1. Einleitende Worte
2. Interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen
3. Religionssensibilität
3.1 Was ist Sensibilität
3.2 Was ist Religion?
3.2.1 Der essentialistische bzw. substanzialistische Religionsbegriff
3.2.2 Der funktionalistische Religionsbegriff
3.2.3 Der kulturwissenschaftliche Religionsbegriff
3.3 Was ist Religionssensibilität?
3.4 Vermeintliche „Religion“
3.5 Mögliche Praxisfelder
4. Konflikte
5. Werte
6. Kompetenzen
7. Definitionen von „Rassismus“
7.1 Die Definition nach Albert Memmi
7.2 Die Definition nach Robert Miles
7.3 Die Definition nach Étienne Balibar
7.4 Die Definition nach Pierre-André Taguieff
8. Definitionen von „Islamophobie“
8.1 Aus der Vorurteilsforschung
8.2 Aus der Dekolonialisierung
8.3 Aus der Rassismusforschung
8.4 Eine Kritik am Begriff der „Islamophobie“
8.5 Ethnizismus im Kontext von Islamfeindlichkeit
8.6 Mögliche Wirkungen auf die Betroffenen
9. Begriffsklärung: Prävention
9.1 Universelle Prävention
9.2 Primäre Prävention
9.3 Sekundäre Prävention
9.4 Tertiäre Prävention
9.5 Weitere Definitionen
10. Merkmale von Feindbildern
11. Islamfeindliche Argumentationsstrategien
12. Kategorisierung der Fallbeispiele
12.1 Erste Übung: Alltägliche und strukturelle Diskriminierung
13. Fallbeispiele
13.1 Familie
13.2 Schule
13.3 Gemeinde
13.4 Alltag
14. Wie tolerant ist unsere Gesellschaft gegenüber Islam und MuslimInnen?
15. Anhang: Kategorien-Tabelle
16. Quellen
Im Folgenden befinden sich Fallbeispiele aus verschiedenen Situationen mit und zwischen MuslimInnen in Deutschland. Da es zu den Fallbeispielen nicht die eine einfache Lösung gibt, geben wir in den Materialien auch keine Lösungen vor, sondern erarbeiten diese gemeinsam mit unterschiedlichen Zielgruppen, d.h. mit Eltern, SchülerInnen, LehrerInnen, Imamen, SozialpädagogInnen usw. Dies ermöglicht eine Bewertung der Fälle aus verschiedenen Perspektiven. Im Anschluss an alle Fallbeispiele folgen Fragen und Aufgaben, die zum Beispiel in der pädagogischen Arbeit mit SchülerInnen und LehrerInnen im Unterricht oder mit weiteren Zielgruppen in Arbeitsgruppen (z.B. in Fortbildungsseminaren, Workshops oder Tagungen) behandelt werden können.
Die meisten Fallbeispiele sind aus dem schulischen Kontext. Dies soll jedoch nicht den Eindruck erwecken, dass wir mit den Beispielen vor allem die Schule als Zentrum von Konflikten in den Fokus rücken wollen. Das Fülle der Beispiele im schulischen Kontext hat vor allem zwei Gründe: Erstens ist das Islamische Wissenschafts- und Bildungsinstitut e.V. seit 2002 im Bereich der Bildung und Pädagogik tätig, so dass viele Fälle aus dem schulischen und familiären Bereich an das Institut herangetragen werden. Zweitens verbringen junge MuslimInnen viel Zeit in der Schule, was zu vielen Reibungen zwischen SchülerInnen untereinander und zwischen SchülerInnen und LehrerInnen sowie zwischen LehrerInnen und Eltern führen kann.
Entstanden ist die Zusammenstellung der Fallbeispiele zwei Wochen vor der sogenannten „Özil-Affäre“, die zu einer öffentlichen Rassismus-Debatte in Deutschland geführt hat. Der deutsche Nationalspieler Mesut Özil, der damals in London gespielt hat, hatte dem DFB-Präsidenten Reinhard Grindel Rassismus vorgeworfen und im Juli 2018 seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft verkündet. Siehe mehr unter: https://www.n-tv.de/sport/fussball/Ozils-Erklaerung-im-Wortlaut-article20541441.html
Damit wird deutlich, dass das Thema den aktuellen Nerv unserer Gesellschaft trifft.
