Érik Orsenna
begleitet von
Thierry Arnoult
*
C.H.Beck
In den neun höchst originellen Episoden dieses Buches wird die Geschichte der Gitarre von den Pharaonen bis zu Jimi Hendrix als weltgeschichtliches Ereignis behandelt. Die mit viel Witz und Erfindungsreichtum erzählten Geschichten oder Träume dieses Buches verdanken sich auch der besonderen Beziehung Érik Orsennas zur Musik allgemein und speziell zur Gitarre. In einer für ihn typischen Mischung aus Realismus und Phantasmagorie erzählt er intelligent und unterhaltsam, komisch und grotesk von der heilenden und die Welt verwandelnden Kraft der Kunst.
Érik Orsenna, geb. 1947, ist Schriftsteller, Ökonom, Mitglied der Académie Française und leidenschaftlicher Seefahrer. Er wurde u.a. mit dem Prix Goncourt und dem Lettre Ulysses Award ausgezeichnet. Bei C.H.Beck sind von ihm neben anderem erschienen: Portrait eines glücklichen Menschen. Der Gärtner von Versailles (52009), Lob des Golfstroms (22007), Weiße Plantagen. Eine Reise durch unsere globalisierte Welt (22007), Die Zukunft des Wassers (2010), Lied für eine geliebte Frau. Roman (2010), Auf der Spur des Papiers. Eine Liebeserklärung (2014).
Sabine Müller, geb. 1959, und Holger Fock, geb. 1958, übersetzen seit vielen Jahren französische Literatur. 2011 wurden sie mit dem Eugen-Hellé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Mein Bruder Thierry Arnoult ist Psychiater und begeisterter Musikliebhaber, Schüler des argentinischen Komponisten und Gitarristen Raúl Maldonado. Dank meines Bruders hat mich die Gitarre meine ganze Kindheit über begleitet. Durch die Wand zwischen unseren Zimmern, die dünner nicht hätte sein können, hörte ich ihn tausendmal die Etüden von Fernando Sor, ein bestimmtes Präludium von Bach oder die Transkription der geliebten fünften Bachiana Brasileira von Villa-Lobos üben.
Seine Heldenvirtuosen waren auch meine Helden: Andrés Segovia, John Williams und Julian Bream, nicht zu vergessen das legendäre Duo Ida Presti/Alexandre Lagoya.
Und jeden Sonntag gegen sechs Uhr nachmittags lauschten wir andächtig der sanften, ein wenig traurigen und klaren Stimme eines gewissen Robert J. Vidal. Er berichtete immer vom «Concours international de guitare», einem Wettbewerb, den er ins Leben gerufen hatte und dessen erster Preis bei allen großen Nachwuchsgitarristen begehrt war. Von den Ausscheidungswettbewerben bis zum Halbfinale schien dieses geheimnisvolle Turnier nie ein Ende zu nehmen. Wie die Jugend.
E.O.
PS: Diese Erzählung ist 1996 zum ersten Mal veröffentlicht worden. Das Buch war vergriffen. Wir haben die Neuausgabe genutzt, um die Geschichte durch einige Reisen zu ergänzen und Geheimnisse zu offenbaren, die Liebhaber der Gitarre gewöhnlich für sich behalten.
«Ich möchte sie Ihnen zurückbringen…»
«Und warum, wenn ich fragen darf …?»
Die Stimme des Instrumentenbauers, hoch und dünn wie die aller Greise, zitterte vor Wut.
«Ist sie Ihnen runtergefallen? Stellen Sie sich vor, eine Gitarre ist empfindlich! Man muß vorsichtig mit ihr umgehen.»
Der Instrumentenbauer drehte und wendete die Gitarre nach allen Seiten. Mit Handbewegungen von bestürzender Zärtlichkeit, als ob er sie streichelte …
«Ich kann nichts sehen. Wo ist die Schramme?»
Es gibt hochgeschossene junge Männer, die so zart gebaut sind, als wären sie aus Glas. Der Besucher war einer von ihnen. Und er war schüchtern, so schüchtern … Als er die Tür aufstieß, hätte er nie gedacht, daß ihn in einem so kleinen Laden ein solcher Sturm empfangen würde. Am liebsten hätte er Reißaus genommen. Zu spät. Eine Kraft hielt ihn zurück, er war gefangen. Eingeschüchtert sah er sich um. Es herrschte ein unvorstellbares Durcheinander: An den Wänden lehnten Furnierblätter; im Gebälk hingen, mit Klammern an einer Wäscheleine befestigt, Girlanden aus schmierigen Skizzen, dazu alle denkbaren Arten von Sägen, Unmengen von Zangen, ein Wald von Pinseln und vor allem Körper, ein Dutzend offene Klangkörper, die aussahen wie Rümpfe beim Schiffsbau, nur daß sie kleiner waren, wie Spielzeugschiffe. Eine seltsame Werft.
