Susan Arndt
RASSISMUS
BEGREIFEN
Vom Trümmerhaufen der
Geschichte zu neuen Wegen
C.H.Beck
Tagtäglich erleben Menschen in Deutschland und dem Rest der Welt Rassismus in Form von Alltagsdiskriminierungen, werden Opfer von politischem und strukturell-institutionellem Rassismus sowie von rassistischen Gewalttaten. Als der Polizist Derek Chauvin dem Schwarzen US-Amerikaner George Floyd die Luft zum Atmen nahm, brandete eine antirassistische Protestwelle um die Welt, die auch Deutschland bewegte. Wie virulent Rassismus auch hierzulande ist, zeigen etwa Debatten über Umbenennungen von Straßen oder auch den Umgang mit rassistischer Sprache, Kolonialgeschichte und rassistischen Morden. Susan Arndt führt in Geschichte und Gegenwart des Rassismus ein und zeigt, wie er sich bekämpfen lässt.
Susan Arndt ist Professorin für Englische Literaturwissenschaft und Anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Rassismus, Sexismus und Intersektionalität. Bei C.H.Beck sind von ihr erschienen: Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus (42021) sowie Sexismus. Geschichte einer Unterdrückung (2020).
Einleitende Bemerkungen: Black Lives Matter in Zeiten der COVID-19-Krise
I. RASSISMUS: GRUNDLAGEN, KONZEPTIONELLE VERIRRUNGEN UND STRÖMUNGEN
1. Othering und Privilegien im Kontext sozialer Ungleichheit
2. Rassismus als Erfindung und Othering mittels ‹Rassen›
3. Rassismus. Überlegungen zur Begriffsbestimmung
4. Der Racial Turn oder soziale Positionen im Rassismus
4.1. Weißsein als soziale Position infolge rassistischer Macht und Privilegierung
4.2. Soziale Positionen infolge rassistischer Diskriminierung: Schwarz, People of Color, Indigene, Jüdisch und Passing
5. Warum die Begriffe ‹Ausländer-› oder ‹Fremdenfeindlichkeit› sowie ‹positiver Rassismus› unzutreffend sind
6. Gibt es nicht: ‹Umgekehrter Rassismus› und ‹Außereuropäischer Rassismus›
7. Rassismus unter rassistisch Diskriminierten: ‹Teile und herrsche› und Colorismus
8. Verinnerlichter Rassismus
9. Strömungen des Rassismus
9.1. Antijudaismus, Antisemitismus und Antizionismus
9.2. Rassismus gegenüber Schwarzen
9.3. Orientalistischer Rassismus
9.4. Ziganistischer Rassismus
9.5. Rassismus gegenüber Indigenen Menschen
10. ‹Rassismus ohne Rassen› als Irrtum
II. GESCHICHTE DES RASSISMUS ALS GESCHICHTE DER ERFINDUNG VON ‹RASSEN›
1. Griechische Konstruktionen vom Selbst und Anderen
1.1. Das Erwachen des Griechischseins
1.2. Das nichtgriechische Andere
1.3. Argumentationsmuster der Differenz
1.4. Theorie zur Sklaverei von Aristoteles
1.5. Noahs Fluch über Ham – eine antike Erfindung mit rassistischer Strahlkraft
2. Die Erweckung des Weißseins
2.1. Wie die christliche Farbsymbolik ‹Hautfarbe› erzählt und Räume kartiert: Die Geburt der Schwarz-Weiß-Antithese
2.2. ‹Hautfarbe› und Religion in Eschenbachs Parzival
2.3. 1492 als Zäsur verschränkter Rassismen
1492 und das Ende des multireligiösen al-Andalus
1492 und Anfänge von Kolonialismus und Maafa
Kolumbus’ genozidale Gewalt im Kontext zeitgenössischer Dispute und Gesetze
Eroberung, nicht ‹Entdeckung› und andere Begriffsirrläufer
Maafa: Mit neuen Begriffen über die europäische Versklavung von Afrikaner*innen sprechen
3. Maafa und das kolonial geprägte Weißsein
3.1. Maafa als singuläres Modell der Versklavung
3.2. Ein kurzer historischer Abriss der europäischen Versklavung von Afrikaner*innen im 15. bis 18. Jahrhundert
1441 und andere Anfänge
Grundlagen der Plantagenökonomie bis 1680
Das lange 18. Jahrhundert der Maafa
3.3. ‹Jenseits vollwertiger Menschlichkeit›: Rechtlosigkeit und deren Legitimation
Christliches Gebot: Versklavende, nicht Versklavte
Natur-versus-Kultur-Binarismus: Dämonisierung und Exotisierung
Frühneuzeitliche Auslegungen der ‹Weiß-Schwarz-Antithese›
Frühneuzeitliche Erklärungsmuster für ‹Hautfarben›
4. ‹Rassen›theorien in der Aufklärung
4.1. Rassismus in Philosophie und Naturwissenschaft
Säkularisierung von ‹Rasse›: Monogenese und Licht als Vernunft
Vernaturwissenschaftlichung: Über Klimatheorien und ‹Hautfarben› hinaus
4.2. Versklavte, die Sklaverei als Befreiung erleben? Daniel Defoes Welt von Robinson Crusoe
