Erwin Moser

Erwin Moser, geboren 1954 in Wien und aufgewachsen im Burgenland, absolvierte eine Ausbildung zum Schriftsetzer. Die Liebe zum Fabulieren und das Zeichnen hat er früh für sich entdeckt, wie er berichtet: »In der Schule war ich im Zeichenunterricht längst schon aufgefallen. Was ich in Mathematik verpatzte, versuchte ich in den Zeichenstunden auszubügeln. Einmal erwischte mich der Mathelehrer, wie ich in der Geometriestunde anstatt Würfel oder solchem Zeug eine Horde reitender Indianer zeichnete. Der war vielleicht wütend! ›Das kann er!‹, hat er geschrien. ›Aber davon kann man nicht leben, Moser!‹«

Dass man sehr wohl vom Zeichnen und vom Geschichtenerfinden leben kann, beweist Erwin Moser nun schon seit vielen Jahren. Seine Bücher standen auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, er wurde mit dem japanischen Owl-Preis ausgezeichnet und erhielt den Rattenfänger-Literaturpreis der Stadt Hameln. Seine Geschichten und Bilder gehören heute zum Kanon der Kinderliteratur. 2014 wurde in seinem Heimatort Gols das Erwin Moser Museum eröffnet.

Inhalt

1. Kapitel
Erntezeit

2. Kapitel
Gelbzahn, der Mühlratz

3. Kapitel
Raffael

4. Kapitel
Fette Beute

5. Kapitel
Schwarzpelz, der Tyrann

6. Kapitel
Rafi auf Mäusejagd

7. Kapitel
Die Speisekammer

8. Kapitel
Gelbzahns Entdeckung

9. Kapitel
Die Mühlratzen

10. Kapitel
Ich sehe was, das du nicht siehst

11. Kapitel
Der Mond hinter den Scheunen

12. Kapitel
Brandy

13. Kapitel
Die Eule

14. Kapitel
Unheil liegt in der Luft

15. Kapitel
List und Gegenlist

16. Kapitel
Das große Wasser

17. Kapitel
Friedliche Zeiten

1. Kapitel

Erntezeit

Der Storch, der eben sein Nest auf dem Rauchfang verlassen hatte, um zu den sumpfigen Wiesen des nahen Steppensees zu fliegen, hätte die Landschaft unter sich so ähnlich beschreiben können: Da wäre einmal das Dorf – ein Häufchen weiß gekalkter Häuser mit lang gestreckten Höfen, durchzogen von staubigen Straßen und durchsetzt mit Weiden-, Pappel- und Kastanienbäumen. Die Bewohner des Dorfes waren Wein- und Kornbauern, aber auch Vieh aller Art stand in den Ställen, Kühe, Stiere, Pferde und so weiter.

Vom Westen her verlief eine dicht bewaldete Hügelkette, die immer niedriger wurde, je mehr sie sich dem Dorf näherte. Die Ausläufer dieser Hügelkette waren mit Weingärten bepflanzt. Und hinter den Weinbergen begann eine weite Ebene mit Getreidefeldern.

Nach der anderen Seite hin, in südlicher Richtung, erstreckten sich hauptsächlich Wiesen, die ziemlich feucht und sumpfig wurden, je näher man dem See kam. Der See selbst lag ungefähr drei Kilometer vom Dorf entfernt, und in diese Richtung flog, wie gesagt, unser Storch. Lassen wir ihn ruhig weiterfliegen und begeben wir uns wieder auf die Erde.

Es war die Zeit der Getreideernte. Goldgelb bis goldbraun lagen die Korn- und Weizenfelder unter der brütenden Sonne und ließen ihre überreifen Ährenköpfe hängen. Kein Lufthauch regte sich und keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Da und dort sah man Mähdrescher – grüne, rote und gelbe Blechungetüme, die sich wie hungrige Saurier durch die Getreidefelder fraßen: Vorne wurde das Getreide von einem breiten Eisenmaul verschluckt, innen ausgedroschen (verdaut) und hinten kamen fein säuberlich gepresst und gebündelt in regelmäßigen Abständen die ausgedroschenen Strohballen heraus. Dort, wo die Mähdrescher ihr unersättliches Mahl gehalten hatten, breiteten sich kahle Stoppelfelder aus, in schöner Geometrie mit Strohballen bestreut.

Die Getreideernte war voll im Gange, aber noch waren die Stoppelfelder in der Minderheit. Wenn man so durch ein abgemähtes Getreidefeld geht, kann man zwischen den kurzen Halmstoppeln viele kleine Löcher in der Erde sehen. Und wenn man besonders aufmerksam ist, wird man manchmal flinke graue Schatten in diese Löcher huschen sehen – Feldmäuse. Zu Tausenden leben sie auf den Feldern in ihren Erdwohnungen und sammeln fleißig Getreidekörner, die sie als Wintervorräte in ihre Wohnungen tragen. Da dieses Jahr besonders heiß und trocken war, hatten sich die Feldmäuse stark vermehrt. Getreidekörner waren auch genug da, und so befand sich, unsichtbar für die Bauern, ein ganz beachtlicher Teil ihrer Ernte in den Vorratskammern der Feldmäuse.

Grauschnauz, ein junger Feldmäuserich, hatte sein Loch (mit vier Notausgängen, versteht sich) etwa in der Mitte eines Weizenfeldes, das dem Spiehs-Bauern gehörte. Vor zwei Tagen hatte der Mähdrescher den Weizen samt Stroh verschlungen. Grauschnauz erinnerte sich mit Ängsten daran, wie die Erde plötzlich zu beben begonnen hatte, als der Mähdrescher über seine Wohnhöhle gefahren war. Gott sei Dank befand er sich gerade unter der Erde, als es geschah. Grauschnauz wusste zwar nicht, was ein Mähdrescher ist (das wäre von einer Maus zu viel verlangt), aber als der Boden zu zittern begann und das Zittern anwuchs zu einem regelrechten Erdbeben, begleitet von einem furchtbar lauten Dröhnen, Rattern und Heulen, das immer lauter wurde, da wusste der Mäuserich, dass entsetzliche Dinge auf der Erdoberfläche vor sich gehen mussten. Ängstlich kauerte er im finstersten und tiefsten Winkel seiner Erdhöhle und zitterte am ganzen Leib. Selbst als das Beben und Dröhnen schon längst verschwunden war, hockte er noch so da.

