Die letzte Kosmonautin

Brandon Q. Morris

Die letzte Kosmonautin

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Brandon Q. Morris

Brandon Q. Morris ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit Weltraum-Themen. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Wir schreiben das Jahr 2029, und die DDR feiert ihren 80. Jahrestag. Die Kosmonautin Mandy Neumann befindet sich seit mehreren Wochen an Bord der Raumstation »Völkerfreundschaft«. Eigentlich wartet sie auf ihre Ablösung, doch als die ersten unerklärlichen Unfälle passieren, beschleicht sie der Verdacht, dass jemand ihre Mission sabotiert. Kurz darauf bricht der Kontakt zur Bodenstation ab, und sie muss um ihr Leben kämpfen.

 

Der einzige Mensch, der ihr dabei helfen kann, ist Tobias Wagner, ein Leutnant der Volkspolizei in Dresden. Er ist auf der Suche nach einem verschwundenen Physiker, der am Bau der Raumstation beteiligt war, und die Spur führt ihn in ein militärisches Sperrgebiet in der Lausitz. Schon bald gerät er in Konflikt mit seinen Vorgesetzten.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2022 Brandon Q. Morris

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: LuXx Graphics Bouhadda Abderrahmane

Coverabbildung: Mikhail Nilov / Pexels

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491490-9


Erdorbit

Sie verankert ihre Stiefel in den Fußrasten und legt den Kopf in den Nacken, damit ihr die Lüftung den Schweiß nicht mehr direkt in die Augen treibt. Schon beim Training hat sie es Heiner gesagt: Es war ein Konstruktionsfehler, den Ventilator im Helm oberhalb der Hutlinie anzubringen. Wehe, die Missionskontrolle macht ihr deshalb Ärger. Die haben gut reden! Sollen sie doch selbst weniger heiße Luft absondern, statt ihr vorschreiben zu wollen, wie sie Ressourcen zu sparen hat. Mandy atmet absichtlich mehrmals tief ein und aus, bis ihr schwummrig wird.

Pause. Sie lässt das Kabel mit den elektrischen Kerzen los. Eine leichte Bewegung geht durch die schlangenförmige Kette, die in der Schleuse der RS Völkerfreundschaft endet. Dadurch wirkt sie fast lebendig, wie ein überdimensionaler Zitteraal. Das Tier hatte ihre Zwillinge sehr beeindruckt. Sie sieht sich mit den beiden Mädchen an der Hand durch den Leipziger Zoo spazieren.

Noch zwei Wochen, dann kommt die Ablösung. Sie muss sich auf die Realität konzentrieren. Tief unter ihr versetzt gerade der Stiefel des italienischen Festlands der Insel Sizilien einen Tritt. Ihre Stirnhaut spannt sich. Mandy würde sich gern kratzen. Sie versucht, den Kopf so weit nach unten zu drücken, dass der Flüssigkeitsspender die Stirn erreicht, damit sie sich daran reiben kann. Aber dafür ist der Helm nicht groß genug.

Das ist Bummi, der Roboter, ihr einziger Begleiter. Der Name, der von dem Bärenmaskottchen der Kinderzeitschrift stammt, passt überhaupt nicht zu ihm. Bummi sieht aus wie eine vierbeinige Spinne, weil sein Körper im Vergleich zu seinen fast zwei Meter langen Gliedern klein ist. Aus den Augenwinkeln sieht Mandy, wie er zu ihr gekrochen kommt. Er benutzt abwechselnd seine Arme und Beine, um sich über die Außenhaut der Völkerfreundschaft zu bewegen.

»Ja, ich lege nur eine kleine Pause ein«, sagt Mandy.

»Du solltest die Außenbordaktivität so kurz wie möglich halten.«

»Ich weiß, Bummi, ich soll Sauerstoff sparen.«

»Genau, aber mir geht es auch um dich. Jede Minute hier draußen vergrößert dein Unfallrisiko.«

»Ich weiß, du willst nur mein Bestes.«

Bummi antwortet nicht. Er antwortet nie auf Sätze, die nur das Offensichtliche feststellen. Manchmal traut ihm Mandy zu, dass er sich insgeheim für viel schlauer hält und von oben auf sie herabsieht, aber äußern würde sich der Roboter so nie. Sie löst den Blick von der Erdkugel, die ihr inzwischen den Atlantik zeigt. Als sie ihren Rumpf nach vorn beugt, um die Sicherungsleine an einer anderen Querstrebe einzuhaken, wird ihr kurz übel. Sie hat ihrem Körper zu lange das Gefühl gegeben, mit dem Kopf nach unten zu hängen, obwohl Raumrichtungen in der Mikrogravitation keine Rolle spielen.

»Du musst um den Bug herum«, sagt Bummi. »Oder soll ich das lieber übernehmen?«

»Nein danke, das schaffe ich schon.«

Mandy stößt sich ab und arbeitet sich in Richtung Bug voran, wo die Raumstation sich deutlich verjüngt. Daran merkt man am deutlichsten, dass sie aus einer ehemaligen Raketenoberstufe gebaut wurde. Das hatte sich als kostengünstigster Weg erwiesen, die im Rahmen des vierzehnten Fünfjahrplans zu errichtende erste Raumstation der DDR in den Erdorbit zu bekommen. Die Einweihung ist nun fünfzehn Jahre her. Damals hatte Mandy gerade die Kinder-

Hätte ihr damals jemand erzählt, sie würde heute als schwebender Elektriker eine Festbeleuchtung installieren, hätte sie nur laut gelacht oder diesen unverschämten Menschen als Republikfeind gemeldet.

»Vorsicht bei der Antenne«, sagt Bummi.

Mandy hakt die Sicherung ein, dreht sich um – und erschrickt. Der Roboter ist direkt hinter ihr. Er hat den linken Arm erhoben und hält seine Klaue über sie, als wolle er gleich zuschlagen.

»Was tust du da?«, fragt sie.

»Ich sichere dich. Dein Herzschlag hat sich beschleunigt, so dass ich von zunehmender Erschöpfung ausgehen muss.«

»Das ist nicht nötig. Es geht mir sehr gut.«

»Ich glaube, ich weiß besser …«

»Ich befehle dir, diese unnötige Verschwendung von Ressourcen einzustellen.«

Der Roboter nimmt seinen Arm herunter.

