Die Schelme von Steinach

Erzählung für die Jugend

Josephine Siebe


Erstes Kapitel
Steinach am Wald

Zwei Reisegefährten erzählen sich etwas von den Schelmen von Steinach, und Heinrich Fries plant mit seiner Mutter eine Sommerreise

In einem Bähnchen, das bedachtsam, ohne sonderliche Eile, aber mit viel Gepuff und Gestöhn durch das Land lief, saßen zwei Männer. Der eine war alt, der andere war jung. Der Alte kannte die Gegend, der Junge kannte sie nicht, und weil der Junge zu denen gehörte, die sich gern belehren lassen, fragte er dies und das. Der Alte gab ihm gern Auskunft, er gab sie wie einer, der Land und Leute liebhat.

Das Bähnchen fuhr auch an einem Dorf vorbei, über dem das Gebirge dunkel bergan stieg. Von drei Seiten liefen Straßen auf das Dorf zu; sie waren mit Obstbäumen eingesäumt, die just in Blüte standen. Wie weiße, schimmernde Bänder lagen die Straßen im Sonnenglanz, und ein weißer Blütenkranz umschmiegte auch das Dorf. Es sah hübsch aus, und der junge Mann im Zug beugte sich rasch hinaus und las, was an dem Bretterbudchen stand, das sich stolz Bahnhof nannte. Steinach am Wald hieß das Dorf.

Auch der alte Mann schaute hinaus und nickte dem Dörfchen zu wie einer, der einen guten Freund grüßt, zu dem er sagen will: Wir haben uns lieb.

Da oben hat wohl einmal eine Burg gestanden? fragte der junge Mann und deutete auf einen mäßig hohen, nach einer Seite steil abfallenden Berg, dessen Gipfel ein paar Mauerreste krönten.

Ja, dort oben – der Berg heißt der Schafskopf – hausten einst die Schelme von Steinach, das war ihre Stammburg.

Die Schelme von Steinach auf dem Schafskopf! Der junge Mann lachte und fragte: Ein verlockender Name! Gibt es die Schelme noch?

Nein, das Geschlecht ist ausgestorben, aber – ein heiteres Schmunzeln lief über des Alten Gesicht – die Geschichten von ihnen leben noch in der Erinnerung, und die Nachbarn ringsum nennen die Steinacher gern nach den alten Herren von einst die Schelme von Steinach.

Das Züglein hatte den kleinen Bahnhof verlassen. Pustend und stöhnend fuhr es weiter, und das Dorf mit den weißen, schimmernden Blütenstraßen entschwand allmählich den Blicken der Reisenden. Doch die Gedanken des jungen Mannes blieben noch daran hängen, er fragte: Wie waren denn die Schelme von Steinach, daß man noch heute ihren Namen den Dörflern anhängt?

Nun, beim richtigen Namen genannt waren es Raubritter. Sie hausten wie Habichte auf ihrem Bergnest und nahmen gern, was ihnen gefiel, auch wenn es anderen gehörte. Aber die Schlimmsten waren sie nicht, andere adelige Herren trieben es dazumal wohl ärger. Sie waren nicht hart, sondern gutmütig und voll lustiger Einfälle. Ein Raubzug war ihnen meist ein heiterer Spaß, und sie schädigten die Beraubten nicht an Leib und Leben. Ja, es kam vor, daß sie einen Kaufmann, den sie ausgeplündert hatten, noch gastlich auf ihrer Burg bewirteten, damit er sich vom Schreck erhole, und er von ihnen ging, als wäre er zu Besuch da droben gewesen.

Und wieso gleichen die Steinacher von heute ihnen, daß man sie auch Schelme nennt? Rauben sie etwa auch? fragte der junge Mann fröhlich.

Na, rauben und plündern tun sie freilich nicht, sie sind ehrlich, einer wie der andere, aber für einen lustigen Spaß sind sie immer zu haben, erwiderte der Alte lächelnd. Die Steinacher sind ein sangesfrohes, heiteres Völkchen, und weil sie Sinn für Scherz und Fröhlichkeit haben, leben auch noch die Geschichten der Schelme in ihrer Erinnerung. Es geht damit wie bei manchen Dingen: das Schlimme wird vergessen, das Gute bleibt in der Erinnerung haften.

