Mit der Aggression gegen die Ukraine steht das friedliche Zusammenleben der europäischen Staaten in Frage. Der Westen reagiert unsicher und zögerlich: Wohl auch, weil man dort nur wenig über die Geschichte der ukrainischen Nation und über den größten Flächenstaat Europas weiß. Sich ein Bild zu machen von einem Land, das noch immer weitgehend an Europas Peripherie und im Schatten Russlands liegt, ist das Ziel der hier versammelten Porträts ukrainischer Städte und Landschaften. Lemberg, Odessa, Czernowitz, Kiew, Charkiw, Donezk, Dnipropetrowsk, die Krim – sie stehen für die Ukraine als ein Europa im Kleinen. Karl Schlögel, profilierter Historiker und Kenner Osteuropas, hat sich auf vielen Reisen in der Ukraine umgesehenen und macht klar, was hier auf dem Spiel steht. 1991 und zuletzt auf dem Majdan haben sich die Ukrainer dafür entschieden, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – heute hat niemand das Recht, diese Entscheidung gewaltsam rückgängig zu machen.
Hanser E-Book
Karl Schlögel
ENTSCHEIDUNG
IN KIEW
Ukrainische Lektionen
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-25038-3
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2015
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München,
© Yevgen Nikiforov
Satz: Greiner & Reichel, Köln
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Europas Ukraina – Einleitung
Schreiben im Situation Room. Einsam
Abschied vom Imperium, Abschied von Russland?
Versuch einer
Selbsterklärung
Absage an Putin – Warum überhaupt Russland? – Faszination – Es gab das andere Russland – Aufbruch und Sackgasse – Fassungslosigkeit und Sentimentalität – Demütigung und failing man – Der überforderte Westen: Ukraine – terra incognita – Information war – Wortmeldung des anderen Russland – Die Ukraine auf der mental map der russischen Intelligenz
Sich ein Bild machen: Die Ukraine entdecken
Die Ukraine so nah, so fern – Der imperiale Blick: Die Abwesenheit der Ukraine im Horizont der Zeitgenossen – Auf der Suche nach der »Großen Erzählung« – Europe’s Frontier: Die Ukraine als Laboratorium der Grenzen – Erfahrung der Frontier und Arbeit an der politischen Nation – Bedrohung von außen als Geburtshelfer der Nationsbildung – Phänomenologie der Revolution und Geburt der politischen Nation – Krieg. Einbruch der Gewalt und Ende der Diskurse – Europas Frontier – Die russische Krise hinter der ukrainischen – Die Ukraine wird ihren Weg gehen
Kiew, Metropolis
Zwischen den Zeiten – Kiewer Panorama, Kiewer Relief – »Vatikan der Orthodoxie« Höhlenkloster, Petscherskyj – Podil. Stadt am Fluss. Magdeburger Stadtrecht. Mohyla-Akademie – Boomtown, Belle époque – Michail Bulgakow: Der Meister und die Stadt – Laboratorium Kiew: Malewitsch dekoriert die Stadt – Generalplan für die Hauptstadt der Sowjetukraine – Kiew unter deutscher Herrschaft – Mit Anatoli Kusnezow auf dem Weg nach Babij Jar – Kiew – Der dritte Ort
Ach Odessa. Eine Stadt in der Zeit großer Erwartungen
Odessa 2015 – Ach Odessa. Eine Stadt in der Zeit großer Erwartungen – Glückliche Gründung – »Leben wie Gott in Odessa«. Die Stadt zwischen 1870 und 1930 – Blockade, geschlossene Stadt – Eine Stadt in der »Zeit großer Erwartungen«
Promenade in Jalta
Updating Jalta 2015 – Promenade in Jalta – Die Promenade von Jalta – Mythos Krim – Die »rote Riviera« – Von Jalta nach Mallorca
Schaut auf diese Stadt: Charkiw –
eine Hauptstadt des 20.
