HERMANN SCHEER

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Der energethische Imperativ:
Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren
Energien zu realisieren ist

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Für Lilli Scheer
geb. 21.2.2004

INHALT

Vorwort von Erhard Eppler

Einleitung
ENERGIEWECHSEL:
DIE ULTIMATIVE HERAUSFORDERUNG

TEIL I
BESTANDSAUFNAHME

1. KEINE ALTERNATIVE ZU ERNEUERBAREN ENERGIEN: DER LANGE VERDRÄNGTE NATURGESETZLICHE IMPERATIV

A. Die Macht des Bestehenden:
Das Weltbild der fossilen und atomaren Energieversorgung

B. Fehleinschätzungen:
Die Hermetik konventionellen Energiedenkens

C. 100 Prozent-Szenarien:
Von technischen Möglichkeiten zu Strategien

D. Strukturkonflikt:
Das Spannungsverhältnis zwischen konträren Energiesystemen

E. Mobilmachung:
Der Energiewechsel als gesamtpolitische Herausforderung

2. METHODEN UND PSYCHOLOGIE DER VERLANGSAMUNG: LÄHMUNGEN, AUFSCHÜBE UND (UN)FREIWILLIGE ALLIANZEN

A. Organisierter Minimalismus:
Weltklimakonferenz und Emissionshandel in der Konzeptfalle

B. Brüchige Brücken:
Atomenergie und CCS-Kraftwerke um jeden Preis?

C. Markt-Autismus:
Die vier Wettbewerbslügen über erneuerbare Energien

D. Mangelnde politische Zivilcourage:
Das Ausspielen der Zukunft durch die Gegenwart

3. SUPERGRIDS ALS PSEUDOPROGRESSIVE BREMSE: DESERTEC- UND NORDSEEPROJEKT ALS NEUE GIGANTOMANIE

A. Supergrids:
Langwierige Umwege zu erneuerbaren Energien

B. Technologie ohne Soziologie:
Das unkalkulierbare Desertec-Projekt

C. Windige Rechnungen:
Die wirtschaftlichen Konsequenzen von Seatec

D. Prioritätenkonflikt:
Der politische Missbrauch von Supergrid-Konzepten gegen dezentrale Stromerzeugung

TEIL II
MENSCHEN, GESTALTUNGSRÄUME UND TECHNOLOGIEN FÜR 100 PROZENT ERNEUERBARE ENERGIE

4. BESCHLEUNIGUNG: FREIE ENTFALTUNG ERNEUERBARER ENERGIEN STATT TECHNOKRATISCHER PLANIFIKATION

A. Systembrecher:
Das wachsende technologische Potenzial für Energieautonomien

B. Akteure:
Die gesellschaftliche und ökonomische Bewegung zu erneuerbaren Energien

C. Vorränge:
Der zeitgemäße ordoliberale Rahmen für eine gesellschaftsfähige Energieversorgung

D. Gemeingut:
Die Schlüsselrolle kommunaler Energievorsorge

5. PRODUKTIVE FANTASIE: DER ENERGIEWECHSEL ALS ÖKONOMISCHER IMPERATIV

A. Synergien:
Neue Produkte für multifunktionale Anwendungen

B. Konversionen:
Die Umwidmung unproduktiver Wirtschaftszweige

C. Befreiung:
Die Chance der Entwicklungsländer und eine »Desert-Economy«

D. Vorbeugung:
Die Zukunftschance der Energieexportländer

6. »AGENDA 21« RELOADED: WELTFÖDERALE INITIATIVEN ZUM ENERGIEWECHSEL

A. 350 ppm:
CO2-Rückholaktionen für expandierende Land- und Forstwirtschaften

B. »Nullzins« für Nullemission:
Entwicklungsfinanzierung für erneuerbare Energien

C. Humanpotenzial:
Internationale Ausbildungsoffensiven und die Rolle der IRENA

D. Die Abwicklung des Atomzeitalters:
Ausstieg aus der Atomenergie durch weltweites Atomwaffenverbot

7. WERTENTSCHEIDUNG: GESELLSCHAFTSETHIK STATT ENERGIEÖKONOMISMUS

ANMERKUNGEN

VORWORT

In Sachbüchern kommt das Wörtchen »ich« selten vor, auch in diesem. Aber da, wo es vorkommt, liegt der Schlüssel zum Verständnis dieses Buches, auch seines Autors Hermann Scheer, der noch erleben musste, wie eine deutsche Regierung den Ausstieg aus dem Ausstieg probte, aber nicht mehr erleben konnte, wie – nach Fukushima – der Deutsche Bundestag im Konsens den beschleunigten Ausstieg beschloss.

Am Schluss der Einleitung zu diesem Buch, das er als »Navigationshilfe für Durchbruchsstrategien« verstanden wissen will, bekennt Scheer:

»Mein Ausgangspunkt sind nicht die erneuerbaren Energien, sondern ist die Gesellschaft – aus der Erkenntnis, welche elementare Bedeutung der Energiewechsel für deren Zukunftsfähigkeit hat. Ich bin nicht von den erneuerbaren Energien zur Politik für diese gekommen, sondern aus meiner Problemsicht und von meinem Verständnis politischer Verantwortung zu den erneuerbaren Energien. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien hat eine zivilisationsgeschichtliche Bedeutung. Deshalb müssen wir wissen, wie wir ihn beschleunigen können. Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit.« (S. 31f.)

Scheer hätte auch schreiben können: »Ich bin kein Fan einer neuen Technik, erst recht kein Technokrat. Ich bin ein durch und durch politischer Mensch, der sich Sorgen macht um seine Gesellschaft und ihre Zukunft. Deshalb ist dieses Buch auch einem sechsjährigen Kind gewidmet.«

Weil Hermann Scheer ein politischer Mensch war, fragte er, welche Interessen für und gegen den Umstieg auf erneuerbare Energien zu mobilisieren wären. Und er befand, dass eine dezentrale Erzeugung von Energie notwendig mit den Interessen – und der Macht – der Energieriesen zusammenprallen musste, die von wenigen Zentralen aus das Land mit Strom oder Öl versorgten. Er setzte daher von Anfang an auf die vielen wachen Bürgerinnen und Bürger, die täglich vom drohenden Klimawandel und alle paar Jahre von gescheiterten Klimakonferenzen erfuhren. Deshalb hatte er in einem Buch nach dem anderen für die Energie geworben, die direkt oder indirekt von der Sonne kommt. Deshalb hatte er der ersten rot-grünen Bundesregierung jenes Gesetz über die erneuerbaren Energien abgerungen, das inzwischen zum Exportschlager geworden ist, weil es nicht auf irgendwelche Behörden setzt, sondern auf die Häuslebauer, die sich ausrechnen können, was die Solaranlage auf dem Dach kostet und was sie einbringt. Und auf die Kommunen, die rasch begreifen, dass der Umstieg auf erneuerbare Energien ihnen endlich die Chance bietet, sich aus der Abhängigkeit von den Konzernen zu lösen.

