, für die anderen ein wichtiger Orientierungspunkt ihrer jüdischen Identität in der Diaspora, also außerhalb Israels. Gleichzeitig muss kaum eine nationale Bewegung bis heute so sehr um ihr Existenzrecht streiten wie der Zionismus, der 1975 von der UNO-Vollversammlung als eine Form des Rassismus gebrandmarkt wurde. Und obwohl dieselbe Versammlung diesen Beschluss später wieder aufhob, wird der Begriff Zionismus in vielen ihrer Mitgliedsstaaten wenig freundlich behandelt. In Israel selbst ist längst eine Debatte darüber ausgebrochen, welches ideologische Lager den «wahren» Zionismus verkörpere oder ob man sich nicht in einer postzionistischen Gesellschaft befinde. So bleibt auch über ein halbes Jahrhundert nach Gründung eines jüdischen Staates der Zionismus ein vieldiskutierter und politisch aktueller Begriff.

Religiöse Ursprünge

Die Ursprünge der Idee einer Rückkehr der Juden in das Land, das seit römischer Zeit Palästina hieß, im jüdischen Sprachgebrauch aber immer Eretz Israel (das Land Israel) blieb und häufig mit dem Berg Zion in Jerusalem identifiziert wurde, sind ebenso alt wie ihr Exil, für das die Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem in den Jahren 586v.u.Z. und 70n.u.Z. nur als symbolische Wendepunkte genannt werden können. Die Trauer um Jerusalem und die Klage über das Exil reichen viele Jahrhunderte weiter zurück und sind vielleicht am bekanntesten im Psalm 137 ausgedrückt, in dem es heißt: «Wenn ich dich je vergesse, Jerusalem, dann soll mir die rechte Hand verdorren. Die Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich an dich nicht mehr denke, wenn ich Jerusalem nicht zu meiner höchsten Freude erhebe.» Während vieler Jahrhunderte haben Juden immer wieder für die Rückkehr nach Zion gebetet, Gedichte darüber verfasst und sich tatsächlich auf den Weg ins Heilige Land gemacht. Im drei Mal täglich aufgesagten «Achtzehngebet» wie auch im ständig wiederkehrenden Tischsegen etwa ist vom raschen Wiederaufbau Jerusalems die Rede. Zu den bewegendsten Zeugnissen mittelalterlicher jüdischer Dichtkunst zählen die Verse des Jehuda Halevi aus dem 12. Jahrhundert, «Zion ha-lo tischali …» (O Zion, willst du nicht nach dem Wohlergehen deiner Gefangenen fragen). Der Dichter selbst machte sich aus seinem Geburtsland Spanien auf den Weg nach Zion und erreichte zumindest Ägypten. Wohl nur der Legende nach ist er in Jerusalem gestorben. Gewiss angekommen sind einige Mitglieder jener Gruppe von jüdischen Mystikern aus Osteuropa, die im Jahre 1700 unter Führung des Rabbiners Jehuda He-Chassid aufbrachen. Die zionistisch geprägte Geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts unter dem späteren israelischen Erziehungsminister Benzion Dinur (Dünaburg) wollte in dieser ersten modernen Rückkehrbewegung gar den Beginn der neueren jüdischen Geschichte ausmachen.

Der polnisch-jüdische Historiker Nathan M. Gelber hat in seiner Vorgeschichte des Zionismus diese und andere Judenstaatsprojekte zwischen 1695 und 1845 genau untersucht. Darunter waren spektakuläre Vorschläge von christlicher Seite, wie etwa der des dänischen Kaufmanns Oliger Paulli zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Er wollte die europäischen Juden in einem jüdischen Königreich ansiedeln, das zwischen Schwarzem und Rotem Meer errichtet werden und dem alle benachbarten Staaten als Lehen unterstellt sein sollten. Etwa ein Jahrhundert später erwog Napoleon ein Judenstaatsprojekt, mit dem er die orientalischen Juden für seine Sache gewinnen wollte.