»Was soll das?«, fragt Mandy. »Deine ganze Anwesenheit hier draußen ist überflüssig.«

»Jawohl.«

Bummi dreht sich um. Sein eiförmiger Körper schwingt durch, während er neben ihr her über die Außenhaut kriecht. Mandy bekommt eine Gänsehaut. Sie hat Spinnen noch nie gemocht. Sie traut dem Roboter nicht. Er hat zu oft seinen eigenen Kopf. Angeblich verfügt er über ein gewisses Maß an autonomer Intelligenz, etwa auf dem Niveau eines Schimpansen. Aber er erscheint ihr oft deutlich klüger. Bummi erinnert sie ein bisschen an den Stasihauptmann in ihrer Ausbildungseinheit. So wie der Zugriff auf alle Personalakten hatte, kontrolliert der Roboter sämtliche Systemdaten, darunter auch die Sensoren in ihrem Raumanzug.

Am Bug der Raumstation befindet sich eine große, drehbar gelagerte Antenne. Mandy verlegt die Kette mit den Leuchtkerzen in

Mandy setzt ihren Weg um die Station fort. Wie eine seltsame Schnecke hinterlässt sie dabei eine Spur aus einem dunkelgrünen Kabel, an dem etwa alle hundert Zentimeter eine kerzenförmige elektrische Lampe hängt. Dass sie die Kabeltrommel über den Rücken geschnallt hat, trägt sicher zu diesem Eindruck bei. Tatsächlich kommt sie nur im Schneckentempo voran. Jeder Schritt in der Schwerelosigkeit stellt eine Herausforderung dar. Es gibt nur totales Schwarz und blendende Helligkeit, und wenn sie einen einzigen Schritt ohne Sicherungsleine wagte, würde sie damit ihr Leben riskieren.

Aber vermutlich kann sie das gar nicht. Sie musste die Abläufe im Wasserbecken des Sternenstädtchens so oft trainieren, dass sie ohne bewusstes Überlegen ablaufen. Zu gehen heißt, sich zu bücken und sich wieder aufzurichten, ohne darüber nachzudenken. Mandy lacht. Das könnte das Motto für ihr ganzes Leben in ihrem Heimatland sein.

Sie wischt den Gedanken beiseite. Er ist nicht hilfreich. Bummi streckt ihr einen Arm entgegen. Sie greift nach der Klaue, dem Universalwerkzeug am Ende des Arms, das sich auch prima als Waffe eignen würde. Sie muss aufpassen, dass sie mit dem Handschuh nicht die scharfe Schneide erwischt.

»Keine Sorge«, hört sie den Roboter im Helmfunk. »Ich habe den kleinen Finger über die Schneide gelegt. Dir kann nichts passieren. Vertrau mir.«

Kann man einer Maschine vertrauen? Unbedingt, und sie hat Übung darin. Mandy musste ihr ganzes Leben lang Maschinen vertrauen. Erst dem Motorrad, das sie sich als ehemalige Turnerin von den Prämien für ihre Siege bei DDR- und Europameisterschaften geleistet hat. Dann dem Trainingsflugzeug aus tschechischer

Also greift sie herzhaft zu. Bummis Klaue schließt sich um ihre Hand.

»Ich habe dich«, sagt der Roboter. »Du kannst die Sicherungsleine jetzt ausklinken.«

Sie öffnet erst den Karabiner der einen, dann den der anderen Leine. Die beiden Seile tanzen um sie herum. Der Schwung, den sie dem Karabiner an ihrem Ende verliehen hat, bewegt sich als stehende Welle auf der Dederonschnur hin und her. Dann fliegt sie. Bummis langer Arm beschreibt einen großen Bogen. Sie entfernt sich einen, dann zwei Meter vom Schiff.

Mandy jauchzt. So hat es sich angefühlt, wenn ihr Vater sie in die Luft geworfen hat, als sie klein war. Ließe Bummi jetzt los, würde sie die Raumstation nie wieder erreichen. Ganz kurz gelingt es ihr, die Station komplett in ihr Blickfeld zu bekommen. Bummi muss mit einem anderen seiner Glieder das Kabel der Festbeleuchtung angeschlossen haben, denn die Völkerfreundschaft blinkt nun mit allen achtzig Kerzen wie ein Weihnachtsbaum. Eine Träne wird vom Impuls der Bewegung durch den Helm geschleudert. Es ist wunderschön.

Von der Erde aus wird diese Festbeleuchtung natürlich nicht zu sehen sein. Ihre Aufgabe ist es, morgen eine fliegende Kamera abzuschießen, die die Völkerfreundschaft mehrmals aus allen Richtungen filmen wird. Die Bilder sollen dann bei der zentralen Festveranstaltung in Berlin auf riesigen Projektionsschirmen gezeigt werden. Mandy Neumann, Heldin der DDR. Die Mädchen werden sich daran gewöhnen müssen, dass ihre Mutter berühmt ist. Hoffentlich müssen sie nicht darunter leiden.

»Ich setze dich jetzt in der Schleuse ab«, sagt der Roboter.

»Könntest du vorher etwas für mich tun?«

»Schwenk mich noch einmal, wie du es gerade getan hast. Ich möchte die Wirkung der achtzig Kerzen prüfen.«

»Ich messe ihren Stromverbrauch und kann dir versichern, dass keine ausgefallen ist.«

»Es geht um die Wirkung. Das ist etwas Persönliches, das Maschinen nicht zugänglich ist.«

»Natürlich, Mandy. Ich schwenke dich noch einmal in drei – zwei – eins – jetzt.«

6. Oktober 2029
Dresden

»Nicht im Angebot«, meldet der Automat.

Tobias nimmt die Bierflasche heraus und legt sie dann wieder in die dunkle schwarze Öffnung. Es wird hell in der Röhre, und die Flasche dreht sich.

»Nicht im Angebot«, erscheint erneut auf dem Anzeigefeld.

Er zieht die Flasche heraus. Diesmal schiebt er sie mit der Öffnung voraus in den Automaten. Übelkeit überkommt ihn. Es kommt ihm vor, als würde er seine Pfandflaschen einem Metallorganismus in den Darm schieben.

