Albert von Schirnding

Galerie der guten Geister

Von Sappho bis Beckett

C.H.Beck

Zum Buch

Kein Leben ohne gute Geister, ohne die Lebensbegleiter, auf deren Zuspruch man sich verlassen kann. Albert von Schirnding hat sie vor allem in der Literatur, aber auch in der Philosophie und der Musik gefunden. In diesem Buch hat er sie versammelt, von Sappho bis Samuel Beckett, und ihnen zauberhafte Miniaturporträts gewidmet, die zeigen, was die Kunst und das Denken für ein Leben bedeuten können.

Albert von Schirndings kleiner Kanon, seine «Galerie der guten Geister», ist die Summe lebenslanger Lektüre. Nicht wegzudenken ist daraus zum Beispiel Sappho, die Aphrodite bittet, ihr im Kampf um die Zuneigung eines Mädchens beiseitezustehen; oder Hamlet, der dem Vierzehnjährigen das wunderbare Gefühl gab, ein Robinson zu sein, von dem niemand weiß – in einem Irgendwo, das zwischen den Ufern von Sein und Nichtsein liegt. Auch begegnen wir Novalis, dessen Existenz in jeder Faser von Liebeskraft durchdrungen war, und Schopenhauer, der seine Leser lehrt, dass die Wahrheit auch mit dem Schlechten und Hässlichen zusammenfallen kann statt mit dem Guten und Schönen, und dessen Philosophie trotzdem Trost spendet. Albert von Schirnding verlockt uns dazu, seine Lieblinge aus dem Geisterreich neu zu entdecken und einige von ihnen auch als unsere guten Geister zu adoptieren.

Über den Autor

Albert von Schirnding ist Lyriker, Erzähler, Essayist und Literaturkritiker. Bekannt geworden ist er u.a. als Interpret griechischer Philosophie. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Für C.H.Beck hat er 2005 Ludwig Reiners’ Anthologie «Der ewige Brunnen» aktualisiert und erweitert. Daneben sind von ihm bei C.H.Beck u.a. erschienen: «Die 101 wichtigsten Fragen: Thomas Mann» (2008) sowie seine Übersetzungen von Platons «Symposion» (2012) und Sapphos Gedichten («Und ich schlafe allein», 2013).

Inhalt

Vorwort

Gilgamesch

Archilochos

Sappho

Sokrates

Platon

Epikur

Menander

Vergil

Boethius

Dante

Shakespeare

Spinoza

Bach

Winckelmann

Lessing

Pestalozzi

Goethe

Mozart

Hölderlin

Hegel

Friedrich Schlegel

Novalis

Kleist

Brentano

Marianne

Schopenhauer

Ranke

Platen

Die Droste

Nestroy

Mörike

Pocci

Kierkegaard

Wagner

Büchner

Keller

Nietzsche

Freud

Wedekind

George

Sonnleitner

Gide

Annette Kolb

Morgenstern

Proust

Hofmannsthal

Scheler

Thomas Mann

Rilke

Carossa

Ina Seidel

Furtwängler

Trakl

Heidegger

Rudolf Pfeiffer

Karl Max Barth

Britting

Bergengruen

Ernst Jünger

Friedrich Georg Jünger

Reinhold Schneider

Beckett

Koeppen

Klaus Mann

Cesare Pavese

Georg Thurmair

Benedikt XVI.

Nicolas Bouvier

Manfred Bissinger

Waltraud Meier

Vorwort

Kein Leben ohne gute Geister. Ich wollte sie zu fortgeschrittener Zeit noch einmal um mich versammeln. Nicht alle haben sich rufen lassen, aber es sind mehr geworden, als ich zunächst dachte. Natürlich sind sie beim Schreiben nicht in der Reihenfolge erschienen, die sie im Buch einnehmen (nach ihren Geburtsdaten), sondern wie Stimmung und Zufall es wollten. Ebenso wenig, wie der Abstand zwischen ihrer und meiner Lebenszeit etwas über ihre Nähe sagt (manchmal stehen mir die entferntesten Figuren am nächsten), korrespondiert der Umfang des einzelnen «Porträts» mit dem Maß der Bedeutung, die der Porträtierte für mich hat. Indem ich sie nun überblicke, fallen mir vor allem Defizite ins Auge: Fast alle sind Schreibende. Kein einziger Maler! Ich hätte Caravaggio, Runge, Rottmann, Macke als «Lieblinge» nennen, aber nur ganz dilettantisch über sie schreiben können. Auch der Anteil, den die Musik an meinem Geisterreich hat, spiegelt sich in der «Galerie» höchst fragmentarisch. Vor Schubert kapituliert meine Sprache.