Jahrhunderts
Die Abwesenheit einer großen europäischen Stadt in unserem Horizont – Charkiw im fin de siècle – Hauptstadt, Rote Moderne, Red Downtown – Mit Lew Kopelew nach Charkiw – Ukrainische Topographien der Gewalt – Die Deutschen in Charkiw – Das »fünfte Charkiw«. Der Sound des neuen Charkiw
Dnipropetrowsk – Rocket City am Dnjepr und Potjomkins Stadt
Stadtpläne für Touristen und Terroristen – Jekaterinoslaw: »Petersburg des Südens«, »Athen des Nordens« – Zeitachse Katharinen-Prospekt/Karl-Marx-Prospekt – Das jüdische Jekaterinoslaw – Dnjepropetrowsk unter deutscher Besatzung – Geschlossene Stadt: Goldenes Zeitalter/Stagnation
Donezk: Urbizide im 20. Jahrhundert
Kidnapping: Eine Stadt als Geisel, Städtetod – Das Ende des Donbass-Museums – Jusowka: Industrieller Take-off und Katastrophe – Stalino: Donbass-Sinfonie und Großer Terror – Ground Zero: Die Deutschen in Donezk – Donezk – Wiederaufbau und Rückkehr des Krieges
Czernowitz – City upon the hill
Vorspruch zu Czernowitz 2015 – Czernowitz – City upon the hill – Kolonialstadt – Klein-Österreich – Zangenbewegung – »Vor dem Abgrund des Himmels«
Lemberg – Hauptstadt der europäischen Provinz
Lemberg, Vorspruch im Jahre 2015 – Lemberg – Hauptstadt der europäischen Provinz – Metropole im Übergangsgebiet – Schnittpunkt vieler Welten – Die Auflösungssequenz – Das junge Lwow
Der Schock. Den Ernstfall denken
Danksagung
Literaturhinweise
Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird;
ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird; ob die Europäische Union zusammenhalten oder auseinanderfallen wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden. Es ist nicht lange her, da gab es diesen Staat, dieses Volk, diese Nation im allgemeinen Bewusstsein kaum. Besonders in Deutschland war man daran gewöhnt anzunehmen, dass sie irgendwie Teil »Russlands«, des Russischen Reiches oder der Sowjetunion war und dass man dort eine Sprache sprach, die so etwas wie eine Unterart des Russischen sei. Die Ukrainer haben mit ihrer »Revolution der Würde« auf dem Majdan und mit dem Widerstand, den sie der versuchten Destabilisierung ihres Staates durch Russland entgegensetzen, gezeigt, dass diese Ansicht von der Wirklichkeit längst überholt ist. Es ist Zeit, noch einmal einen Blick auf die Landkarte zu werfen und sich neu zu vergewissern.
Jedenfalls gilt dies für mich. Ein Buch zur Ukraine zu schreiben war in meinem Lebensplan nicht vorgesehen. Aber es gibt Situationen, wo man nicht anders kann und wo man gezwungen ist, alle Planungen über den Haufen zu werfen und sich einzumischen. Putins Handstreich gegen die Krim, der seither weitergehende Krieg in der östlichen Ukraine ließen mir keine andere Wahl. Dies nicht deshalb, weil ich mich für besonders kompetent hielte, sondern eher im Gegenteil: Ich musste feststellen, dass man sich ein Leben lang mit dem östlichen Europa, mit Russland und der Sowjetunion beschäftigt haben konnte, ohne eine genauere Kenntnis von der Ukraine besitzen zu müssen – und ich war nicht der einzige im Fach, der zu dieser Einsicht kam. Erst recht gilt dies für das allgemeine Publikum. Im medialen Dauergespräch ging es fast ausschließlich um Putins Russland, das zudem nicht als politisches Subjekt, als Akteur verstanden wurde, sondern als Opfer, das auf Aktionen des Westens reagierte. Man sprach selten mit den Ukrainern, sondern vielmehr über sie und ihr Land. Man hörte leicht heraus, dass viele Diskutanten das Land, über das sie sprachen, nicht kannten, es nicht für nötig ansahen, sich dort umzusehen. Während jedermann etwas zur »russischen Seele« einfiel, kam vielen – ausgerechnet den