Erneut wird die Öffnung hell. Die Bierflasche rotiert, dann saugt sie der Automat in sich hinein.

»Pfandbetrag 48 Pfennig. Bon drucken oder für antiimperialistische Solidarität spenden?«

Tobias dreht sich um, aber hinter ihm ist niemand. Hätte er Zuschauer, müsste er Vorbild sein. Also tippt er »Bon drucken« an, und kurze Zeit später erscheint sein Wertbon in dem schmalen Schlitz unter dem Bildschirm. Er steckt den nun leeren Dederonbeutel in die Jackentasche und will das Portemonnaie herausholen, um den Bon darin zu verstauen, da rempelt ihn jemand an.

Ein junger Mann mit langen Haaren sprintet an ihm vorbei. Er prallt gegen die gläserne Außentür der Kaufhalle, die sich nicht schnell genug geöffnet hat. Tobias überlegt noch, was das zu bedeuten hat. Er ist nicht im Dienst, also kann er sich mit dem Nachdenken Zeit lassen. Doch die Bäckereiverkäuferin sieht das nicht so.

»Herr Wagner, Herr Wagner!«, schreit sie. »Ein Dieb!«

Ihr Gesicht ist verzerrt vor Wut, sie ist vollkommen außer sich. Tobias entscheidet sich. Er ist der lange Arm des Gesetzes, auch am Wochenende. Den Typen kauft er sich.

»Bleib stehen, Bürschchen!«, ruft er und stürzt ihm hinterher.

Nach drei Schritten fällt ihm ein, dass sein Bon noch im Automaten steckt. Hoffentlich nimmt ihn niemand an sich. Für achtundvierzig Pfennig kann er immerhin neun halbe Semmeln kaufen!

Der Halbstarke ist schnell. Er fegt schon über den Platz vor der Kaufhalle, während Tobias noch im Schatten ihres dreieckigen Vorbaus ist. Er gibt alles, und schon ist das Seitenstechen da, genau wie damals in der Schule beim Dreitausendmeterlauf. Tobias ignoriert es. Der Jugendliche hat sich etwas angeeignet, das ihm nicht gehört, und er muss lernen, dass das Konsequenzen hat. Schneller, schneller. Er kürzt den Weg über den trockengelegten Springbrunnen ab.

»Beiseite! Aus dem Weg!«, ruft er, als ihm drei Mütter nebeneinander entgegenkommen und mit ihren Kinderwagen den Fußweg blockieren. Der Dieb rennt eindeutig in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Ein lautes Quietschen von links zeigt, dass die 12 schon unterwegs ist. Das Bürschchen hat genug Vorsprung, um in aller Seelenruhe an der Haltestelle zusteigen und ihm eine Nase drehen zu können. Aber nicht mit ihm! Sein Herz pocht, doch Tobias wird nicht langsamer. Er muss die Haltestelle vor der Straßenbahn erreichen. Aber er kann nicht schneller als die Bahn rennen. Also wechselt er die Richtung und läuft dem Zug der Linie 12 entgegen. Ächzend erreicht er die neben der Straße verlaufenden Gleise. Eine Warnglocke klingelt, Bremsen quietschen auf stählernen Rädern.

So erreicht Tobias die erhöhte Plattform der Haltestelle doch noch vor der Straßenbahn. Der Dieb geht langsam rückwärts. Jetzt sitzt er in der Falle. Von einer Seite naht sein Häscher, an der anderen Seite schützt ein mannshoher Zaun die Straße davor, dass plötzlich Fahrgäste vor Autos treten.

»Hab ich dich!«, sagt Tobias.

Er packt den jungen Mann am Arm und reißt ihn herum.

»Ich nehme Sie hiermit in Gewahrsam.«

Er drückt den Mann, der die Sinnlosigkeit seiner Flucht eingesehen zu haben scheint und sich nicht mehr wehrt, mit einer Hand gegen den Zaun. Ein lautes Keuchen übertönt das Klingeln der Straßenbahn. Es ist Tobias’ Keuchen, aber der Dieb zittert auch, das ist jetzt deutlich zu spüren. Mit der anderen Hand zieht er den Dederonbeutel aus der Hosentasche, dreht ihn zum Strick und bindet seinem Gefangenen damit die Handgelenke zusammen. Die Handgriffe des Beutels eignen sich wunderbar dazu, den jungen Mann hinter sich herzuziehen.

***

Die Menschen, an denen er mit dem Dieb im Schlepptau vorbeikommt, sehen ihn entweder mürrisch an oder schauen bewusst an ihm vorbei. Hat da gerade jemand ausgespuckt? Er trägt keine Uniform, also halten sie ihn wohl für jemanden von der Firma, einen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit. Aber niemand fragt ihn nach einem Ausweis. Nicht einmal der Bursche selbst will wissen, wer ihn da geschnappt hat. Hoffentlich hat er jetzt schon ein schlechtes Gewissen.

Noch schöner wäre es, sie würden vielleicht Verwandten oder Lehrern begegnen, die ihn kennen. Die Peinlichkeit, gefesselt einem Staatsvertreter hinterherlaufen zu müssen, wirkt als Lektion oft stärker als irgendeine Strafe, die in diesem Fall sowieso zur Bewährung ausgesetzt wird. Tobias Wagner ist seit mehr als zwanzig

»Wie heißt du?«, fragt er den Dieb.

»Mario.«

»Und weiter?«

»Schuster.«

»Wohnhaft?«, fragt Tobias.

»In der 12 da vorn.«

Wie praktisch – das Haus beherbergt auch seine Dienststelle.

»Arbeitsstelle?«

»Ich bin …« Der Mann druckst herum. »Bin grad bei der Fahne.«

»Oh, Mann, wie bekloppt kann man denn sein!«

Da hat dieser Mario doch tatsächlich um das Wochenende des Republikgeburtstags herum Urlaub bekommen, und dann versaut er es so. Tobias braucht bloß den Kommandantendienst anzurufen, und schwupp, sitzt Schuster in seiner Kaserne im Arrest.

»Ich wollte für meine Verlobte Semmeln holen, und dann hatte ich das Portemonnaie vergessen. Sie wartet doch mit dem Frühstück auf mich.«

Der weinerliche Ton und der gesenkte Kopf des Jungen sprechen dafür, dass er die Wahrheit sagt. Aber vielleicht hat er es auch faustdick hinter den Ohren.