Als sich Grauschnauz endlich ans Tageslicht wagte, sah er, dass der schattige, rauschende Weizenhalmwald verschwunden war. Einfach weg. Auch viele andere Feldmäuse liefen aufgeregt zwischen den nackten Halmstoppeln hin und her und rätselten, wie das hatte geschehen können. Zum Glück waren die Vorratskammern der Feldmäuse zu diesem Zeitpunkt schon gefüllt, so dass keine Hungersnot zu befürchten war. Trotzdem – das Verschwinden der Getreidehalme blieb lange Zeit das Gesprächsthema Nummer eins unter den Feldmäusen.

Eines Morgens, die Sonne war eben aufgegangen, beschloss der Spiehs-Bauer, das Stroh von seinen Feldern heimzuholen. Der Wagen wurde an den Traktor gespannt und los ging es. Der Spiehs-Bauer fuhr mit dem Traktor und hinten auf dem Wagen saßen die Bäuerin und der Sohn. Und hier beginnt unsere Geschichte erst wirklich! Die Spiehs-Bauern waren nämlich an diesem Morgen ausgerechnet zu jenem Feld unterwegs, in dem Grauschnauz seine Wohnhöhle hatte.

Der Mäuserich hatte heute früh sein Loch verlassen. Ihm war zu Ohren gekommen, dass irgendwo auf dem Stoppelfeld ein besonders großer Haufen von Weizenkörnern liegen sollte. Das Ungetüm, das das Feld gefressen hatte, sollte diesen Haufen angeblich verloren haben. (Unter Mäusen sind oft solche und ähnliche Gerüchte im Umlauf. Sie träumen fast immer von ungeheuren Futtermengen, die irgendwo lagern sollen.) Diesmal war sogar etwas Wahres an dem Gerücht; denn am Ende des Feldes lag tatsächlich ein Häufchen Weizenkörner, das der Mähdrescher verloren hatte, jedoch hatte ein Hamster den Großteil davon schon weggetragen. Grauschnauz machte sich also auf die Suche nach diesem sagenhaften Weizenhaufen und entfernte sich dabei ziemlich weit von seinen Wohnlöchern. Er merkte es gar nicht, so eifrig war er auf der Suche.

Etwa zur gleichen Zeit kamen die Spiehs beim Feld an, fuhren hinein und begannen, die Strohballen einzusammeln und auf den Wagen zu laden. Jetzt fuhr der Sohn mit dem Traktor, der Bauer spießte die Strohballen mit der Gabel an und reichte sie der Bäuerin hinauf, die sie fachgerecht verstaute. So ging das dahin und die Fuhre wurde immer höher. Schon näherten sie sich der Mitte des Feldes, wo Grauschnauz seinen Weizenschatz suchte. Der Mäuserich wollte gerade seine Suche aufgeben, da er nun doch Bedenken bekam, dass er sich so weit von seiner Wohnung entfernt hatte, als er ein leichtes Beben des Bodens wahrnahm. Gleich darauf hörte er das Tuckern des Traktors. Grauschnauz war zu Tode erschrocken. Das Ungetüm ist zurückgekommen! Das war sein erster Gedanke. Und: Ich kann nicht unter die Erde!, war sein zweiter. Furchtbare Angst erfasste den Mäuserich, während der Traktor immer näher kam. Ein paar Sekunden hockte er wie gelähmt da, dann rannte er plötzlich los. Weg! Nur weg! Das war alles, was er wollte. Die einzige Deckungsmöglichkeit war der nächste Strohballen. Dort lief Grauschnauz hin und wühlte sich, so schnell er konnte, in das Stroh hinein. Mit klopfendem Herzen merkte der Mäuserich, wie das Ungeheuer an ihm vorbeifuhr. Schon wollte er aufatmen, als plötzlich dicht neben ihm der Zinken einer Gabel in den Strohballen fuhr. Der Feldmäuserich fühlte sich emporgehoben, der Zinken wurde zurückgerissen und der Strohballen landete auf einer weichen Unterlage.

So befand sich Grauschnauz nun auf einer Strohfuhre und damit auf dem Weg ins Dorf; denn die Spiehs waren bald darauf fertig und fuhren nach Hause. In einer großen Scheune wurde das Stroh Ballen für Ballen abgeladen und übereinandergeschichtet.

Man kann sich die Ängste der Maus vorstellen, die keine Ahnung hatte, was vor sich ging. Jedenfalls, als der Strohballen mitsamt Grauschnauz in der Scheune abgeladen worden war und die Spiehs-Bauern um die nächste Ladung aufs Feld fuhren, war es um den Mäuserich ruhig geworden. Das Geschüttel und Gerüttel und Strohgeraschel hatte aufgehört, und Grauschnauz war eigentlich nichts passiert, wenn man von den Ängsten absieht, die er ausgestanden hatte. Der Strohballen mit dem Mäuserich war einer der ersten gewesen, die abgeladen worden waren, und so lag er nun in der Scheune zuunterst. Über ihm lagerten die anderen Strohballen, hoch wie ein Haus. Nur langsam beruhigte sich das kleine Herz des Feldmäuserichs, das während der ganzen unfreiwilligen Reise wie wild gepocht hatte. Grauschnauz versuchte, ruhig zu denken. Er musste sich darüber Klarheit verschaffen, wo er war. Vorsichtig begann er, einen Gang durch das Stroh zu wühlen. Irgendwann musste er doch wieder ans Tageslicht kommen, das wäre doch gelacht! Und richtig, nach etwa einer Stunde Wühlarbeit konnte Grauschnauz die Nase ins Freie strecken.

Eine ihm völlig fremde Umgebung sah er da, so dass ihm schrecklich bange wurde. Das Tageslicht fiel nur durch die Ritzen des Tores in die Scheune und zeichnete lange, dünne Lichtstriche über den Boden. Der Boden selbst war kühl und fest – total ungeeignet zum Löchergraben. Außerdem war weit und breit keine lebende Pflanze zu sehen. Nur Stroh und abermals Stroh, umgeben von hohen Mauern und abgedeckt von einem finsteren Dachstuhl.

