Maurus Reinkowski

Geschichte
der Türkei

Von Atatürk bis zur Gegenwart

C.H.Beck

Zum Buch

Die republikanische Ordnung der Türkei ist seit der Staatsgründung 1923 nahezu unverändert, doch hinter der erstaunlichen Kontinuität verbergen sich dramatische Veränderungen – von der erzwungenen Europäisierung unter Atatürk über Militärputsche und Konflikte mit Minderheiten bis zum islamistisch-autoritären Präsidialregime Erdoğans. Souverän, präzise und wunderbar lesbar erzählt der Islamwissenschaftler Maurus Reinkowski die Geschichte eines Landes am Kreuzungspunkt unterschiedlicher Kulturen und Machtblöcke.

Als der türkische Staatspräsident Erdoğan im Sommer 2020 die Hagia Sophia vom Museum zur Moschee umwidmete, sprach er wie ein muslimischer Herrscher selbst die Eröffnungssure und demonstrierte damit, dass die Türkei ein islamisches Land ist. Die auf den Trümmern des Osmanischen Reiches errichtete Republik Türkei hat im Laufe ihrer hundertjährigen Geschichte ihre Identität immer wieder neu definiert: Der von Atatürk forciert laizistisch und europäisch aufgestellte Nationalstaat strebte unter dem Militärregime nach 1980 eine türkisch-islamische Synthese an, sah sich nach 1990 als Führungsmacht aller Turkvölker, um die Jahrtausendwende als künftiges Mitglied der Europäischen Union und sucht heute den Schulterschluss mit der ehemals osmanisch beherrschten arabischen Welt. Maurus Reinkowski erzählt die Geschichte der Türkei am Leitfaden der innen- und außenpolitischen Umschwünge und macht dabei auf meisterhafte Weise die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Spannungen deutlich, die das Land zwischen Orient und Okzident bis heute prägen.

Über den Autor

Maurus Reinkowski ist Professor für Islamwissenschaft an der Universität Basel. Er war Mitarbeiter des Orient-Instituts in Istanbul, Fellow am Van Leer Jerusalem Institute und am Freiburg Institute for Advanced Studies sowie Gastprofessor an der Sabanci-Universität Istanbul.

Inhalt

Karten

Vorbemerkung

Einführung

Die Türkei: Raum, Grenzen, Nachbarn

Wer lebt in der Türkei?

Ankerpunkte der Geschichtsschreibung

Zwischen Zuversicht und Zorn

Erstes Kapitel: Abschied vom Osmanischen Reich

1. Erbe und Last: Die spätosmanische Zeit (1876–1912)

Nicht-Muslime und der staatspatriotische Osmanismus

Selbstbehauptungsversuche des «Kranken Mannes»

Freie Radikale: Die Jungtürken

2. Die Geburt aus dem Krieg (1912–1922)

Die Balkankriege

Der Erste Weltkrieg

Vernichtung und Verleugnung: Assyrer und Armenier

Der Krieg der anatolischen Nationalbewegung

3. Die Wege trennen sich (1922–1925)

Das Ende der Levante und die Erschaffung des Nahen Ostens

Der Vertrag von Lausanne

Trennung von den Mitstreitern

Die Kurden gehen leer aus

Zweites Kapitel: Die kemalistische Republik (1923–1950)

1. Atatürk und der Kemalismus (1923–1938)

Mustafa Kemal Atatürk

Die kemalistischen Reformen der 1920er und 1930er Jahre

Das neue Ankara, ein Projekt deutscher Architekten

Aufnehmen, Vereinnahmen, Ausgrenzen: Die Erschaffung der türkischen Nation

Personenkult und gemäßigte Autokratie

2. Dem Erbe verpflichtet (1938–1950)

Der zweite Mann: İsmet İnönü

Der übermächtige Staat: Wirtschaft, Schulen, Eisenbahnnetz

Unbeschadet durch den Zweiten Weltkrieg

Auf dem Weg zur Öffnung

Drittes Kapitel: Prekärer Pluralismus (1950–1980)

1. Neue Erwartungen, enttäuschte Hoffnungen (1950–1960)

Aufnahme in die NATO

Bewährung im Mehrparteiensystem

Der Putsch von 1960

2. Die neue Unübersichtlichkeit

Gececondus und Gastarbeiter: Landflucht und Arbeitsmigration

Außenpolitische Optionen: CENTO, Balkan-Pakt und andere Bündnisse

Die Zypernfrage

Die Türkei und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

Demirel, Ecevit und Erbakan: Felsen in der Parteienlandschaft

3. Polarisierung und Radikalisierung (1961–1980)

Liberale Verfassung und Wirtschaftsboom

Militärisch-technokratisches Zwischenspiel

Die Entgleisung des politischen Systems und die Welle der Gewalt

Der Putsch von 1980

Viertes Kapitel: Die Verheißungen des islamischen Konservatismus (1980–2013)

1. Politikingenieure an der Macht (1980–1983)

Das Militär als Staat über dem Staate

Die Türkisch-Islamische Synthese

2. Exkurs: Nation und Islam

Die rechtskonservative Strömung: Konservativ, nationalistisch, islamnah

Die islamistische Bewegung: Opfermythos und Kopftuchfrage, Derwischorden und Fethullah Gülen

Die radikal nationalistische Bewegung: Panturkisten und Graue Wölfe

3. Ungehemmte und gehemmte Liberalisierung (1983–1993)

Die Dekade Özal

Neue außenpolitische Koordinaten im Osten

4. Politische und wirtschaftliche Stagnation (1993–2002)

Der unaufhaltsame Aufstieg des Islamismus

Der Zwiespalt der Aleviten

Die kurdische Frage und die Herausforderung durch die PKK

Die Türkei auf abschüssiger Bahn

5. Aufbruch (2002–2013)

Erdoğans AKP: Euphorie und Reformschwung

Der Kampf gegen den Hohen Staat und den Tiefen Staat

Außen- und Handelspolitik mit neuem Selbstbewusstsein

Der EU-Beitritt der Türkei: Geschichte eines Scheiterns

Fünftes Kapitel: Der Weg in eine andere Republik (seit 2013)