Schließlich war Hermann Scheer auch Ökonom. Er hielt wenig von Eingriffen einer Bürokratie in das Marktgeschehen, aber sehr viel von der Pflicht des Staates, den Märkten den Rahmen zu zimmern, der einerseits den Marktteilnehmern volle Freiheit der Entscheidung lässt und garantiert, sie andererseits aber anhält, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Scheer hielt nichts von den Marktradikalen, die davon träumten, dass sich die Märkte selbst regulieren könnten, aber genauso wenig von denen, die meinten, ein Oberregierungsrat in einer Behörde wisse besser als ein Unternehmer, was und wie zu investieren sei. Der Gesetzgeber müsse nur den Vorrang der erneuerbaren Energien festschreiben – und das Gesetz über die erneuerbaren Energien ist genauso angelegt –, das Übrige sollten freie Bürgerinnen und Bürger selbst erledigen.

Daher ließ sich Hermann Scheer auch nie entmutigen vom Scheitern der Klimakonferenzen. Er war der Meinung, nahezu 200 Staaten hätten so verschiedene Interessen, dass sie sich niemals auf etwas einigen könnten, was der raschen Energiewende dient. Stattdessen setzte er auf den Wettbewerb der Staaten, auf solche, die vorpreschten und andere nachzogen. Er hielt auch nichts vom Handel mit Zertifikaten für den Ausstoß von Kohlendioxyd. Dieser führe nur zu einem Nullsummenspiel: Wenn ein Land Treibhausgas einspart, kann sich ein anderes die Erlaubnis kaufen, das Gegenteil zu tun. Es könnte durchaus sein, dass Historiker diese Methode des Klimaschutzes dereinst als Produkt einer extrem marktgläubigen Epoche einstufen.

Weil Hermann Scheer politisch dachte, warnte er vor dem, was er den »Scheinkonsens« nannte. Vielleicht hätte er auch das, was bald nach seinem Tod im Bundestag beschlossen wurde, so eingeordnet. Zumindest würde er auch jetzt warnen vor der »Allianz der Aufschieber«, vor denen, die vorgeben, jene »Brücken« zum Zeitalter der erneuerbaren Energien zu bauen, die er für überflüssig hielt. In dem Maße, wie die neuen Energieträger sich durchsetzen, so kalkulierte er, werden die alten überflüssig. Scheer wollte einen »Systemwechsel«, und das bedeutet 100 Prozent erneuerbare Energien. Dieses Ziel zu erreichen ist möglich, sagte er, auch ohne langwierige Großprojekte wie Desertec oder Off-shore-Windparks, die doch wieder zu einer zentral gesteuerten Energieversorgung führen.

Für Scheer mussten die erneuerbaren Energien auch der Wachstumsdebatte eine neue Richtung geben: »Wirtschaftliches Wachstum wird mit Umwelterhaltung und Naturwachstum verknüpft – und damit mit dem einzigen tatsächlichen Wachstumsvorgang auf der Erde: dem von der Sonne bewirkten.« (S. 205) Plötzlich bekommt der Begriff Wachstum einen neuen Sinn.

Als politischer Mensch dachte Scheer weit über die nationalen Grenzen hinaus – was ihm international mehr Anerkennung gebracht hat als im eigenen Land. Erneuerbare Energien waren für ihn die große Chance der Entwicklungsländer. »Ihre Energietragödie begann damit, dass die zentralisierte Struktur der Energieversorgung ... in die Entwicklungsländer implantiert wurde.« (S. 218) Zum einen mussten nun die meisten armen Länder ihre kostbaren Devisen für Ölimporte ausgeben. Außerdem erreichte die Energieversorgung nur die großen Städte, nicht die Mehrheit der Menschen auf dem Land. Mit erneuerbaren Energien lässt sich das flache Land sogar besser versorgen als die Megastädte. Man kann auf dem Land Werkstätten mit modernen Maschinen aufbauen.

Vom Desertec-Projekt sagt Scheer einmal, dieses Projekt sei technokratisch konzipiert, »unter Außerachtlassung aller soziologischen Faktoren.« (S. 150) Und auf diese »soziologischen Faktoren«, die für ihn eine eigene »Soziologik« bilden, kam es ihm an. Eine Gesellschaft, die auf dezentral gewonnene erneuerbare Energien angewiesen ist, sieht anders aus: freier, gleicher, gerechter und – weil sie gemeinsames Handeln, etwa in Genossenschaften braucht – auch solidarischer als eine, in der die Lobbyisten der Öl- und Elektrogiganten in den Wirtschaftsministerien ein- und ausgehen. Menschen werden selbständiger, selbstbewusster, aber auch bereit zur Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten und Gleichberechtigten. Die Gemeinden werden wichtiger, aktiver, verbinden sich untereinander. Aus einer »passiven Energiegesellschaft« (S. 170) wird eine aktive. Und das alles macht die Gesellschaft demokratischer. Scheer benutzte dabei sogar den Begriff der »Emanzipation« (S. 173). Und Emanzipationen geschehen nun einmal von unten nach oben, nicht umgekehrt. Die erneuerbaren Energien sind »Systembrecher«, und um ein System zu brechen, bedarf es einer »Revolution«. Daher fehlt auch dieser Begriff nicht.

Der Amerikaner Jeremy Rifkin hat 2011, ohne Scheer zu erwähnen, dessen Gedanken in einem Buch fortgeführt, dem er den Titel »Die dritte industrielle Revolution« gab. Dort ist zu lesen: »Die Demokratisierung von Energie hat tiefgreifende Implikationen für die Art und Weise, wie wir in diesem Jahrhundert unser Leben an sich orchestrieren.« (S. 135) Rifkin, der Deutschland und seine föderale Geschichte gut kennt, fügt hinzu: »Das dezentrale, kooperative Konzept der dritten industriellen Revolution passt in die deutsche Politik.« Man könnte anfügen: »Wo sie auch konzipiert wurde.«

Selten erreicht ein Politiker – sei es zu seiner Lebenszeit oder später – genau das, was er ursprünglich wollte. Dazu ist die Welt zu kompliziert, sind die politischen Kräfte zu vielfältig. So wird man in zwanzig Jahren auch nicht feststellen können: Es ist alles so gelaufen, wie Hermann Scheer es wollte. Aber eines wird man sicher sagen können: Ohne Hermann Scheer, ohne seine gedankliche Radikalität wären wir nicht so weit gekommen.

ERHARD EPPLER

EINLEITUNG

ENERGIEWECHSEL:
Die ultimative Herausforderung

Alle Welt redet neuerdings von erneuerbaren Energien, mit Sympathie wie für schönes Wetter. Kaum jemand bestreitet noch, dass erneuerbare Energien die Perspektive für die Energieversorgung der Menschheit darstellen. Diese Einsicht galt lange Zeit als Hirngespinst.