4.3. Erste Gedanken zum Begriff ‹Rasse› in Deutschland: Kant vs. Amo
4.4. Anfang vom Ende: Abolitionismus und die Revolution in Haiti
Abolitionismus: von einer Schwarzen zu einer weiß dominierten Bewegung
Globaler Abolitionismus: Vom Londoner Gerichtshof nach Haiti
4.5. Jim-Crow-Gesetzgebung
4.6. Hegel: Trotz allem, die europäische Versklavung von Afrikaner*innen ist gerecht
4.7. Von ‹Volk›, ‹Kultur› und ‹Völkerschauen›
5. Rassismus zwischen Imperialismus und Nationalismus
5.1. Imperialismus als globale Weltwirtschaft und rassistisches Gewaltregime
Globaler Imperialismus als europäische Einigung
Deutschlands Kolonialismus als globale Macht
5.2. Imperialismus legitimieren
‹Zivilisation› als «Bürde des weißen Mannes» im neuen Gewand der Moderne
Kolonialfantasien in der Literatur: Rudyard Kipling, Joseph Conrad und Edgar Rice Burroughs
Rassismus als Kampf der ‹weißen Rassen› gegen alle Anderen: Rassentheorien von Arthur de Gobineau über Houston Stewart Chamberlain bis Eugen Fischer
‹Höhere Rassen› müssten sich der niederen erwehren: Arthur de Gobineau
Von Charles Darwin über den Sozialdarwinismus zur beginnenden Eugenik
5.3. Weißsein im ‹Kampf der Klassen›
Sozialdarwinismus und die Rede vom ‹white trash›
Klassenkampf und weiße Handlungsmacht
Weißsein als soziale Aufstiegsmöglichkeit
5.4. Nationen und innere Feinde des Deutschen Reiches: Jüdische Menschen und Rom*nja
5.5. Arier als ‹reine Krone› des Weißseins. Chamberlains Vorstellungen von Zukunft
5.6. Fischer und die Eugenik als ideologische Brücke zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus
5.7. Rassismus in der Weimarer Republik
5.8. Britische Apartheid in Südafrika
6. Nationalsozialismus
6.1. Nationalsozialistische Gesetzgebungen
6.2. Die nationalsozialistische Novelle der ‹Rassen›theorien
6.3. «Lebensraum im Osten»
6.4. Die technologische und bürokratische Infrastruktur des eliminatorischen Rassismus: Shoah und Porajmos
6.5. Rassismus gegenüber Schwarzen und Orientalistischer Rassismus
6.6. Der japanische Weg innerhalb der europäischen ‹Rassen›theorien
6.7. Rassismus in den Reihen der Alliierten
6.8. Nationalsozialismus zwischen Singularität und Kontinuität
6.9. Die UNESCO-Erklärung von 1950
6.10. Juristischer Umgang mit dem NS
6.11. Kolonialismus und NS als Januskopf der Gründung Israels
7. Rassismus inmitten von globaler (Post-)Dekolonisierung und Kaltem Krieg
7.1. Der Umgang mit ‹Rasse› im geteilten Deutschland
7.2. Dekoloniale Bewegungen
7.3. Burische Apartheid in Südafrika
7.4. Diasporas
Diaspora meint ‹Angekommen›
US-amerikanische Bürger*innenrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre
Europäische Diasporas
Vereinigtes Königreich
Deutschland
III. ZEITGENÖSSISCHE MANIFESTATIONEN DES RASSISMUS SEIT 1990: DEUTSCHLAND IM GLOBALEN KONTEXT
1. Politik: Erinnerung, Entschuldigung, Entschädigung
1.1. Deutschland und NS: Shoah und Porajmos
1.2. Die Mbembe-Debatte
1.3. Kolonialismusaufarbeitung in Europa
1.4. Entschuldigung und Entschädigungszahlungen
1.5. Entwicklungshilfe und der Unterlegenheitsmythos
2. Rassismus und gesellschaftliche Debatten
2.1. ‹Leitkultur› und ‹Multikulturelle Gesellschaft›
2.2. ‹Flüchtlingskrise›, ‹Illegale› und der Windrush-Skandal
3. Rassistische Parteien
4. Rassistische physische Gewalt als serielles Verbrechen
5. Institutioneller Rassismus: Polizei und Racial Profiling
6. Immer wieder Alltag(srassismus)
6.1. Repräsentation zwischen Ignorieren und rassistisch-falschem Othering
Weiße Hyperpräsenz als sichtbare Absenz von BIPoC
Rassistische Repräsentationsmuster und entsprechende Stereotype
Rassistische MisRepräsentationen in Film und Werbung
6.2. Mikroaggressionen
6.3. Stereotype Threat
7. «Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.» Wörter und rassistisches Wissen
7.1. Widerspruch: Rassistische Wörter (verteidigen)
7.2. Rassistische Wörter(bücher)
8. ‹Rasse› und ‹Hautfarbe›: Alter Rassismuswein in neuen Worthülsen
9. Aktuelle Gesetzgebung
Ein Fazit: Zum Schluss kommen, wenn auch kein Ende in Sicht ist
Liste rassistischer und sexistischer Begriffe
Danksagung
Literaturverzeichnis