1. Alte und neue Leitbilder

Arabellion, Neo-Osmanismus und der Krieg in Syrien

Proteste, Anschläge und der Bruch mit der Gülen-Bewegung

Der gescheiterte Putschversuch vom Juli 2016

Präsidiale Republik seit 2018

2. Die alte Türkei und die neue Türkei

Der Untergang des Kemalismus

Der neue Atatürk: Recep Tayyip Erdoğan

Eine Tradition von Populismus und Autoritarismus

Die kurdische Achillesferse

Zwischen Ost und West

Janusblick

Dank

Zeittafel

Abkürzungen

Bildnachweis

Anmerkungen

Vorbemerkung

Einführung

Erstes Kapitel: Abschied vom Osmanischen Reich

Zweites Kapitel: Die kemalistische Republik (1923–1950)

Drittes Kapitel: Prekärer Pluralismus (1950–1980)

Viertes Kapitel: Die Verheißungen des islamische Konservatismus (1980–2013)

Fünftes Kapitel: Der Weg in eine andere Republik (seit 2013)

Literatur

Personenregister

Geographisches Register

Karten

Vorbemerkung

Das türkische Alphabet unterscheidet sich vom deutschen nur in einigen wenigen Zeichen: Ç/ç ist auszusprechen wie das tsch in «tschechisch»; ğ führt zu einer Dehnung des vorangehenden Vokals; I/ı ist kurz und dumpf wie das e in «Sonne»; J/j entspricht dem j im französischen Wort Journal; Ş/ş entspricht dem Laut sch.

In diesem Buch folgt die Schreibung von Eigennamen und Ortsbezeichnungen grundsätzlich der heute in der Türkei üblichen Schreibung, also Erdoğan und İstanbul statt Erdogan und Istanbul. Für die Zeit vor der Republikgründung werden die im damaligen europäischen Gebrauch üblichen Varianten für Ortsnamen verwendet, dazu die heutigen Formen angeführt, zum Beispiel Smyrna (İzmir) oder Adrianopel (Edirne). Konstantinopel (Kostantiniyye in der osmanischen Version) wurde erst mit dem türkischen Postgesetz vom 28. März 1930 verpflichtend durch İstanbul ersetzt.[1] Dennoch wird hier durchgehend von İstanbul gesprochen, wenn wir uns im Kontext des Osmanischen Reiches und der Republik Türkei bewegen. Bei Orten, die wie in Zypern heute unter verschiedenen Namen bekannt sind, werden beide Bezeichnungen angeführt, etwa griechisch/türkisch Famagusta/Gazimağusa.

Abkürzungen werden in jedem der fünf Kapitel in diesem Buch bei ihrer ersten Nennung aufgeschlüsselt. Bei türkischen Institutionen und Parteien, etwa «Republikanische Volkspartei» (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), werden nur die türkischen Abkürzungen verwendet. Für all diese Namen existieren im Deutschen und den anderen europäischen Sprachen keine fest etablierten Abkürzungen. Bei allen Begriffen wird grundsätzlich die Übersetzung – nur beim ersten Mal in Anführungszeichen – vorangestellt; der türkische Originalbegriff folgt in Klammern.

Vor der verpflichtenden Einführung von Familiennamen zum 1. Januar 1935 kannten Muslime in der Türkei nur Vornamen (beziehungsweise weitere erläuternde Zusätze, wie zum Beispiel die Herkunft aus einer Stadt oder Region). Daher stehen für die Zeit vor 1935 die Familiennamen in Klammern, zum Beispiel: Ali Fuat (Cebesoy). Weil von Mustafa Kemal Atatürk sehr oft die Rede sein wird, gilt für ihn eine andere Regel: Für die Zeit vor 1935 wird von Mustafa Kemal gesprochen, danach von Atatürk. Titel, wie «Pascha» für Generäle und hochstehende Würdenträger, werden, wenn überhaupt, nur für die Zeit vor 1935 verwendet. Namen aus osmanischer Zeit weisen einige Abweichungen von der heutigen türkischen Norm auf, zum Beispiel Abdülhamid (statt Abdülhamit), um die damalige Schreibung in arabischer Schrift angemessen wiederzugeben. Mit der Schriftreform zum 1. Januar 1929, also dem Übergang vom arabisch geschriebenen Osmanischen zum lateinschriftlichen Türkisch, wurden manche Zusatzzeichen wie der Zirkumflex auf den Vokalen a, i und u eingeführt, um lange arabische Vokale zu kennzeichnen, etwa in Resmî Gazete (Gesetzblatt der Republik Türkei) oder Millî İstihbarat Teşkilâtı («Nationale Nachrichtendienstorganisation», also der türkische Geheimdienst). Falls Institutionen diese altertümliche Schreibung heute selbst noch verwenden, wird sie hier übernommen. Begriffe aus der religiösen Tradition des Islam, für die in der gesamten islamischen Welt nahezu ausschließlich aus dem Arabischen stammende Begriffe verwendet werden (eine der wenigen Ausnahmen im Türkischen ist etwa das persische Wort namaz für das rituelle Gebet), erscheinen in ihrer modernen türkischen Lautung, etwa mezhep für eine der Rechtsschulen im sunnitischen Islam (statt der für das Standardarabische korrekten Umschrift mahab). Eine Ausnahme bilden Begriffe der islamischen Religion, für die es eine im Deutschen übliche Schreibung gibt, etwa Hadsch, Ramadan oder Scharia.

In den Endnoten erscheinen alle Angaben in der Form von Kurztiteln; im Literaturverzeichnis am Ende des Buches sind die vollständigen bibliographischen Angaben zu finden. Zitate im Text werden in den Endnoten nachgewiesen.

Das Buch verzichtet auf ein durchgehendes Gendern («Musliminnen und Muslime»), so dass, wenn nicht differenziert werden muss, mit der männlichen Form alle Geschlechter gemeint sind.