Jetzt ist Steinach ganz verschwunden! Der junge Mann rief’s bedauernd, denn auch das letzte Zipfelchen der weißen Blütenstraßen verhüllte nun die Ferne. Man muß einmal hinfahren und den Spuren der Schelme nachgehen.

Der alte Herr sah den jungen Mann, der blaß und schmal war, prüfend an. Ein paar Wochen in Steinach täten Ihnen wohl gut. Sichtbare Spuren der Schelme sind nicht mehr viele zu finden. An der Kirche steht außen ein Grabstein aufgerichtet, ein Herr Arnulf von Steinach liegt da begraben. Und weil den die Steinacher alltäglich sehen, erzählen sie die meisten Schelmengeschichten von diesem Herrn Arnulf. Die Burg selbst ist ein Trümmerhaufen, nur ein Turm steht noch halb. Aber natürlich, der Alte schmunzelte wieder, liegt oben ein Schatz begraben; die Steinacher sagen es wenigstens.

Ich werde den Schatz suchen gehen, sagte der junge Mann. Er sagte es heiter und seufzte doch dabei, denn er dachte an die kleine, enge Viertreppenwohnung, in der er mit seiner Mutter hauste, und in der es reichlich knapp herging.

Ja, ja, einen Schatz möchte wohl jeder gern finden, und doch gehen die Menschen an so vielen Schätzen der Welt achtlos vorbei. Just so wie einst Herr Arnulf von Steinach.

Wie war denn das? Der junge Mann machte ein Gesicht, daß der Alte neckte: Ei, auch auf Geschichten hungrig?

Geschichten höre ich wirklich gern, bemerkte der andere, und auf Steinach und die Schelme bin ich schon ganz neugierig geworden.

Also die Geschichte ist so: Herr Arnulf hatte einst gehört, daß ein Kaufmann mit kostbarem Geschmeide von Köln am Rhein käme, an des Markgrafen von Meißen Hof wollte er. Den muß ich fangen, dann hat alle Not ein Ende, dachte der Schelm von Steinach. Er war nämlich nicht sehr begütert, und seine Standesgenossen pflegten zu sagen: ›Arm wie der Schelm von Steinach!‹ Herr Arnulf legte sich also auf die Lauer mit seinen Mannen, und richtig, der Kaufmann mit seinen Leuten zog auf der Straße einher. Es ging wie immer in solchen Fällen: mit lautem Geschrei überfiel der Ritter mit seinen Knechten den Zug, der Kaufmann schrie und jammerte, seine Leute schrieen und jammerten noch lauter; es geschah aber keinem ein Leid, und der Kaufmann mit den Seinen wurde auf die Burg gebracht. Inzwischen ging ein armseliges Bäuerlein mit einem Sack auf der Landstraße dahin. Es grüßte demütig, und der Ritter, froh über den reichen Fang, warf ihm ein paar Batzen zu. Was trägst du denn da?

Schweinefutter, stammelte das Bäuerlein und dankte untertänig für die milde Gabe.

Herr Arnulf hatte keine Zeit, sich weiter um das Bäuerlein zu kümmern; froh über den reichen Fang, zog er zur Burg hinauf. Nach Schelmensitte wurden der Kaufmann und seine Leute in ein anständiges Gemach gebracht und mit Wildbret, Brot und Wein bewirtet, während der Ritter erst einmal die Beute betrachtete. Da war aber die Enttäuschung groß! Von dem kostbaren Geschmeide war nichts zu finden, einige Kasten waren ganz leer, und der ganze Raub bestand in einigen Ballen geringer Leinwand. Der Kaufmann wurde herbeigebracht, und Herr Arnulf fuhr ihn zornig an, wo denn das kostbare Geschmeide sei.

Ach du lieber Himmel, rief der Mann klagend, so etwas habe ich nie besessen; aber Gewürze hatte ich und dergleichen, die hat mir schon jemand geraubt. Es gibt der Herren mehr, die auf uns arme Kaufleute fahnden. Ich bin ein armer, unglücklicher Mann!

Potzwetter, da haben wir die falschen erwischt! dachte Herr Arnulf grimmig. Er ließ aber den armen Kaufmann das nicht entgelten; der durfte noch am Abend mit den Seinen weiterziehen und sogar seinen Kram mitnehmen. Denn dazu war der Herr Arnulf zu stolz, zu nehmen, was einer übriggelassen hatte.