Amerikanische Utopien

Der aufsehenerregendste Versuch jüdischerseits stammte von Mordecai Manuel Noah (1785–​1851), ehemals Konsul der amerikanischen Regierung in Tunis und High Sheriff in New York, der 1825 («im 50. Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit», wie es am Ende des Manifests heißt) eine Proklamation an die Juden ergehen ließ, in der es u.a. hieß: «Ich erkläre den Juden der ganzen Welt, daß ihnen ein Zufluchtsort bereitet und somit eröffnet wird, wo sie jenen Frieden, Trost und Glück genießen können, welche ihnen durch die Unduldsamkeit und die Irrtümer früherer Jahrhunderte versagt waren; ein Zufluchtsort in einem mächtigen Lande, wo ihrer Person, ihrem Eigentume und ihren religiösen Gebräuchen die größte Sicherheit zugesagt wird …, ein Land voll Milch und Honig, wo Israel in Frieden wohnen kann unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und wo unser Volk sich vertraut machen kann mit der Regierungswissenschaft und den Einsichten der Wissenschaft und Zivilisation, so daß sie befähigt werden zu jenem großen und endlichen Wiedereintritt in ihr altes Erbteil.»

Dieses Land liegt nicht etwa dort, wo man es auf den ersten Blick aufgrund der biblischen Anspielungen vermuten würde, sondern recht weit entfernt von Weinstöcken und Feigenbäumen, denn, so fährt Noah in seiner Beschreibung fort: «Der gewünschte Ort in dem Staate New York, dahin ich mein liebes Volk aus der ganzen Welt (so wie auch Leute aus anderen Religionen) einlade, wird Grand Island genannt, wo ich die Grundlage zu einer Stadt, genannt Ararat, zu legen gesonnen bin.» (N. M. Gelber, Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695–​1845, 1927, S. 241f.) Im Schatten der Niagarafälle gelegen, hat Grand Island eine Länge von zwölf Meilen und eine Breite von drei bis sieben Meilen. Noah schlug vor, «eine Zählung der Juden in der Welt» durchzuführen und von allen Juden ein jährliches Kopfgeld von drei Schekel Silber zu erheben, um das Judenstaatsprojekt zu finanzieren. Offen ließ er, wer genau zu zählen sei, denn gemäß seinen Theorien gehörten etwa die amerikanischen Indianer zu den verlorenen zehn Stämmen. Am 1. Adar 5586 (1826) sollte der Judenstaat auf Grand Island feierlich proklamiert werden. Noah blieb durchaus nicht tatenlos, er selbst siedelte nach Buffalo um, wo er – mangels einer Synagoge – am 15. September 1825 in der St.-Pauls-Kirche den symbolischen Grundstein für sein Projekt legte. Bei dem feierlichen Einzug in die Kirche vor den örtlichen Würdenträgern ertönte der Marsch des Judas Maccabäus aus der kurz vorher uraufgeführten Oper Jacques Halevys, während auf dem Kommunionstisch der Grundstein mit hebräischer Inschrift zu sehen war. Noahs Aktion wurde zwar in der internationalen Presse und in der jüdischen Welt durchaus wahrgenommen, aber als ein unrealistisches Abenteuer von vornherein abgelehnt. Den Tenor späterer Absagen religiöser Führer an den politischen Zionismus vorwegnehmend, erklärte der Oberrabbiner von Paris, dass «nur Gott den Zeitpunkt der israelitischen Rückkehr kennt» (Gelber, Zur Vorgeschichte des Zionismus, S. 71). Noah wartete also vergebens und trat zwei Jahrzehnte später mit der Idee einer Rückkehr der Juden nach Palästina auf den Plan.