Einführung

Die Türkei ist ein starkes Land. Sie ist Mitglied der G20, der Gruppe von zwanzig besonders wirtschaftsstarken Staaten. Turkish Airlines (Türk Hava Yolları), noch in den 1980er Jahren eine Luftfahrtgesellschaft mit beschränktem Radius, verfügt heute über eines der größten Streckennetze weltweit. Nachdem die Partei für «Gerechtigkeit und Entwicklung» (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) im Jahr 2002 die Regierung übernommen hatte, erlebte das Land einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwung. Die Türkei stellt das zweitgrößte Heer innerhalb der NATO; mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation in den frühen 1990er Jahren ist ihre geostrategische Bedeutung eher noch gestiegen. Die Türkei ist ein Schlüsselland für zahlreiche brennende Fragen der heutigen Politik, etwa, in welcher Weise mit der zerfallenden Ordnung des Nahen Ostens umzugehen ist und mit welchen Mitteln Europa auf den Migrationsdruck aus Afrika und Asien antworten soll. Die türkeistämmige Diaspora ist eine der bedeutendsten in Europa. Sie rückt, ermöglicht durch die modernen Massenmedien und Transportmittel, die politischen Verhältnisse der Türkei mitten hinein in die europäischen Gesellschaften – und umgekehrt. Die Türkei übertrifft in ihrer Landfläche Frankreich, den größten westeuropäischen Flächenstaat. Sie hat dank ihres dynamischen Bevölkerungswachstums derzeit deutlich mehr als achtzig Millionen Einwohner und wird bald Deutschland, das bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union, zahlenmäßig überflügelt haben.

Die Türkei ist ein schwieriges Land. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Europa sind immer wechselhaft gewesen und auf beiden Seiten durch identitätspolitische Vorbehalte belastet. Bei einem (derzeit kaum vorstellbaren) Beitritt zur Europäischen Union würde die Türkei mit Verweis auf ihr politisches, aber auch demographisches Gewicht eine ihrer Bedeutung angemessene Rolle beanspruchen. Die immensen Zweifel und Vorbehalte, die das von seiner imperialen Vergangenheit geprägte Großbritannien der Europäischen Union bis zu seinem Austritt im Januar 2020 immer wieder entgegenbrachte, würden von einem Mitgliedsland Türkei in den Schatten gestellt. Die Türkei galt bis in die frühen 2010er Jahre hinein als dasjenige islamische Land, das in beispielhafter Weise für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie stand. Der Weg hin zu einer autoritären Herrschaft ab den späten 2000er Jahren hat jedoch diesen Vorbildcharakter verblassen lassen. Zudem sind angesichts des neuen Selbstbewusstseins der Türkei die Verhältnisse verwickelter geworden: Auf europäischer Seite verschränken sich alte Gewissheiten der Überlegenheit mit neuen Verunsicherungen; auf türkischer Seite überlagern sich antikoloniale Reflexe mit neuen imperialen Ambitionen.

Die Türkei ist ein großartiges Land. Die räumliche und kulturelle Vielfalt dieses weitläufigen Landes ist beeindruckend. Die Türkei umfasst das historische Kleinasien, eine der kulturell und historisch reichsten Regionen der Welt. Sie ist Nachfolgerin des Osmanischen Reiches, eines der großen vormodernen imperialen Reiche, das mit dem Ende des Ersten Weltkriegs unterging und den Aufbruch in eine neue Türkei, die 1923 gegründete Republik Türkei, notwendig und zugleich möglich machte. Die in europäischen Darstellungen so gerne gehandelte Vorstellung von der Türkei als einer Brücke zwischen «Orient» und «Okzident» ist in der Türkei als Bild nicht so beliebt, da sie die Türkei zu sehr als dienendes Objekt erscheinen lässt; eher sieht man sich heute als einen Schlüsselstaat. Die Türkei ist ein mit Europa verbundenes Land – aber dies keinesfalls ausschließlich. Die Dynamik der türkischen Gesellschaft übertrifft die der westeuropäischen Staaten bei Weitem. Im Gegensatz zu vielen arabischen Staaten, deren Bevölkerungswachstum und Übermaß an jungen Menschen ihnen bisher nur eine Bürde gewesen ist, konnte die Türkei ihre demographische Dynamik, die noch bis in die späten 2020er Jahre hinein tragen wird, für die Entwicklung eines großen Binnenmarktes nutzen.[1] Die Rastlosigkeit und Lebendigkeit der Großstädte der Türkei ist bisweilen überwältigend.

Die Türkei ist ein zerrissenes Land. Nicht immer ist es ein Vorteil, eine Brücke zwischen verschiedenen Weltgegenden und Kulturen oder sogar ein Schlüsselstaat in einer Region zu sein. Dem Anspruch, unterschiedliche Welten miteinander zu verbinden, kann die Türkei schon in ihrer eigenen Gesellschaft nicht immer gerecht werden. Zwar verweisen Türkinnen und Türken mit Stolz auf ihre Geschichte, die weit hinter die Türkische Republik und das Osmanische Reich zurückreicht, aber dieses reiche Erbe hat zugleich schwierige Vermächtnisse beschert, wie die sich bereits im neunzehnten Jahrhundert herausbildende Frontstellung zwischen einem sich als säkular verstehenden und einem sich als religiös-konservativ deutenden Lager. Da man sich nicht darauf einigen kann, was genau die Geschichte des eigenen Landes ausmacht, lässt sich kein Einvernehmen darüber erzielen, in welcher Weise dieses Erbe ein gemeinsames nationales Selbstverständnis begründen soll. Dementsprechend belastet sind die Beziehungen zu den eigenen großen Minderheiten der Aleviten und Kurden, denen man bisher als einzige Lösung die Aufnahme in den türkischen Nationalstaat – zu den von der türkisch-sunnitischen Mehrheit formulierten Bedingungen – anbieten konnte und wollte.