Mit feucht glänzenden Knopfaugen sah sich Grauschnauz alles an. Sollte das seine neue Heimat sein? Sollte er nie wieder den blauen Himmel sehen und die wärmende Sonne spüren? Sollte er nie wieder das vertraute Rauschen der Halme und Gräser hören, wenn der Wind darin spielte? Doch halt! Was war das? In einer Ecke des Scheunentores erblickte Grauschnauz eine runde Öffnung, die ihm bisher entgangen war. Er hatte einen Weg ins Freie entdeckt! Schnell lief der Mäuserich darauf zu und wollte eben hindurchschlüpfen, als sich das Loch plötzlich verdunkelte. Erschrocken blieb Grauschnauz stehen. Zwei große Augen schauten ihn an. Es war der Blick eines Todfeindes, der Grauschnauz traf. Wie der Blitz drehte sich der Feldmäuserich um und rannte drauflos, so schnell ihn seine Beine trugen. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er in großer Gefahr. Hinter sich nahm er wahr, wie das Tier durch das Loch im Tor schlüpfte und ihm nachrannte. Verzweiflung packte den Mäuserich, denn er wusste plötzlich: Das Tier würde ihn fressen, wenn es ihn erwischte!

Grauschnauz rannte dicht an der Mauer der Scheune entlang und suchte nach einer Nische oder nach einem Spalt, in den er sich verkriechen könnte. Und plötzlich sah er ein Loch in der Erde. Dicht neben der Mauer führte es steil hinunter. Grauschnauz huschte hinein. Es war keine Sekunde zu früh! Hinter sich hörte er wütendes Knurren und Scharren, aber das feindliche Tier war für das Loch viel zu groß. So war Grauschnauz für den Augenblick gerettet.

Der Gang, in dem er sich nun befand, führte zwar steil hinunter, wurde dann aber bald waagrecht und war sehr lang. Ohne Zweifel hatten ihn Mäuse gegraben. Grauschnauz roch den typischen Mäusegeruch. Es war kein Feldmausgeruch, aber immerhin Mausgeruch, das stand fest. Grauschnauz drang weiter vor. Je weiter weg er von dem Verfolger kam, desto sicherer fühlte er sich.

Mit einem Mal war der Gang zu Ende. Er mündete in eine (für Mäuse) große Erdkammer, die mit allerlei flauschigem Zeug ausgekleidet war. Federn, Papierschnitzel und fein zernagte Stoffteilchen bedeckten den Boden der Erdkammer. Grauschnauz ließ sich erschöpft darauf niedersinken. Kurz vor dem Einschlafen bemerkte er noch die Mündung eines zweiten Ganges, der im hinteren Teil der Kammer in die Erde führte. Beruhigt dachte Grauschnauz das Wort »Notausgang«, dann war er endgültig im Land der Träume.

2. Kapitel

Gelbzahn, der Mühlratz

Das Gebäude oder, besser gesagt, die Ruine einer Mühle stand ungefähr zweihundert Meter außerhalb des Dorfes. Schon seit vielen Jahren stand sie unbenutzt da; denn der Bach, der an ihr vorbeifloss, war aus unbekannten Gründen versiegt, und ohne fließendes Wasser, das das Mühlrad antreibt, ist eine Mühle im wahrsten Sinn des Wortes brotlos. Außerdem gab es im Dorf mittlerweile eine elektrisch betriebene Schrotmühle. Kurzum, das Mühlgebäude war verlassen und dem Verfall preisgegeben. Selten kam ein Mensch hierher. Dicke Moospolster wuchsen auf dem löchrigen Schindeldach, und an den brüchigen Mauern schlängelten sich Kletterpflanzen empor. Im Innern der Mühle roch es modrig nach verfaultem Holz.

Der Bach war zwar bis auf ein dünnes Rinnsal versiegt, trotzdem stand das halb verfallene Gebäude mit dem rückwärtigen Teil im Wasser eines Weihers, der sich hartnäckig geweigert hatte auszutrocknen. Und in dieser finsteren Mühle hausten nicht minder finstere Gesellen: eine Meute dunkelfelliger Ratzen.

Ihr Häuptling hieß Gelbzahn – ein großer, starker Ratz mit einem dichten, glänzenden Pelz. Das Ratzenvolk hatte sich unter dem Fußboden der Mühle eingenistet, wo es viele verwinkelte Gänge angelegt hatte und wo es vor Feinden relativ sicher war. Natürlich gab es auch hier etliche gut getarnte Notausgänge ins Freie. Zwei dieser Notausgänge führten sogar zum Wasser hinunter, denn Ratzen sind sehr gute Schwimmer, wenn es darauf ankommt. Die Idee mit den Notausgängen zum Wasser hinunter stammte übrigens von Gelbzahn, der den Bau dieser Gänge angeordnet hatte, nachdem einmal ein Iltis in den oberen Ratzenbau eingedrungen war und nur unter schweren Verlusten hatte vertrieben werden können. Gelbzahn ließ damals auch den großen Eingang zum Bau verstopfen und einen kleineren bauen, so dass nur jeweils ein Tier hineinkonnte. Auch ließ er seitdem am Ende des langen, schmalen Eingangs eine Wache aufstellen, die jede feindliche Annäherung sofort zu melden hatte. Dieses »Wacheschieben« gefiel den Mühlratzen ganz und gar nicht, doch was sollten sie tun? Der Häuptling hatte es befohlen, also musste es getan werden. Was der Häuptling befahl, das war Gesetz.

So hatten sie es immer gehalten.

An diesem Abend, nach seinem routinemäßigen Rundgang durch den Bau, beschloss Gelbzahn, selbst auf Futtersuche zu gehen. Normalerweise blieb er im Bau und ließ sich das beste Futter von seinen Dienern bringen, aber heute verspürte er so etwas wie Abenteuerlust, und er befahl Dodo und Einohr, die beiden Unterhäuptlinge, zu sich. »Ich werde heute den Bau verlassen und ihr begleitet mich!«, sagte Gelbzahn zu den beiden. Diesen war es recht und so verließen sie zu dritt das schmale Eingangsloch des Ratzenbaus im Inneren der Mühle. Dodo, der als Erster gegangen war, wollte eben fragen, in welche Richtung sie gehen würden, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.

»Da, schaut!«, flüsterte er.

Gelbzahn und Einohr folgten seinem Blick. Mitten im Raum, keine zwei Meter von ihnen entfernt, beschienen vom Mondlicht, das durch ein Loch im Dach hereinfiel, hockte ein großer, schwarzer Ratz und starrte sie an. Er war ungewöhnlich groß, größer und stärker noch als Gelbzahn. Eine unheimliche Erscheinung.

Gelbzahn machte schnüffelnd ein paar Schritte auf ihn zu. »Wer bist du und was willst du?«, fragte er herausfordernd.