Der junge Mann holte tief Atem, nahm allen Mut zusammen. Es roch nach Staub, Leim und Lack.
«Das ist es nicht.»
«Tatsächlich? Was dann?» höhnte der Instrumentenbauer. «Ah, lassen Sie mich raten: Sie klingt falsch. Stimmt’s?Fragen Sie sich lieber einmal, ob nicht Ihre Finger schuld daran sind. Was verstehen Sie eigentlich von Musik, Sie Grünschnabel?»
«Nichts. Das ist es ja. Ich bin kein Musiker. Mein kürzlich verstorbener Onkel …»
Der Instrumentenbauer würdigte ihn noch immer keines Blickes. Er hatte nur Augen für das Instrument.
«Die Gitarre stammt eindeutig von mir. Ich kann Ihnen sogar sagen, von wann: Sommer 1939. Frühherbst möglicherweise. Eine meiner letzten vor dem Krieg.»
«Deshalb dachte ich… Wozu eine Gitarre, wenn man nicht spielen kann?»
«Und da dachten Sie …»
Die Stimme des Instrumentenbauers klang verändert: Seine Wut war verraucht, hatte einem belustigten Ton Platz gemacht. Kleine, schelmische Augen hefteten sich auf den Besucher.
«Ich dachte …, also… Kommt es vor, daß Sie eine Ihrer Gitarren zurücknehmen?»
«Kann alles vorkommen. Sogar, daß einer seine Chance nicht nutzt.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Sie haben diese Gitarre nicht zufällig geerbt. Eine Gitarre bekommt man nie zufällig geschenkt. An Ihrer Stelle würde ich sie ein paar Wochen behalten, mal sehen, was zwischen ihr und Ihnen geschieht.»
Der junge Mann sagte nichts. Vielleicht braucht man länger zum Nachdenken, wenn man so großgewachsen ist.
«Was ist? Wollen Sie hier Wurzeln schlagen? Soll ich sie nun behalten, oder nehmen Sie sie wieder mit?»
Wortlos streckte der junge Mann die Arme aus.
«Ausgezeichnet. Das ist mir viel lieber. Jetzt muß ich Sie noch warnen. Sehen Sie den Gitarrenhals? Sieht er nicht aus wie ein Schiffsmast mit seiner ganzen Takelage? Ein umgelegter Mast. Was das heißt? Dieses Schiff braucht keine Segel. Nicht der Wind trägt es weiter, sondern die Musik. Ich möchte Sie nicht im unklaren darüber lassen. Wer eine Gitarre in sein Leben aufnimmt, muß sich darauf gefaßt machen, viel in der Welt herumzukommen. Ein letzter Rat: Nehmen Sie sie in der ersten Zeit mit ins Bett. Damit sie Vertrauen zu Ihnen gewinnt. Sie werden sehen, sie wird es Ihnen danken. Und jetzt gehen Sie. Ich muß noch zwei Geigen fertigmachen. Alles Gute auf Ihren Reisen!»
«Wie bitte?»
«Auf Ihren Reisen! Ja, Sie haben richtig gehört: im Plural! Ich kenne meine Tochter, sie wird Sie weit forttragen. Weit im Raum und weit in der Zeit.»
*
Der Rest des Tages verlief belanglos.
Der schüchterne junge Mann ging nach Hause. Legte die Gitarre auf sein Bett. Ging zur Universität. (Er studierte Medizin: An jenem Nachmittag lernte er alles über das Kniegelenk.) Abends kehrte er erschöpft zurück. Schlief gleich ein. Und damit fing alles an.
Stein auf Stein erhob sich eine Pyramide zur Sonne. Vom anderen Ende der Welt traf ein langer Zug Kamele ein, Salzplatten schlugen ihnen gegen den Leib. Drei spitze Segel glitten über den Nil. Ein Fellache döste im Schatten eines Esels, den die Fliegen quälten. Lebewesen und Dinge flimmerten in der Hitze. Die Welt war jung. Und der Pharao fuhr mit seinem Lenkwagen spazieren. Plötzlich schmeichelte eine Melodie sein Ohr. Er folgte ihr: Sie kam von dem staubbedeckten Mann, der auf einem Felsen saß.