Während man in den frühen 2010er Jahren in deutschsprachigen Fernsehsendern, gefühlt, nahezu jeden Abend eine Sendung über das kosmopolitische İstanbul sehen konnte (in solchen Berichten ging und geht es allerdings nur um einen sehr kleinen Teil İstanbuls, nämlich die Stadt in ihrer Ausdehnung um 1900), so steht heute der Autoritarismus der türkischen Regierung im Mittelpunkt, ohne dass die Reize der Stadt İstanbul und des Landes insgesamt gewichen wären. Die Türkei ist jedenfalls ein Land, dem selten mit Gleichmut begegnet wird, weder in der Türkei noch außerhalb – ein Zeichen dafür, dass es ausgeprägte Charaktereigenschaften hat und nicht am Rande der Weltpolitik liegt.

Die Türkei: Raum, Grenzen, Nachbarn

Die völkerrechtlich anerkannten Grundlagen und Grenzen der Republik Türkei finden sich im Vertrag von Lausanne, der am 24. Juli 1923 zwischen der Türkei und den Siegern des Ersten Weltkriegs, allen voran Frankreich und Großbritannien, geschlossen wurde. Die Gründung der «Republik Türkei» (Türkiye Cumhuriyeti) folgte wenige Monate später am 29. Oktober 1923. Seit Lausanne sind die Grenzen der Türkei – mit Ausnahme der als Hatay bezeichneten Region um die Städte Antakya und İskenderun, die nachträglich im Jahr 1939 an die Türkei fiel – grundsätzlich dieselben geblieben. Die mittlerweile einhundertjährige Existenz der Republik Türkei in den Grenzen von Lausanne stützt den Befund, dass das Staatensystem des Nahen Ostens im zwanzigsten Jahrhundert, trotz seines Rufes als Krisenregion, stabiler als das Europas gewesen ist.[2]

Auch ihre geographische Beschaffenheit lässt die Türkei als eine kompakte Einheit erscheinen. Mit einer Küstenlinie von rund 5972 Kilometern Länge (ohne Inseln) gegenüber rund 2750 Kilometern Landgrenze ist die Türkei ein Staat mit vornehmlich maritimen Grenzen: Im Norden wird er durch das Schwarze Meer begrenzt, im Westen durch die Ägäis und im Süden durch das Mittelmeer. Hinzu kommt das Marmarameer, das durch die Meerengen der Dardanellen mit dem Ägäischen und des Bosporus mit dem Schwarzen Meer verbunden ist. İstanbul liegt am oberen Ende des Marmarameers beziehungsweise am südlichen Ausgang des Bosporus und damit zugleich an einer der wichtigsten Schifffahrtstraßen der Welt. Das Staatsgebiet der Türkei, das 780.576 Quadratkilometer umfasst, ist damit «ein Territorium von beeindruckender Geschlossenheit in Fläche und Umriss, ohne extreme Ausbuchtungen und Einschnürungen der Grenzen».[3] Andererseits sticht das bis heute die Türkei prägende West-Ost-Gefälle ins Auge: Während Westanatolien bereits in osmanischer Zeit staatlicher Kernraum war,[4] wirkten in den ersten Jahrzehnten der Republik die östlichen Gebiete noch wie ein Fremdkörper. Südostanatolien war für die in den westanatolischen Großstädten lebenden türkischen Eliten mehr als nur geographisch weit entfernt. Eher reiste man in die große weite Welt als «durchs wilde Kurdistan». Es war und ist in Teilen immer noch ein Ort ungeliebter Bewährung für Ärzte, Beamte, Lehrer und Sicherheitskräfte.

Nur etwas mehr als 3 Prozent (23.721 Quadratkilometer) der Landfläche der Türkei liegen in der Region Thrakien westlich der Meerengen und damit «in Europa»; der Rest ist in Anatolien beziehungsweise Kleinasien. Der Begriff «Kleinasien» bezog sich ursprünglich nur auf den Westen des asiatischen Teils der Türkei – die aus der asiatischen Landmasse herausragende Halbinsel zwischen Schwarzem Meer, Marmarameer und Mittelmeer. Die Wasserscheide zwischen den Flüssen Kızılırmak und Euphrat beziehungsweise eine Linie zwischen den Städten İskenderun (am Mittelmeer) und Trabzon (am Schwarzen Meer) trennt das eigentliche Kleinasien von den weiter östlich gelegenen Gebieten ab. Mit «Anatolien» meinten die Griechen ursprünglich das östlich der Ägäis liegende Festland. Im elften und zwölften Jahrhundert wurde dieser Begriff von den Türken übernommen, aber deutlich ausgeweitet. In diesem Buch wird nicht von Kleinasien gesprochen, sondern von Anatolien. Gemäß dem heutigen türkischen Sprachgebrauch wird unter Anatolien (Anadolu) der gesamte asiatische Landesteil der Republik Türkei verstanden.

Kulturgeographisch gehört die Türkei noch zu Europa. Das Fehlen großer geschlossener Flächen von Anökumene (also von aufgrund ihrer physisch-klimatischen Bedingungen nicht bewohnbaren Gebieten) unterscheidet Anatolien deutlich von Iran, der Arabischen Halbinsel oder Ägypten.[5] Die geographische Trennung Europas von Asien durch die beiden Meerengen ist ohnehin eine Konvention: Dardanellen und Bosporus sind ertrunkene Flusstäler, und von İstanbul auf der europäischen Uferseite «blickt man auf das andere Ufer wie von Bingen nach Rüdesheim».[6]

Blick von den auf der asiatischen Seite gelegenen Çamlıca-Anhöhen über den Bosporus hinweg. Die markante Silhouette mit den Bürohochhäusern auf den Höhenzügen des europäischen İstanbul ist erst in den letzten zwanzig Jahren entstanden. In der Bildmitte die älteste und südlichste der mittlerweile drei Brücken über den Bosporus, die seit 2016 den Namen «Brücke der Märtyrer des 15. Juli» trägt.