Der schwarze Ratz machte eine unmerkliche Bewegung mit dem Kopf, wobei seine langen Schneidezähne im Mondlicht matt aufglänzten. Es sah aus, als ob er grinste. »Ich bin Schwarzpelz – euer neuer Häuptling!«, sagte der Schwarze mit tiefer, heiserer Stimme.

Gelbzahn hatte begriffen. Mit einem schrillen Schrei stürzte er sich auf den schwarzen Ratz, doch dieser wich blitzschnell aus. Gelbzahns Überraschungsangriff ging ins Leere, und in diesem Moment wusste er, dass er verloren hatte. Hier stand er zum ersten Mal in seinem Leben einem Gegner gegenüber, der ihm gewachsen war. Und so benutzte Gelbzahn den Angriffsschwung gleich zu einer raschen Flucht ins Freie. Gelbzahn schoss zur Tür hinaus und rannte, so schnell er konnte, zum Ufer des Weihers hinunter. Er wusste genau, was er tat. Und es war klug gewesen, dem Kampf mit dem schwarzen Riesenratz aus dem Weg zu gehen. Gelbzahn war alles andere als ein Feigling, aber in diesem Fall war eine Flucht das Beste gewesen, was er hatte tun können. Ein Kampf mit diesem Schwarzpelz hätte ihn sicher das Leben gekostet, und Dodo und Einohr hätten ihm auf keinen Fall geholfen; denn dies wäre ja ein Kampf um die Häuptlingswürde gewesen, ein Zweikampf also, bei dem nur der Stärkere überlebt. So war es seit undenklicher Zeit der Brauch unter den Ratzen – der körperlich Stärkste war immer der Häuptling. Eine ganz einfache und, wie es schien, richtige Überlebensformel.

Gelbzahn lief das Ufer des Weihers entlang. Ein rascher Blick über die Schulter sagte ihm, dass er nicht verfolgt wurde. Trotzdem machte er erst eine Verschnaufpause, als er bei seinem Ziel angekommen war. Dieses war die Mündung eines Kanalrohres auf der anderen Seite des Weihers.

Keuchend blieb er stehen und starrte mit gemischten Gefühlen in den finsteren Schlund des geräumigen Kanalrohres, aus dem nur ein dünnes Rinnsal floss.

Gelbzahns Plan stand fest. Von früheren Streifzügen wusste er, dass das Kanalrohr weiter drinnen von braunen Kanalratzen bewohnt wurde. Diesen wollte er sich nun anschließen.

Einen letzten, etwas wehmütigen, aber auch wütenden Blick warf er auf den stillen Weiher und auf die Mühle, dann war er im Kanalrohr verschwunden. Schwarzpelz schwor er bittere Rache.

Lange musste Gelbzahn im finsteren Kanalrohr wandern, bis er auf die ersten Kanalratzen stieß. Hinter einer Biegung des Rohres sah er sich gleich fünf von ihnen gegenüber. Sie waren dabei, aus einem angeschwemmten Abfallhaufen essbare Stücke herauszusuchen. Als sie Gelbzahn bemerkten, erschraken sie im ersten Moment, dann sahen sie ihn misstrauisch an. »Was willst du hier in unserem Revier?«, sprach ihn schließlich einer der Kanalratzen an.

»Keine Angst, ich suche keinen Streit«, erwiderte Gelbzahn. »Führt mich zu eurem Häuptling, ich muss ihn dringend sprechen!«

»Unseren Häuptling willst du sprechen? Wer weiß, ob unser Häuptling dich sprechen will?«, sagte der Kanalratz lauernd.

»Nicht frech werden, Kleiner!« Gelbzahn richtete sich drohend auf, so dass die Kanalratzen ihn in seiner ganzen Größe sehen konnten. Ängstlich wichen sie zurück.

»Schon gut«, sagte ein anderer Ratz, »wir werden dich dem Häuptling melden. Warte hier!«

Schnell waren die Kanalratzen in der Dunkelheit verschwunden. Eine Zeit lang hörte Gelbzahn noch das Plätschern ihrer Schritte, dann umfing ihn wieder düstere Stille. Prüfend beschnupperte Gelbzahn den Unrathaufen, an dem die Kanalratzen ihr Mahl gehalten hatten. Angewidert wandte er sich ab. Wie konnte man nur so etwas fressen? Gelbzahn war anderes gewohnt und in diesem Moment wurde ihm der Ernst seiner Lage voll bewusst. Doch es gab kein Zurück mehr. Er musste es schaffen, bei den Kanalratzen aufgenommen zu werden, er musste bei ihnen bleiben, bis sich ein günstiger Zeitpunkt ergab, wieder in die Mühle zurückzukehren.

Bald darauf hörte Gelbzahn wieder leises Plätschern und ein einzelner Ratz tauchte aus dem finsteren Grund des Kanalrohres auf. »Folge mir!«, sagte er und Gelbzahn schloss sich ihm an. Der Ratz lief, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, vor ihm her. Sie waren noch nicht lange so gegangen, als sie plötzlich zu einer Art Kreuzung gelangten. Kreuzförmig mündeten hier vier Rohröffnungen in einen mit Wasser gefüllten Schacht. Von oben drang bleiches Mondlicht durch ein eisernes Gitter. Ohne zu zögern, glitt der Kanalratz in das dunkel glänzende Wasser des Schachtes, durchschwamm es mit drei, vier Stößen und verschwand in der gegenüberliegenden Öffnung des Rohres. Gelbzahn folgte ihm widerwillig. Bald darauf kamen sie zu einer Stelle, an der das Kanalrohr zerbrochen war. Wahrscheinlich war hier schon beim Bau des Kanals ein schadhaftes Rohrstück verlegt worden. Ein etwa faustgroßes Stück fehlte in der Rohrwand. Die Kanalratzen hatten an dieser Stelle einen Gang in die Erde gegraben und das war auch der eigentliche Eingang zum Bau der Kanalratzen. Gelbzahns Führer schlug nun diesen Weg ein und weiter ging es durch ein labyrinthartiges Gewirr von Erdgängen. Gelbzahn versuchte, sich den Weg einzuprägen, den sie gingen, aber schon bald musste er es aufgeben. Zu viele Kreuzungen und Querverbindungen gab es hier. Gelbzahn musste sich eingestehen, dass er die Kanalratzen unterschätzt hatte – zumindest was ihren Bau betraf. Diese Anlage war ganz einfach bewunderungswürdig. Plötzlich war der Ratz vor ihm verschwunden. Gelbzahn blieb zögernd stehen. Drohte Gefahr? Langsam und misstrauisch schnüffelnd ging er weiter. Der Gang machte eine scharfe Biegung und mündete dann in einer Art Erdhalle. Wurzelgeflechte hingen gespenstisch von der gewölbten Decke, und darunter saßen in einem Halbkreis um ihren Häuptling ungefähr zwanzig braune Kanalratzen. Schweigend betrachteten sie Gelbzahn, der in die Höhle getreten war. Auch Gelbzahn besah aufmerksam jeden Einzelnen der stummen Gesellschaft und stellte mit Beruhigung fest, dass er es wohl mit jedem von ihnen im Kampf aufnehmen könnte. Doch solche Überlegungen waren jetzt fehl am Platz. Er wollte nicht mit ihnen kämpfen, sondern das genaue Gegenteil: Gelbzahn wollte einer von ihnen werden.