Der rote Faden des Arbeitsmaterials beginnt mit Bedeutung von interkultureller und interreligiöser Kompetenz. Keine Einrichtung, egal ob Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser oder etwa die Polizei, kann es sich heutzutage erlauben, ohne diese Kompetenzen zu arbeiten. Anschließend folgt ein Kapitel über Konflikte und Werte. Schließlich sind viele Konflikte Wertekonflikte und nicht wie es manchmal scheint ein interkultureller oder interreligiöser Konflikt. Dann folgt ein Kapitel über Kompetenzen, wobei das Ziel des Arbeitsmaterials deren Förderung ist. Die weiteren Kapitel beinhalten sogenannte Hilfsthemen, wie Rassismus, Islamophobie und Feindbilder. Diese sind für die Arbeit mit den Fallbeispielen in Kapitel 13 wichtig. Ohne die Kenntnis über Rassismus oder Islamophobie, können bestimmte Fallbeispiele schwer bewertet werden. Im Kapitel über Prävention geht es darum, wie künftige Konflikte vermieden werden könnten.
Der Mensch wird nicht nur von einer ganz bestimmten Kultur oder Religion geprägt, denn Kulturen und Religionen sind keine abgeschotteten Systeme. In der Menschheitsgeschichte gibt es keine Gesellschaft ohne Religion(en) und es existieren mehr Definitionen von Kultur, als es Kulturen gibt.
Die Herkunft des Wortes "Kultur", das vom lateinischen "colere" (pflegen, urbar machen) bzw. "cultura" und "cultus" (Landbau, Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das "vom Menschen Gemachte" bzw. "gestaltend Hervorgebrachte" – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhanden ist.
Darüber hinaus ist jeder in seiner kulturellen und religiösen Ausprägung auch individuell. So, wie nicht alle Deutschen gleich sind, sind auch nicht alle Christen gleich.
Hilfreich für interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen sind
a) Hintergrundwissen
b) Empathie
c) Interaktion
d) Selbstreflexion.
Beispiel: Stellen wir uns als Beispiel vor, dass jemand sich über das Fasten im Islam wertend äußert, wie z.B.: „Das ist ungesund“, und dass diese Äußerung zu einem Streitgespräch zwischen zwei Parteien führt.
Hätten die Betroffenen des Streits
a) das nötige Hintergrundwissen zu den Vorteilen des gesunden Fastens und zu den Nachteilen des falschen Fastens, könnten sie sich
b) in den jeweils anderen hineinversetzen (Empathie), z.B. auch in einen Fastenden und würden sie
c) miteinander auf eine respektvolle und sensible Art reden (interagieren) und
d) darüber nachdenken, was die Ursache des Streits war und sich fragen, was man das nächste Mal besser machen könnte (Selbstreflexion), dann können Konflikte durchaus auch etwas Gutes haben. Denn durch sie können wir lernen, künftige Konflikte besser in den Griff zu bekommen.
Im Mittelpunkt steht die angemessene Interaktion.
Während bei Problemen mit (nicht-muslimischen) deutschen Eltern, Kindern und Jugendlichen nicht sofort ein Zusammenhang zur Religion und Kultur hergestellt wird, wird bei Eltern, Kindern und Jugendlichen muslimischer Herkunft häufig ein religiöser oder kultureller Grund für ein Problem vermutet.
Beispiel: Während einer Fortbildung für ErzieherInnen schildert eine Erzieherin, dass in ihrem Kindergarten ein vierjähriger arabischer Junge, wenn seine ältere Schwester ihn abholt, respektlos ihr gegenüber sei und sie zum Beispiel trete. Dies sei vermutlich so, weil im arabisch-islamischen Kulturraum Frauen nicht respektiert würden. Hier müsste gefragt werden, inwiefern man bei einem vierjährigen Kind von einer ausgeprägten kulturellen oder religiösen Identität ausgegangen werden kann. Auf die Frage, ob es auch auffällige deutsche Kinder in der Einrichtung gäbe, bejahen das ihre KollegInnen. Als Erklärungsmuster dienen: „Kinder, die unter ADHS leiden“, „Kinder alleinerziehender Mütter“, „Kinder aus sozialen Brennpunkten“, „Kinder von Eltern, die unter Alkohol- oder Drogensucht“ leiden, usw. Erklärungen wie: „Weil sie der deutschen Kultur angehören“ oder „weil sie ChristInnen sind“ fehlen. Das Fehlverhalten wird also weder auf die Kultur noch auf die Religion zurückgeführt, sondern auf individuelle, familiäre oder soziale Ursachen.
Beispiele wie diese, die wir hier zusammengefast haben, haben das Ziel pädagogisches Personal für Konfliktursachen, Diskriminierungserfahrungen und deren mögliche Konsequenzen zu sensibilisieren. Da in vielen Bildungseinrichtungen, die sich als „neutral“ definieren, vor allem der Umgang mit Religion und religiösen Menschen – insbesondere mit Islam und MuslimInnen – sehr unsicher ist, möchten wir im Folgenden auf die wichtigsten Aspekte der Religionssensibilität eingehen. Dies soll und kann dabei behilflich sein, die Ursachen von Problemen und Konflikten richtig zu verorten. Ansonsten sucht man bei Lösungen an der falschen Stelle.