Danach lag er viele Tage und Nächte auf der Lauer, aber kein Kaufmann zog vorbei, und von dem kostbaren Raub, den er zu machen gedachte, bekam er kein Ringlein zu sehen.

Nach ein paar Monden kam ein Vetter, ein reiselustiger Herr, der wußte von einem Spottlied zu sagen, das man in Köln am Rheine auf den Gassen sang. Der reichste Kölner Kaufmann, so hieß es in dem Liede, sei den Schelmen von Steinach als Bäuerlein mit Schweinefutter an der Nase vorbeigezogen. Im Walde habe er dann auf sein Gefolge gewartet, und alle miteinander hätten sich weidlich gefreut über des Schelmen Reinfall, der das Märlein von den ausgeraubten Kisten und Ballen so leicht geglaubt habe.

Da half nun dem Herrn Arnulf kein Wüten und Zürnen mehr, der reiche Kaufmann saß in Köln sicher in seinem stattlichen Hause und zeigte den Batzen, den ihm der Schelm geschenkt hatte.

Noch jetzt sagen sie in der Steinacher Gegend, wenn einer gar armselig tut und es nicht nötig hat: Dem würde der Schelm auch einen Batzen schenken.

Es war, als hätte das Züglein darauf gewartet, bis die Schelmengeschichte zu Ende war, es hielt, und alle Leute mußten aussteigen. Die große Bahnlinie war erreicht, und etliche Reisende sagten: Gut, daß die Bummelei ein Ende hat und wir in den Schnellzug steigen können.

Der junge Mann dachte das nicht, als er nun allein weiterfuhr, denn sein Reisegefährte hatte ein anderes Ziel. Er dachte an das Dorf im Kranz der blühenden Bäume; es mochte sich dort wohl gut wohnen. Nun lächelte er nicht mehr, nun seufzte er nur, weil es ihm einfiel, wie anders alles in seinem Leben gekommen war, als er es einst erhofft. Studieren hatte er wollen, da war sein Vater gestorben, just als er in der Prima saß. Seiner Mutter blieb so ein winziges Geldchen, daß sie gerade noch so lange davon leben konnte, bis sich ein kleiner Erwerb gefunden hatte. Er ging auf ein Seminar und wurde Lehrer, weil er dort eine Freistelle erhielt. Nun war er Hilfslehrer in einer großen Stadt, seine Mutter stickte und nähte noch, und beide hofften, er würde bald eine bessere Stelle erhalten. Er hatte darum die Reise gemacht, aber sie war vergeblich gewesen, die Stelle war einem anderen zuerteilt worden, und er kehrte in die graue Stadt zurück. Trübe blickte er zum Fenster hinaus.

Draußen lag die Welt im Frühlingsglanz, aber ihm war das Herz schwer. Er wußte wohl, er hatte es eigentlich ganz gut; sein Amt war zwar bescheiden, aber es nährte ihn doch, er war zudem jung und gesund, und die allerbeste Mutter umsorgte ihn. Doch er konnte es nicht vergessen, daß er hatte studieren wollen, und sehnte sich danach, noch immer mehr und mehr zu lernen, und sollte nun lehren, – das machte ihn unfroh. Er wollte höher hinaus im Leben, nach Ehre und Ansehen stand sein Sinn.

An alles das dachte er auf der Bahnfahrt, er dachte auch noch daran, als er wieder die vier Treppen zu seiner Wohnung emporstieg, und oben las ihm seine Mutter die Gedanken von der Stirn und sagte wehmütig: Mein armer Junge!

Da bezwang er sich, und heiter erzählte er von seiner Fahrt durch das frühlingsgrüne Land, und Steinach am Walde fiel ihm dabei ein. Er schilderte das Dörfchen, zu dem drei weiße, schimmernde Straßen führten, und er erzählte auch von den Schelmen. Darüber wurde er ganz froh, und zuletzt sagte er: Weißt du, Mutter, wir sparen recht, und dann machen wir einmal eine Ferienreise nach Steinach am Walde.

Ach ja, sagte die Mutter, und ein sehnsüchtiger Glanz trat in ihre sanften Augen, das wird schön!