Zionismus und europäischer Nationalismus

Gestalt annehmen konnte der Zionismus als eine Nationalbewegung erst im Zeitalter des europäischen Nationalismus. Es überrascht nicht, dass die ersten modernen – wenngleich noch stark religiös geprägten – Pläne für eine Rückkehrbewegung ins Heilige Land aus Regionen stammten, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts von nationalen Konflikten geprägt waren: dem Balkan und den preußischen Ostgebieten. Im serbischen Semlin verfasste der in Sarajevo gebürtige Rabbiner Jehuda Alkalai (1798–​1878) eine Reihe von Schriften, die die Juden zur Rückkehr nach Palästina aufforderten. Gleichzeitig wirkte im ostpreußischen Thorn der aus Posen stammende Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer (1795–​1874), der in seiner 1862 erschienenen Schrift Drischat Zion (Die Suche nach Zion) – gestützt auf biblische und rabbinische Texte – darlegte, dass die Errettung der Juden durchaus mit menschlicher Hand und nicht nur durch Gottes Fügung im messianischen Zeitalter erfolgen dürfe und dass die Kolonisierung Palästinas sofort beginnen könne. Bemerkenswert ist, dass beide so traditionalistisch denkenden und argumentierenden Rabbiner – der eine sephardischer (d.h. aus dem spanisch-portugiesischen Judentum stammend), der andere aschkenasischer (d.h. aus dem mitteleuropäischen Judentum stammend) Herkunft – von den zeitgenössischen politischen Entwicklungen ganz deutlich beeinflusst waren. So bezog Alkalai die traditionelle jüdische Vorstellung von einem ersten, temporären Messias aus dem Hause Joseph nicht auf ein Individuum, sondern auf eine Art jüdischer Nationalversammlung. Und Kalischer hatte die europäischen Ereignisse um die Jahrhundertmitte vor Augen, wenn er die Juden aufforderte, sich in ihrem nationalen Freiheitskampfe ein Beispiel an den Italienern, Polen und Ungarn zu nehmen.

Alkalai und Kalischer lebten und wirkten nicht nur in Zentren der Konflikte verschiedener Nationen, sie befanden sich auch an der Schnittstelle jüdischen Lebens zwischen West und Ost. In Mittel- und Westeuropa hatte sich seit der Französischen Revolution und der beginnenden Emanzipation eine Neudefinierung jüdischer Existenz auf rein konfessioneller Grundlage angebahnt. «Man gewähre den Juden alles als Individuen – nichts aber als Nation», dieses Schlagwort des Fürsten Clermont-Tonnerre aus der Französischen Nationalversammlung 1789 umschrieb knapp und prägnant den sogenannten «Emanzipationsvertrag» der Juden in allen Ländern West- und Mitteleuropas. Sie könnten sehr wohl französische, später auch deutsche oder italienische Bürger werden, müssten aber dafür alle nationalen Merkmale über Bord werfen und sich nur aufgrund ihrer individuell praktizierten (oder nicht praktizierten) Religion von ihren christlichen Mitbürgern unterscheiden.

Ganz anders dagegen war die Situation in Osteuropa, wo der weitaus größte Teil der Juden lebte. Hier war der Staat nur bedingt an einer Integration der Juden als religiöse Minderheit interessiert, fehlten doch die staatlichen Voraussetzungen für einen Prozess der Emanzipation, wie er weiter westlich praktiziert wurde. So behielten bis ins 20. Jahrhundert hinein die meisten osteuropäischen Juden kollektive Strukturen weit über den religiösen Bereich hinaus. Hierzu gehörten etwa die gemeinsame Sprache (Jiddisch), Erziehung und Kultur, häufig auch noch die sich von der Umwelt unterscheidende Kleidung und die Konzentration in bestimmten Wohnvierteln – sowie eben auch die ausgesprochene oder unausgesprochene Sehnsucht nach der Rückkehr in das Land ihrer Vorväter. Kaum jemand wäre in Polen oder Russland, Rumänien oder der Ukraine auf die Idee gekommen, von Staatsbürgern jüdischen Glaubens zu sprechen. In diesen Gesellschaften, in denen die gesellschaftliche Modernisierung viel langsamer voranging als in Mittel- und Westeuropa, blieb eine in vielerlei Hinsicht autonome jüdische Gemeinschaft bestehen. Allerdings war diese am Ende des 19. Jahrhunderts auch von den geistigen, sozialen und politischen Bewegungen ihrer Umgebung stark beeinflusst worden.

