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Johann Kapferer
Alle Rechte vorbehalten
www.johann-kapferer.at
Überarbeitete Fassung der Erstausgabe, erschienen 2017 im Verlag edition baes
Illustrationen: Christian „Yeti“ Beirer
Lektorat: Jasminka Kapferer
Layout: Alexander Augustin · buechermacher.at
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783756278954
Für Jasminka, Eva und meine Familie
in Liebe und Dankbarkeit
In liebevoller Erinnerung an meinen Papa Johann
Gewidmet, all jenen lieben Menschen, die durch ihren Einsatz,
ihre Kreativität und ihre Ideen, mitgeholfen haben, damit Sie,
liebe Leser:innen, die Geschichte von Lotte, der kleinen,
pfefferminzgrünen Lokomotive, in Händen halten können …
Es geschah kurz nach Mitternacht. Wie aus dem Nichts riss plötzlich ein lautes Dröhnen die Welt aus dem Schlaf. Das Geräusch schwoll immer mehr an, bis es schließlich in ein ohrenbetäubendes, schrilles Heulen überging, das sich anhörte, als ob der Himmel auf die Erde stürzen würde. Es gab keinen Ort auf der ganzen Erde, an dem dieses markerschütternde Getöse nicht zu hören war.
Erschrocken flüchteten die Menschen aus ihren Behausungen. Draußen im Freien suchten sie verzweifelt nach einem Hinweis, was das sein konnte, doch sie fanden nichts. Bis auf das Heulen, das inzwischen eine Lautstärke erreicht hatte, dass sie es kaum noch aushalten konnten, gab es keine Erklärung dafür, was sie so in Angst und Schrecken versetzt hatte.
Zudem breitete sich eine bisher nicht gekannte Dunkelheit aus, in der man die eigene Hand kaum mehr vor den Augen sah. Panik erfasste die Menschen, während sie die Hände schützend an ihre Ohren hielten. Doch das brachte auch nicht die erhoffte Linderung. Vor diesem Lärm, der sich anhörte, als ob er aus einer anderen Welt stammte, gab es keinen Schutz. Dabei war das erst der Anfang. Mensch und Tier zuckten zum zweiten Mal in dieser Nacht, zu Tode erschrocken zusammen, als das Heulen plötzlich in einem ohrenbetäubenden Donner mündete. Dann war es mit einem Schlag, überall auf der Erde, stockdunkel.
Doch damit nicht genug. Auf den Donnerschlag, der noch Minuten später in den Ohren nachhallte, folgte ein beißender Gestank, der sich in rasender Geschwindigkeit rund um den ganzen Globus ausbreitete und allem, was auf der Erde lebte, den Atem raubte.
In Panik liefen die Menschen wieder zurück in ihre Häuser und Wohnungen. Sie hofften, dort diesem üblen Geruch zu entkommen. Doch sie konnten sich davor nicht verstecken oder gar davonlaufen. Der ätzende Gestank folgte ihnen nach und drang bis in die entlegensten Ritzen ihrer Behausungen. Die Menschen mussten einsehen, dass es dagegen keinen Schutz gab. Doch auch damit war der Spuk noch nicht zu Ende. Gleichzeitig zu dem Gestank breitete sich auf der Erde eine unheimliche Stille aus. Kein einziger Laut drang mehr an die Ohren von Mensch und Tier. So etwas hatte die Menschheit noch nie erlebt. Was war bloß Schreckliches in dieser Nacht geschehen?
Als die Welt noch für alle in Ordnung schien.
Langsam und bedächtig steuerte Heinrich auf den alten Lokschuppen mit dem roten Ziegeldach, am Ende des kleinen Bahnhofs mit dem Namen Station Sonnenschein, zu. Die Kiesel knirschten unter den schweren Stiefeln, als er fröhlich pfeifend näherkam. Vor dem großen Tor des Schuppens blieb er immer für einen kurzen Moment stehen, während er seinen Blick langsam die Runde schweifen ließ.
»Ach, wie ist die Ruhe um diese Zeit doch herrlich«, nickte er zufrieden.