Nun fasste er den rüstigen, alten Kanalratz vor sich genauer ins Auge. Sein Fell war von rötlicher Farbe. Seine Augen blickten klug, aber auch verschlagen. Eine richtige Häuptlingsfigur. Man sah ihm an, dass er zu befehlen gewohnt war. In seinen jungen Jahren musste er beachtliche Kräfte besessen haben. Er überragte immer noch seine Untertanen. Gelbzahn war beeindruckt. Ob man es mir ebenfalls ansieht, dass ich Häuptling war?, dachte Gelbzahn. Er hoffte es nicht, denn dies könnte in seiner gegenwärtigen Situation von Nachteil sein. Der Chef der Kanalratzen sollte nicht Angst um seine Stellung bekommen – noch nicht. Gelbzahn milderte also den stolzen Ausdruck in seinen Augen und bückte sich unmerklich zu Boden. Er beschloss, sich harmlos und ein bisschen dumm zu stellen.

Der Häuptling der Kanalratzen richtete nun das Wort an ihn. »Was verschafft uns die Ehre deines Besuches?«, fragte er mit leisem Spott.

»Ich bin ein Flüchtling«, antwortete Gelbzahn. »Ich bin einer der Mühlratzen, die in der verfallenen Mühle am Weiher wohnen. Heute Abend kam ein großer, schwarzer Wanderratz zu uns und machte sich zum neuen Häuptling.« Gelbzahn verschwieg wohlweislich, dass er der Häuptling der Mühlratzen gewesen war. »Ich wollte ihn nicht anerkennen, deswegen wurde ich ausgestoßen. Nun habe ich mir gedacht, ich schließe mich euch an. Ich bitte hiermit um die Aufnahme in euren Stamm!«

»So, so, da hast du dir gedacht, du schließt dich uns an«, sagte der Anführer der Kanalratzen und sah dabei Gelbzahn scharf in die Augen. »Wie heißt du?«

»Gelbzahn.«

»Was kannst du?«

»Ich bin mutig und kräftig«, sagte Gelbzahn rasch. »Ich mache alles. Ich werde euch sicher nicht zur Last fallen.«

Der Rote musterte ihn schweigend und durchdringend. Lange Zeit dauerte diese Musterung, und Gelbzahn hätte viel dafür gegeben, die Gedanken des Ratzen lesen zu können.

Plötzlich wandte sich der Häuptling an die zwei nächststehenden Kanalratzen und sagte kurz: »Führt ihn zur leeren Höhle im Osttrakt!« Und zu Gelbzahn sagte er: »Du bist aufgenommen. Verhalte dich ruhig und warte ab, was man dir befehlen wird!« Aufatmend bezog Gelbzahn sein neues Quartier. Fürs Erste fühlte er sich sicher. Nun galt es, das Vertrauen der Kanalratzen zu gewinnen und seine Rückkehr zum Weiher vorzubereiten. Dieser Schwarzpelz sollte ihn noch kennen lernen! Mit diesen Gedanken schlief Gelbzahn ein. Zur gleichen Zeit plätscherte ein Schwall Seifenwasser aus einem dünnen Abflussrohr in das große Kanalrohr, wo es eilig den Weg zum Weiher einschlug. Es war das Wasser, mit dem sich der Spiehs-Bauer die Füße gewaschen hatte, bevor er schlafen gegangen war.

3. Kapitel

Raffael

Raffael, der schwarze Kater, lag auf dem flachen Dach des Schweinestalls und ließ sich die Sonne auf den Pelz brennen. Wie tot lag er da, die Augen geschlossen und die Beine weit von sich gestreckt. Hie und da zuckte sein Schwanz und das war auch schon das einzige Lebenszeichen.

Raffael, kurz Rafi gerufen, war der Hauskater der Spiehsens und das Dach des Schweinestalls war einer seiner Lieblingsplätze. Hier konnte ihn niemand bei seiner Nachmittagsruhe stören, und außerdem konnte er, wenn er wollte, den ganzen Hof überblicken und auch einen Teil des Nachbarhofes.

Gleich neben dem Schweinestall stand ein hoher Maulbeerbaum, der einen Teil des Schweinestalldaches beschattete. Wenn es dem Kater in der Sonne zu heiß wurde, legte er sich einfach in den Schatten des Maulbeerbaumes. Wirklich, ein ausgezeichneter Platz.

Unter sich hörte Rafi im Halbschlaf dumpf das Grunzen der Schweine, im Maulbeerbaum lärmten die Spatzen und das friedliche Gackern der Hühner drang vom Misthaufen herüber. Alles vertraute Geräusche. Eine Fliege setzte sich auf Rafis Kopf; er vertrieb sie mit einem Zucken seiner Ohren. Seit zwei Stunden lag der Kater schon so da und die heiße Nachmittagssonne hatte ihn bis in die letzte Faser seines Körpers durchglüht. Rafi befand sich in einem Zustand von Behaglichkeit, der fast schon unbeschreiblich war. In solchen Augenblicken war es ihm, als ob er schweben würde. Dabei schlief er nicht tief und fest, wie es etwa Menschen tun, nein, Rafi war sich seiner Umgebung sehr bewusst, wenn er so in der Sonne döste. Er hörte dabei jedes kleinste Geräusch und wusste sehr genau, von wem oder was es hervorgerufen worden war. Auch jetzt, als er ganz, ganz leise Schritte vernahm, wusste er genau, wer sich ihm näherte. Das Ziegeldach des Schweinestalls war in leichte Schwingungen geraten – Rafi bekam Besuch. Es war Kotti, der Nachbarskater.