Sie dachte an ihre fröhliche Jugend, die sie auf dem Lande verlebt hatte, und der Sohn dachte auch daran, denn die Mutter hatte ihm viel erzählt. Und auf einmal verschwand seine trübe Stimmung, ein fröhlicher Arbeitsmut kam über ihn, vielleicht konnte er noch mehr durch Stundengeben verdienen, konnte wirklich einmal mit seiner Mutter verreisen.

Herr Heinrich Fries, so hieß der junge Lehrer, reckte die Arme und rief heiter: Es bleibt dabei, Mutterle, wir reisen einmal nach Steinach am Wald. Nächstes Jahr – oder vielleicht noch diesen Sommer.

Die Mutter mahnte lächelnd: Bau’ dein Luftschloß nicht zu hoch!

Ach, warum nicht? Wer weiß, wie schnell so etwas wird! Recht fleißig will ich sein, und in den großen Ferien reisen wir, – ja sicher, – schon in den großen Ferien.


Zweites Kapitel
Auf der Apfelstraße

Warum Besenmüller auf der Pflaumenstraße sitzt und Schwetzers Fritze seinen Himbeerapfel fortwirft – Der neue Lehrer findet die Begrüßung sehr seltsam, und Frau Besenmüller erscheint zur rechten Zeit

In Steinach am Wald blühten die Bäume an den Straßen nicht mehr, denn es war Herbst geworden. Auf jeder Straße hatte ein anderer Baum die Herrschaft, und die Steinacher redeten darum von einer Apfelstraße, einer Birnen- und einer Pflaumenstraße.

Die Bäume hingen voller Früchte, und keine Steinacher Hausfrau brauchte weder um Weihnachtsäpfel noch um Pflaumen zum Kuchen oder um Birnenschnitze für die Winterszeit in Sorge zu sein. Von allem gab es reichlich. Die Äste brachen fast unter der Last der reifen Früchte.

Destowegen braucht das Kindervolk aber nicht immer auf die Bäume zu klettern oder drumherum zu kriechen, sagte Besenmüller, der in dieser Zeit in Steinach das Amt eines Obstwärters ausübte. Das war nicht leicht. Spazierte nämlich Martin Besenmüller auf der Apfelstraße entlang, dann spielten die Kinder auf der Pflaumenstraße, und schrie da ein Bube Besenmüller!, flugs liefen alle zur Birnenstraße.

An einem Herbsttag, der heiß und sonnenleuchtend war, – man hätte ihn für einen Sommertag halten können – saß um die erste frühe Nachmittagsstunde Besenmüller auf der Pflaumenstraße und strickte. Das war eine Arbeit, die ihm manchen Spott eintrug. Die Steinacher Kinder waren unnütz genug, ihn oft neckend zu bitten: Besenmüller, ich hab’ ’n Loch im Strumpf, geh, schenk mer ’n neuen!

Dann tat Besenmüller zwar gewaltig böse, er schimpfte und schalt, und seine liebe Frau schalt noch mehr, aber der Mann blieb doch sitzen und strickte weiter. Und seine Frau sagte: Strick’ nur, Besenmüller, was for ’s Gemüt muß der Mensch haben. Was für Stadtleute das Gelese und Klaviergespiele is, das is for dich das Gestricke. Laß dir deine Freude nicht verärgern!

Besenmüllers Ärger ging aber nicht tief, und wenn er zankte, lag wohl ein heimliches Lachen in seinen Augen. –

Ein Vergnügen war es nun wirklich, so im Sonnenschein unter einem Baum zu sitzen und zu stricken. Besenmüller hatte einen rosenroten Strumpf vor, und seine Laune war auch rosenrot; er rief herzvergnügt Guten Tag!, als ein Bauer vorbeikam.

Na, Besenmüller, hütest du die Zwetschen mal wieder? fragte der Mann. Freilich, freilich, se sin arg schene alleweil. Das Kindervolk möchte zu gern ran.

Besenmüller lächelte schadenfroh. Auf der Birnenstraße gab es nicht mehr viel zu holen, und die Winteräpfel, die noch auf den Bäumen saßen, lockten nicht so sehr. Se sin jetzt sehre wilde, de Kinner, brummelte er.

Jo, jo, wenn nur der neie Lehrer erst käme! gab der Bauer zur Antwort. Vater Hiller ist zu gut.