Deutschen, die zweimal im 20. Jahrhundert die Ukraine besetzt und verwüstet hatten – nicht mehr in den Sinn als das Klischee von den Ukrainern als ewigen Nationalisten und Antisemiten. Fast ohnmächtig stand man dieser kompakten Ignoranz und Anmaßung gegenüber, die sich auf ihre Fortschrittlichkeit auch noch etwas einbildete. Während man jede Woche im Fernsehen wählen kann zwischen Dutzenden von Russland-Filmen – vorzugsweise Flussreisen und historischen Dokumentationen –, hat das (öffentliche) Fernsehen es auch nach einem Jahr, in dem die Ukraine zum Kriegsschauplatz geworden war, nicht zuwege gebracht, diesem Land ein Gesicht zu geben, das über die Bilder vom Majdan hinausginge – keine Dokumentation über Odessa oder den Donbass oder die Geschichte des Kosakentums, keine Tour durch Lemberg oder Czernowitz – Orte, mit denen man in Deutschland – dank der alten wie der jungen Dichter – durchaus etwas anfangen kann. Kurzum: Die Ukraine blieb eine Leerstelle im Horizont, ein weißer Fleck, von dem allenfalls Beunruhigung ausging.
Dieses Buch ist der Versuch, mein Versuch, sich ein Bild von der Ukraine zu machen. Es ist keine Geschichte der Ukraine, wie sie von Historikern in herausragenden Werken bereits erzählt und dargestellt worden ist (die in meinen Augen wichtigsten sind im Anhang aufgeführt). Es ist auch nicht der Versuch, die laufenden Ereignisse darstellen und kommentieren zu wollen – eine Arbeit, die von den Journalisten und Reportern manchmal auf geradezu heroische Weise geleistet wird. Meine Art, mir ein Bild zu machen, ist die Erkundung geschichtlicher Topographien. Meine Weise, mir die Geschichte und Eigenart eines Landes oder einer Kultur vor Augen zu führen, ist die Begehung von Orten und die Erschließung von Räumen. Ich habe diese Methode in meinem Buch »Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik« (2003) dargestellt. Man kann »Städte lesen«, Städte als Texturen und Palimpseste dechiffrieren, ihre Schichtungen in einer Art urbaner Archäologie freilegen und ihre Vergangenheit so zum Sprechen bringen. Städte sind erstrangige Dokumente, die gelesen und erschlossen werden können. Sie erweisen sich dann – anders als in der makrokosmisch-globalen oder der mikrokosmischen Perspektive – als Punkte maximaler Verdichtung geschichtlicher Ereignis- und Erfahrungsräume.
Im Zentrum des vorliegenden Bandes stehen Porträts ukrainischer Städte. Sie sind das Ergebnis dieser Art von urbaner Archäologie. Der Blick auf diese mittlere Ebene hat unschätzbare Vorteile, gerade im Kontext einer Geschichte der Ukraine als einer nicht ethnisch, sondern politisch definierten Nation, deren Territorium von der Geschichte und Kultur ganz verschiedener Imperien geprägt worden ist. Es ist gerade das Fragmentarische, Partikulare, Regionale, das etwas sehr Spezifisches der ukrainischen Nations- und Staatsbildung zum Ausdruck bringt. Die hier versammelten Städtebilder sind nicht vollständig – wie gern hätte ich Winniza oder Tschernigiw aufgenommen und das vom Holodomor so furchtbar heimgesuchte ukrainische Dorf. Wie wichtig wäre es gewesen, auch Uman oder Drohobytsch aufzusuchen, um die noch sichtbaren Spuren des in der Shoah vernichteten Shtetl, dem einstigen Zentrum des osteuropäischen Judentums, zu lesen. Aber auch der Gang über die Dammkrone von Dneproges, dieser Ikone sowjetischer Modernisierung, hätte dazugehört. Trotz dieser Beschränkungen glaube ich, dass die vorliegenden Studien den Blick für die außerordentliche Komplexität, aber auch den Reichtum der Ukraine schärfen können. Die Erkundung dieses Grenzlands Europas, dieses »Europas im Kleinen« hat eben erst begonnen.