Obwohl sich dieselbe Szene seit mehr als vierzig Jahren, jeden Morgen immer wieder auf das Neue abspielte, kam es Heinrich stets vor, wie beim ersten Mal. Und wie an jedem anderen Morgen auch, freute er sich schon darauf, was der neue Tag wohl an Überraschungen für ihn bieten würde. Heinrich war Lokführer auf einer kleinen, pfefferminzgrünen Elektrolokomotive. Er liebte seinen Beruf wie keinen zweiten auf der ganzen Welt. Schon als Junge träumte er davon, einmal hinter dem Steuer einer Lokomotive zu sitzen. Inzwischen war dieser Traum längst Wirklichkeit. Für ihn gab es nichts Schöneres, als mit Lotte, so nannte er die kleine Elektro-Lokomotive liebevoll, über die blanken Schienen, durch das Land zu fahren.
Mit Lotte verband Heinrich zudem noch etwas Besonderes. Vor mehr als vierzig Jahren hatte er auf der kleinen, pfefferminzgrünen Lokomotive, genau hier, an dem kleinen Bahnhof mit dem Namen Station Sonnenschein, die Prüfung zum Lokomotivführer abgelegt. Seither waren die beiden unzertrennlich.
Doch halt, da gab es ja noch jemanden. Auf ihren Fahrten begleitete sie immer Anton, der Schaffner. Gleich wie Heinrich, gehörte er, als Dritter im Bunde, längst zu diesem unzertrennbaren Team dazu. Und genauso wie der Lokomotivführer jeden Meter der Gleise auswendig wusste, kannte er als Schaffner jeden einzelnen Fahrgast, denn es fuhren immer dieselben Menschen mit ihnen mit.
Was jedoch keiner von beiden ahnen konnte, unter all den vielen Leuten war jemand, der noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Es war die kleine Lara, Heinrichs Nichte. Das Mädchen verfügte über eine Gabe, die es kein zweites Mal auf der Welt gab. Schon bald würden die beiden Freunde erfahren, was es damit auf sich hatte. Doch alles der Reihe nach.
Früher herrschte an dem kleinen Bahnhof, mit dem Namen Station Sonnenschein, reger Betrieb. Man konnte die vielen Züge kaum zählen, die jeden Morgen von dort abfuhren und am Abend hier ihre Endstation hatten. Doch das gab es inzwischen alles längst nicht mehr.
Die Firma, der die Eisenbahnstrecke gehörte, errichtete vor einigen Jahren eine neue Strecke, einige Kilometer weiter im Süden. Die meisten Züge benutzten jetzt diese neue, viel schnellere Trasse, wie man eine Eisenbahnlinie auch nannte. Kaum ein Zug fuhr noch über die alte Strecke, die über den kleinen Bahnhof, mit dem Namen Station Sonnenschein, führte.
Genaugenommen gab es überhaupt nur einen einzigen Zug, der noch hier fuhr. Doch der war dafür etwas Besonderes. Bei diesem Zug handelte es sich um Lotte, die kleine, pfefferminzgrüne Lokomotive mit ihren drei bunten Waggons, die sie immer dabei hatte.
Bevor Heinrich den Lokschuppen aufsperrte, warf er, wie an jedem anderen Morgen auch, noch einen raschen Blick auf die Armbanduhr, die er an seinem linken Handgelenk trug.
»Na, wer sagt es denn, wir sind wieder einmal pünktlich wie die Eisenbahn. Auf uns ist eben immer Verlass«, lachte er zufrieden, während er im fahlen Licht des Mondes sah, dass der Zeiger der Uhr genau auf fünf stand. Der Mann setzte die alte, abgewetzte Ledertasche, die er immer dabei hatte, neben sich auf dem Boden ab. Dann griff er nach dem Schlüsselbund, der an einem Karabiner an seinem Gürtel hing. Es dauerte immer eine Weile, bis er den richtigen Schlüssel gefunden hatte. Wenn es endlich soweit war, steckte er ihn in das große Vorhängeschloss, das die beiden riesigen Tore des alten Lokschuppens mit dem roten Ziegeldach versperrte und drehte ihn zweimal nach rechts.