Aus ’ner großen Stadt kommt der. Besenmüller machte ein unzufriedenes Gesicht, und der Bauer fragte: Is dir wohl niche recht?

Nä, bewahre, ’n Städter ist ’n Städter, der wird nich nach Steinach passen. Iche bin unzufrieden.

Da ging der Bauer kopfschüttelnd weiter. Ja, wenn Besenmüller unzufrieden war, so war das eine schlimme Sache. Besenmüller war nicht allein Obstwächter, er war auch der Schul- und Kirchendiener. Je ja, und der war nun mit dem neuen Lehrer unzufrieden!

Besenmüllers Laune war nun nicht mehr so rosenrot wie sein Strumpf, der Gedanke an den neuen Lehrer hatte sie ihm ein bißchen verdorben. Fünfunddreißig Jahre hatte der alte Lehrer Hiller in Steinach sein Amt verwaltet, und auf einmal wollte er fort. Er brauche Ruhe, hatte der Arzt gesagt. Nun wollte Vater Hiller, so wurde er gern genannt, zu seinen Kindern ziehen, und ein neuer sollte an seine Stelle treten.

Wie dieser neue Lehrer sein würde, daran dachte nicht allein Besenmüller an diesem Nachmittag, auch die Kinder redeten davon. Die saßen alle miteinander, Buben und Mädel, große und kleine, auf der Apfelstraße und fanden, daß Winteräpfel auch schon im Herbst ganz gut eßbar sind. Sie kannten auch genau die Bäume, auf denen die frühreifen Früchte hingen. Die Buben saßen auf den Bäumen, die Mädel darunter, und alle schmausten sie mit vollen Backen.

Dort, wo sich die Apfelstraße schon dem kleinen Bahnhof näherte, – er lag etwa eine Viertelstunde vom Dorf entfernt – saß auf einem Himbeerapfelbaum Arnulf Weber. Schlank und rank war er; wenn er mit seinen Kameraden ging, ragte er immer ein Stückchen über sie hinaus. Und lärmten die Buben auf der Straße gar zu arg, dann sagten die Steinacher: Mer hört’s, Arne is dabei.

Arne saß oben auf dem Baum, und im untersten Geäst hing Fritze Schwetzer. Der war kurz und stämmig, und seinen Namen verdiente er gar nicht. Maulfauler als Fritze Schwetzer konnte nicht leicht einer sein. Wenn den seine Mutter mit einer Bestellung zu einer Nachbarin schickte, dann sagte er dort meist nur das letzte Wort, etwa Kuchenblech, die Nachbarin mußte es sich dann dazu denken, daß Frau Schwetzer ein Kuchenblech geliehen haben möchte. An diesem Herbstnachmittag sagte Fritze überhaupt nichts. Er aß nur einen Himbeerapfel nach dem andern, obgleich seine Mutter bei Tisch gesagt hatte: Fritze, du wirst noch platzen, wenn du so arg stopfst.

Desto mehr redete Arne. Seine Stimme tönte hell die Apfelstraße entlang, und von einem Pfundapfelbaum und anderen Bäumen, auch aus dem Graben heraus, in dem die Mädel saßen, kam Antwort. Lustige Neckworte flogen hin und her. Manchmal sauste ein Apfel von Baum zu Baum, im Graben kicherte es, und in all den heiteren Lärm hinein schrie auf einmal Zimplichs Max: Nu kommt er balde!

Wer denn? Die den Ruf gehört hatten, fragten es, und die anderen riefen: Was hat er gesagt?

Der Neue. Zimplichs Max brüllte es laut, und Ach- und Ohrufe tönten die Apfelstraße entlang. Auf einmal dachten sie alle an den neuen Lehrer, auf den sie ungeheuer neugierig waren. Ob er wohl sehr streng war? Strenger als Herr Hiller sicher! Und nun würden die schönen vielen Feiertage ein Ende haben, denn Vater Hiller hatte zuletzt nicht mehr soviel unterrichten können, er war lange leidend gewesen.

Ich fürcht’ mich niche! Ein kleiner, dicker Stöpsel, der mit Müh und Not auf einen niedrigen Baum gekommen war, schrie es kühn und laut. Das Wort fand Beifall von da und dort, von oben und unten versicherten es Buben und Mädel: Wir ferchten uns niche.