Die Städtebilder zu Lemberg und Czernowitz stammen aus den späten 1980er Jahren, die Porträts von Odessa und Jalta aus dem Jahre 2000. Schon an anderer Stelle veröffentlicht, sind sie von den geschichtlichen Ereignissen überrollt und überholt worden, aber sie halten eine Perspektive und einen Perspektivwandel fest, der selber höchst aufschlussreich ist: Lemberg und Czernowitz waren in unseren Horizont in einer Zeit getreten, als Mitteleuropa, das Europa jenseits von Ost und West, sich zu Wort gemeldet hatte; die Ukraine lag also schon damals im Horizont Europas. »Die Mitte liegt ostwärts«, hatte ich in den 1980ern noch vor dem Fall der Mauer formuliert. Nun stellt sich mit Blick auf Städte wie Charkiw, Dnipropetrowsk, Donezk heraus, dass die Osterweiterung unseres Blicks noch weiter in dieser Richtung fortschreiten muss. Auch an der Beschreibung der Krim und Odessas kann man etwas sehr Wichtiges ablesen: die imperiale Prägung des postsowjetischen, damals aber schon zur Ukraine gehörenden Raumes, die sich nicht von heute auf morgen wegdekretieren lässt, sondern noch lange fortwirkt.
Die Ukraine hat sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen, und die Lebensform, für die sie sich entschieden hat, zu verteidigen, der russischen Aggression Widerstand zu leisten. Der Majdan war eine Erhebung im Zeichen nicht nur der blau-gelben Flagge der Ukraine, sondern der blauen Europafahne mit den goldenen Sternen.
Eine technisch-redaktionelle Bemerkung: Texte, die von russisch-ukrainischen Problemen handeln, sind nicht nur mit dem üblichen Problem der Übertragung von Personen- und Ortsnamen ins Deutsche konfrontiert – die Entscheidung für die eher leserfreundliche Transkription oder die wissenschaftliche Transliteration –, sondern auch mit dem Problem, welche Sprache in einem zweisprachig geprägten Land zur Bezeichnung verwandt wird – die russische oder die ukrainische. Es war hier ein Mittelweg zu gehen zwischen der eingespielten Lesegewohnheit, in der das Russische dominant war, und der sanften Ukrainisierung, die stattfindet, ohne dass sie als affirmative action forciert werden müsste. Einen mittleren Weg zu finden, ohne dem einen oder dem anderen Gewalt anzutun, ist nicht ganz einfach. Was die Anmerkungen betrifft, wurde in den Essaytexten auf Fußnoten und Literaturverweise verzichtet; doch findet sich die verwendete und zitierte Literatur im Anhang zu den einzelnen Kapiteln.
Karl Schlögel, Wien im Juni 2015
In gewöhnlichen Zeiten kann man sich die Bedingungen seines Schreibens aussuchen. Man bestimmt den Arbeitsrhythmus, arbeitet die Literaturliste durch, baut Kapitel nach Kapitel. Alles hat seine Zeit, ist überschaubar, machbar. Aber dann gibt es Augenblicke, Situationen, in denen all das über den Haufen geworfen wird und man sich neu einrichten, sich neu aufstellen muss, will man irgendwie Schritt halten mit der Zeit und sein Gleichgewicht zurückgewinnen. Der Rhythmus, in dem man plant, wird dann von Ereignissen bestimmt, die von außen kommen. Man muss auf sie reagieren, sich irgendwie verhalten, nicht weil man mitspielen, sich vernehmlich machen, »seine Stimme erheben« will, sondern weil es einen getroffen hat, weil es plötzlich um alles geht: um das, woran man ein Leben lang gearbeitet hat, weil man sich gleichsam verwundet fühlt. Es bleibt einem nichts übrig, als sich zu wehren, von zurückschlagen will man gar nicht reden. Diese Situation ist eingetreten mit dem Massaker an den Demonstranten auf dem Kiewer Majdan Nesaleschnosti, dem Unabhängigkeitsplatz, den wir immer nur kurz »Majdan« nennen, also ganz einfach »Platz« – und mit der frechen Lüge Wladimir Putins, es gebe gar keine Annexion der Krim, wo wir sie doch mit eigenen Augen gesehen haben.