***

Als sie an der Kaufhalle vorbeikommen, wartet die Bäckereiverkäuferin schon im Eingang. An ihrer Theke hat sich eine Schlange gebildet, während die breite Automatiktür immer wieder versucht, sich zu schließen.

»Ich wusste doch, dass Sie ihn schnappen, Herr Wagner.«

»Genosse Abschnittsbevollmächtigter«, korrigiert er sie. »Auch wenn ich keine Uniform trage, bin ich doch immer im Dienst.«

Er kauft hier jeden Tag seine Semmeln, exakt zwei Stück. An den Namen der Verkäuferin erinnert er sich trotzdem nicht. Er versucht,

»Danke, Frau Meier«, sagt er.

»Frau Müller.«

»Oh, natürlich.«

»Und, wo hat der Verbrecher seine Beute gelassen?«, fragt Frau Müller.

»Ich würde vorschlagen, Sie überlassen die Befragung des Verdächtigen mir, Frau Müller, und Sie kümmern sich wieder um Ihre Kundschaft.«

»Natürlich, Herr, ähm, Genosse Abschnittsbevollmächtigter.«

***

Vor dem Haupteingang des siebzehngeschossigen Wohnhauses mit der Nummer zwölf bleibt der Dieb stehen. Tobias’ Dienststelle befindet sich im Erdgeschoss, hat aber einen separaten Eingang.

»Was ist?«, fragt Tobias. »Willst du noch mehr Schwierigkeiten machen?«

»Nein, das will ich nicht. Da oben wartet meine Verlobte auf mich. Sie hat noch geschlafen, als ich losgegangen bin. Jetzt macht sie sich bestimmt Sorgen.«

»Und daran bin ich schuld, oder was?«

»Nein, ich hätte nicht …«

»Jetzt komm weiter, Mario. Das klären wir alles in der Dienststelle.«

Er zerrt den Mann weiter hinter sich her. Der schmale Weg neben dem Hochhaus ist von Abfall übersät. Manche Hausbewohner werfen ihren Müll einfach vom Balkon. Er muss den Hausmeister anrufen. Hier muss vor dem Republikgeburtstag unbedingt noch gekehrt werden.

»Da sind wir«, sagt Tobias und drückt mit Schwung die Eingangstür auf.

Gegenüber des Eingangs steht ein Schreibtisch. Dahinter sitzt ein

»Oberwachtmeister Schulte, Sie sind ja immer noch hier!«, sagt Tobias drohend.

Er sieht auf die Uhr, die unter dem Porträt des Partei- und Staatsratsvorsitzenden Krenz hängt. Es ist viertel neun. Schulte müsste längst auf seinem ersten Rundgang im Revier sein. Stattdessen baut er hier Kartenhäuser!

»Ich … ich dachte …«

»Denken Sie nicht, erfüllen Sie Ihre Pflicht, wie es Partei und Volk von Ihnen verlangen.«

Schulte hat vermutlich gehofft, heute eine ruhige Kugel schieben zu können, aber daraus wird nichts.

»Natürlich, Genosse Leutnant«, sagt der Hauptwachtmeister und schiebt die Ruinen seines Hausbaus zusammen.

»Lassen Sie das, raus mit Ihnen an die frische Luft!«

»Jawohl.«

Schulte kommt mit offener Jacke um den Tisch herum und greift nach der Türklinke.

»Mann, Ihre Uniform!«

Schulte zuckt zusammen. Hektisch versuchen seine Finger, die Knöpfe der grünen Uniformjacke in die Knopflöcher zu pfriemeln. Sie rutschen aber immer wieder ab.

»Machen Sie das draußen und vergessen Sie Ihre Mütze nicht!«

»Danke, Genosse Leutnant.«

Schulte greift nach seiner Schirmmütze und verlässt fluchtartig die Dienststelle.

»So, und was machen wir jetzt mit dir, mein Junge?«, fragt Tobias.

Er nimmt Mario Schuster die Fesseln ab. Zum Glück knittert so ein Dederonbeutel nicht. Er faltet ihn sorgfältig und steckt ihn dann in die Gesäßtasche seiner Jeanshose. Dann läuft er um den Schreibtisch herum und setzt sich auf seinen Stuhl. Die Sitzfläche ist noch ganz warm, das ist ihm unangenehm. Hätte Schulte sich nicht einen eigenen Stuhl mitbringen können? Aber er darf sich nicht

Daraus wird nun nichts. Semmeln hat er nicht gekauft, und inzwischen wird es keine mehr geben. Er hat sogar seinen Bon eingebüßt. Alles wegen dieses Bürschchens, das zu faul war, sein vergessenes Portemonnaie zu holen.

»Warum hast du nicht gefragt, ob du später zahlen kannst?«

»Habe ich doch, aber die Verkäuferin wollte mir die Tüte wieder abnehmen.«

Schuster sieht ihn an wie ein kleiner Junge, der bei einem Streich erwischt wurde. Das war aber kein Streich!

»Und dann hast du dich einfach losgerissen und bist abgehauen?«

»Ja, das war ein Impuls, es ist einfach so passiert.«

Schuster scharrt mit dem linken Fuß.

»Genosse ABV

»Was?«

»Es heißt, ›Wie bitte?‹, und es heißt, ›Es ist einfach so passiert, Genosse ABV‹.«

»Schuldigung. Es ist einfach so passiert, Genosse ABV

Tobias seufzt. Der junge Mann verdreht die Schultern. Wahrscheinlich knetet er seine Hände. So eine Dederonfessel drückt ordentlich das Blut ab. Das geschieht ihm ganz recht. Was soll Tobias nur mit ihm machen?

»Und deine Beute?«, fragt er.

»Weggeworfen, Genosse ABV

Auch das noch. Dann ist der Schaden nicht mehr gutzumachen. Tobias ist drauf und dran gewesen, dem jungen Mann den fehlenden Betrag auszulegen.

»Das ist schlecht«, sagt er.