Dieser Wahrnehmungswandel ist erst wenige Jahre alt. Im Mai 2002 war ich von der UN zu einer Sitzung in ihrem New Yorker Hauptquartier eingeladen, um in einer kleinen Gruppe ausgewählter Personen ein Problem bereinigen zu helfen, das dem damaligen UN-Generalsekretär Annan aufgefallen war. Die UN stand in der letzten Phase ihrer Vorbereitungen zur »Weltkonferenz über nachhaltige Entwicklung«, die dann im August in Johannesburg stattfand. Aber in dem auf mehreren Vorbereitungskonferenzen erarbeiteten Entwurf für die Abschlusserklärung fehlte jeder Hinweis auf die schlüsselhafte Bedeutung erneuerbarer Energien für eine nachhaltige Entwicklung der Weltzivilisation. Wir sollten nun Formulierungsvorschläge erarbeiten, um diese Lücke zu füllen. Die Episode zeigt, wie tief und verbreitet die Ignoranz gegenüber erneuerbaren Energien noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts war.

Die heutige weltweite Aufmerksamkeit für erneuerbare Energien entstand gegen den politischen, wirtschaftlichen und publizistischen Mainstream der Energiediskussion. Dieser ist nach wie vor gefangen im Weltbild einer Energieversorgung, die von fossilen Energien und der Atomenergie geprägt ist. Die wenigen Wegbereiter eines »Solarzeitalters«, in dem weder Atomenergie noch fossile Energien gebraucht werden, stießen noch in den 1990er Jahren auf tiefsitzende mentale und massive praktische Barrieren. Diese scheinen heute überwunden, aber mehr in Worten als im Denken und in Taten. Vollmundige Bekenntnisse von Regierungen und Energiekonzernen, in denen der Eindruck vollen Engagements für erneuerbare Energien erweckt wird, trüben den Blick für die praktischen Prioritäten. Obwohl Energiekonzerne inzwischen auch in erneuerbare Energien investieren, setzen sie immer noch in erster Linie auf die konventionellen Energien – möglichst bis zum letzten Tropfen Öl, bis zur letzten Tonne Kohle oder Uran und zum letzten Kubikmeter Erdgas, den für sie höherwertigen Energien, weil sich Sonnenwärme oder Wind nicht als Ressourcen verkaufen lassen. Aus dem Widerstand gegen erneuerbare Energien ist eher eine Vereinnahmungs- und Hinhaltestrategie geworden. Die immer dringlichere Umorientierung soll nur in vorsichtigen und dabei oft fragwürdigen Schritten in die Wege geleitet werden.

Immerhin: Inzwischen wird allseits anerkannt, dass die Zukunft der Energieversorgung in den erneuerbaren Energien liegen muss. Die vielfältigen Gefahren und Grenzen der Förderung und Produktion fossiler und atomarer Energien sind unübersehbar geworden. Schon deshalb können erneuerbare Energien nicht länger übergangen werden, zumal sie mit beeindruckenden Zuwachsraten aufwarten. Allein zwischen den Jahren 2006 und 2008 haben sich die weltweiten jährlichen Investitionen in erneuerbare Energien von 63 Mrd. auf 120 Mrd. US-Dollar verdoppelt. Die weltweit installierte Kapazität an Windkraftanlagen wuchs zwischen 2006 und 2009 von 74.000 auf 135.000 MW und die der netzverbundenen Photovoltaik-Anlagen von 5.100 auf 19.000 MW. Mit dem Eingeständnis ihres umfassend nutzbaren Potenzials hat die Auflösung des atomar/fossilen Weltbildes begonnen. Ihre psychologische Kraft ist, dass sich mit ihnen die realistische Hoffnung einer auf Dauer gesicherten und gefahrlosen Energieversorgung verbindet. Sie repräsentieren daher einen den atomaren und fossilen Energien überlegenen gesellschaftlichen Wert. Für das Denken über Energie ist das der springende Punkt.

Wer erkennt, dass erneuerbare Energien nicht nur eine Ergänzung zur gegenwärtigen Energieversorgung darstellen, sondern eine greifbare und umfassende Alternative, kann sich dieser kaum noch verweigern. Bei tatsächlich freier Wahlmöglichkeit werden sich die meisten Menschen für erneuerbare Energien und gegen Atomkraft oder fossile Energien entscheiden. Deutschland liefert dafür das praktische Beispiel. Nach dem im Jahr 2000 in Kraft getretenen Erneuerbare-Energien-Gesetz stieg deren Anteil an der Stromversorgung bis 2009 trotz anhaltender Widerstände von 4,5 auf 17 Prozent und ihr Anteil an der gesamten Energieversorgung von 3 auf 10 Prozent. Parallel dazu wuchs das Vertrauen der Menschen in dieses Energiepotenzial – und damit die Hoffnung und Erwartung, möglichst bald ganz darauf setzen zu können. 90 Prozent der Menschen in Deutschland sind nach Umfragen für einen weiteren massiven Ausbau, 75 Prozent wollen diesen in ihrer Heimatregion – und würden dafür sogar höhere Energiekosten akzeptieren. Weniger als 10 Prozent befürworten neue Atom- oder Kohlekraftwerke![1] Diese hohe Popularität ist trotz ausgiebiger Denunzierung erneuerbarer Energien entstanden, wie sie von konventionellen Energieunternehmen und dem Gros der Energieexperten in der Öffentlichkeit jahrzehntelang mit hohem medialem Aufwand betrieben wurde und notorisch weiter betrieben wird. Dennoch sind beide im Kampf um die öffentliche Meinung in Rückstand geraten – einem Kampf, der unvermindert anhält, inzwischen jedoch mit subtileren Methoden fortgesetzt wird.

Die Diskussion rankt sich heute vor allem um die Frage, wie groß der Zeitbedarf für einen vollständigen Wechsel zu erneuerbaren Energien ist. Kann dieser erst bis 2100 erfolgen? Oder bereits bis 2050? Meiner Überzeugung nach kann dieser Wechsel schneller realisiert werden, wenn wir alle dafür notwendigen Kräfte mobilisieren: weltweit im Zeitraum etwa eines Vierteljahrhunderts und in einigen Ländern und Regionen auch schon früher. Realisierbar ist dieser Wandel nicht nur aufgrund des enormen natürlichen Potenzials der erneuerbaren Energien, sondern auch angesichts des bereits verfügbaren technologischen Potenzials. Er ist nicht nur aus ökologischen Gründen geboten, sondern auch aus klar erkennbaren Gründen wirtschaftlicher Existenzsicherung. Er ist keine untragbare Belastung, sondern eine umfassende neue wirtschaftliche Chance für die Industrieländer und die große Chance für die Entwicklungsländer. Das wichtigste Potenzial dafür ist jedoch das der Menschen. Sie für erneuerbare Energien zu aktivieren, vor allem »die Politik« und »die Wirtschaft«, ist entscheidend. Es erfordert eine beispiellose politisch-kulturelle Kraftanstrengung. Doch historisch beispiellos ist auch die Herausforderung, vor der wir stehen. Sie ist umso schwieriger zu bewältigen, je länger wir sie vor uns herschieben. Zu viel Zeit ist schon verspielt worden.