Angesichts ihrer geographischen Lage müsste die Türkei ein mit Portugal oder Süditalien vergleichbares Klima aufweisen. Der größte Teil der Türkei ist jedoch für einen subtropischen Klimacharakter zu hoch gelegen. Die mittlere Höhenlage der Türkei liegt bei 1130 Metern (die in mancherlei Hinsicht mit Anatolien vergleichbare Iberische Halbinsel hat eine durchschnittliche Höhenlage von 640 Metern). Eine zweite Eigenschaft Anatoliens sind zahlreiche, nahezu die gesamte Landmasse durchziehende Gebirgsgürtel, die zu einer Kammerung des Landes in Gebirgsstöcke und Gebirgsketten mit zwischengelagerten Becken (ova) verschiedenster Größenordnungen führen. Beim ova, dem südosteuropäischen polje ähnlich, handelt es sich um ein Stück Flachrelief, das wenigstens teilweise von höherem Gelände umrahmt ist. Ein drittes, Anatolien prägendes Charakteristikum ist die Scheidung Inneranatoliens vom Meer durch unmittelbar hinter der Küstenlinie sich erhebende, parallel zum Meeresufer verlaufende und zum Teil über 3000 Meter hoch aufragende Gebirgsmassive. Zu nennen sind hier das Pontus-Gebirge entlang der Schwarzmeerküste und das Taurus-Gebirge entlang der Südküste. Nur im Westen, an der ägäischen Küste, ist der Übergang zum inneranatolischen Hochland deutlich ins Binnenland zurückgesetzt und fällt weniger jäh aus. Dem subtropischen Klima in den schmalen Küstensäumen steht ein trockenes kontinentales Klima im inneranatolischen Hochland gegenüber.[7] Die Trennung Inneranatoliens von den Küsten und seine zum Teil schwierige Zugänglichkeit in den östlichen Landesteilen haben über Jahrtausende seine wirtschaftlichen Verhältnisse und politische Geschichte geprägt.

Die in der Türkei heute üblichen Regionsbezeichnungen spiegeln die historische Vielfalt der Türkei nicht wider. Antike Landschaftsbezeichnungen wie Lydien (westlich von İzmir) oder Pamphylien (die Region um das heutige Antalya) finden sich heute nur noch in Kunstreiseführern. Das im westlichen Zentralanatolien gelegene Kappadokien (Kapadokya) ist als wichtiges Reiseziel des Tourismus ein gängiger Begriff in der Türkei, ebenso wie Thrakien (Trakya) als Bezeichnung für die europäischen Landesteile der Türkei. In vielen Städtenamen jedoch, vor allem Mittelanatoliens, leben die früheren byzantinischen Ortsbezeichnungen fort, so zum Beispiel in Amasya (Amaseia), Antalya (Attaleia), Bergama (Pergamum), Kayseri (Caesareia), Konya (Iconium), Malatya (Melitene) oder Sivas (Sebasteia).[8] Für fast alle heutigen Provinzen der Türkei wurden die Namen der jeweiligen Verwaltungssitze übernommen. Weite Verbreitung, zum Beispiel in den Wetternachrichten, hat eine Verteilung nach Großregionen gefunden, die physisch und kulturgeographisch gesehen nicht immer zusammengehörige Räume benennen. Es sind dies die Regionen Ägäis (Ege), Marmara (Marmara), Mittelmeer (Akdeniz), Schwarzes Meer (Karadeniz), sowie Zentralanatolien (İç Anadolu), Ostanatolien (Doğu Anadolu) und Südostanatolien (Güneydoğu Anadolu).

Die Türkei grenzt an acht Nachbarländer: Griechenland, Bulgarien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan (allerdings nur in Form der Exklave Nachitschewan), Iran, Irak und Syrien. Diese Nachbarländer unterscheiden sich von der Türkei in sprachlicher, ethnischer oder religiöser Hinsicht – und oft in allem zugleich. Die beiden südosteuropäischen Nachbarn der Türkei,[9] Bulgarien und Griechenland, betonen als Grundlage ihrer nationalen Identität die Zugehörigkeit zum orthodoxen Christentum. Beide Staaten haben türkische Minderheiten: Die türkische Minderheit Bulgariens macht rund ein Zehntel der Bevölkerung aus und ist mit einer eigenen Partei im bulgarischen Parlament vertreten. Hinzu kommen noch bis zu zweihundertfünfzigtausend Pomaken (slawischsprachige Muslime), die vor allem im südbulgarischen Rhodopen-Gebirge zu finden sind. Im griechischen Westthrakien, ein Gebiet, das sich von etwa Xanthi bis an die griechisch-türkische Grenze erstreckt, leben über einhunderttausend Muslime, zu denen, neben den Türken als größter einzelner Gruppe, Pomaken und Roma hinzutreten.[10] Die türkischen Minderheiten in Griechenland und Bulgarien sind wiederholt Anlass zu Zerwürfnissen der Türkei mit diesen Ländern gewesen: wegen des türkischen Schutzanspruchs; wegen Versuchen einer nationalen Homogenisierungspolitik durch Bulgarien; wegen der in der öffentlichen Erinnerung Bulgariens und Griechenlands vorherrschenden Vorstellung, dass ihre Völker über Jahrhunderte hinweg unter dem «osmanischen Joch» zu leiden gehabt hätten, also unter einer niederdrückenden, geradezu zerstörerischen osmanischen Herrschaft.[11] Territoriale Streitigkeiten in der Ägäis und die ungelöste Zypernfrage belasten das griechisch-türkische Verhältnis zusätzlich.