Situation Room, das Wort tauchte irgendwann im letzten Jahr gehäuft auf, angeblich ein bekanntes Format, von CNN entwickelt – You’re in the Situation Room – where news and information are arriving all the time. Standing by: CNN reporters across the United States and around the world to bring you the day’s top stories. Happening Now … I’m Wolf Blitzer, and You’re in the Situation Room – die Urform dafür sei der unter Präsident Kennedy eingerichtete Situation Room im Weißen Haus gewesen: ein Zentrum, in dem Echtzeit-Informationen zusammenlaufen und zusammengefasst werden. Ein Bild von der Welt auf einen Blick.
Wenn die Welt einem so naherückt, dass sie einen nicht mehr machen lässt, was man sich vorgenommen hatte, dann wird nicht alles, aber fast alles anders. Man hält sich die Nachrichten nicht mehr vom Leibe, man ist vielmehr dringend auf sie angewiesen. Jemand wie ich, der seinen Widerstand gegen das Internet, die jederzeitige Verfügbarkeit nicht aufgegeben hat, muss sich in kürzester Zeit mit den Techniken des Netzes vertraut machen, will er auf dem Laufenden bleiben. Nicht aus Bildersucht, nicht zum Zeitvertreib, sondern weil von der nächsten Nachricht, vom nächsten Ereignis alles abhängt: dass die Kette der Gewalt abbricht, zum Stillstand kommt, oder dass es weitergeht. Jede Sekunde sind Katastrophen nicht bloß denkbar, sondern Wirklichkeit. Man wird hineingezogen in den Strudel der Informationen, die heute unendlich umfangreich, unendlich zahlreich und unendlich vielfältig, sich widersprechend, sich gegenseitig dementierend sind. Zusammenfassende Analysen, Kommentare, Meinungen folgen in kürzestem Abstand, aber auch sie sind kein Haltepunkt, auf dem man sich ausruhen oder an dem man festhalten könnte, denn sie werden von den laufenden Ereignissen sofort wieder gekippt, überholt. Man ist über Tausende von Kilometern Entfernung dennoch dabei, es sind Tausende von Augen, aufgestellt an Tausenden von Punkten in dem Raum, in dem das Geschehen abläuft: Das ist die Fensterbank des Eckhauses im Leninskij Rajon in Donezk, von der aus die Straßenkreuzung überschaubar ist, wo der Alltag der besetzten Stadt abläuft: Dort fahren Panzerfahrzeuge, aber es werden auch Radwege gebaut – während im Hintergrund die Granateneinschläge zu hören sind –, es gibt die Bilder aus den Kellern, die zu Bombenunterständen geworden sind, und die Pressekonferenzen der Warlords, die sich in den Büros der Oligarchen, niedergelassen haben. Der provisorische Direktor des Opernhauses von Donezk gibt Interviews über das laufende Repertoire und der Soziologe, der seine Universität verlassen muss, einen letzten Bericht zu den sozialen Verwerfungen in der Stadt: soziologische Autopsie aus dem Kriegsgebiet.