Jackenknöpfle hat recht! Webers Arne warf dem kleinen, dicken Burschen einen roten Himbeerapfel hinüber, der fing ihn auf, biß hinein und ärgerte sich dabei. Sein Spitzname kränkte ihn. Jakobus Knöpfle hieß er, daraus hatte ein Spaßvogel Jackenknöpfle gemacht, und dieser Name hing ihm nun an. Seine Mutter tröstete zwar: Sei froh, daß sie nicht Hosenknöpfle sagen! Aber das war doch nur ein schlechter Trost. –

Während so die Kinder auf der Apfelstraße von dem neuen Lehrer redeten und Besenmüller auf der Pflaumenstraße verdrießlich an ihn dachte, fuhr Herr Heinrich Fries im Zuge nach Steinach. Er war der neue Lehrer, und als er so das Land im Herbstschmuck sah und an seine Frühlingsreise dachte, kam es ihm ganz wunderbar vor, daß nun Steinach sein Ziel war. Wie es so kommt. Im Sommer hatten die Ersparnisse noch nicht zu einer Reise gereicht, und Mutter und Sohn hatten zueinander gesagt: Nächstes Jahr vielleicht. Und dann war Heinrich Fries eines Tages in die Schule gekommen, in der er als Hilfslehrer unterrichtete, da hatte sein Rektor zu ihm gesagt: Wollen Sie auf das Land? Es ist schnell eine gute Stelle zu besetzen. Der dortige Lehrer ist krank, er will in den Ruhestand treten.

Auf das Land? Dorflehrer sollte er werden? Nur zögernd hatte er gefragt: Wie heißt denn der Ort?

Steinach am Wald. Der junge Lehrer im Zug mußte wieder lächeln, als er an sein Erstaunen damals dachte und an das seiner Mutter über den seltsamen Zufall. Steinach am Wald, dorthin sollte er. Nur drei Tage blieben ihm Bedenkzeit, und in diesen Tagen hatten Mutter und Sohn viel von dem fernen Dorf gesprochen. Sehr froh waren sie beide nicht, sie wären gern in der Stadt geblieben.

Frau Fries gehörte zu jenen Müttern, in deren Herzstübchen die Wände voller Bilder hängen, fast alles Bilder ihrer Kinder. In diesem Stübchen stehen dann lauter Dinge, an denen die Kinder ihre Freude haben oder sie einst hatten. Auch ein großes Sorgenwinkelchen gibt es drin, dort liegt das Leid der Kinder. Manchmal ist dieser Sorgenwinkel recht groß, und die Mutter hat viel, viel damit zu tun. Auch Frau Fries’ Herzstübchen war immer ausgefüllt von der Sorge und Freude um ihren Sohn. An sich selbst dachte sie nie, nur an den Sohn, und der sollte mehr werden als nur ein Dorflehrer, ein Gelehrter sollte er werden wie sein Vater. In der Stadt konnte er weiterarbeiten, auf dem Dorfe wohl nicht.

Die gute Mutter! dachte Heinrich Fries, als er Steinach immer näher kam. Nun würde er bald dort sein, aber allein zuerst, so hatte es die Mutter verlangt. Wenn es dir nicht gefällt, kommst du zurück, waren ihre Worte gewesen. Und der Sohn wußte, sie würde in ihrer Einsamkeit von morgens bis abends arbeiten, nur für ihn. Sie würde für ihn sorgen unermüdlich, vielleicht kam er bald zurück und brauchte ihre Hilfe.

Da hielt der Zug, Steinach am Wald war erreicht. Er stieg aus und sah, daß er der einzige Reisende war, der das tat. Der Zug fuhr weiter, und er schlug den Weg nach dem Dorfe ein. Nur immer die Apfelstraße hinunter, sagte der Bahnbeamte freundlich. Ihren Koffer lassen Sie nur hier, Herr Lehrer, – das sind Sie doch?

Der Mann grüßte und nickte, und Heinrich Fries ging die Apfelstraße entlang. In der großen Stadt, aus der er kam, konnte er durch viele Straßen gehen, niemand kannte ihn, und hier wußten sie gleich, wer er war. Es ist freilich ein Dorf, sagte er zu sich und seufzte im Herzen, nur ein Dorf!