»Gib dir keine Mühe«, sagte Raffael und öffnete dabei nicht einmal die Augen, »ich habe dich schon lange gehört!«

»Hallo, Alter!«, begrüßte ihn Kotti und legte sich mit fauler Eleganz neben seinen Freund. Kotti war etwas kleiner als Rafi. Sein Fell war grau getigert.

Eine Weile lagen sie schweigend da, dann sagte Rafi:

»Was gibt es Neues?«

Aber er bekam keine Antwort. Kotti begann stattdessen zu schnurren.

»He, ich hab dich was gefragt!«

Kotti schnurrte noch lauter. Rafi gab ihm einen Klaps auf den Kopf. Kotti hörte auf zu schnurren und sagte langsam, mit tiefer Zufriedenheit in der Stimme:

»Drüben bei Susi haben sie ein Schwein geschlachtet …«

Raffael stand mit einem Ruck auf den Beinen.

»Das sagst du mir erst jetzt, du Fresssack? Ist noch was übrig?«

»Ooh, genug! Haufen von Därmen, Fleisch, ja, sogar ein Stück Leber habe ich gefressen. Wie im Schlaraffenland, sage ich dir!«

Mehr brauchte Raffael nicht zu hören. Mit einem Satz sprang er in den Maulbeerbaum und kletterte den oft benutzten Weg zum Dach des Wohnhauses empor. Ein Ast des Maulbeerbaumes ragte nämlich ein Stück über das Dach des Bauernhauses. Und vom Dach des Spiehs-Hauses konnte Rafi mit Leichtigkeit die Dächer der Nachbarhäuser erreichen, da diese dicht nebeneinander gebaut waren und, nebenbei gesagt, die Mühlgasse bildeten.

»Warte auf mich!«, rief ihm Kotti nach und sprang ebenfalls auf den Maulbeerbaum.

Die beiden Kater waren kaum verschwunden, als in einem Astloch des hölzernen Geräteschuppens neben dem Schweinestall die Schnauzen zweier Hausmäuse sichtbar wurden.

»Sie sind weg!«, sagte die eine Maus zu der anderen. »Los, jetzt!«

Die beiden Mäuse kletterten hintereinander durch das Astloch ins Freie und liefen, so schnell sie konnten, über den Hof. Eine Henne, die sie erblickte, brach in erschrecktes Gegacker aus. Die beiden Mäuse verschwanden im Katzenloch des Scheunentores. Es waren Mudi und Redi, auf einem ihrer waghalsigen Streifzüge durch das Haus.

Im Inneren der Scheune angekommen, verschnauften sie und sahen sich um.

»Schau«, sagte Mudi, »sie haben frisches Stroh gebracht!«

»Mmm, riecht gut«, meinte Mudi.

»Weizenstroh«, bemerkte Redi fachmännisch.

»Aber leider ohne Körner«, sagte Mudi. »Komm, schauen wir in den alten Bau. Ich war schon ewig lange nicht mehr dort.«

Sie liefen die Mauer entlang und kamen bald darauf zu dem kleinen Eingangsloch. Redi wollte eben hineinklettern, als er stutzte. »Riech einmal!«, flüsterte er.

»Ja, da drinnen ist jemand!«, bestätigte Mudi schnüffelnd. Sie sahen sich fragend an und schnupperten wieder.

»Riecht irgendwie nach Maus und doch ein bisschen anders …«, sagte Redi.

»Komm, sehen wir nach.«

»Und wenn es nun keine Maus ist?«

»Es riecht aber nach Maus!«

»Ja, aber nicht richtig …«

»Hast du Angst?«

»Du?«

»Ja, ein wenig.«

»Was machen wir?«

»Ja, Maus oder nicht Maus, das ist die Frage …«

Sie schnupperten wieder eine Weile. »Ach was«, sagte Redi schließlich, »was irgendwie nach Maus riecht, wird auch irgendwie eine Maus sein!« Damit schlüpfte er in das Loch. Mudi folgte ihm langsam.

Je näher sie der Erdkammer kamen, desto stärker wurde der fremde, aber nicht unsympathische Geruch, und als Redi endlich einen vorsichtigen Blick in die Erdkammer wagte, sah er Grauschnauz, der tief schlief.

»Mudi, Mudi!«, flüsterte er in den Gang hinein.

»Komm her, sieh dir das an!«

Die beiden Hausmäuse betrachteten verwundert die schlafende Feldmaus. »Es ist eine Maus, darüber besteht kein Zweifel«, flüsterte Redi. »Seltsam, schau, wie kurz ihr Schwanz ist.«

»Ja, und die kleinen Ohren! Wo die wohl herkommt?«

»Ich werde sie wecken.«

Redi zog Grauschnauz am Schwanz, und Grauschnauz riss gleich erschrocken die Augen auf und stieß einen hohen Piepser aus. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Redi. »Wir tun dir nichts. Schau, wir sind auch Mäuse!«

Grauschnauz brachte einige Augenblicke lang kein Wort hervor, so erschrocken war er. Die Aufregungen des vergangenen Tages saßen ihm noch in den Knochen, und als ihn Redi am Schwanz gezogen hatte, hatte er geglaubt, das furchtbare Tier, das ihn durch die Scheune gejagt hatte, wäre wieder hier. »Mäuse …«, murmelte Grauschnauz nun erleichtert und nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten.

»Was bist denn du für einer und wo kommst du her?«, fragte Mudi.

»Ich bin eine Feldmaus«, sagte Grauschnauz. »Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich selber nicht genau. Ach, es ist alles so verwirrend für mich. Gestern noch lebte ich in meinem schönen Erdloch und heute …« Nun musste er doch weinen.

»Beruhige dich«, sagte Mudi. »Jetzt kann dir ja nichts mehr geschehen!«

»Genau!«, meinte Redi. »Jetzt bist du in Sicherheit. Erzähle uns alles, wir werden dir sicher helfen können!«

Mit zittriger Stimme berichtete Grauschnauz von seinen Erlebnissen. Die beiden Hausmäuse hörten aufmerksam zu. Als Grauschnauz zu der Stelle kam, wie ihn das böse Tier mit den großen, gelben Augen verfolgt hatte, unterbrach ihn Mudi.