Mit den nordöstlichen Nachbarn, Georgien und Armenien, beide Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sind die Beziehungen unterkühlt. Georgien sieht sich, ebenso wie Armenien, als eine Insel des Christentums im ansonsten mehrheitlich islamisierten Kaukasus und hat eine belastete Beziehungsgeschichte zum Osmanischen Reich, pflegt aber pragmatische Kontakte zur Türkei.[12] Die Türkei wiederum ist, den schlechten Beziehungen mit Armenien geschuldet, auf Georgien als Landbrücke nach Aserbaidschan angewiesen. So verläuft, um nur ein Beispiel zu nennen, die 2006 eröffnete Erdölpipeline von Baku in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan über Georgien. Die armenisch-türkischen Beziehungen sind bis heute vergiftet. Zur Last des Genozids an den anatolischen Armeniern in den Jahren des Ersten Weltkriegs tritt der armenisch-aserbaidschanische Konflikt um die Region Nagorny Karabach (Bergkarabach) hinzu, bei dem die Türkei sich auf die Seite Aserbaidschans stellt.[13] Die Landgrenze zwischen Armenien und der Türkei ist bis heute geschlossen. Aserbaidschan, sprachlich, ethnisch, kulturell und politisch der Türkei nahestehend, besitzt keine direkte Landverbindung mit der Türkei. Von der unmittelbar nördlich des Berges Ararat gelegenen türkischen Provinz Iğdır aus gibt es allerdings einen schmalen Korridor zur Autonomen Republik Nachitschewan (Naxçıvan). Diese aserbaidschanische Exklave ist von Iran, Armenien und der Türkei (allerdings hier nur von einem 17 Kilometer langen Grenzabschnitt) umschlossen.

Während die Grenzen der Türkei im Allgemeinen erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gezogen wurden, hat sich die Grenze zu Persien, heute Iran genannt, schon ab dem siebzehnten Jahrhundert verfestigt, auch wenn das Osmanische Reich und Persien in der Folge noch zahlreiche Konflikte, vor allem über die Kontrolle der Gebiete des heutigen nördlichen Irak, ausfochten. Die persisch-osmanische beziehungsweise die heutige iranisch-türkische Grenze war und ist auch deswegen kaum umstritten, weil sie in wenig besiedeltem Gebiet auf Gebirgskämmen verläuft. Iran und die Türkei haben widersprechende hegemoniale Ansprüche in der weiteren Region, die zum Beispiel im Syrienkrieg seit 2011 deutlich hervorgetreten sind. Die beiden Staaten stehen sich aber, trotz des schiitisch-sunnitischen Gegensatzes, nicht grundsätzlich feindselig gegenüber.[14]

Die Gebiete des heutigen Iraks und Syriens standen vom frühen sechzehnten Jahrhundert an bis 1918 unter osmanischer Herrschaft. Ihrer Agenda als «arabische Nationalstaaten» folgend haben die irakische und syrische nationale Geschichtsschreibung und öffentliche Erinnerungspolitik (darin Bulgarien und Griechenland ähnlich) die vier Jahrhunderte osmanischer Herrschaft als eine Zeit des Niedergangs gedeutet. Hinzu treten neue Anlässe für Auseinandersetzungen, wie etwa die für Irak und Syrien entscheidende Wasserfrage: Die östlichen Teile Syriens erhalten ihr Wasser allein vom Euphrat; der Irak ist in seinen gesamten mittleren und südlichen Landesteilen von der Wasserzufuhr des Euphrats und Tigris abhängig. Die Türkei jedoch hat ein großes Netzwerk von Staudämmen für die im ostanatolischen Hochland entspringenden Flüsse Euphrat (Fırat) und Tigris (Dicle) entwickelt, das von seinen südlichen Nachbarn als «Wasser-Imperialismus» verurteilt wird.[15] Hinzu tritt noch der syrische Anspruch auf die 1939 an die Türkei verlorene Hatay-Region.

Natürliche Freunde hat die Türkei in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nicht. Aserbaidschan und die in Zentralasien liegenden Staaten Kasachstan, Kirgisien, Turkmenistan und Usbekistan sind der Türkei durch die Gewissheit einer gemeinsamen Kultur- und Sprachgeschichte verbunden. Die in diesen Ländern gesprochenen Sprachen, einschließlich des Türkeitürkischen, gehören zur Gruppe der Turksprachen.[16] Dazu zählen viele weitere, vor allem in Russland und China gesprochene Sprachen, die miteinander verwandt, aber untereinander teilweise kaum verständlich sind.[17] Abgesehen vom in der Kaukasusregion liegenden Aserbaidschan sind die zentralasiatischen Turkstaaten Tausende Kilometer entfernt und von der Türkei aus weder zu Lande noch zu Wasser direkt erreichbar. Die türkische Außenpolitik in den 1990er Jahren hatte sich anfangs der Erwartung hingegeben, dass mit dem Zerbrechen der Sowjetunion die Türkei für die Turkstaaten in Zentralasien eine Führungsmacht werden könnte. Die Hoffnung trog aber, da diese – angesichts der starken Überprägung der Region in sowjetischer Zeit und des Status des Russischen als Verkehrssprache – sich von Russland nicht vollständig lösen wollten und konnten. Mittlerweile ist China, dank seiner räumlichen Nähe und seiner starken Wirtschaft, vor allem aber durch sein Vorhaben einer «neuen Seidenstraße» (neuerdings prosaischer gefasst als One Belt, One Road), neben Russland zum zweiten bestimmenden Akteur in Zentralasien aufgestiegen.[18]

Wer lebt in der Türkei?

Die Türkei in ihren räumlichen Dimensionen zu beschreiben fällt leicht. Eine unverfängliche Schilderung davon geben zu wollen, wer in der Türkei lebt, ist dagegen schwieriger. Ethnische Gruppen sind keine physischen Gegebenheiten, sondern ihre Beschreibung hängt vom Standpunkt des Betrachters ab, zum Beispiel ob eine Gruppe aus einer äußeren Perspektive (etisch) gedeutet oder von innen heraus (emisch) gesehen wird. Ethnische und religiöse Gruppen sind zudem komplexe Gefüge, die sich gegen eindeutige Beschreibung und Zuordnung sperren. Von einer ethnischen Vielfalt der Türkei zu schreiben, kann leicht den Tadel einbringen, die territoriale Integrität der Republik Türkei nicht anzuerkennen beziehungsweise gar untergraben zu wollen, indem man bewusst die Verschiedenartigkeit in den Vordergrund stelle.[19] Von der Warte eines außenstehenden Betrachters gesehen ist jedoch die ethnische Vielfalt der Türkei Ausdruck ihres historischen und kulturellen Reichtums.[20]