Warum, wann und wie?

Wird der Wechsel von atomaren und fossilen zu erneuerbaren Energien nur bruchstückhaft und schrittweise vollzogen, stürzt die Weltzivilisation mit hoher Wahrscheinlichkeit in einen alle und alles erfassenden Krisentaumel: Dramatische Klimaveränderungen drohen ganze Lebensräume unbewohnbar zu machen und lösen Massenelend und Wanderungsbewegungen von Hunderten Millionen Menschen aus. Dies bürdet den Gesellschaften mehr Anstrengungen und Kosten für Schadensbegrenzungen auf, als für den Wechsel zu erneuerbaren Energien nötig sind. Schon rufen die Verknappung und Verteuerung atomarer und fossiler Energieressourcen einschneidende wirtschaftliche und damit soziale Brüche in den Industrieländern hervor und lassen die Entwicklungsländer immer weiter verarmen. Es drohen zunehmende internationale Konflikte über die Zugänge zu den Restressourcen, bis hin zu Ressourcenkriegen. Ungelöst und auch unlösbar bleiben die Probleme der Atomenergie, von den ständig schwelenden Sicherheitsgefahren des laufenden Betriebs bis zu denen des Atomterrorismus und dem Jahrtausendmenetekel des Atommülls. Der enorme Wasserverbrauch atomarer und fossiler Kraftwerke verschärft in immer mehr Regionen die Wasserkrise. Die Gesundheitsgefahren der atomaren und fossilen Energieversorgung mehren sich, und die Verseuchung der Meeresbiologie durch Erdöle erstreckt sich bis in die Nahrungskette. All diese gleichzeitig auftretenden und sich gegenseitig verschärfenden Krisen treffen die Gesellschaften ins Mark. Sie signalisieren, weit mehr als die globale Finanzkrise, die Einsturzgefahr des auf fossiler und atomarer Energiebasis entstandenen industriellen Zivilisationsmodells. Dieses hat sowohl in seiner kapitalistisch-marktwirtschaftlichen wie in seiner sozialistisch-planwirtschaftlichen Variante die Lebensgrundlagen bereits schwer beschädigt.

Jedes für den umfassend angelegten und vollständigen Wechsel zu erneuerbaren Energien versäumte Jahr ist deshalb ein verlorenes. Dieser Wechsel ist die ultima ratio: der letztmögliche Weg, existenzielle Gefahren abzuwenden, die irreversibel werden können. Er hat einen ultimativen Stellenwert, weil es keine andere Möglichkeit zur naturgemäßen und dauerhaften Energieversorgung der Menschen gibt. Die Folgen der überkommenen Energieversorgung zwingen uns daher zu unverzüglichem konsequenten Handeln.

Wohlfeile Bekenntnisse zu erneuerbaren Energien sagen wenig darüber aus, welcher Stellenwert ihnen tatsächlich zuerkannt wird: ein erst-, zweit- oder drittrangiger? Bei wem stellt dieses Bekenntnis lediglich ein Zugeständnis an eine besorgte Öffentlichkeit dar? Sind tatsächlich alle bekehrt, die die erneuerbaren Energien so lange negierten? Wird der Wechsel als zwingend geboten oder als aufschiebbar betrachtet? Von Mahatma Gandhi stammt der Satz: »First they ignore you, then they laugh at you, then they fight you, then you win.« In welcher der drei erstgenannten Phasen wir uns befinden, ist je nach Land und dessen Diskussions- und Entwicklungsstand unterschiedlich. Mehr als die Hälfte der weltweit eingeführten Windkraftkapazitäten wird in nur sechs Ländern eingesetzt (USA, Deutschland, China, Dänemark, Spanien und Indien). Etwa die Hälfte der weltweit netzintegrierten Photovoltaik-Anlagen ist allein in Deutschland installiert. Die installierten Kapazitäten für solarthermische Energieversorgung konzentrieren sich zu über 80 Prozent auf China und die Länder der Europäischen Union. Offensichtlich gibt es in zu vielen Ländern immer noch allzu viele, die die erneuerbaren Energien praktisch ignorieren.

Die einen entschuldigen ihr Zaudern damit, dass der Wechsel zu erneuerbaren Energien »viel Zeit« brauche und zu große und schnelle Schritte dahin eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung darstellen würden. Manche glauben das wirklich, andere wollen mit dieser Ausrede nur Zeit gewinnen, um möglichst lange weitermachen zu können wie bisher. Den einen mangelt es an Mut, die Strukturen der konventionellen Energieversorgung aufzubrechen; andere sind hilf- und konzeptlos, wie der Energiewechsel praktisch umgesetzt werden könnte. Gute Absichten sind noch keine Handlungskompetenz, sondern nur eine Vorbedingung dafür.

Immerhin ist die Zeit vorüber, in der es bereits heftiges Sperrfeuer gab, wenn jemand nur öffentlich deklarierte, dass erneuerbare Energien eine durchgängige Alternative zur Atomenergie und zu fossilen Energien sein könnten. Selbst das Ignorieren und Belächeln, die beiden ersten von Gandhi definierten Phasen einer sich letztlich durchsetzenden Idee, waren ja bereits gezielte Methoden des Bekämpfens erneuerbarer Energien. Weil heute die Frage, ob eine Energieversorgung allein mit erneuerbaren Energien möglich sein könnte, grundsätzlich überwiegend mit »ja« beantwortet wird, haben viele den Eindruck, dass der Konflikt über sie abgeflaut sei und sich ein grundsätzlicher Konsens herausgebildet habe. Nunmehr gehe es »nur noch« um das Wann und das Wie. Hier stellen sich allerdings entscheidende Fragen:

– Auf welche Altenergien – also Atomenergie und/oder fossile Energien – soll gesetzt werden, bis alle Energiebedürfnisse allein von erneuerbaren Energien befriedigt werden können?

– Welche der verschiedenen Optionen erneuerbarer Energien sind vorzuziehen und wie können sie sich gegebenenfalls wechselseitig ergänzen? Wie groß ist der Bedarf an Energiespeichern tatsächlich?

– In welchen Strukturen sollen die erneuerbaren Energien verfügbar gemacht werden: in dezentralen und/oder zentralen?

– Welche politischen Konzepte sind für die generelle Transformation zu erneuerbaren Energien ausschlaggebend? Muss der Schwerpunkt auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene liegen?

– Welche Akteure können den Energiewechsel vorantreiben, und welche Rolle spielt dabei die konventionelle Energiewirtschaft?