Posen bzw. Ostpreußen und Serbien lagen an den Schnittstellen dieser beiden jüdischen Welten. Die zwei wichtigsten zionistischen Schriften in den Jahrzehnten vor Herzl sollten von beiden Seiten dieser Schnittstelle kommen. Rom und Jerusalem hieß ein 1862 von Moses Heß veröffentlichtes Büchlein; zwei Jahrzehnte später schrieb der russisch-jüdische Arzt Leon Pinsker unter dem direkten Eindruck der russischen Pogrome seine Schrift Auto-Emancipation. Theodor Herzl übrigens kannte, als er 1896 seinen Judenstaat verfasste, weder die Schrift von Moses Heß noch diejenige von Leon Pinsker.

Moses Heß (1812–​1875) war in der intellektuellen Szene kein Unbekannter, als er Rom und Jerusalem verfasste. Die Inschrift auf seinem Grabstein im Rheinland lautet nicht ganz unzutreffend: «Vater der deutschen Sozialdemokratie». Der frühere Weggefährte von Karl Marx machte sich zunächst als politischer Schriftsteller einen Namen. Seine 1837 anonym veröffentlichte Heilige Geschichte der Menschheit gehört zu den frühsozialistischen Schriften, in denen sowohl der junghegelianische Hintergrund des Autors wie auch der Einfluss der Saint-Simonisten erkennbar ist.

Heß war Teil jener Zionisten, die sich – wie später Herzl, Nordau und Jabotinsky – von einer universalistischen Weltanschauung wieder in Richtung Partikularismus bewegen sollten, die – anders ausgedrückt – ihr Judentum, das sie schon hinter sich geglaubt hatten, erst wieder entdecken mussten. So beginnt der erste Brief des in Briefform geschriebenen Rom und Jerusalem mit den Worten: «Da steh’ ich wieder nach einer zwanzigjährigen Entfremdung in der Mitte meines Volkes und nehme Anteil an seinen Freuden- und Trauerfesten, an seinen Erinnerungen und Hoffnungen, an seinen geistigen Kämpfen im eigenen Hause und mit den Kulturvölkern, in deren Mitte es lebt, mit welchen es aber, trotz eines zweitausendjährigen Zusammenlebens und Strebens, nicht organisch verwachsen kann. Ein Gedanke, den ich für immer in der Brust erstickt zu haben glaubte, steht wieder lebendig vor mir: Der Gedanke an meine Nationalität, unzertrennlich vom Erbteil meiner Väter.» (S. 12) Die wesentlichen Elemente der Antriebskraft für die späteren Begründer der zionistischen Bewegung sind hier bereits vorweggenommen: die Wiederentdeckung ihres Judentums, die Definition des Judentums als Nationalität und nicht als Religion, der lange und dennoch vergebliche Kampf um Anerkennung und Integration in der Gesellschaft ihrer Umwelt sowie die emotionale Bindung an die Traditionen und die Heimat im «Land der Väter».