Um diese Zeit dachte Besenmüller gerade auf der Pflaumenstraße: Heute sin se aber brav, die Kinner! und die braven Kinder jauchzten, lärmten und schmausten vergnügt auf der Apfelstraße. Da tönte der schrille Pfiff einer Lokomotive in das fröhliche Gelärm hinein, und Arne schrie: Vielleicht kommt jemand.

Geschwind verkrochen sich die Buben im dichteren Blattgewirr, und die Mädel duckten sich in den Graben. Es war doch möglich, daß jemand vom Bahnhof kam, und wenn sie auch alle meinten, im Recht zu sein mit dieser Schmauserei, erwischen lassen wollte sich keins. Ein paar meinten: Arne, paß auf!

Es kommt wer – ’n Fremder! schrie der zurück, und der Ruf eilte die Apfelstraße entlang von Baum zu Baum.

Von den Bäumen herab, aus dem Straßengraben hinauf lugten schwarze und blaue Augen dem Ankommenden lustig entgegen. Wer mochte das sein? Ein Fremder in Steinach, welch ein Wunder!

Fritz Schwetzer allein kümmerte sich nicht um den, der kam. Er hatte eben einen Himbeerapfel angebissen, der außen schön rot und glänzend, aber innen verfault und bitter war, das ärgerte ihn. Er drehte den Apfel rundum, biß noch einmal da an und dort, vielleicht gab es noch eine süße Stelle, aber da der Apfel bitter blieb, warf Fritze ihn in weitem Bogen auf die Landstraße, da mochte er liegen.

Holla, was ist denn das? Heinrich Fries sah sich erstaunt um, ihm war etwas an den Kopf geflogen und hatte ihm den Hut heruntergerissen, und doch war es ganz windstill, kein Lufthauch war zu spüren. Aber freilich, in den Bäumen raschelte und zitterte das Laub, und der junge Lehrer sah da und dort Bubenbeine hängen, er sah auch neben seinem Hut einen angebissenen Apfel liegen. Rasch trat er auf den Himbeerapfelbaum zu, packte Fritzes Beine und rief: He, du da oben, ist das Sitte hier, Fremden den Hut vom Kopf zu werfen?

Fritze erschrak. Er sagte aber nichts, sondern versuchte nur seine Beine zu befreien. Arne beugte sich rasch hinab, um sich den Fremden näher anzusehen. Doch dabei entglitt ihm sein Apfel und traf Herrn Fries an die Nase.

Potzwetter, rief der nun ärgerlich, da sitzt ja noch so ’n heilloser Bube! Ihr scheint mir ja nette Rangen zu sein! Kommt mal gleich herunter.

Nä, rief Arne trotzig. Der hatte gar keine Lust, mit dem Fremden unten auf der Landstraße zu stehen. Auch Fritze Schwetzer verspürte dazu keine Neigung, aber ihn konnte der junge Mann leicht herunterholen. Das war bedenklich, und er überlegte, es wäre eigentlich ganz ratsam, dem fremden Mann einfach über den Kopf weg zu springen. Auf diese Weise entging er aller Fragerei. Gedacht, getan. Ehe Herr Heinrich Fries noch wußte, wie und was, sauste Fritze vom Baum herunter; aber hatte vorher sein Apfel des jungen Lehrers Hut mitgenommen, so nahm der Bube gleich diesen selbst. Pardauz lagen beide auf der Straße, Fritze überschlug sich zweimal, sprang auf und raste hinweg.

Aus dem Graben schauten drei lachende kleine Mädel heraus, und oben auf dem Baume kreischte Arne laut vor Vergnügen. Sein Jubel fand ein Echo. Plötzlich lachte, schrie und kicherte es die ganze Apfelstraße entlang. Den Buben und Mädeln schien die Purzelei des Fremden ein lustiger Spaß zu sein, dieser selbst freilich fand es gar nicht lustig, der war sehr verdrießlich. Er suchte mißmutig seine Sachen zusammen, die zerstreut am Boden lagen, und dachte dabei: Das ist ja ein netter Anfang! Wenn das so weiter geht, wird es mir schwerlich gut in Steinach gefallen.

Die Schelme von Steinach. Seite 22.