»Das war der Kater!«, sagte er. »Unser spezieller Freund. Aber wenn man geschickt und schlau ist und sich nicht in unnötige Gefahr begibt, ist es halb so schlimm.«

»Stimmt«, sagte Redi. »Weißt du, es wohnen noch viele andere Mäuse hier im Haus. Wir haben einen fabelhaften Platz auf dem Getreidespeicher, wo uns der Kater nichts anhaben kann und wo es Körner in Massen gibt. Ich wette, so viele Getreidekörner auf einem Haufen hast du noch nie gesehen!«

Bei der Erwähnung der Getreidekörner bemerkte Grauschnauz, dass er furchtbaren Hunger hatte. Er hatte seit mindestens vierundzwanzig Stunden nichts mehr gefressen. »Wisst ihr«, sagte er jetzt schüchtern zu Mudi und Redi, »ich wäre schon selig, wenn ich jetzt wenigstens fünf Weizenkörner hätte …«

»Wir sind doch Dummköpfe!«, rief Redi. »Wir reden und reden und unser Freund ist am Verhungern. Los, kommt, lasst uns nach Hause gehen!«

Die drei Mäuse verließen den Bau in der Scheune. Redi ging voran, dann folgte Grauschnauz und zuletzt ging Mudi. Die beiden Hausmäuse bewegten sich mit großer Routine und Sicherheit. Sie kannten die Stellen, an denen der Kater lauern konnte, sehr genau. Sie rannten ungehindert über den Hof und kletterten durch das Astloch in den Geräteschuppen. An der hinteren Wand lehnte ein dicker Pfosten. An dem kletterte Redi empor. Grauschnauz folgte ihm ohne Schwierigkeiten, Mudi folgte dichtauf. Das obere Ende des Pfostens berührte den Dachstuhl des Schuppens. Von dort aus war ein Trägerbalken leicht zu erreichen.

Dort, wo der Trägerbalken des Dachstuhls auflag, war wieder eine kleine Öffnung im Holz, durch die jetzt Redi schlüpfte. Der Geräteschuppen stand dicht neben dem gemauerten Gebäude, in dem sich der Getreidespeicher befand. Als Grauschnauz nun ebenfalls durch das Loch schlüpfte, sah er, dass in der dicht anschließenden Mauer in gleicher Höhe mit dem Loch eine Belüftungsscharte ausgespart war. Auf diese Weise also gelangten die Hausmäuse in den Getreidespeicher.

Nun, ein Getreidespeicher, eine Kammer auf dem Dachboden, gefüllt mit Getreidekörnern, ist an sich ein traumhafter Platz für Mäuse. Was aber den Getreidespeicher des Spiehs-Bauern für die Mäuse zum wahren Paradies machte, war die Tatsache, dass kein Kater dazu Zugang hatte. Das war nicht immer so gewesen. Früher hatte der Spiehs-Bauer die Falltür zum Speicher immer für die Katzen offen gelassen, und es war für Mäuse ein äußerst gefährliches Unternehmen gewesen, sich längere Zeit auf dem Speicher aufzuhalten. Damals hatten sie auch in dem bewussten Bau in der Scheune gewohnt. Aber Rafi hatte eines Tages einen großen Fehler begangen. Er hatte es sich nämlich zur Gewohnheit gemacht, das offen gelagerte Getreide als Klosett zu benutzen. Als der Spiehs-Bauer dann eines Tages in direkte Berührung mit Rafis vergrabenen »Schätzen« gekommen war, hatte er fluchend die Falltür zum Speicher verschlossen. Lieber Mäuse als einen versauten Weizen! Hätte der Spiehs-Bauer allerdings gewusst, wie viele Mäuse mittlerweile seinen Speicher bevölkerten, er hätte gewiss die Falltür sofort wieder geöffnet.

Mudi, Redi und Grauschnauz waren inzwischen im Speicher angekommen und wurden sofort von den anderen Mäusen umringt. Alle redeten durcheinander und jeder wollte Grauschnauz in seine Höhle aufnehmen. Es wimmelte nur so von Mäusen. Sicher waren es dreißig oder auch mehr.

Grauschnauz hatte sich gleich an einen großen Getreidehaufen gestellt und selbstvergessen zu schmausen begonnen. Die Wette mit Redi hätte er sicher verloren; denn so einen riesigen Getreidevorrat hatte er wirklich noch nie in seinem Leben gesehen.

4. Kapitel

Fette Beute

Rufus, der Häuptling der Kanalratzen, hockte an diesem Abend in Gedanken versunken in seiner mit feinsten Entenfedern ausgekleideten Erdkammer. Er dachte darüber nach, ob es nicht ein Fehler von ihm gewesen war, Gelbzahn in seine Meute aufzunehmen. Dieser fremde Ratz war ungewöhnlich stark gebaut und sah irgendwie gar nicht so naiv aus, wie er sich gegeben hatte. Vor allem aber gehörte er nicht zur Gattung der Kanalratzen und das allein war für Rufus schon ein Grund zum Misstrauen. Wer weiß? Vielleicht war Gelbzahn sogar ein Spion, der den Auftrag hatte, ihre Gewohnheiten und Anlagen auszukundschaften? Ja, wer weiß? Andererseits wieder, wenn sich der kräftige Gelbzahn als treuer Untertan erwiese, wäre das von großem Vorteil. Rufus beschloss, Gelbzahn streng im Auge zu behalten und ihn bald auf die Probe zu stellen.

Ein Ratz namens Igor erschien im Eingangsloch zu Rufus’ Höhle und meldete aufgeregt: »Chef! Durch den Hauptkanal rinnt Wasser, das nach Fett und Blut duftet! Dreimaul hat es als Erster entdeckt. Er meint, dass weiter oben in einem Haus ein größeres Tier geschlachtet worden ist. Vielleicht sogar ein Schwein.«

»Gut«, sagte Rufus. »Nimm dir vier kräftige Ratzen – Dreimaul und ein paar andere –, und seht nach, woher dieses Wasser kommt. Wenn es möglich ist, dringt in das Haus ein und sucht den Misthaufen. Dort werdet ihr sicher schöne Stücke Futter finden. Die Katzen sind wahrscheinlich ohnehin schon satt und werden schlafen. Na ja, du kennst dich schon aus! Und noch etwas – nehmt den Neuen mit und beobachtet ihn genau, wie er sich verhält!«

»Ist in Ordnung, Häuptling!« Igor huschte in den dunklen Gang und holte die anderen zusammen. Das Unternehmen war schnell erklärt und die fünf Kanalratzen und Gelbzahn waren bald darauf im Hauptkanalrohr, sozusagen stromaufwärts, unterwegs.