Der Geist weht bekanntlich, wo er will. Aber die Geister sind ortsgebunden. Wäre ich anderswo aufgewachsen als in Regensburg, hätte ich nicht die längste Zeit meines Lebens in München und in seiner nahen Umgebung verbracht, sähe die hier präsentierte Gesellschaft teilweise anders aus. Und auch mit der Zeitlosigkeit der geistigen Prägungen ist es nicht weit her. Es ist nicht gleichgültig, wann einer zum ersten Mal den «Sturm» sieht, die «Verwandlung» liest, den «Tristan» erlebt, vor der «Pietà» im Petersdom steht. Und je älter ich wurde, umso seltener stellten sich jene Stimmen ein, die in frühen Jahren mit betörender Polyphonie auf mich einsprachen. Deswegen die häufigen Hinweise auf das jugendliche Alter des Be-Geister-ten. Der durch den Zuspruch der meisten auf diesen Blättern skizzierten Lebensgeleiter erst nach und nach zu sich selber kam.

Gilgamesch

Ein mittlerweile verstorbener Freund schenkte mir das Reclam-Heft mit der Übersetzung des Gilgamesch-Epos von Albert Schott. Eine lateinische Widmung sprach von der Hoffnung, die Lektüre werde den Empfänger so sehr bewegen, ut lacrimas effundat quam plurimas, dass er in Tränen zerfließe. Aber die hatte ich längst vergossen. Seinerzeit war es wohl nur eine Nacherzählung in der Insel-Bücherei gewesen. Ich hatte sie fünfzehnjährig in dem unserem Regensburger Haus gegenüberliegenden, von Effner gestalteten Dörnbergpark gelesen. Dessen westlicher Teil ist nun, wie ich sechseinhalb Jahrzehnte später (2017) bei einem flüchtigen Besuch in der entfremdeten Stadt feststellen musste, abgesperrt, weil die Knochen aus einem in Urzeiten hier angelegten Friedhof – die Archäologen sprechen von fünfzigtausend Toten – über ausgestorbene Krankheiten Auskunft geben sollen. Insel-Pappband und Reclam-Heft sind durch die gnadenlosen Fortschritte der Forschung Makulatur geworden. Aber die Stimme des Gedichts, das vor fünftausend Jahren mit dem Beginn der Hochkultur in Südmesopotamien entsprang, habe ich nicht aus dem Ohr verloren. Am Anfang war nicht schlechthin das Wort, am Anfang war die Klage, und nicht die Klage des seiner Familie und seines Hab und Guts beraubten Hiob, sondern die Klage eines Königs um den toten Freund.

Archilochos

Er ist der erste griechische Lyriker, im frühen siebten Jahrhundert geboren, den Atem Homers und Hesiods im Rücken – der erste Lyriker überhaupt, der erste Dichter, der Ich sagt. Wie aus dem Nichts taucht dieses eimi d’egó, «ich bin», am Anfang eines Zweizeilers auf, der ihn im ersten Vers als Diener seines Herrn, des Kriegsgottes, im zweiten als Dichter vorstellt. Die Form des elegischen Distichons – Hexameter und Pentameter – bindet den sachlichen Gegensatz, der nicht größer sein könnte: zwischen der Handhabung tödlicher Waffen im Kampf, wie jeder ihn aus der «Ilias» kennt, und der ebenso ihrer selbst sicheren Könnerschaft im Hervorbringen von Gedichten, für die Archilochos hier ein Beispiel gibt. Sie versteht sich im wörtlichen Sinn als Begabung, als Geschenk der Musen. Und dieses Geschenk ist eratón, hat also mit Eros zu tun; «lieblich» ist ein sehr schwaches deutsches Wort dafür. Gar nicht lieblich ist das Kriegshandwerk, bei dem man nichts geschenkt bekommt, eine selbsterlernte Kunst, der es um Vernichtung des Gegners und das eigene Überleben geht. Heraklit wird anderthalb Jahrhunderte später die Harmonie von Bogen und Leier behaupten. Der Bogen, das Werkzeug des Todes, und die Leier, die mit ihren Liedern für das Fortleben der gefallenen Helden sorgt, sind Instrumente desselben Gottes: Apollons. Ohne Leben kein Tod, ohne Tod kein Leben. Archilochos aber ist kein homerischer Held mehr und noch kein Denker wie Heraklit. Er hat, wie ein Vierzeiler bezeugt, seinen Schild in feindlichem Terrain zurückgelassen; es war der Preis, um den er sich in Sicherheit gebracht hat. Also kein sinnloses Opfer des unersetzbaren eigenen Lebens. Er pfeift auf eine postume Existenz im Lied. Ewig schade wäre es nur um das einmalige lebendige Ich. Archilochos wird sich einen neuen, ebenso guten Schild anschaffen. Es gibt keine Harmonie von Leben und Tod. Was den Gegensatz von Kriegs- und Dichtkunst zusammenspannt, ist allein die Kraft dieses Egó, das Archilochos heißt und das nicht als Objekt eines Sängers, sondern als Subjekt seiner Gedichte überlebt.