Unschlüssig stand er eine Weile da und sah die lange Straße hinab. Kerzengerade lief sie bis zum Dorfe hin; an ihrem Ende ragte fein und schlank der Kirchturm in die Luft. Der junge Lehrer sah aber nicht allein das Dorf im Hintergrunde, er sah auch da und dort Bubenbeine von den Bäumen herabhängen, und kleine kecke Mädelnasen streckten sich aus dem Graben heraus. Recht seltsame Früchte waren das. Wie er noch so stand und sich seine zukünftigen Schulkinder betrachtete, tönte von unten herauf der Ruf: Besenmüller, Besenmüller kommt!

Ritsch, ratsch verschwanden die Beine, wie reife Äpfel plumpsten die Buben von den Bäumen, aus dem Graben kamen die Mädel heraus, und heidi ging es nach rechts und nach links über die Stoppelfelder hinweg. Im Umsehen lag die Apfelstraße verlassen da, nur eine auffallend große Frau schritt dem jungen Lehrer entgegen.

In der Mitte der Straße trafen sich beide. Die Frau musterte rasch den Fremden, dann sagte sie: Ich bin die Besenmüllern, Herr Lehrer!

Ja, kennen Sie mich denn?

Nu freilich, sonst kommt doch ’n Fremder nich her um die Zeit. Und Pflaumenkuchen hab’ ich schon gebacken, und unser alter Herr Lehrer erwartet Sie. Und mein Mann sitzt unten auf der Pflaumenstraße, und ich dachte gleich, de Kinner sin hier. Besenmüller is zu gut, viel zu gut, Herr Lehrer, so gut is keiner wie der. Er müßte strenger sein gegen die Kinner. Gelle, das meinen Sie auch?

Hm, sagte der junge Lehrer nur. Er kannte weder Besenmüller noch seine Frau, er wußte nichts von deren Güte oder Strenge. Ich will nun gehen, murmelte er.

Ich geh’ mit, und Ihr Zimmer ist schon fertig, Herr Lehrer.

So schwatzte Frau Besenmüller, des Kirchen- und Schuldieners Frau, unablässig weiter und führte den jungen Lehrer nach Steinach hinein. Der brauchte nichts zu fragen und zu sagen, Frau Besenmüller erzählte ihm alles, wie ein Mühlwerk ging ihre Rede, und dabei konnte ihr Begleiter nie sehen, weinte sie oder lachte sie, weil nämlich ihr Gesicht ganz merkwürdig schief war. Seltsame Leute und seltsame Sitten scheint es hier in Steinach zu geben, dachte der junge Lehrer, als sie das Dorf erreichten. Ob ich hier wohl lange bleiben werde? Sicherlich nicht!

Nä, so was, rief da Frau Besenmüller, Webersch Wagen is umgepurzelt, nä aber!

Quer über die Straße lag ein umgestürzter Düngerwagen und versperrte den Zugang. Der Duft, der von ihm ausging, war nicht lieblich, und Heinrich Fries schickte sich seufzend an, in einem weiten Bogen herumzugehen, und so langte er endlich verdrießlich vor dem Schulhause an.


Drittes Kapitel
Der Empfang

Eine Ratssitzung auf dem Schelmenacker – Malchen gibt ein rotes Band, und Fritze Schwetzer zeigt, wie gut er werfen kann – Besenmüller nennt seine Frau Lydia, und Heinrich Fries lauscht dem Abendgesang

Da sin mer also!

Frau Besenmüller blieb vor einem großen, stattlichen, gelbgetünchten Hause stehen, und der junge Lehrer sah verwundert daran empor. Das sollte ein Dorfschulhaus sein?

Gelle, das ist mal fein? Die Frau Besenmüller schmunzelte, und selbst ihre weinerliche Gesichtsseite wurde freundlich. Sie war ungemein stolz auf das Schulhaus und merkte gleich, dem neuen Lehrer gefiel es.

Der maß das stattliche Gebäude mit hellen Blicken. Ja freilich, so ein Haus konnte einem schon gefallen. Es glich eher einem großen Gotteshaus, und es mochte anderthalb Jahrhunderte und mehr auf seinem Platze stehen. Es war zweistöckig und hatte ein doppeltes Dach. Lustig, wie lauter vergnügte Kinderaugen, schauten die Dachaugen in die Welt hinein. An der Ostseite rankte sich wilder Wein am Hause empor, der glühte im Herbstrot, und so in farbiger Schöne prangte auch der Garten, der von zwei Seiten an das Haus grenzte.