Er steht auf und läuft ein paar Schritte hin und her. Der Mann ist Soldat der Nationalen Volksarmee. Also geht er Tobias eigentlich

Aber die Verlobte tut ihm leid. Sie kann nichts dafür. Er stellt sich vor, wie sie aufwacht, erst im Bett nach ihrem Mario tastet, dann nach ihm ruft.

»Hast du Kinder?«, fragt er.

»Noch nicht. Wir wollten gerade anfangen. Haben uns die Wohnung mit dem Ehekredit schön eingerichtet, und jetzt wollen wir den Kredit abkindern.«

»Ich fürchte, daraus wird erst einmal nichts«, sagt Tobias. »Die Streife wird dich zurück in die Kaserne bringen.«

»Bitte nicht, Genosse ABV. Da muss es doch auch einen anderen Weg geben?«

Schuster geht in die Hocke und fleht ihn an. Aber Tobias kann doch gar nichts für ihn tun!

»Ich kehre auch den gesamten Weg um das Haus und auch um das Nachbarhaus.«

Der junge Mann muss bemerkt haben, wie sehr ihm der Müll auf dem Weg missfallen hat. Sehr aufmerksam. Tobias schüttelt den Kopf.

»Jeden Tag!«, fügt Schuster hinzu.

Aber auch der Klassenfeind ist aufmerksam. Wenn er seine Pflicht nicht erfüllt und den Mann laufenlässt, wird sich das herumsprechen. Irgendwer quatscht immer, und wenn es die Bäckereiverkäuferin ist, Frau Meier. Er steht kurz vor der Beförderung zum Oberleutnant. Da darf er sich nicht so einen Patzer leisten.

»Es tut mir leid, Schuster. Aber um den Kommandantendienst führt kein Weg herum. Sie sind kein Zivilist. Sie vertreten die bewaffneten Organe unseres Arbeiter- und Bauernstaates. Da tragen Sie eine ganz besondere Verantwortung. Wie schon unser Genosse Egon Krenz sagt …«

»Scheiß auf den Polit-Uropa.«

Wenn das jemand gehört hat! Tobias sieht sich um. Ob seine Dienststelle überwacht wird? Er hofft es nicht. Er hat sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen.

»Schei…«

»Nein, wiederholen Sie es nicht, Schuster. Es ist besser für Sie. Ich werde jetzt den Kommandantendienst anrufen.«

»Bitte nicht, Herr Wagner.«

»Genosse ABV! Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen! Ich habe gar keine andere Wahl.«

»Aber dann werde ich Martina in den nächsten drei Monaten nicht wiedersehen! Und sie weiß nicht einmal, was mit mir los ist!«

»Das hättest du dir eher überlegen müssen.«

Der Junge fängt an zu weinen. Auch das noch! Er kann doch niemanden weinen sehen. Tobias dreht sich zur Seite.

»Jetzt hör auf zu heulen. Wie heißt sie denn genau, deine Verlobte? Ich werde ihr sagen, wo du bist.«

»Martina Frommann, mit zwei ›m‹.«

Schuster beißt sich auf die Unterlippe. Sie blutet schon. Tobias ärgert sich. Wäre er doch bloß nicht so ehrgeizig gewesen. Er hätte ihn nur entkommen lassen müssen. Niemand hätte ihm einen Vorwurf gemacht, wenn ein Achtzehnjähriger einem über Vierzigjährigen davonrennt. Jetzt hat er auch noch diese Verlobte am Hals.

***

Eine halbe Stunde später hält die Streife vor seiner Dienststelle. Tobias begleitet seinen Fang nach draußen und übergibt ihn zwei Soldaten und einem Unteroffizier mit weißem Koppelzeug. Sie verabschieden sich mit militärischem Gruß und fahren in ihrem Trabant-901-Pick-up davon.

Hauptwachtmeister Schulte ist noch nicht wieder zurück. Tobias schließt die Dienststelle ab und läuft zum Haupteingang des Hochhauses. Schulte hat hoffentlich seinen Schlüssel mitgenommen. Er ist immer noch in Zivil. Soll er schnell in die Uniform schlüpfen?

Tobias findet den Namen an einem der Klingelschilder, etwa in der Mitte. Frommann, Martina wohnt im sechsten Stockwerk. Er hat Glück. Einer der beiden Fahrstühle wartet leer im Erdgeschoss. Tobias steigt ein und drückt den Knopf mit der 6. Die Zahl ist kaum noch zu erkennen. Klappernd und quietschend bewegt sich der Aufzug nach oben. Im sechsten Stock steigt er aus. Vor ihm liegt ein langer Gang, von dem Türen nach links und nach rechts abgehen. Es riecht nach Putzmittel, nach Urin und nach verbranntem Essen.

Vor jeder Tür bleibt Tobias kurz stehen, um den Namen zu lesen. Kurz vor Ende, wo sich der Gang etwas weitet, findet er sein Ziel. Er klingelt.

»Komme!«, ruft eine weibliche Stimme von innen. »Hast du etwa schon Semmeln geholt?«

Die Tür öffnet sich. Vor ihm steht eine junge Frau mit strubbelig-nassen blonden Haaren, die sich in ein Handtuch gewickelt hat. Erschrocken tritt sie ein paar Schritte zurück, vergisst aber, die Tür zu schließen. Vielleicht hat sie auch gemerkt, dass Tobias einen Fuß hineingestellt hat. Das ist ein Reflex. Vor allem wenn er in Uniform klingelt, schlagen ihm die Menschen oft im ersten Moment die Tür vor der Nase zu. Er nimmt das nicht persönlich. Vermutlich würde er es selbst nicht anders machen. Auch er fühlt sich bei jeder Kontrolle vom Reichsbahnschaffner erwischt, obwohl er eine Fahrkarte auf dem Handtelefon hat.

»Guten Morgen, Frau Frommann«, sagt er. »Ich bin Tobias Wagner, Ihr Abschnittsbevollmächtigter. Sie müssten mich kennen.«

Die Frau tritt wieder einen Schritt nach vorn.

»Das stimmt, ich erkenne Sie«, sagt sie. »Entschuldigen Sie meine Reaktion, aber ich warte eigentlich auf meinen Verlobten.«

»Auf Herrn Schuster? Wohnt er schon länger hier?«

»Nein, nein, er ist nur zu Besuch. Er ist erst heute Morgen

»Ich fürchte, daraus wird nichts, Frau Frommann.«

Die Frau reißt die Augen auf.