Welche Antworten gegeben werden, ist von höchster politischer und wirtschaftlicher Brisanz und hat entscheidenden Einfluss darauf, wie die wichtigste Frage beantwortet wird: die Zeitfrage. Kann der historisch fällige, vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien so rechtzeitig realisiert werden, dass wir den von der konventionellen Energieversorgung verursachten Tragödien noch entkommen können? Wer und was bremst, und wie kann die Entwicklung beschleunigt werden? Vor allem an dieser Frage müssen sich alle zuvor gestellten messen lassen.

Scheinkonsens

Der suggerierte Konsens über erneuerbare Energien lenkt davon ab, dass die eigentlichen Konflikte erst begonnen haben, allerdings in veränderter Gemengelage. Er verführt dazu, die mit dem Energiewechsel zwangsläufig verbundenen Konflikte zu unterschätzen – was bedeutet, sich ihnen nicht zu stellen. Diese Konflikte unterscheiden sich zwar von den früheren um erneuerbare Energien, sind jedoch auch tiefgreifender geworden. Wo der Wechsel zu erneuerbaren Energien praktisch eingeleitet ist, geht es jetzt ans »Eingemachte«: Die praktische Ablösung atomarer und fossiler Energien betrifft unmittelbar die Struktur des etablierten Energiesystems, die eng mit den herrschenden Produktions- und Konsumbedingungen, Wirtschaftsordnungen und politischen Institutionen verwoben ist. Sie rührt unmittelbar an die Existenzinteressen der etablierten Energiewirtschaft, die der größte und vor allem politisch einflussreichste Sektor der Weltwirtschaft ist. Dies lässt sich an den widersprüchlichen Entwicklungen der weltweiten Energieaktivitäten ablesen.

Neben den bereits skizzierten Aufbrüchen zu erneuerbaren Energien stehen politische Initiativen wie die von US-Präsident Obama, der chinesischen und der indischen Regierung, ja sogar von Öl- und Gasexportländern in der Golfregion. Die Europäische Union hat mittlerweile gesetzlich festgeschrieben, dass ab 2012 alle geplanten öffentlichen Gebäude einen Null-Emissionsstandard haben müssen, und ab 2020 alle neu zu errichtenden privaten Gebäude – was nur mit erneuerbaren Energien und energieeffizienten Bauweisen erreichbar ist. China bildet in Afrika zehntausend Techniker für Solarenergie aus. In Bangladesh werden mithilfe von Mikrokrediten und der Ausbildung von technischen Servicekräften jährlich mehr als hunderttausend kleine Solaranlagen installiert. In Deutschland, das im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz zum internationalen Vorreiter für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien geworden ist, wird inzwischen in allen Parteien davon gesprochen, bis Mitte des Jahrhunderts die gesamte Stromversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen. Zahlreiche deutsche Städte und Landkreise haben sich entschlossen, innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren die vollständige Umstellung auf erneuerbare Energien zu realisieren; einige haben dies in der Strom- und Wärmeversorgung bereits erreicht, ebenso wie Kommunen in Österreich oder Dänemark.

Große Weltfirmen wie Bosch, General Electric und Siemens haben einen strategischen Schwerpunkt auf erneuerbare Energien gelegt. Auch Stromkonzerne wie die deutschen E.ON und RWE investieren größere Summen in erneuerbare Energien. Automobilkonzerne rüsten sich für die Produktion von Elektromobilen und votieren dafür, deren Strombedarf mit erneuerbaren Energien zu decken. Große Banken, von der New Yorker Wallstreet bis zu den Bankenplätzen in Frankfurt und London, haben ansehnliche Kreditportfolios für erneuerbare Energien bereitgestellt, und Investmentfonds für erneuerbare Energien sprießen wie Pilze aus dem Boden. Die überwiegend kleineren und mittleren Unternehmen, die sich auf erneuerbare Energien spezialisiert haben und zu Pionieren wurden, sind nicht mehr unter sich. Einige wachsen zu großen Unternehmen, andere werden von großen Konzernen übernommen, die damit Versäumtes aufholen wollen.

Doch andererseits sind gegenläufige Entwicklungen nicht zu übersehen, die immer noch ganz andere Prioritäten verraten: Weltweit wird immer noch deutlich mehr in konventionelle Energien investiert; 2009 war es das Vierfache. Es sind Investitionen in konventionelle Großkraftwerke und Pipelines, teilweise in zweistelliger Milliardenhöhe und mit langen Amortisationszeiten, die die bestehenden Verhältnisse für mehrere Jahrzehnte festschreiben. Präsident Obama musste sich für seine Initiativen die weitere Förderung von Atomenergie, den Bau neuer Kohlekraftwerke und umstrittene Genehmigungen für neue Ölbohrungen und Pipelines vom US-Kongress abringen lassen. In China liegt der Schwerpunkt auf dem Bau neuer Kohlekraftwerke, ebenso in Indien. Eine milliardenschwere Subventionswelle für die Abscheidung von CO2 in Kohlekraftwerken läuft bereits – gefördert werden sogenannte CCS-Kraftwerke, um das CO2 anschließend in Erdlager zu pressen. Schon hat die EU-Kommission für diese Technologie mehr Investitionshilfen bereitgestellt als für die direkte Investitionsförderung in erneuerbare Energien. Der Energiekonzern Shell hat seine in den 1990er Jahren begonnene Solarinitiativen schon wieder weitgehend aufgegeben und verkündet stattdessen sein Engagement für CCS-Investitionen. In der kanadischen Provinz Alberta graben gigantische Bagger Teersände in einem dafür vorgesehenen Fördergebiet von 20.000 qkm aus, um daraus fossile Kraftstoffe zu produzieren; mit erschreckenden Eingriffen in den natürlichen Wasserhaushalt, weil für die Produktion von einem Liter Erdöl 20 l Wasser gebraucht werden. In West Virginia, der US-Kohleregion, werden ganze Berge weggesprengt, um mit immer größeren Baggern noch mehr Kohle zu fördern. Die katastrophalen Folgen von Tiefenbohrungen auf dem Meeresboden konnte die Weltöffentlichkeit im Golf von Mexiko vor der US-amerikanischen Küste verfolgen. Schon hoffen einige auf schmelzendes Nordpoleis, um die unter der Eisdecke liegenden fossilen Ressourcen fördern zu können.