«Wie nennst du dieses seltsame Instrument? Was für ein eigenartiger Kasten, und dazu der Stiel! Dergleichen habe ich nie zuvor gesehen. Und doch haben mich die klaren und leisen Töne bezaubert.»
«Kitàr», antwortete der Musiker. «In meiner Heimat Persien bedeutet ki ‹drei›, und ‹Saite› heißt tàr.»
«Mögen ihr und dir ein langes Leben beschieden sein.»
Der Musiker verneigte sich und ging davon. Seine kitàr trug er auf dem Rücken. Der Pharao sah ihm hinterher, bis er am Horizont verschwand.
Lange blieb der Pharao nachdenklich stehen, dann hob er den rechten Arm. Ein Ratgeber eilte herbei.
«Gibt es viele solche Nomaden?»
«Herr, die Nachricht wird Sie vielleicht beunruhigen», antwortete der Ratgeber, «aber es werden immer mehr. Die Menschen heute verstehen sich nicht mehr darauf zu schweigen, und nichts hält sie an einem Ort. Sie sind unstet und ziehen fortwährend mit ihrer Musik über den Schultern umher.»
«Aber wozu brauchen sie Musik? Was fehlt ihnen? Zeichnungen, Malerei, Gestaltung genügen doch! Sieh.»
Der Pharao zeigte auf die Paläste, die Säulengänge, die Nekropolen in der Umgebung. Der Ratgeber zuckte die Schultern.
«Es heißt, ein Waldgeist sei der Grund für diese Narrheit.»
«Wald? Aber hier gibt es nur Sand!»
«Das ist es gerade, es heißt auch, die Musik sei eine Sehnsucht.»
Am Morgen eilte der junge Mann in eine Bibliothek, Abteilung Altägypten. Mühelos erkannte er den Ort aus seinem Traum wieder: die Nekropole von Giseh in der Nähe von Kairo. Dort hatte der Pharao Cheops um 2650 vor Christus die große Pyramide bauen lassen. Ein anderes Buch bestätigte ihm die Richtigkeit seiner Vision: Die Gitarre gab es schon in jener Frühzeit. Wie einer Geliebten fieberte er der Nacht entgegen. Wohin würde ihn die Musik diesmal entführen?
Spöttische Lamas, verschneite Berge…
Diesmal gab es keinen Zweifel: Die Gitarre hatte Meere und Jahrtausende durcheilt und war in Peru angelangt. Und nach den Rüstungen zu schließen, mußte es sich um das schreckliche Zeitalter der spanischen Conquista (16. Jahrhundert) handeln.
Alle versammelten Inkas sahen, daß ihr Herrscher Tränen vergoß.
Sie täuschten sich nicht, sie hatten den Grund für diese Tränen erraten: Mit Angst hatten sie nichts zu tun. Ein Herrscher, ein Sohn der Sonne, fürchtete sich vor niemandem. Der Herrscher weinte aus einem anderen Grund, der Herrscher weinte vor Verwunderung. Er verstand nicht, warum hundertzweiundachtzig Fremde von so weit her gekommen waren, um die Welt zu zerreißen.
Vor der Ankunft dieser Hundertzweiundachtzig – verflucht sollen sie sein! – war alles ruhig und jedes Teil des Universums an seinem Platz. Der Sonnengott herrschte über die Menschen, und unter ihren Füßen bebte die Erdgöttin. Die Erde war die Mutter von allem. Mit Flöten und Trommeln sprach man zu ihr. Sie antwortete mit dem Grollen der Vulkane, dem Rauschen der Wälder, dem Murmeln der Quellen. An stürmischen Tagen wurde die Erde sogar richtig gesprächig. Die Maiskolben schwankten auf ihren Stengeln und schlugen aneinander – scha-ka, scha-ka… –, und man kam zusammen und tanzte zu diesem dumpfen Rhythmus.
Warum also waren diese hundertzweiundachtzig Seefahrer auf ihren furchterregenden Tieren gekommen und schwangen ihre hohlen, feuerspuckenden Stöcke, warum waren sie gekommen, metzelten die Inkas nieder und störten die alte Ordnung der Dinge?
Und der Herrscher Atahualpa weinte.
Ein Herrscher weint, wenn das Reich zerbricht, das auf seinen Schultern ruht. Die Tränen, die er vergießt, sind das Blut einer verwundeten Welt.
Der Anführer der Hundertzweiundachtzig, der Spanier Francisco Pizarro, stieg vom Pferd. Der Herrscher sah ihn nicht an. Der Herrscher sah niemanden an. Der Herrscher richtete seine Augen immer auf seinen Vater, den Sonnengott.