Sappho

Sie bittet Aphrodite, ihr symmachos zu sein, das heißt: ihr im Kampf zur Seite zu stehen. Symmachoi waren griechische Truppenkontingente; sie leisteten König Menelaos, der durch den Raub seiner Frau Helena gedemütigt war, unter Führung seines Bruders Agamemnon Beistand im Kampf gegen Troja. Auch ich, lässt Sappho uns wissen, bin im Krieg. Mein Troja heißt thiasos, der Mädchenkreis, den ich leite. Achill jagt Hektor, ich verfolge ein geliebtes Mädchen, das sich mir verweigert und dessen Abkehr es zu besiegen gilt. In der «Ilias» mischen sich Götter unter die Kämpfenden – an meiner Seite kämpft Aphrodite. Auch hier geht es um Leben oder Tod, wie bei Homer, dem ich, die Frau, mich ebenbürtig weiß.

Sokrates

Nirgends kommt mir Sokrates näher als am Ende seiner Verteidigungsrede, die von Anfang an darauf angelegt ist, die Richter zum Todesurteil zu bewegen. Seine These, Totsein sei kein Übel, begründet er am Schluss nicht nur mit der Aussicht, im Jenseits dem Orpheus und Homer zu begegnen, mit Agamemnon, Odysseus, Sisyphos und wem alles noch Gespräche zu führen. Neben dieser im Mythos überlieferten Verheißung schließt er auch die Möglichkeit nicht aus, dass Totsein mit Nichtsein ohne jede sinnliche Wahrnehmung identisch sei, was ebenfalls ein wunderbarer Gewinn wäre, weil ja schon während des Lebens ein tiefer traumloser Schlaf das Allerbeste sei. Das absolute Nichts als Hoffnung, Nihilismus als Vorgefühl der Glückseligkeit.

Platon

Der Hades ist hier; wir sind tot, leben als Schatten unter Schatten. Es gibt nur einen Weg, die Fessel der ins Totenreich Gebannten abzustreifen und lebendig zu werden, und der ist steil und steinig: der Aus- und Aufweg des Denkens.

Ich bin Schüler von Platons Akademie, nicht des aristotelischen Peripatos. Existiert eine schönere philosophische Theorie (theoria heißt Schau) als die Ideenlehre? Ein Produkt der einzig legitimen analogischen, von Heraklit inspirierten Denkmethode. Die Sonne, die mittels Licht und Wärme allem Seienden zum sichtbaren Dasein verhilft, verhält sich im Reich der Sinne zu den Dingen wie die Idee des Guten zu allen anderen Ideen im Reich des Denkens.

Natürlich «gibt es» keine Ideen. Sie sind ein Gedankenkonstrukt wie jede philosophische und jede religiöse Lehre. Auch Aristoteles’ unbewegter Beweger existiert nur als Gedanke. Aber was heißt hier «nur»?

Die langweilige Scholastik, die alles rubrizieren, in Schubladen unterbringen zu können glaubte, musste auf Aristoteles zurückgreifen. Der Befreier hieß Platon; nicht das Lyzeum, die Akademie wurde in Florenz wiedergeboren. Und das «Symposion» war der erwachenden Geister liebstes Kind. Weil nicht nur Eros und Erkenntnis, sondern auch Dichtung und Philosophie hier eine unauflösliche Verbindung eingehen.

Epikur

Von keinem antiken Ort geht eine stärkere Anziehungskraft auf mich aus als vom Garten des Epikur. Ich sitze mit erprobten Freunden bei maßvollem Weingenuss im Schatten der Mauer, über die Salamander huschen; kein Laut von draußen dringt herein. Gespräche über die Götter und die Welt, deren Zugriff wir uns entzogen haben. Auch der Tod ist ausgeschlossen, weil er uns nur trifft, wenn wir nicht mehr am Leben, nicht mehr anzutreffen sind. Im Haus die Frau, die für unsre Bewirtung sorgt. Nirgends ein geliebtes Mädchen, ein geliebter Knabe, denen Entbehrungsschmerz gilt.