Der französische Staatspräsident Sarkozy hat zwar mehr Initiativen für erneuerbare Energien eingeleitet als seine Vorgänger, betätigt sich aber vorwiegend als internationaler Handlungsreisender, um Aufträge für Atomkraftwerke nach Frankreich zu holen. Die britische Regierung hat zwar im April 2010 ein Einspeisegesetz für erneuerbare Energien nach deutschem Vorbild beschlossen, betreibt aber gleichzeitig den Bau neuer Atomkraftwerke. Die finnische Regierung hat im April 2010 die Baugenehmigung für zwei neue Atomreaktoren beschlossen, obwohl die Partei der Grünen an der Regierung beteiligt ist. Polen plant aktuell zwei Atomkraftwerke. Die italienische Regierung unter Ministerpräsident Berlusconi hat den Bau von Atomreaktoren angekündigt, obwohl 1987 eine Volksabstimmung gegen Atomkraftwerke votierte. Russland und die Ukraine vereinbarten im Frühjahr 2010 einen gemeinsamen Plan, ihr atomtechnisches Know-how zu bündeln, innerhalb eines Jahrzehnts ihre Atomstromproduktion zu verdoppeln und diese international anzubieten. Abu Dhabi hat Anfang 2010 vier Atomreaktoren in Korea bestellt, und Vietnam will in die Atomproduktion einsteigen. Selbst Brasilien – das Land, das zusammen mit Russland, Kanada und Australien das üppigste natürliche Potenzial erneuerbarer Energien besitzt – plant neue Atomkraftwerke. Die Internationale Energieagentur (IEA) fordert bis 2050 den Bau von jährlich zweiunddreißig neuen Atomkraftwerken, was bedeuten würde, dass alle elf Tage ein neues hinzukäme. Ein aggressives Weitermachen, selbst wenn diese Energien nachweislich kostspieliger werden als erneuerbare Energien: Was gefunden wird, muss gefördert und verkauft werden. Die globale »Pyromanie«, wie ich diese Zwangsvorstellung in meinem Buch »Solare Weltwirtschaft« nannte, wird unverdrossen fortgesetzt: »drill, drill, drill« ist die von »big oil« intonierte Parole des Krieges gegen die Umwelt, die selbst während der Bohrkatastrophe im Golf von Mexiko nicht verstummte. Das Schicksalsspiel mit der Erde wird fortgesetzt, immer mit der Rechtfertigung, dass das Potenzial erneuerbarer Energien »derzeit« nicht ausreichend sei.

Obwohl also erneuerbare Energien salonfähig geworden sind, sollen sie keinesfalls den Bestand des fossilen und atomaren Energiesystems antasten, sondern nur für den zusätzlichen Energiebedarf zur Verfügung stehen: Es soll also möglichst keine Substitution atomarer und fossiler Energien stattfinden! Dieses Bestandsinteresse wird auch in Deutschland geltend gemacht. Es schlägt sich nieder im Versuch, den 2001 beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig zu machen, ebenso in zahlreichen Plänen für den Bau neuer Kohlekraftwerke – mit Kapazitäten, als wären die erneuerbaren Energien kaum noch weiter ausbaufähig. Gleichzeitig häufen sich orchestrierte Attacken auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das einen schnellen Ausbau begünstigt. Zum Chor der Abwiegler erneuerbarer Energien gehören auch wirtschaftswissenschaftliche Institute. Der neue Konsens über erneuerbare Energien ist ein Scheinkonsens. Die etablierten Kräfte der Energieversorgung zielen allenfalls auf eine Koexistenz von atomaren und fossilen mit erneuerbaren Energien – mit möglichst großem Anteil für erstere und der Forderung, dass erneuerbare Energien in die Strukturen der herkömmlichen Energieversorgung eingepasst und entsprechend kanalisiert und beschränkt werden müssten.

Das Grundmuster des eigentlichen Energiekonflikts hat sich also kaum geändert. Es ging dabei immer nur vordergründig um das Pro oder Contra zu erneuerbaren Energien, im Kern doch stets um die Strukturen der Energieversorgung und die Verfügungsmacht darüber. Die Ausrichtung auf die fossilen Energiequellen und später auf die Atomenergie ließ das heutige System der Energieversorgung entstehen. Die Umorientierung auf erneuerbare Energien gefährdet seine Struktur. Deshalb richten sich – nach der Phase der Ablehnung und des Belächelns ihrer Wegbereiter – nunmehr die Kräfte darauf, das Tempo des Energiewechsels zu drosseln. Deshalb mehren sich auch die Versuche der traditionellen Energiewirtschaft, Einfluss auf politische Entscheidungen, die Medien und die öffentliche Meinung zu nehmen. In den USA wurden unmittelbar mit dem Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama mehr als zweitausend hochbezahlte Lobbyisten der amerikanischen Energiewirtschaft zusätzlich nach Washington geschickt, mit dem Auftrag, die angekündigte Energiewende durch gezielte Bearbeitung von Kongressabgeordneten und Medien zu durchkreuzen. Viel Geld wird für »greenwashing« ausgegeben, wie es Toralf Staud in seinem Buch »Grün, grün, grün ist alles, was wir kaufen« beschreibt.[2] Dass ehemalige Regierungsmitglieder unmittelbar nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt ins Management von Energiekonzernen überwechseln, nimmt ebenso auffällig zu wie die Zahl von Journalisten, die von Energiekonzernen als Medienberater angestellt werden, um öffentliche Landschaftspflege zu betreiben. Hinter dem Nebengeschäft für erneuerbare Energien wird das Hauptgeschäft mit konventionellen Energien weiter verfolgt.

Der »nervus rerum«

Der »neue« Energiekonflikt bricht vor allem dort aus, wo die Einführung erneuerbarer Energien schon so weit fortgeschritten ist, dass sie konventionelle Energien in größeren Anteilen ersetzen können. Das wahre Problem unter der Decke des Scheinkonsenses, der nervus rerum des Konflikts, besteht darin, dass die Systemerfordernisse –gemeint ist damit der technische, infrastrukturelle, organisatorische, finanzielle und nicht zuletzt politische Gesamtaufwand – der Bereitstellung von Atomenergie und fossilen Energien mit den Erfordernissen der erneuerbaren Energien nicht vereinbar sind. Das Ziel muss jedoch die vollständige Ablösung des bestehenden Energiesystems sein. Nur auf einen begrenzten Anteil erneuerbarer Energien zu setzen, wäre eine nicht zu rechtfertigende strategische Selbstbeschränkung mit der Konsequenz, das konventionelle System langfristig fortzuschreiben und es sogar politisch weiter stützen zu müssen. Und es bedeutet, über einen längeren Zeitraum zwei unterschiedliche Systeme der Energieversorgung unterhalten zu müssen, die sich ab einem bestimmten Punkt gegenseitig im Weg stehen.

Zweifellos muss auf dem Weg zu hundert Prozent erneuerbaren Energien eine Übergangsphase durchschritten werden, mit wachsenden Anteilen erneuerbarer Energien an der Energieversorgung bei sinkenden Anteilen der konventionellen Energien, bis diese schließlich insgesamt ersetzt sind. In dieser Phase ist jedoch entscheidend, welche Systemerfordernisse maßgeblich sind: die des eingespielten Energiesystems oder die für erneuerbare Energien angemessenen. Damit ist ein Konflikt vorprogrammiert, der in der Geschichte der modernen Energieversorgung einmalig ist. Auf der einen Seite steht das konventionelle Energiesystem, das die gesamte Energieversorgung nach seinen Funktionserfordernissen durchstrukturiert hat und auf das alle entsprechenden Gesetze zugeschnitten sind. Auf der anderen Seite steht die Perspektive eines vollständig auf erneuerbaren Energien basierenden Systems mit großenteils konträren Funktionserfordernissen, für das politische Systemregeln bisher nur in Ansätzen entwickelt wurden.