Filme/YouTube/Theater
Anmerkungen
Einleitende Bemerkungen: Black Lives Matter in Zeiten der COVID-19-Krise
I. RASSISMUS: GRUNDLAGEN, KONZEPTIONELLE VERIRRUNGEN UND STRÖMUNGEN
2. Rassismus als Erfindung und Othering mittels ‹Rassen›
3. Rassismus. Überlegungen zur Begriffsbestimmung
4. Der Racial Turn oder soziale Positionen im Rassismus
6. Gibt es nicht: ‹Umgekehrter Rassismus› und ‹Außereuropäischer Rassismus›
7. Rassismus unter rassistisch Diskriminierten: ‹Teile und herrsche› und Colorismus
8. Verinnerlichter Rassismus
9. Strömungen des Rassismus
10. ‹Rassismus ohne Rassen› als Irrtum
II. GESCHICHTE DES RASSISMUS ALS GESCHICHTE DER ERFINDUNG VON ‹RASSEN›
1. Griechische Konstruktionen vom Selbst und Anderen
2. Die Erweckung des Weißseins
3. Maafa und das kolonial geprägte Weißsein
4. ‹Rassen›theorien in der Aufklärung
5. Rassismus zwischen Imperialismus und Nationalismus
6. Nationalsozialismus
7. Rassismus inmitten von globaler (Post-)Dekolonisierung und Kaltem Krieg
III. ZEITGENÖSSISCHE MANIFESTATIONEN DES RASSISMUS SEIT 1990: DEUTSCHLAND IM GLOBALEN KONTEXT
1. Politik: Erinnerung, Entschuldigung, Entschädigung
2. Rassismus und gesellschaftliche Debatten
3. Rassistische Parteien
4. Rassistische physische Gewalt als serielles Verbrechen
5. Institutioneller Rassismus: Polizei und Racial Profiling
6. Immer wieder Alltag(srassismus)
7. «Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.» Wörter und rassistisches Wissen
8. ‹Rasse› und ‹Hautfarbe›: Alter Rassismuswein in neuen Worthülsen
9. Aktuelle Gesetzgebung
Personenregister
Für Peggy Piesche, die immer sagt: «Pick your battles», und das, obwohl sie die genialste aktivistisch-intellektuelle Kämpferin ist, die mir je begegnete – und keinen Kampf für eine gerechtere Welt ohne Diskriminierung je auslassen würde.
Als der weiße Polizist Derek Chauvin am 25. Mai 2020 dem Schwarzen US-Amerikaner George Floyd die Luft abdrückte, hielt das die Welt in Atem. Nicht etwa, weil weiße Polizeigewalt gegenüber Schwarzen selten wäre: Zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 30. Juli 2020 starben allein in den USA rund 6000 Menschen durch Polizeigewalt, darunter über 1430 Schwarze, was 34 pro eine Million Einwohner entspricht, im Vergleich etwa zu 14 pro eine Million bei Weißen.[1] Eric Garner (2014), Michael Brown (2014) Michelle Cusseaux (2015), Breonna Taylor (2020) und George Floyd (2020) sind fünf von viel zu vielen. Die USA befinden sich noch immer inmitten eines Kampfes, von dem bereits Martin Luther Kings Jr. berühmte Rede I have a dream, gehalten am 28. August 1963 in Washington, D.C., spricht: der fehlenden Gleichheit von Schwarzen, wie sie sich etwa in der rassistischen Behandlung durch die Polizei äußert oder im Gesundheitswesen. Der Mord an George Floyd geschah aber nicht nur vor laufender Kamera. Er ereignete sich zudem inmitten der COVID-19-Krise, die soziale Ungleichheit wie unter einem Brennglas deutlich werden lässt. Denn auch wenn SARS-CoV-2-Viren nicht nach Alter, Herkunft, Pass, Geschlecht und der Position im Rassismus fragen, machen die Antworten auf die Pandemie genau das – Menschen in prekärer Beschäftigungssituation und mit geringem Einkommen können sich weder einen Shutdown noch Social Distancing finanziell leisten. Zugleich haben viele von ihnen keine Krankenversicherung, wodurch ihnen der Zugang zu medizinischen Behandlungen oder dem globalen Impfwettbewerb erschwert wird. Folglich sind es (neben Menschen mit Vorerkrankungen und älteren Menschen) vor allem einkommensschwache Personen, die schwere Verläufe erleben oder an COVID-19 sterben – und das wiederum sind, in den USA und darüber hinaus, wie der globale Vergleich zeigt, vornehmlich BIPoC (Akronym für Black, Indigenous and People of Color). Im Kontext dieser Erfahrungen wurde der gewaltsame Tod Floyds zum sprichwörtlichen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und eine Welle der Empörung auslöste. Im Rahmen der 2013 gegründeten Bewegung Black Lives Matter (BLM) ging sie um die Welt und sorgt auch in Deutschland bis heute für seismografische Ausschläge.