Der Begriff der Religionssensibilität ist nicht definiert.
Religionssensibilität (aber auch Kultursensibilität) bezieht sich auf die Betrachtung des Individuums.
Sie ist Grundsätzlich eine Frage der Haltung.
Sie Bezieht sich auf eine Handlungsweise, die sich von stereotypischen und klischeehaften Betrachtungen löst.
Je nach Familie, Milieu und Gesellschaft, in der wir leben, kann Religion eine wichtige, nebensächliche oder gar keine Rolle spielen. Während für jemandem Religion sehr wichtig sein kann, kann jemand anderes der Religion gleichgültig, kritisch, bis hin zu feindselig eingestellt sein. Dies kann sogar innerhalb einer Familie so sein.
Im beruflichen Kontext kann eine Gleichgültigkeit, kritische Haltung oder Feindseligkeit problematisch sein. Als Erzieher/in, Lehrer/in, Sozialarbeiter/in oder etwas Pfleger/in kann eine gleichgültige, kritische oder feindselige Haltung zum Nachteil von religiös geprägten Kindern, Jugendlichen oder Patient/innen und zu Konflikten führen, weil diese sich in ihren Bedürfnissen nicht berücksichtigt oder sogar verletzt fühlen. Religion ist für religiöse Menschen schließlich eine Ressource, die ihnen in unterschiedlichen Situationen hilft (dazu unten mehr).
Selbst, wenn jemand nicht religiös sein sollte, bedeutet dies nicht, dann man nicht den Glauben einer anderen Person respektieren, oder zumindest tolerieren kann. Umgekehrt möchte auch ein nicht-religiöser Mensch von religiösen Menschen respektiert oder toleriert werden.
Des Weiteren kann Religionssensibilität zu einem respektvollen Miteinander führen.
Empathie, Offenheit, Einfühlungsvermögen, Feinfühligkeit, Taktgefühl, Fingerspitzengefühl, Achtsamkeit, Vorsicht, Gespür, Behutsamkeit und viele Begriffe mehr wären Synonyme für „Sensibilität“. All diese Begriffe sind positiv besetzt und das Gegenteil dessen würde negativ wahrgenommen werden, wenn etwa eine Person unachtsam und unvorsichtig, taktlos oder grob, mit anderen Worten: unsensibel wäre.
Sensibilität ist eine Fähigkeit und somit eine wichtige Kompetenz, im Umgang mit anderen. Da sie jedoch auch ein Synonym für Empathie ist, ist sie auch zugleich eine Voraussetzung für die oben erwähnte interkulturelle und interreligiöse Kompetenz.
Neben der theologischen Auseinandersetzung mit Religion aus der Binnenperspektive der jeweiligen Religion, gibt es auch eine Beschäftigung mit Religion in der Religionswissenschaft, Religionssoziologie, Religionsethnologie, Religionsphilosophie, Religionsphilologie oder Religionsgeschichte, wo Religion jeweils etwas anderes bedeuten kann, zumal der im Deutschen verwendete Begriff „Religion“ aus dem Lateinischen stammt und auf zwei Verben zurückgeführt wird: relegere: „bedenken“, „achtgeben“ oder religare: „wieder vereinigen“, „zurück-, an-, festbinden“. Im Islam wird für „Religion“ der arabische Begriff „Dîn“ verwendet, das sich von dem Verb „dâna“ („schulden haben“) ableitet.
Im Folgenden soll keine ausführliche Definition des Begriffs „Religion“ aus der Perspektive der unterschiedlichen Religionen unternommen werden, weil es keine einheitliche Definition gibt, sondern drei mögliche Ansätze zur Kategorisierung von Religion vorgestellt werden:
3.2.1 Der essentialistische bzw. substanzialistische Religionsbegriff
Dieser bezieht sich auf inhaltliche Merkmale von Religion, wird vom Wesen der Religion abgeleitet und versucht die wesentlichen Attribute von Religion zu charakterisieren: Religion als etwas, das sich auf das Absolute, das Transzendente, das Heilige, das Numinose, das Allumfassende, auf das göttliche bezieht.