»Oh, ist ihm etwas passiert? Hatte er einen Unfall? Ich habe noch geschlafen, als er losgegangen ist. Ich glaube, er wollte Semmeln kaufen.«

»Ich denke, er ist heute Morgen erst angekommen?«

»Ja, das ist er, mit dem Nachtzug aus Eisenhüttenstadt. Wir haben uns … begrüßt, und dann bin ich noch einmal eingeschlafen.«

Tobias bemerkt, wie ihre Wangen leicht erröten.

»Verstehe. Nun, er hatte keinen Unfall. Er musste allerdings dringend wieder abreisen.«

»Ohne sein Gepäck?«

»Ja, leider. Ich vermute, Sie können ihm sein Gepäck in die Erich-Honecker-Kaserne in der Neustadt hinterherbringen. Man wird Sie anrufen und Ihnen Näheres sagen. Er bat mich nur, Sie kurz zu informieren.«

Die Frau sieht aus, als bräche sie ebenfalls gleich in Tränen aus. Rasch verabschiedet sich Tobias mit einem militärischen Gruß, was ein technischer Fehler ist, da er keine Uniform trägt. Dann dreht er sich um und läuft Richtung Fahrstuhl.

Das Geräusch nackter Füße auf Linoleum verfolgt ihn, und eine Hand legt sich auf seine Schulter.

»Vielen Dank, Genosse ABV, dass Sie meinem Mario diesen Wunsch erfüllt haben. Sie sind ein guter Mensch«, sagt die Frau.

»Hab nur meine Pflicht getan«, sagt Tobias.

Das ist nicht gelogen, aber trotzdem kann er sie dabei nicht ansehen. Sie ahnt ja nicht, dass ihr Mario seinetwegen vom KD abgeholt wurde.


Erdorbit

Mandy schwitzt. Das Mifa-Rad quält sie heute ganz besonders. Es ist, als ahnte es, welcher Tag morgen bevorsteht, und als wolle es den letzten Rest Leistung aus der Kosmonautin herauskitzeln. Am liebsten würde sie das nasse Nicki ausziehen, doch aus irgendeinem Grund schämt sie sich vor dem Roboter, der sie beobachtet. Mandy wischt sich immer wieder den Schweiß vom Gesicht, kann aber trotzdem nicht verhindern, dass zahllose Tropfen durch die Kabine treiben.

Das ist nicht ganz ungefährlich. Das Innere der Raumstation ist ein einziger großer Raum. Die höchstgelegene Einraumwohnung der DDR, scherzt sie manchmal mit ihrer Mutter. Das bedeutet aber auch, dass hier sämtliche Mikroelektronik verbaut ist, die auf ein Übermaß an Feuchtigkeit mit Fehlern reagiert. Die Klimaanlage arbeitet leider nicht so effizient, als dass sie das vor der Außenbordaktivität obligatorisch ausgiebige Training kompensieren könnte.

»Deine Blutwerte sind jetzt gut«, sagt Bummi. »Du kannst aufhören.«

»Danke.«

Mandy versucht, ein paar der größeren Tropfen mit dem Handtuch einzufangen. Aber sie reagieren scheinbar intelligent wie Mücken auf ihre Attacken und weichen immer im letzten Moment aus. Natürlich ist es in Wirklichkeit der vom beschleunigten Handtuch aufgebaute Luftdruck, der die Tröpfchen aus dem Weg schiebt. Mandy behilft sich, indem sie ein zweites Handtuch an der Wand aufhängt und die Schweißtropfen dann mit dem ersten in die Enge treibt, bis sie gar nicht mehr anders können, als in den Fasern des Malimo-Gewebes zu verschwinden.

»Was tust du da?«, fragt Bummi.

Mandy weiß nie so recht, wo seine Stimme herkommt. Er scheint

»Ich fange Schweißtropfen ein.«

»Das ist nicht nötig.«

»Zu viel Feuchtigkeit ist schlecht für die Elektronik. Das müsstest gerade du doch wissen.«

»Wenn die Luft zu feucht wird, können wir sie immer noch komplett ablassen.«

»Und wer erzählt mir immer etwas darüber, dass wir Ressourcen sparen müssen?«

»Wir sollten jetzt mit der Erfüllung des Tagesplans beginnen.«

Bummi treibt sie manchmal zum Wahnsinn. Genau so hat ihr Exmann auch reagiert: Wenn ihm etwas unangenehm war, hat er einfach das Thema gewechselt. Aber es ist sicher unfair, eine Maschine mit ihrem Exmann zu vergleichen. Bummi hat sie immerhin nicht mit zwei Kindern sitzengelassen, nur weil sie Kinder und Karriere verbinden wollte. Dass es nach achtzig Jahren real existierendem Sozialismus noch solch archaische Einstellungen gibt, hatte sie sich nicht vorstellen können.

»Also?«, fragt Bummi.

»Ich komme ja schon.«

»In der Schleuse liegt alles bereit.«

»Sehr gut, Bummi.«

***

So hat sie sich das aber nicht vorgestellt. Die Schleuse ist komplett vollgestopft. Sie findet kaum den Platz, um alle Schichten des Raumanzugs vorschriftsmäßig überzuziehen. Kurz überlegt sie, auf die Heiz- und Kühlunterwäsche zu verzichten. Aber wenn Bummi das

Sie schiebt also all die Bauelemente, die der Roboter in der Schleuse platziert hat, so gut wie möglich beiseite und kleidet sich an.

»Bin fertig«, sagt sie schließlich.

»Gut, ich höre dich«, sagt Bummi. »Lass mich ein paar Tests durchführen.«

Der Ventilator im Helm heult auf. Ein Heizelement am Oberschenkel erhitzt sich, ein Kühlelement am Bauch kühlt herunter.