All das kommt hier an in meinem Arbeitszimmer, es kommt über die verschiedensten Kanäle, über die Fernsehstationen, die russischen, die ukrainischen und viele andere. Es kommt an über die Zeitungen, die man online lesen kann – Donetsk Times, Kharkiv Times, Kyiv Post, Nowaja Gaseta aus Moskau –, man kann die Reflexion über die Ereignisse in mehreren Talkshows gleichzeitig verfolgen – bei Sawik Sсhuster in Kiew auf Russisch und Ukrainisch, bei Doschd in Moskau, dem Kabelkanal, der erstaunlicherweise immer noch funktioniert, Interviews in Echo Moskwy und das unendliche und fast immer gleiche Talkshow-Ritual der deutschen Sender – in Deutschland, wo irgendwie immer noch nicht angekommen ist, was in der Ukraine passiert. Bilder, Briefe, Kommentare, Dementis – alles läuft in jenem Arbeitszimmer zusammen, in dem sonst an Büchern gearbeitet wird, die von der Geschichte des Raumes handeln, aus dem die Nachrichten kommen. Und man weiß, dass man nie Schritt halten kann, man weiß, dass man der Schwerkraft der Gewohnheit, der Unwissenheit, der sich selbst bestätigenden Vorurteile, die grassieren, unmittelbar und vielleicht sogar für längere Zeit nichts entgegenzusetzen hat. Ein Gefühl grenzenloser Ohnmacht. Im Situation Room, in dem die Nachrichten und Bilder aus der Ukraine, vor allem dem umkämpften Gebiet, zusammenlaufen, ist es schwer, cool zu bleiben und die Nerven zu behalten.
Destabilisierung ist kein abstrakter Begriff, Destabilisierung, wie sie von Russland betrieben wird, richtet sich gegen »die Macht«, gegen »die Souveränität« eines Staates. Aber in Wahrheit zielt Destabilisierung auf die Intaktheit der Gegenseite, die angegriffen wird, auf die Gesellschaft, genauer, auf die Menschen. Destabilisierung eines Staates, einer Gesellschaft heißt in letzter Konsequenz: Man will die Menschen fertig machen. Einen Staat in die Knie zu zwingen heißt, die Menschen in die Knie zu zwingen. Eine Regierung zur Kapitulation zu bringen heißt, jene, die diese Regierung gewählt haben, dazu zu bringen, sich zu unterwerfen, die Unterwerfung hinzunehmen. Eskalationsdominanz ist nicht etwas, was gegen eine abstrakte Größe – einen Staat, eine Armee, eine Regierung – durchgesetzt wird, sondern zielt ad hominem. Jemandem werden die Regeln diktiert, jemandem wird der Wille aufgezwungen, jemandem wird ein Ultimatum gestellt. Und man muss sich dazu verhalten. Aus diesem Kampf, der einem aufgezwungen wird, auszutreten ist natürlich möglich: durch Gleichgültigkeit, Indifferenz, Zynismus, Defaitimus – alles Größen und Haltungen, die in der laufenden Auseinandersetzung um die Ukraine ins Gewicht fallen – in der Vergangenheit waren sie zuweilen entscheidend: kriegsfördernd, kriegsauslösend, jedenfalls nicht kriegsverhindernd.
Im Situation Room ist es niemals ruhig. Breaking news rund um die Uhr. Hier herrscht eine andere Zeit. Das Geschehen verlangt nach Kommentaren oder gar Interventionen, für die man sich jedoch kaum gerüstet fühlt. Man ist als Historiker von Hause aus eher für die longue durée zuständig, für Ereignisfolgen, die abgeschlossen sind. Man ist vergangenheits- und geschichtskompetent, bewegt sich aber nicht auf der Höhe der Zeit. Auf der Höhe der Zeit ist der Tatmensch, der die Panzer kommandiert und rollen lässt und der die nächsten breaking news produziert. Er hält sich nicht auf mit Erläuterungen – die kommen post festum. Ebenbürtig ist dem Menschen der Tat nur der Mensch, der ihm entgegentritt – aber die sind, von den zum Kampf gezwungenen Ukrainern abgesehen, weit und breit nicht in Sicht.