3.2.2 Der funktionalistische Religionsbegriff
Dieser definiert Religion über ihre (soziale) Funktion und geht davon aus, dass Religion für das Individuum und die Gesellschaft eine prägende Rolle spielt und diese mitgestaltet. Religion wird gemäß dieser Definition zu einem solidarischen System von Überzeugungen und Praktiken und bildet die Grundlage für eine moralische Gemeinschaft.
Zu den Hauptfunktionen von Religion gehören unter anderem die Vermittlung von Sinn, die Vermittlung eines Wertesystems sowie die emotionale Stabilisierung des Individuums, etwa durch die Vermittlung von Hoffnung und die Reduktion von Angst.
3.2.3 Der kulturwissenschaftliche Religionsbegriff
Eine exakte und allgemeingültige Definition von Religion gibt es nicht, da es keinen Konsens aller Religionen über den Begriff „Religion“ gibt. Allein schon sprachwissenschaftlich, aber auch gesellschaftlich, gibt es Unterschiede im Verstehen und Praktizieren von Religion von Kulturraum zu Kulturraum. Der lateinische Begriff „Religion“ ist zum Beispiel nicht identisch mit dem arabischen Begriff „Dîn“ (siehe dazu Fußnote 1) und während in einigen Ländern Religion als Privatsache gilt (siehe säkulare Gesellschaften) bestimmt in anderen Ländern Religion auch das öffentliche Leben (siehe Saudi-Arabien).
Im kulturwissenschaftlichen Ansatz ist Religion einem ständigen Wandel unterworfen und kann daher nicht eindeutig erfasst werden. Auch ihre Entwicklung ist nicht vorhersehbar. Aleviten definieren sich im europäischen Kontext zum Beispiel anders als im türkischen Kontext. Während sie sich hier inzwischen als eine eigenständige Religion verstehen, bezeichnen sie sich im türkischen Kontext überwiegend als Muslime.
Im Zentrum dieses Kapitels stehen die Fragen, was Religionssensibilität bedeutet, wer alles davon betroffen ist und welche Kompetenzen erforderlich sind, um von Religionssensibilität sprechen zu können.
In der Menschheitsgeschichte gibt es keine Gesellschaft ohne Religion(en) und auch in unserer säkularen Gesellschaft sind Religionen Teil des allgemeinen Pluralismusverständnisses. Im Grunde kann sich in einer pluralistischen Gesellschaft kaum jemand erlauben, ohne interreligiöse und interkulturelle Kompetenzen zu arbeiten. Davon sind Kindergärten genauso betroffen wie Schulen, Krankenhäuser ebenso wie die Polizei.
Vor allem in der Pädagogik ist Religionssensibilität eine spezifische Kompetenz und wird von PädagoInnen, ErzieherInnen und LehrerInnen erwartet, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Auch im Bereich sozialer Berufe, in der Familien- und Eheberatung sowie im Bereich der Medizin und Pflege wird diese Kompetenz erwartet.
Religionssensibilität bezeichnet eine Haltung der Achtsamkeit und des Respekts gegenüber religiösen Phänomenen in der Gesellschaft. Wer sich gegenüber religiösen Phänomenen versperrt, wird sehr schnell an seine persönlichen und institutionellen Grenzen stoßen. Probleme und Konflikte sind dann unausweichlich. Wer sich gegenüber religiösen Phänomenen öffnet („religiös musikalisch“ ist), wird eine größere Flexibilität und Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten besitzen.
PädagoInnen, ErzieherInnen und LehrerInnen sollten
- sowohl ihre Grundhaltung zur eigenen als auch zu fremden Religionen klären;
- eine lernende Haltung einnehmen und offen für Neues sein;
- seriös und respektvoll mit dem Glauben eines jeden umgehen;
- den Glauben und die Religion anderer als Ressource sehen und nicht als Ballast;
- aufmerksam und offen für religiöse Themen, Fragen und Bedürfnisse sein.
- Wie das gelingen kann?
Seminare zur Interkulturalität oder Interreligiosität in der Ausbildungsphase oder Fort- und Weiterbildungskurse, interkulturelle und interreligiöse Begegnungen, Reisen und Dialoge können die erforderlichen Kompetenzen zur Sensibilität fördern.
Das nötige (sachliche und fachliche) Hintergrundwissen kann eine größere Sicherheit im Umgang mit vermeintlich Fremden geben.
Durch Übungen zum Perspektivwechsel können die Betroffenen lernen, sich in andere hineinzuversetzen, was ihre Empathie-Fähigkeit fördert.
Die richtige Interaktion (Dialog) kann helfen, Fragen sensibler zu formulieren, statt zu provozieren oder zu verletzen.
Die stete Selbstreflexion kann helfen, immer wiederkehrende Muster zu vermeiden und „Fettnäpfchen“ zu verringern.