Zwischen dem jetzigen und dem anzustrebenden Zustand liegt eine Phase vieler Friktionen und Widersprüche. Nennen wir sie eine Hybridphase in Analogie zum Hybridauto, das mit zwei Motoren für zwei unterschiedliche Antriebsenergien ausgestattet ist. Das überkommene Energiesystem hält die Trumpfkarte eines eingespielten Konzepts und verlangt einen nur langsamen Energiewechsel, der nach seinen Regeln vollzogen werden soll. Die Trumpfkarte der erneuerbaren Energien ist nicht nur, dass es zu ihnen perspektivisch keine Alternative gibt, sondern dass sie tendenziell unabhängig vom konventionellen Energiesystem genutzt werden können und gesellschaftlich höher bewertet werden. Derzeit befinden wir uns jedoch noch in einer trial-and-error-Situation – mit einer Vielzahl konkurrierender Konzepte, die mehr oder weniger durchdacht sind und deshalb leicht gegeneinander ausgespielt werden können. Darin liegt das eigentliche Realisierungsproblem des Energiewechsels.

Die Frage, wie diese Klippen überwunden werden können, um erneuerbare Energien schnell zur Entfaltung zu bringen, hat schlüsselhafte Bedeutung. Entscheidend ist einerseits, die Schwächen wie auch die Stärken des überkommenen Energiesystems zu erkennen. Umgekehrt muss jede Durchsetzungsstrategie auf die eigentlichen Stärken der erneuerbaren Energien bauen und sie zur Geltung bringen. Die jeweiligen Stärken und Schwächen sind nicht nur technischer und wirtschaftlicher Art, sondern auch mentale und nicht zuletzt politische. Weil das systemische Spannungsverhältnis der nervus rerum des Energiewechsels ist, steht der Systemkonflikt im Zentrum dieses Buches.

Alte und neue Fronten

In der »Hybridphase« der Umstellung verändern sich die Konstellationen und auch die Akteure. Lange Zeit waren die Fronten zwischen den Protagonisten erneuerbarer und konventioneller Energien klar und überschaubar. Auf der einen Seite die anfangs noch geringe Zahl von Wegbereitern erneuerbarer Energien: Organisationen für erneuerbare Energien, Umweltverbände, Umweltinstitute, einzelne Akteure in der Politik, Pionierunternehmen und Sympathisanten in den Medien. Auf der anderen Seite eine fast einhellige Ablehnungsfront, bestehend aus der Energieindustrie, den mit ihr traditionell eng kooperierenden Regierungen, den etablierten Forschungsinstituten und Wirtschaftsverbänden sowie dem Gros der Industrieunternehmen und Wirtschaftsmedien. Diese Fronten sind inzwischen aufgeweicht, und dabei haben auch Akteure die Seiten gewechselt.

Industrieunternehmen, Kreditinstitute und Investmentgruppen haben erkannt, dass die Anlagenproduktion und die Finanzierung von Projekten für erneuerbare Energien für sie eine attraktive und wirtschaftliche Perspektive darstellt. In Wirtschafts- und Industrieverbänden, die lange Zeit fest an der Seite der etablierten Energiewirtschaft standen und mit dieser die Untauglichkeit der erneuerbaren Energien sowie die »Wirtschaftsfeindlichkeit« ihrer Verfechter anprangerten, werden inzwischen Loblieder auf die mit erneuerbaren Energien verbundenen Marktchancen laut. Kommunale Energieunternehmen, die zum Anhängsel der konventionellen Energieversorgung geworden waren, sehen neue Chancen, mit erneuerbaren Energien in Zukunft eine eigenständige Rolle zu spielen. Je populärer erneuerbare Energien werden, desto mehr stellen sich die politischen Parteien und Institutionen auf sie ein.

Auch in der etablierten Energiewirtschaft wächst eine neue Generation von Entscheidungsträgern heran, die erkennt, dass Atomenergie und fossile Energien in eine Sackgasse führen. Sie versuchen deshalb, den Einstieg in erneuerbare Energien in einer Weise zu gestalten, die in die Struktur der überkommenen Energieversorgung passt. Die alte Methode der Verweigerung hat sich verbraucht. Jetzt geht es ums Mitmachen, darum, in den anfahrenden Zug einzusteigen und zumindest noch dessen Fahrplan und Geschwindigkeit beeinflussen zu können. Außerdem versuchen Energiekonzerne ihr Festhalten an Atomenergie und fossilen Energien öffentlich damit zu rechtfertigen, dass sie selbst auch in erneuerbare Energien investieren.

Parallel zur Auflösung der bisherigen Verweigerungsfront hat sich auch das Spektrum der Protagonisten erneuerbarer Energien differenziert. Politische Ansätze, die die Entwicklung angestoßen haben, müssen modifiziert werden. Dazu gibt es vielerlei Vorschläge, denen es aber oft an Konsistenz und vorausschauender Konzeptklarheit mangelt. Konkurrierende Interessen, die sich im Zuge der Entfaltung erneuerbarer Energien herausgebildet haben, brechen auf, sobald es um die Anteile am sich vergrößernden Kuchen geht. Befürworter erneuerbarer Energien, die gleichwohl die überkommene Energiewirtschaft als Dreh- und Angelpunkt der Energieversorgung betrachten, sehen in deren verändertem Tonfall Kooperationsbereitschaft. Produzenten von Erneuerbare-Energien-Anlagen erhalten Bestellungen von Energiekonzernen und werden Geschäftspartner. Forschungsinstitute für erneuerbare Energien erhalten inzwischen auch Studienaufträge von etablierten Energieunternehmen. Regierungen laden zu Konsensgesprächen ein, in denen es um ein Nebeneinander und Miteinander von konventionellen und erneuerbaren Energien und um das wechselseitige Abstecken von Claims geht. Vielen Verfechtern erneuerbarer Energien, die sich lange in einer verachteten Außenseiterrolle befanden, erscheint das als großer Fortschritt. Und weil Konsens immer angenehmer ist als Konflikt, entsteht daraus auch praktische Kompromissbereitschaft, in der oft unversehens die meist unsichtbare Grenze überschritten wird, an der ein Kompromiss aufhört und die Kompromittierung beginnt.