Darüber hinaus stand Heß’ Hinwendung zur «Judenfrage» zweifellos im Zusammenhang mit den Nationalitätenkonflikten um die Jahrhundertmitte. So wählte er für Rom und Jerusalem den bezeichnenden Untertitel «Die letzte Nationalitätenfrage» und schrieb im Vorwort: «Mit der Befreiung der ewigen Stadt an der (!) Tiber beginnt auch jene der ewigen Stadt auf Moria, mit der Wiedergeburt Italiens beginnt auch die Auferstehung Judäas. Auch Jerusalems verwaiste Kinder werden Teil nehmen dürfen an der Völkerpalingenesis, an der Auferstehung aus dem toten-ähnlichen Winterschlaf des Mittelalters mit seinen bösen Träumen.» (S. 5)

Bei dem Titel Rom und Jerusalem dachten die meisten Leser wohl eher an eine religiöse Schrift, vielleicht eine Auseinandersetzung zwischen den Zentren von Katholizismus und Judentum. Doch nicht der Papst und nicht die jüdische Religion sind gemeint – Heß verstand früher als seine meisten Zeitgenossen, dass die sogenannte «Judenfrage» kein religiöses Problem, sondern ein nationales darstellte: Nicht mehr Konflikte zwischen Christen und Juden, sondern zwischen Franzosen und Deutschen, Juden und Deutschen etc. prägten sein Zeitalter. Und er übersah nicht den sich immer stärker Bahn brechenden Rassismus: «Die Deutschen hassen weniger die Religion der Juden, als ihre Rasse, weniger ihren eigentümlichen Glauben, als ihre eigentümlichen Nasen.» (S. 25)

Die Zeitumstände allerdings waren einer Verbreitung seiner Schrift nicht gerade dienlich. Heß’ ehemalige sozialistische Weggefährten belächelten seinen Plan als den eines abtrünnigen Träumers. Die Mehrzahl der um Integration und Akkulturation bemühten Juden in den deutschen Staaten sahen gerade in den sechziger Jahren einen Silberstreif am Horizont. Nachdem das Scheitern der Revolution von 1848 auch ihre kurzfristig errungene rechtliche Gleichstellung zunichtegemacht hatte, schloss nun ein Staat nach dem anderen den ein halbes Jahrhundert zuvor eingeleiteten Prozess der Emanzipation ab. Die orthodoxen Juden auf der anderen Seite wehrten sich, von Ausnahmen wie Kalischer und Alkalai abgesehen, noch strikt gegen eine Vorwegnahme der dem messianischen Zeitalter vorbehaltenen Taten. Die große Masse der Juden Osteuropas schließlich war noch zu sehr in ihrer eigenen Welt verschlossen, aus der sie die jüdische Aufklärungsbewegung von innen und die Pogromwelle von außen erst in den achtziger Jahren aufschrecken sollten.

Aufbruch in Russland

Das Signal für die Pogrome gab die Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahre 1881. Die ohnehin von zahlreichen Diskriminierungen und einer prekären wirtschaftlichen Lage gekennzeichneten jüdischen Gemeinden des Zarenreiches waren nun auch physischer Gewalt ausgesetzt, der die Behörden zumindest gleichgültig, oft gar wohlwollend oder fördernd gegenüberstanden. Leon Pinsker (1821–​1891), ein jüdischer Arzt aus Odessa, der Hauptstadt der jüdischen Aufklärungsbewegung, reagierte sofort mit einer theoretischen Schrift. Für den Aufklärungsdrang der russisch-jüdischen Intelligenzija ist es bezeichnend, dass sein Pamphlet Auto-Emancipation (1882) in deutscher Sprache verfasst war. Eine Biographie wie jene Pinskers wäre in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits für viele Juden charakteristisch gewesen, blieb in Russland aber eine Ausnahmeerscheinung. Mit der Landessprache (aber auch mit dem Hebräischen!) aufzuwachsen, in der Hauptstadt Moskau Medizin zu studieren und schließlich als anerkannter Arzt seiner gewünschten beruflichen Laufbahn nachzugehen – dies waren alles Ausnahmestationen auf dem Bildungsweg eines russischen Juden. Umso schmerzhafter muss Pinsker den Schock des Jahres 1881 empfunden haben. Wie der Titel seiner Schrift bereits verkündet, sieht er den Weg der Emanzipation als gescheitert an und fordert stattdessen die Selbstemanzipation der Juden als Nation – und diese könne nur außerhalb des europäischen Kontinents erfolgen. Wo genau allerdings, lässt Pinsker zunächst offen und denkt anfänglich ebenso an Argentinien wie an Palästina. In der Tat sollte der große Strom der über zwei Millionen russischen Juden, die in den vier Jahrzehnten nach 1881 ihre Heimat verließen, sich nicht in Richtung Orient, sondern nach Nordamerika ergießen. Doch war nun auch ein zumindest symbolischer Anfangspunkt der modernen jüdischen Besiedlung Palästinas gesetzt.