Menander

Menander (342–292 v. Chr.) ist mein griechischer Lieblingsdichter. Den erst vor ein paar Jahrzehnten entdeckten «Dyskolos» habe ich immer wieder im Griechischunterricht gelesen, eine ideale Lektüre für Siebzehnjährige (falls es die noch gibt), und zweimal habe ich ihn mit Schülern recht und schlecht aufgeführt. Von nahezu hundert Komödien, deren Titel bekannt sind, existieren zur Zeit (es werden laufend neue Fragmente gefunden) nur fünf Stücke, die mit großen Textlücken überliefert, aber immerhin als ein Ganzes erkennbar sind; der Rest: Trümmer und Splitter. Die «Menandri reliquiae selectae» sind ein Ruinenfeld wie die griechische Literatur insgesamt.

Menanders jambische Trimeter, der klassische Dialogvers des griechischen Dramas, sind ebenso elegant wie schlicht. Selbst ich, der ich trotz meines altphilologischen Studiums lateinische und griechische Texte mir immer erst übersetzen muss, kann hier partienweise einfach lesen. (Bei dieser Gelegenheit: Ein Rätsel bleibt, wie die athenischen Bürger, die ja alle an den Tragödienaufführungen im Dionysos-Theater teilnahmen, die in schwindelnde Höhen elaborierte Sprache der Chorlieder zwischen den Sprechakten auch nur annähernd verstehen konnten.)

Der Glaube an die Götter war dahin; Richard Dawkins hätte Eulen in das Athen Menanders, des Zeitgenossen Epikurs, getragen. Das Universum, einschließlich des menschlichen Geistes, bestand aus durch den leeren Raum wirbelnden, sich zufällig zusammenballenden Atomen; keine höhere Instanz sorgte für Gerechtigkeit. Menanders Glaube: Der Mensch sei trotzdem zu moralischem Verhalten imstande, zur Gesittung aus Einsicht. Sein Vers «Was für ein erfreuliches Wesen ist der Mensch, wenn er ein Mensch ist!» formuliert den Grund-Satz jeder Form von Humanität, die ja noch nicht bei sich selbst ist, solange Hoffnung auf Glückseligkeit und Furcht vor Verdammung das Handeln lenken. Menschsein ist nichts Gegebenes, sondern eine Möglichkeit. Die ganze Dynamik des griechischen paideia-Denkens steckt in dem Vers: Du bist noch kein Mensch, du musst erst einer werden. Ohne alles Pathos ist das gesagt. Nichts verfehlt die antike Weisheit mehr als Begeisterungstremolo und missionarischer Eifer.

Die freudige Aufregung, die der «Dyskolos» bei seinem Auftauchen aus anderthalbtausendjähriger Vergessenheit hervorrief, habe ich gegen Ende meines Studiums 1957 in München miterlebt. Wir hockten vor unseren jeweiligen für die Zulassungsarbeit zum Staatsexamen nötigen Handapparaten (manche hatten auch eine Thermosflasche nebst eingewickeltem Butterbrot vor sich aufgebaut, denn auch Homer, Sophokles, Thukydides bewahren nicht vor Spießertum). Da überbrachte uns Max Treu, der sehr bejahrte Assistent am altphilologischen Seminar, leuchtenden Auges die Kunde der sensationellen Entdeckung. Ich wusste so gut wie nichts von Menander; der Funke des Hochgefühls sprang dennoch auf mich über.

Es war ein seltener Augenblick der Verkündigung einer Frohbotschaft, die einen Menschen unversehens zum Strahlen bringt, als würde in seinem Innern eine Lichtquelle entsiegelt, und ihn kurzfristig zum Erzengel macht, auch wenn kein Gottessohn geboren wird. Max Treu war das Gegenteil eines sonnigen Menschen. Ein knarrendes Holzbein bewirkte, dass sein Nahen längst gehört wurde, ehe man ihn sah, was gelegentlich zur Flucht verführte. Seine Ernsthaftigkeit beschwerte jedes seiner Worte mit einem bleiernen Gewicht. Aber dieser so staubtrocken und unmusisch auftretende Mann, dem die über Aischylos und Pindar lesenden Ordinarien den langweiligsten aller griechischen Autoren, den durch und durch mediokren Xenophon, überließen, hatte für die zweisprachige Tusculum-Reihe des Heimeran-Verlages die Lyriker Sappho und Alkaios übersetzt, und 1960 erschien ebenda seine Ausgabe des «Dyskolos». Freilich teilte Max Treu das Los aller Übersetzer von bedeutenden, nicht mehr urheberrechtlich geschützten Texten, einer von vielen zu sein. Der «Dyskolos» brachte es als «Menschenfeind» schon sehr bald auf sieben publizierte deutsche Versionen.

Vergil

ara maxima