Die neuen Medien bringen es mit sich, dass wir auf dem Laufenden bleiben und mit Bildern in Echtzeit versorgt werden, dass wir fast bruchlos die Verschiebung von Fronten, die Einnahme von Orten, die Sprengung von Brücken und Eisenbahnlinien verfolgen können. Google Maps und satellitengestützte Informationssysteme machen es möglich: Wir erkennen auf den Bildern den Hauptprospekt von Donezk, die Fußball-Arena, den Kulturpark, den Flughafen, der mittlerweile in Schutt und Asche liegt. Wir zoomen uns heran an eine Steppenlandschaft, durch die die Europastraße 40 führt, und an die Felder, auf denen die malaysische Passagiermaschine abgestürzt ist. Auf dem Tisch im Arbeitszimmer, wo sonst die Landkarten liegen, auf denen ich historische Schauplätze lokalisiere, liegen jetzt Karten, auf denen man durch das aktuelle Kriegsgebiet navigieren kann: Horliwka, Jenakijewe, Tores, Debalzewe, Artemiwsk und immer weiter. Wir können den Verlauf der Kriegshandlungen nachverfolgen, die Verschiebung der Fronten einzeichnen. Wir lesen in den Blogs die Botschaften und Briefe, die von dort kommen, über das, was in den Kellern, in den Gefängnissen passiert. So wird man zum bloßen Augen- und Ohrenzeugen, zum Zaungast in einem Kampf, den andere entscheiden und andere mit ihrem Leben bezahlen.
Im Situation Room ist man allein. Aus der Flut der Bilder und Nachrichten muss man sich einen Reim machen: Jeder auf seine Weise. Die Welt der Gewissheiten zerfällt. Die Urteilskraft ist in einer Weise gefordert, von der wir uns gewünscht hätten, dass wir einem solchen Test nie mehr unterzogen werden müssten. In die Beschreibung der Stadtlandschaften fallen die Granaten, die sie zerfetzen. Die Gegenwart lässt es nicht zu, sich der Vergangenheit so zu widmen, wie es sich gehört – aus der Distanz. Wie kann man in Zeiten des Krieges den Blick von der Anhöhe, auf der das Kiewer Höhlenkloster liegt, über den Dnjepr hinweg schweifen lassen, ohne in Kitsch abzurutschen. Stadtbeschreibungen in Zeiten des Bombardements sind obsolet. Jetzt ist der Kriegsreporter am Zug oder noch besser der Kriegsfotograf. Details, die sonst so unerlässlich sind, hören sich jetzt an nach Geschwätz, Überfluss an Zeit, Verlegenheit, Zeitvergessenheit. Wir sind nicht gewohnt, Augenzeuge in ungeschützten Situationen zu sein. Wir haben das Handwerk der Schlachtbeschreibung nie gelernt. Wir, die Beobachter und Beschreiber aus der Ferne, sind überflüssig geworden. Die so lange stabilen Meinungslager mit ihren wechselseitig respektierten common places erodieren, jeder muss sich zu der neu entstandenen Lage verhalten. Sich neu aufstellen heißt ja nichts anderes, als dass jeder sich neu entscheiden muss. Das ist ein individueller, molekularer Vorgang. Nicht »die« Gesellschaft stellt sich neu auf, konfrontiert sich einer neuen Lage, sondern jeder Einzelne hat die Wahl. Dem Aufbau einer Gegenwehr gegen den von außen geschürten Krieg geht eine lange und qualvolle Zeit der Destabilisierung, der Fragmentierung, der Atomisierung voraus. Die Destabilisierung ist die Form des Übergangs in ein anderes Europa. Ob wir sie aushalten, ob wir sie durchstehen? Vielleicht ist alles schon überholt in dem Augenblick, da das Buch erscheint. Aufzeichnungen von gestern.