Gelbzahn kam dieser Auftrag sehr gelegen. Jetzt konnte er beweisen, was für ein Kerl er war. Gelbzahn war zu allem bereit. Bei jedem Zuflussrohr zum Hauptkanal machten sie Halt und beschnüffelten eingehend die Öffnungen. Schließlich fanden sie die richtige. Das Wasser, das dünn aus diesem Rohr rann, hatte starken Blut- und Fleischgeruch, wirklich viel versprechend.

Einer hinter dem anderen kletterten die sechs Ratzen in das Abflussrohr, das direkt in den Hof des Hauses mündete. Als sie zum Ende des Rohres kamen, mussten sie allerdings feststellen, dass ein Drahtgitter den Weg ins Freie versperrte. Das Gitter war zwar nicht besonders stabil, es diente lediglich dazu, zu verhindern, dass größere Schlamm- oder Holzstücke das Rohr verstopften, trotzdem konnte es Dreimaul nicht eindrücken. Er versuchte es einige Male, indem er sich mit ganzer Kraft dagegen stemmte, aber das Gitter saß fest.

»Lass mich versuchen!«, sagte Gelbzahn und drängte die anderen Ratzen beiseite. »Geht ein Stück nach hinten, damit ich Schwung holen kann!«

Die Kanalratzen gehorchten. Gelbzahn nahm einen Anlauf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Drahtgitter. Die Verankerung riss heraus – der Weg war frei.

»Gut gemacht!«, lobte Dreimaul und übernahm wieder die Führung. Vorsichtig lauschend und schnüffelnd schlichen die Ratzen in den Hof des Bauernhauses. Der Misthaufen war schnell entdeckt. Wunderbare Düfte entströmten ihm. Für Gelbzahn war es seit vielen Stunden das erste Mal, dass er wieder frische Luft atmen konnte. Er hatte sich noch nicht an die stickige Luft im Bau der Kanalratzen gewöhnt (und würde sich auch nie richtig daran gewöhnen können), und so genoss er jetzt die angenehm warme Nachtluft, sog sie sehnsüchtig und wehmütig durch die Nase und schaute zu den still blinkenden Sternen hinauf. Ein eigenartiges, etwas trauriges Gefühl erfasste ihn, und nur deswegen konnte passieren, was ihm sonst niemals passiert wäre: Gelbzahn überhörte vollkommen die anschleichende Katze! Erst als er den weißen Fleck sah, der mit großer Geschwindigkeit auf sie zuschoss, wurde sich Gelbzahn der tödlichen Gefahr bewusst, in der sie schwebten.

»Zurück! Zurück!«, rief er. Aber für Dreimaul kam diese Warnung zu spät. Die Katze hatte ihn bereits angesprungen und niedergerissen. Gelbzahn wandte sich zur Flucht. Die vier anderen Kanalratzen waren schon beim Eingang des Abflussrohres, aber jeder wollte zuerst hinein und so war für Sekunden eine Drängerei entstanden. Die Ratzen behinderten sich gegenseitig; keiner wollte der letzte sein. Als sich Gelbzahn umdrehte, sah er, dass die weiße Katze von dem toten Dreimaul abgelassen hatte und nun auf sie zurannte. Hier konnte nur mehr eines helfen: Gelbzahn fasste all seinen Mut zusammen und lief der Katze entgegen. Dicht vor ihr sprang er in die Luft und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Das hatte die Katze nicht erwartet. Erschrocken wich sie zurück. Dieses kurze Zögern der Katze nutzte Gelbzahn und rannte nun zum Abflussrohr zurück. Zu seiner Erleichterung sah er, dass die Kanalratzen endlich darin verschwunden waren. Wie ein Pfeil schoss er in die dunkle Öffnung und rannte ein Stück hinein. Dann drehte er sich um. Wie zwei glühende Lichter glänzten die Augen der Katze in der Öffnung des Abflussrohres. Gelbzahn rannte weiter, bis er im Hauptkanal auf die vier Ratzen stieß. Der Schreck steckte ihnen noch in sämtlichen Gliedern, das war deutlich zu sehen.

»Was ist mit Dreimaul?«, fragte Igor.

»Was soll mit ihm sein?«, sagte Gelbzahn. »Er ist tot.«

»Das müssen wir sofort melden!«, meinte ein anderer Ratz und lief den Kanal hinunter. Die anderen folgten ihm.

Gelbzahn blieb zurück und dachte nach. Ein tollkühner Gedanke war ihm gekommen: Wie wäre es, wenn ich noch einmal zurückginge? Das ist bestimmt das Letzte, was die Katze annehmen würde! Gelbzahn fühlte sein Herz aufgeregt pochen. Eine Weile saß er noch unentschlossen da, dann gab er sich einen Ruck und kletterte wieder in das Abflussrohr. Er bemühte sich, nicht das geringste Geräusch zu verursachen. Schon schimmerte vor ihm die helle Öffnung des Rohres in den Hof. Zentimeter für Zentimeter schob sich Gelbzahn vorwärts. Angespannt lauschte er auf ein Geräusch, das auf die Anwesenheit der Katze schließen ließe, aber es war nichts zu hören. Endlich wagte Gelbzahn einen Blick in den Hof. Nicht weit von seinem Standort entfernt lag der totgebissene Dreimaul. Die Katze hatte ihn liegen lassen. Wahrscheinlich war sie für heute satt und hatte kein weiteres Interesse für Ratzenjagd. Gelbzahn hoffte es jedenfalls; sein Leben hing schließlich davon ab.

Lautlos schlich er in den Hof und hielt sich dabei im Schatten der Gebäude. Er erreichte den Misthaufen und hatte bald die für Menschen unbrauchbaren Reste des Schweins gefunden. Hastig nahm Gelbzahn ein großes Stück der Innereien ins Maul und schleifte es zum Abflussrohr. Unbehelligt kam er dort an und beeilte sich, seine Beute vollends in Sicherheit zu bringen. Keuchend langte er im Hauptkanal an. Hier machte Gelbzahn eine Rastpause. Das Wagnis war geglückt!

Nachdem sich Gelbzahn genügend ausgeruht hatte, setzte er seinen Weg fort. Endlich kam er beim Eingangsloch des Ratzenbaus an. Er legte seine fette Beute im Kanalrohr ab und kroch in den Bau. Inzwischen kannte er bereits die wichtigsten Gänge. Er eilte zum großen Versammlungssaal. Das müssen wir melden … Feige Bande!, dachte Gelbzahn. Nun hocken sie wahrscheinlich bei ihrem Häuptling und berichten, wie tapfer sie gewesen sind.