Die ethnische Vielfalt der heutigen Türkei, auf der Basis einer sehr deutlichen türkisch-muslimischen Bevölkerungsmehrheit ruhend, erklärt sich aus ihrer osmanischen, ja sogar vorosmanischen Vorgeschichte. Eine grundsätzliche Wende in der Geschichte der islamischen Welt bedeutet das Vordringen von aus Zentralasien kommenden turkstämmigen Nomaden in die Kernareale der islamischen Welt. Aufgrund ihrer militärischen Stärke konnten diese Nomaden die Gebiete des heutigen Iran für sich erobern und dort die im elften Jahrhundert herrschende Dynastie der Großseldschuken begründen. Die Wanderungsbewegung der Türken von Zentralasien nach Westasien ist mit einer Busreise verglichen worden: Bei der sehr langen Fahrt von Ost nach West steigen viele Passagiere aus oder um (etwa Richtung Afghanistan und Industal), die meisten aber wollen weiterfahren.[21] Sie gelangen bis in den Iran, wo heute rund ein Viertel der Bevölkerung (vor allem im Nordwesten des Landes) azeri-sprachig ist. Allerdings gilt dabei: Die Busfahrer waren immer wieder andere, der Motor musste mehrmals getauscht werden, und selbst das Fahrgestell war nicht mehr dasselbe.

Über eine Ankunftszeit auf dieser langen Reise wissen wir genau Bescheid: Als Byzanz unter Kaiser Romanos IV. Diogenes dem allmählichen Eindringen von turkstämmigen Nomaden in seine östlichen Landesteile Einhalt zu gebieten versuchte, schlug am 26. August 1071 bei Manzikert (heute Malazgirt, nördlich des Vansees in Ostanatolien) ein großseldschukisches Heer, unterstützt von zahlreichen turkstämmigen Nomaden-Einheiten, das byzantinische Heer. Anatolien war damit dem Eindringen dieser neuen Bevölkerung offen ausgesetzt: Bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts strömte rund eine Million turkstämmiger Bevölkerung nach Anatolien ein. Diese neu nach Anatolien kommenden Menschen standen in einer nomadischen Tradition, die bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein Anatolien prägen sollte.[22] Über die Jahrhunderte hinweg trat die ursprüngliche, ehemals vornehmlich orthodoxe Bevölkerung Anatoliens in Teilen zum Islam über. Auch nach der Etablierung des Osmanischen Reiches um 1300 im Nordwesten Anatoliens und seinem anschließenden Ausgreifen auf ganz Anatolien war die Turkifizierung und Islamisierung des Landes noch im Gange – ein Prozess, der erst im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum Abschluss kam.

Die Aufnahme aus dem Jahr 1971 zeigt Frauen und Kinder eines Nomadenverbandes auf ihrem Weg zu den Sommerweiden im Aladağlar-Massiv (Anti-Taurus). Der Nomadismus als Lebens- und Wirtschaftsweise in Anatolien, mit seinem typischen Wechsel zwischen Winterlager (kışlak) in den Ebenen und den Sommerweiden in alpiner Höhenlage (yaylak), war bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch ein Randphänomen.

Die Bevölkerung der Türkei ist sich ihrer Vielfalt bewusst, wie es in der Redewendung «in der Türkei gibt es zweiundsiebzigeinhalb Nationen» (Türkiye’de yetmiş iki bucuk millet var) zum Ausdruck kommt.[23] Die Situation in der heutigen Türkei aber verblasst im Vergleich zur außerordentlichen ethnischen, konfessionellen und sprachlichen Vielfalt in osmanischer Zeit. Das Osmanische Reich war – außer in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens – nicht daran interessiert, die Bevölkerung im Sinne einer Nationalkultur zu prägen. Die Reichsführung wollte und musste nicht in die innere Ordnung von vielen Regionen und Herrschaftsverbünden eingreifen. Das Osmanische Reich hat der Türkei aber nicht nur das Erbe seiner imperialen Expansion, sondern auch seines späteren Schrumpfungsprozesses hinterlassen. Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert strömten aus ehemals osmanischen Herrschaftsgebieten Millionen Flüchtlinge türkischer Sprache bzw. muslimischer Konfession nach Anatolien; ein großer Teil von ihnen kam aus Südosteuropa, das den Osmanen als «Rumelien» bekannt war. Menschen in der Türkei, deren Vorfahren aus Südosteuropa stammen, sprechen heute noch von ihrer Herkunft «aus Rumelien» (Rumeli’den). Rund drei Millionen Türken und Muslime mussten Südosteuropa vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Richtung der heutigen Türkei verlassen. Die Nachkommen dieser Flüchtlinge, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung der Türkei heute vermutlich rund ein Viertel beträgt,[24] sind ein selbstverständlicher Bestandteil der türkisch-sunnitischen Mehrheitsbevölkerung.

Hinzu kommen die Muslime, die vor der im achtzehnten Jahrhundert einsetzenden russischen Expansion im Kaukasus und im nördlichen Schwarzmeergebiet flohen oder vertrieben wurden. Zu ihnen gehören die Nogay-Tataren (aus den Steppen nördlich des Schwarzen Meers) und die Tataren von der Krim, die größtenteils zuerst eine neue Heimat in den osmanischen Territorien Südosteuropas fanden, dann aber, wie die schon immer in Rumelien beheimateten Muslime, nach Anatolien fliehen mussten. Die Tscherkessen, 1864 von Russland aus dem Kaukasus ins Osmanische Reich deportiert, wurden zuerst als Wehrbauern in Rumelien zwischen christlichen und islamischen Ortschaften angesiedelt. Als sie nach den Bestimmungen des Berliner Vertrags von 1878 nicht mehr im europäischen Teil des Osmanischen Reiches bleiben durften, siedelte sie der osmanische Staat unter anderem in Gebieten des heutigen Syrien und Jordanien an.[25] Der Begriff «Tscherkessen» bezeichnet im amtlichen und umgangssprachlichen Gebrauch in der Türkei fast alle ethnischen Gruppen, die ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus dem Nord-Kaukasus in die Gebiete der heutigen Türkei eingewandert sind – zum Beispiel Dagestaner, Osseten oder Tschetschenen. Dieser eigentlich irreführende Dachbegriff geht unter anderem auf das Vorhaben tscherkessischer Vereine ab den 1950er Jahren zurück, aus den in der Türkei lebenden Kaukasiern eine Einheit unter einem tscherkessischen Dach zu bilden. Auch die Tscherkessen (als Oberbegriff für alle Nordkaukasier) sind und verstehen sich als selbstverständlicher Teil der sunnitisch-muslimischen Bevölkerung.[26] All diese aufgrund ihrer muslimischen Konfession in die Türkei fliehenden Bevölkerungsgruppen wurden in spätosmanischer Zeit als Muhacir bezeichnet, ein Begriff mit religiösen Anklängen, da er auf derselben arabischen Wortwurzel wie Hidschra beruht, der Auswanderung des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina im Jahr 622 und zugleich der Beginn der islamischen Zeitrechnung.