»Sieht gut aus«, sagt Bummi. »Der Anzug funktioniert.«

Angesichts dessen, dass die DDR alte, von russischen Kosmonauten auf der ISS genutzte Anzüge gekauft hat, ist das keine Selbstverständlichkeit. Aber Mandy will sich nicht beschweren. Die Anzüge erfüllen ihren Zweck und sind auch mit Bordmitteln gut reparierbar. Das ist wichtig, denn schnelle Hilfe vom Boden kann sie nicht erwarten. Hinter der Schleuse führt ein Schott in die erste je von der DDR-Industrie gebaute Raumkapsel. Sie ist nach dem Vorbild der Sojuskapsel entstanden, in der schon der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn geflogen ist. Böse Zungen behaupten, die Kapsel wäre seitdem aus dem Museum verschwunden, in dem sie für lange Zeit ausgestellt worden war, bis irgendein Parteitag der SED es plötzlich für erstrebenswert befunden hatte, dass die DDR über eine eigene Raumstation verfügt.

»Denkst du an deine Kinder?«, fragt Bummi.

Mandy schüttelt den Kopf. Der Roboter hat recht. Sie sollte besser an ihre Kinder denken als an Zeiten, die lange vorbei sind.

»Bringen wir es hinter uns«, sagt sie.

Dass Bummi die Schotten geöffnet haben muss, bemerkt sie an der Bewegung, die plötzlich in die Bauteile kommt, die die Schleuse blockieren.

»Ich gehe raus, und du reichst mir die Teile«, sagt Bummi.

Als der Raum komplett leer ist, verlässt Mandy die Schleuse. Dafür sieht es auf der Außenhaut der Völkerfreundschaft chaotisch aus. Der Roboter hat eine Lampe aufgestellt, die ihr Arbeitsfeld beleuchtet. Sonst wäre es zu dunkel, denn die Sonne verbirgt sich noch hinter der Erdkugel.

Sie müssen die Elemente nun verbinden. Bummi zeigt ihr jeweils, welche Flächen an welche anderen geknöpft werden müssen. Seine Klauen sind für das Knöpfen ungeeignet. Die Elemente bestehen aus einem mit einer Metallfolie bedampften Stoff über einem stabilen, aber biegsamen Kern. An den Rändern ist der Stoff abgenäht. Dort befinden sich die Knöpfe und die zugehörigen Löcher, immer abwechselnd. Es erweist sich schnell, dass diese Art der Verbindung ziemlich praktisch ist. Das hätte sie gar nicht vermutet.

»Welches Material steckt denn darin?«, fragt sie. »Plaste?«

»Nein, ganz normale Pappe«, antwortet Bummi.

Mandy sieht im Schein ihrer Helmlampe genauer hin und entdeckt an jedem Element das aufgedruckte Logo des VEB Sachsenring Zwickau. Vermutlich hat eine Brigade des Trabant-Herstellers diese Teile in Sonderschichten gefertigt.

Mit der Zeit entsteht eine Figur, die sie an eine Rose erinnert. Durch die geschickte Verknüpfung, die eine innere Spannung erzeugt, ist sie zur Unterseite hin gewölbt. Die Blüte wird das Sonnenlicht bündeln. Schon vor Tagen hat die Raumstation ihren Orbit so angepasst, dass sie am 7. Oktober um die Mittagszeit von Berlin,

Die Sonne geht auf. Mandy hält inne. Sie sieht das Schauspiel nicht zum ersten Mal, doch es ist immer noch beeindruckend. In diesem Moment zeigt sich besonders deutlich, wie dünn die Sphäre des Lebens auf der Erde eigentlich ist. Solange ihre Strahlen durch die Lufthülle scheinen, wirkt die Sonne golden. Mandy kann zusehen, wie aus einem warmen, weichen Stern ein streng umrissener, kalter weißer Stern wird, der mitten im schwarzen Himmel steht. Das geschieht, sobald die Sonne ein paar Grad über die Erdkugel hinaus steigt. Der Unterschied, den sie binnen Minuten erlebt, könnte nicht augenfälliger sein. Hier der zerbrechliche, eng begrenzte Bereich des Lebens, dort die tote, unendliche Sphäre des Universums, das nicht einmal das Licht von Billionen Sternen aus seiner Schwärze holen kann.

»Mandy? Ich brauche dich jetzt«, sagt der Roboter.

Sie reißt sich vom Anblick der Erde los. Bummi erklärt ihr, was zu tun ist. Mandy stellt sich auf und löst eine der beiden Sicherungen. Dann hebt sie die Blüte an und trägt sie zwei Meter weiter. Sie wechselt die Sicherungsleine, dann geht es noch einmal zwei Meter um das Schiff herum, bis sie kopfüber zu stehen scheint, mit dem blauen Erdball unter ihr.

»Danke, das müsste die richtige Position sein«, sagt Bummi. »Ich verankere den Schirm.«

Mandy lässt das dünne Material los. Manchmal hat sie das Gefühl, dass nicht sie, sondern der Roboter das Schiff kommandiert. Die Einzelheiten der Vorbereitung auf den Republikgeburtstag hat die Missionskontrolle auf dem Brocken zum Beispiel direkt an Bummi übermittelt. Sie wurde nur für die Knöpfe gebraucht, weil die menschliche Hand für solche Feinarbeiten noch unübertroffen ist, selbst wenn sie in einem Raumanzug steckt.

Vorsichtig bewegt sie sich wieder zur Schleuse. Sie will vor dem

***

»Hallo, meine Lieblinge, wie geht es euch?«

Sabine und Susanne versuchen, sich den besten Platz zu sichern.

»Nicht drängeln, ihr zwei!«, ist die mahnende Stimme der Oma aus dem Hintergrund zu hören.

Die beiden lachen. Sie sind eineiige Zwillinge, aber Mandy hatte noch nie Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten. Es ist etwas in ihrem Blick. Susanne war immer die Ruhigere, Zurückhaltendere, und das ist sie auch mit fünf Jahren geblieben.

»Gut, Mutti!«, ruft Sabine.

»Wann kommst du denn wieder?«, fragt Susanne.

»Morgen früh holt uns Vati ab, und wir gehen zum Umzug!«, ruft Sabine.

Ihr Exmann hatte ihr schon angekündigt, dass er die zwei zum Republikgeburtstag mitnehmen würde. Nach der Demonstration wird es ein großes Volksfest geben. Die Republik feiert ihren achtzigsten Jahrestag mit großem Aufwand.

»Da wünsche ich euch ganz viel Spaß!«, sagt sie. »Es wird bestimmt toll.«

Es tut weh, dass sie nicht bei ihnen sein kann, aber sie lässt sich nichts anmerken.