Die Politisierung der jüdischen Gesellschaft

Die Neuansiedlung in Palästina war nur einer von zahlreichen Faktoren, die am Ende des Jahrhunderts den beispiellosen Wandel der jüdischen Gesellschaft deutlich machten. Eine noch zu Beginn des Jahrhunderts überall am Rande der Gesellschaft und zumeist auf dem Lande wohnhafte Bevölkerungsgruppe hatte sich in Mittel- und Westeuropa in kürzester Zeit zu einer mittelständischen städtischen Gruppierung umgeformt, deren Vertreter in manchen Bereichen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens, aber auch in bestimmten Berufsgruppen wie denen der Ärzte und Rechtsanwälte deutlich sichtbar waren. In Osteuropa wurde dieser Prozess nur durch staatliche Restriktionen künstlich aufgehalten. Überall jedoch galt, dass das jüdische Ghetto, sowohl was die eigene Lebensweise wie auch die Abschließung von der Umwelt betraf, nicht mehr bestand oder in Auflösung begriffen war.

Der Zionismus war Teil einer allgemeinen Politisierung des europäischen Judentums am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Aufgrund seines langfristigen politischen Erfolgs und der Katastrophe des europäischen Judentums wird heute häufig vergessen, dass fast gleichzeitig andere spezifisch jüdische politische Richtungen entstanden, wie etwa der sozialistische «Bund» («Algemeyner yidisher Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland»), die jüdische Autonomiebewegung und die Territorialisten sowie liberale, auf Integration als Staatsbürger jüdischen Glaubens bedachte neue Organisationen.

Diese Politisierung des europäischen Judentums begann bereits 1860. Als Reaktion auf die sogenannte Damaskus-Affäre von 1840 und den Mortara-Fall von 1858 wurde 1860 die «Alliance Israélite Universelle» gegründet, die es sich zum Ziel setzte, in Not geratenen Juden weltweit mit Unterstützung zur Seite zu stehen. Bei der Damaskus-Affäre handelte es sich um die aus dem christlichen Europa in den muslimischen Orient importierte Beschuldigung, Juden in Damaskus hätten ein Christenkind getötet und dessen Blut zu rituellen Zwecken benutzt. Diese für überholt geglaubte Legende des Mittelalters hatte nicht nur zu schweren Ausschreitungen gegen syrische Juden geführt, sondern wurde selbst von französischen Diplomaten anfangs für bare Münze genommen. Angesehene britische und französische Juden wie Sir Moses Montefiore und der französische Justizminister Adolphe Crémieux beeilten sich, den Irrsinn derartiger Anschuldigungen nachzuweisen und den bedrohten Juden zu Hilfe zu eilen. Beim Mortara-Fall ging es um die Zwangstaufe eines jüdischen Jungen in Italien, die von der katholischen Kirche gutgeheißen wurde. Mit der Gründung der Alliance, die bei ähnlichen Fällen Beistand leisten sollte und letztlich vor allem dazu diente, mit Hilfe eines weitverbreiteten französischsprachigen Schulsystems den Bildungsstand der vorderasiatischen und nordafrikanischen Juden zu heben, war erstmals ein moderner internationaler Rahmen für jüdische politische Betätigung geschaffen.

Der «Centralverein deutscher Staatsbürger
jüdischen Glaubens»