Dies alles ist typisch für Übergangsphasen, in denen sich alle Beteiligten auf eine neue Situation einstellen und viele auf einen Konsens hoffen, der ihnen gewisse Sicherheiten gibt. Nicht jeder kann oder will dabei an die Gesamtentwicklung denken. So hilfreich und konstruktiv ein Konsens sein kann, so sehr kann er auch lähmen. Die Frage muss stets sein: Konsens für was und mit wem, und wer sitzt dabei am längeren Hebel? Ein Konsens unter allen, die von dem Wandel in sehr unterschiedlicher Weise tangiert sind, führt zwangsläufig zur Verlangsamung. Oder Konsens unter denjenigen Kräften, die ein gemeinsames Ziel anstreben und sich dafür verbünden? Ein Konsens aller Betroffenen für einen schnellen Energiewechsel wäre nur denkbar, wenn das damit verfolgte Ziel eine »win-win«-Perspektive für alle eröffnete. Dieses Versprechen wird gerne von denen geäußert, die notwendigen Konflikten ausweichen wollen. Bei der Umorientierung zu erneuerbaren Energien ist jedoch ein »win-win« objektiv unmöglich.

Der Wechsel zu hundert Prozent erneuerbaren Energien bedeutet den umfassendsten wirtschaftlichen Strukturwandel seit dem Beginn des Industriezeitalters. Ein Strukturwandel ohne Verlierer und Gewinner ist undenkbar. Verlierer werden unweigerlich die Anbieter der konventionellen Energien sein – in welchem Ausmaß das der Fall ist, hängt von ihrer Einsicht, Bereitschaft und Fähigkeit ab, sich an Haupt und Gliedern umzustrukturieren, sich mit drastisch sinkenden Marktanteilen abzufinden und neue Tätigkeitsfelder für sich zu finden, die keine energiewirtschaftlichen mehr sein werden. Versuche, der Verliererrolle in diesem Wandlungsprozess zu entkommen und ihre zentrale energiewirtschaftliche Rolle zu behalten, führen zu widersprüchlichen, untauglichen und teuren Verlangsamungsstrategien. Die Gewinner des Wechsels werden die Weltzivilisation insgesamt und ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften sein, und in diesen die Technologieunternehmen sowie viele lokale und regionale Unternehmen. Es wird in jedem Fall entschieden mehr Gewinner des Energiewechsels als Verlierer geben. Einem großen Teil der potenziellen Gewinner sind die Chancen noch nicht bewusst, weshalb sie noch auf der Gegenseite stehen. Den größeren Einfluss auf das praktische Geschehen haben derzeit noch die etablierten potenziellen Verlierer, den geringeren die noch längst nicht etablierten Gewinner.

Realer Realismus

Zwar treibt jede wirtschaftliche wie auch politische Initiative für erneuerbare Energien, unabhängig von dem jeweiligen handlungsleitenden Motiv, die Entwicklung irgendwie voran. Dennoch sind nicht alle gleichwertig und für die Realisierung eines schnellen Energiewechsels gleich geeignet. Deshalb ist es entscheidend, die Spreu vom Weizen zu trennen und zu erkennen,

– welche Initiativen die uneingeschränkte Entfaltung erneuerbarer Energien ermöglichen und welche sie nur in einem beschränkten Ausmaß erlauben – und ob sie sich ergänzen oder wechselseitig im Wege stehen;

– welche Konzepte die Zahl der Akteure für erneuerbare Energien erweitern und ihnen die erforderlichen Handlungsspielräume geben, und welche demgegenüber das Spektrum auf wenige Akteure reduzieren, von denen dann der weitere Verlauf abhängig ist;

– welche Initiativen den vielfältigen Motiven für die Umorientierung auf erneuerbare Energien gerecht werden, statt sie auf einen Zweck – etwa ihre Bedeutung für den Klimaschutz – zu verengen, was automatisch zu beschränkten Konzepten führt.

Der Katalog strittiger Fragen ist groß: Was muss von internationalen Vertragsbemühungen abhängig gemacht werden? Sind die Weltklimaverhandlungen der Königsweg, von dem alles weitere abhängt, oder ein Trampelpfad, auf dem kaum etwas vorankommen kann? Fördert der Emissionshandel den Energiewechsel oder bremst er ihn? Sind umfassendere multilaterale Ansätze nötig oder mehr einzelne Schrittmacher? Welchen Stellenwert haben die verschiedenen Optionen für erneuerbare Energien? Sollen erneuerbare Energien vorwiegend dort gewonnen werden, wo mehr Sonne scheint oder mehr Wind weht, also in räumlicher Konzentration, oder überall? Was ist unter einer »kostengünstigen« und »wirtschaftlichen« Energieversorgung zu verstehen? In den Vordergrund der strittigen Fragen rückt dabei zunehmend die Diskussion über »dezentrale« oder »zentrale« Strukturen einer Energieversorgung mit erneuerbaren Energien: Sind Großkraftwerke dafür überhaupt notwendig, und wenn, unter welchen Bedingungen? Ist ein weiträumiger Netzausbau mit »Supergrids« auch für eine überwiegend dezentrale Bereitstellung erneuerbarer Energien unverzichtbar, oder muss der Schwerpunkt bei regionalen und lokalen »smart grids« liegen? Aus diesen Streitfragen ergeben sich nicht nur unterschiedliche Handlungskonzepte, sondern auch Zielkonflikte über die Einführung erneuerbarer Energien, die angesprochen und ausgetragen werden müssen. Davor scheuen nicht nur Parteien und Regierungen, sondern auch viele Verfechter erneuerbarer Energien zurück und erklären aus Gründen der Konfliktvermeidung alle divergierenden Konzepte für gleich wichtig und förderungswürdig.

Kontroversen über die Mittel und Wege zu erneuerbaren Energien werden nicht nur in politischen Institutionen ausgetragen, sondern auch in Umweltorganisationen und Organisationen für erneuerbare Energien. Sie verwirren viele und führen zu öffentlicher und politischer Verunsicherung darüber, welcher Weg zum Energiewechsel eingeschlagen werden soll. Deshalb ist eine kritische Bestandsaufnahme überfällig, die die verschiedenen Ansätze nach ihren praktischen Erfolgsaussichten und Konsequenzen bewertet. Über allem steht dabei die Frage, warum die unübersehbar und unaufschiebbar gewordene energetische Existenzfrage – die nicht zuletzt eine ethische ist – immer noch überwiegend halbherzig behandelt wird, obwohl die dafür angegebenen Gründe fadenscheinig sind und ein konsequent forcierter Energiewechsel unerlässlich geworden ist. Es gibt kürzere und längere Wege, die »nach Rom führen«. Sie sind mit vielerlei unterschiedlichen Widerständen und Umsetzungsproblemen gepflastert und haben verschiedenartige politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Auswirkungen. Umso wichtiger ist es, diejenigen Wege klar zu erkennen, auf denen das Ziel des Energiewechsels am schnellsten erreichbar ist. Ob diese Wege eingeschlagen werden, darf nicht nur betriebswirtschaftlich oder »energiepolitisch«, sondern muss volkswirtschaftlich, gesamtpolitisch und nicht zuletzt nach ethischen Grundsätzen entschieden werden.

reale Realismus,