»Bekommen wir Zuckerwatte?«, fragt Sabine.

»Das müsst ihr Vati fragen.«

»Aber der sagt dann, du hättest es verboten. Verbietest du es?«

»Nein, Bine, ich erlaube es.«

»Danke, Mutti!«

»Mutti, wann kommst du denn nun wieder?«, fragt Susanne.

»Noch dreizehnmal schlafen«, sagt Mandy. »So oft wie alle Finger und drei Zehen.«

»Ich weiß, wie viel dreizehn ist«, sagt Susanne. »Wir kommen doch nächstes Jahr in die Schule!«

»Weißt du nicht.«

»Doch.«

»Nicht streiten«, sagt die Oma aus dem Off.

»Kannst du denn da oben auch feiern?«, fragt Susanne.

»Ja, natürlich.«

»Aber du bist doch ganz allein!«

»Bummi ist hier, der Roboter, von dem ich euch erzählt habe.«

»Bummi ist gruselig«, sagt Sabine. »Er sieht aus wie eine Spinne.«

»Es ist ein automomer Laufroboter«, widerspricht Susanne. »Keine Spinne.«

»Autonom«, sagt Mandy.

»Ja, ein automomer Roboter«, sagt Susanne. »Wenn ich groß bin, will ich auch Roboter bauen.«

»Ich werde Kosmonautin«, sagt Sabine.

»Ich finde Kosmonautin sein doof«, sagt Susanne. »Da ist man so weit von seinen Kindern weg.«

»Das stimmt«, sagt Mandy, »das ist ein großer Nachteil.« Ihre Stimme stockt kurz, denn Susanne hat viel mehr recht, als sie ahnt. »Aber von hier oben sieht man so viel, das würde dir gefallen, Sanne.«

»Mehr als vom Brocken?«, fragt Susanne.

»Viel mehr.«

»Auch das nichtsoziale Wirtschaftsbiet?«, fragt Sabine.

»Auch das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet.«

»Kannst du uns auch sehen?«, fragt Susanne.

»Ich sehe euch gerade und freue mich darüber. Ihr seid so gewachsen, seit wir das letzte Mal gesprochen haben.«

Das Bild flackert, und ein leichtes Grieseln erscheint. Wahrscheinlich verlässt die Völkerfreundschaft bald den Sendebereich der Brockenstation. Danach könnte Mandy zwar über Zwischenstationen kommunizieren, aber die befinden sich im Ausland, also kostet es Devisen. Persönliche Gespräche sind deshalb nur über die Brockenstation erlaubt.

»Das wäre möglich«, sagt Mandy. »Ihr habt doch von der MKF-8 gehört, von der Multispektralkamera?«

»Ich glaube schon«, sagt Susanne.

»Damit könnte ich euch sehen, wenn ihr das Haus verlasst.«

»Auch, ob wir die Haare gekämmt haben?«, fragt Sabine.

»Das nicht, aber welche Farbe dein Kleid hat.«

»Und welche Farbe hat …«, Sabine sieht sich um, »… Omis Pullover?«

»Das kann ich nur sehen, wenn Omi vor die Tür geht. Im Haus sehe ich euch nicht.«

Das Bild der Zwillinge grieselt immer stärker.

»Ich wünsche euch auf jeden Fall viel Spaß morgen!«, sagt Mandy. »Das wird bestimmt ein toller Tag.«

»Das wünsche ich dir auch, Mutti«, sagt Susanne.

»Du kannst uns ja von oben zugucken«, sagt Sabine.

»Wir winken dir ab und zu«, sagt Susanne.

»Um zwölf werde ich für euch einen kleinen Stern anschalten. Wo das Licht herkommt, da bin ich«, sagt Mandy.

»Das ist ja toll, Mutti«, sagt Sabine.

»Tschüss«, sagt Susanne, dann bricht die Verbindung zusammen.

7. Oktober 2029
Dresden

Es ist kalt in seiner Dienststelle. Tobias fröstelt und reibt sich die Schultern. Die Stadtwerke haben die Fernheizung noch nicht wieder eingeschaltet, schließlich steigen die Temperaturen tagsüber ja noch auf mindestens fünfzehn Grad. Eigentlich hat er sonntags frei. Aber zum Republikgeburtstag sind alle Kräfte im Einsatz. Schulte, der ihn sonst hier vertritt, ist in der Innenstadt im Einsatz.

Er schüttet etwas Pulver aus der Rondo-Tüte in den Filter, füllt Wasser in die Kaffeemaschine und schaltet sie ein. Während sie glucksend den herrlichen Duft verbreitet, den Tobias so liebt wie sprichwörtlich jeder Sachse, schaltet er den Fernseher ein und setzt sich auf seinen Stuhl. Der Moderator versucht, Vorfreude zu verbreiten, und weist immer wieder auf die wichtigsten Programmpunkte hin. Dazu gehört natürlich die große Parade der Nationalen Volksarmee auf der Karl-Marx-Allee in Berlin, aber auch das Konzert vor dem Brandenburger Tor, bei dem unter anderem Karat, die Puhdys, Udo Lindenberg und Depeche Mode auftreten sollen. Vier Rentnerbands, aber immer noch jünger als der Genosse Krenz.

Auf den Programmhinweis folgt eine Dokumentation über die Geschichte der DDR. Tobias erfährt nichts Neues, wie auch? Schließlich hat er all das schon in der Schule gelernt, und es wird in jeder politischen Fortbildung wiederholt. 1949 die Republikgründung als Reaktion auf den Alleingang des Westens, dann der unaufhaltsame Aufstieg, ermöglicht durch den antifaschistischen Schutzwall. 1987 dann die Entdeckung der riesigen Ölvorkommen in der Lausitz, die die DDR in eine Liga mit den Arabischen Emiraten brachte.

1989 – der Niedergang des Sowjetreichs, eingeleitet durch den Revisionisten Gorbatschow, schließlich die DDR als einer der letzten Stützpfeiler des Sozialismus auf der Welt, gemeinsam mit China, Kuba, Nordkorea und Vietnam. In der Doku folgt ein Blick in die Zukunft. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt. Die allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit. So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.

Alles schön und gut, aber manchmal fragt er sich doch, wo sie ist,