Ein weiterer Grund für die ethnische Vielfalt der Türkei liegt in der Existenz ehemals nicht-türkischer und nicht-muslimischer Ethnien innerhalb der heutigen Türkei, die schon längst muslimisch geworden sind, die aber ihre ethnische Identität und zum Teil auch ihre Sprache bewahrt haben. Zu diesen gehören etwa die im östlichsten Schwarzmeergebiet (also westlich des georgischen Batumi) lebenden Lasen. Die eigentlichen Lasen, die der kartvelischen Sprachgruppe der Kaukasussprachen (wie Georgisch und Mingrelisch) angehören,[27] sind zu unterscheiden von der volkstümlichen Benennung aller Bewohner der östlichen Schwarzmeerküste als «Lasen». Die über «die» Lasen in der Türkei verbreiteten Klischees sind vergleichbar mit den Witzen über die Ostfriesen in Deutschland – also über einen Menschenschlag angeblich mit seltsamer Sprache und von fragwürdiger Intelligenz.

Da in Südostanatolien Staats- und Sprachgrenzen nicht ineinanderfallen, findet sich auf türkischem Staatsgebiet eine arabischsprachige Bevölkerung, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung aber gering ist.[28] Arabische Siedlungsgebiete liegen im Hatay (also der Region um Antakya und İskenderun), in der Çukurova (die zwischen dem Taurus-Gebirge und dem Golf von İskenderun liegende Tiefebene mit den Großstädten Adana und Mersin) und in den weiter östlichen Grenzgebieten zu Syrien und Irak. Der Zuzug von rund vier Millionen Flüchtlingen aus Syrien in den 2010er Jahren verändert natürlich diesen Befund einer allmählich aussterbenden (weil zunehmend das Türkische übernehmenden) arabischen Sprachgemeinschaft in der Türkei.

Diese historisch vielgestaltige muslimische und heute in aller Regel türkischsprachige Bevölkerung, die zu einem beträchtlichen Teil auf Flucht und Vertreibung im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert zurückgeht, bildet heute die deutliche Mehrheit von mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung in der Türkei. Ihr Gefühl der Zugehörigkeit beruht auf zwei Pfeilern, nämlich türkisch und sunnitisch-muslimisch zugleich zu sein.[29]

Die Juden in der Türkei sind im besonderen Maße ein Vermächtnis der osmanischen Zeit. Die Osmanen beließen nicht nur die bereits existierenden jüdischen Gemeinden in den von ihnen eroberten Gebieten und Städten, sondern nahmen zudem im späten fünfzehnten Jahrhundert in großer Zahl die von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Juden auf.[30] Diese sich neu ansiedelnden sephardischen (also aus Spanien kommenden) Juden machten Saloniki zu einem herausragenden Zentrum des Judentums, das von den deutschen Nationalsozialisten im Holocaust vollständig vernichtet wurde. Auch das osmanische İstanbul hatte vom fünfzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart eine bedeutende jüdische Gemeinde. Seit der Republikgründung und vor allem mit der Gründung des Staates Israel ist jedoch eine ständige Abwanderung zu verzeichnen. Die Zahl der Juden in der Türkei ist mittlerweile auf deutlich weniger als zwanzigtausend gefallen. Ein sich immer offener zeigender öffentlicher und staatlicher Antisemitismus und die deutliche Verschlechterung der türkisch-israelischen Beziehungen seit den späten 2000er Jahren lassen die türkischen Juden an einer guten Zukunft in der Türkei zweifeln. Viele nehmen daher das Angebot einer zweiten Staatsbürgerschaft an, das mittlerweile Spanien und Portugal den Nachkommen sephardischer Juden unterbreiten (zudem ohne die Verpflichtung zum Militärdienst wie etwa in Israel).[31]

Der wichtigste Pfeiler ethnischer und konfessioneller Vielfalt im Osmanischen Reich waren – jenseits der Muslime – die christlichen Gemeinschaften. Die Geschichte der Christen in den Gebieten der heutigen Türkei reicht zwar weit über die osmanische Zeit hinaus zurück. Dennoch können die christlichen Gemeinschaften, vor allem die griechisch-orthodoxe Gemeinde, auch als Erbe des osmanischen Imperiums angesehen werden. Denn sie waren – trotz immer wieder stattfindender Konversionen von Einzelnen oder ganzen Gruppen zum Islam – bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Glaubensgemeinschaften vom osmanischen Staat nicht nur geduldet, sondern institutionell anerkannt. Während vor dem Ersten Weltkrieg der Anteil der autochthonen Christen an der Bevölkerung Anatoliens bei rund einem Fünftel lag, ist er mittlerweile auf weniger als 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung der Türkei zurückgegangen. Heute treten die Mitglieder der autochthonen Kirchen Anatoliens zahlenmäßig hinter denjenigen Christen zurück, die sich neu in der Türkei niedergelassen haben, zum Beispiel christliche Ehepartner türkischer Staatsangehöriger, Wirtschaftsmigranten christlicher Konfession oder deutsche Rentner in Antalya.[32]

33Fener Rum Lisesi, 34