Tausende gingen hierzulande auf die Straße, und erstmalig wich die übliche Rede von Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit etwas nachhaltiger dem ‹Mut›, Rassismus beim Namen zu nennen. Und obwohl nur drei Monate zuvor in Hanau rassistischer Terror gewütet hatte und es in auch in Deutschland Fälle von Polizeigewalt gegenüber Schwarzen gibt, wunderten sich viele, was die Ermordung Floyds mit Deutschland zu tun habe – und warum es denn extra betont werden müsse, dass Schwarze Leben zählen. Würden denn nicht alle Leben zählen? Sowieso? Richtig, in dezidiert rassistisch organisierten Systemen wie etwa bei der europäischen Versklavung von Afrikaner*innen oder dem Nationalsozialismus (NS) war das nicht der Fall. Auch in der Jim-Crow-Ära oder der südafrikanischen Apartheid-Diktatur wurden Leben unterschiedlich bewertet und betrauert. Aber abgesehen davon? Die Antwort ist ebenso offensichtlich wie unerträglich: Rassismus ist ein globales Phänomen, das in alle Bereiche des Zusammenlebens eindringt. Und immer da, wo Rassismus waltet, tut er das mit dem (wenn auch nicht immer entsprechend de jure oder anderweitig verbalisierten) Ziel, Menschen aus dem (gleichberechtigten) Menschsein auszugrenzen. Je ‹weniger Mensch› aber, desto weniger menschenrechtswert. Nur wer dieses Credo des Rassismus verinnerlicht hat, kann über neun Minuten und 29 Sekunden lang einem Menschen das Atmen verwehren, der mehr als 20 Mal verzweifelt sagt: «I can’t breathe.» Diese letzten Worte Floyds sind schnell zur Metapher dafür geworden, dass Rassismus BIPoC von jeher systemisch daran hindert, sich in ihrem eigenen Leben sicher zu fühlen. BIPoC, also Schwarze, Indigene und People of Color (will sagen: alle, die vom Rassismus als außerhalb des Weißseins positioniert und deswegen diskriminiert werden) müssen sich tagtäglich Problemen stellen, die ihnen der Rassismus in ihr Leben implantiert. Das gilt in den USA ebenso wie in Deutschland.
Auch in Deutschland redet Rassismus mehr als ein Wörtchen dabei mit, wie Menschen leben. Der NS oder die NSU-Mordserie sind dabei nur die Spitze des Eisbergs. Doch wird nur diese betrachtet, bleibt das eigentliche Problem unbeleuchtet, und es lässt sich (guten Gewissens) erklären, dass mensch selbst so weder handeln noch denken würde. Mensch gibt sich einfach offen und liberal, reflektiert und solidarisch, kurzum: antirassistisch gut(willig) – und gut ist’s. Aber weil nur die Spitze des Eisbergs betrachtet und die eigentliche Größe des Problems entsprechend unterschätzt wird, bleibt der Rassismus intakt, und Gesellschaften samt vieler Menschen zerbrechen an ihm.
Zugleich bewirkt die Reduzierung von Rassismus auf diese gewaltvollen Spitzen, dass viele Weiße in Panik geraten, wenn etwas «rassistisch» genannt wird. Weil Rassismus so ungeheuerlich ist und so Ungeheuerliches getan hat, scheuen sich viele, vor allem weiße Personen, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Das macht Rassismus zum R-Wort (einem unverzeihlichen und oft unausgesprochenen Wort). Diese weiße Lebenswelt nennt die Antirassismustrainerin Tupoka Ogette «Happyland»: Hier wissen alle, «dass Rassismus etwas Schlechtes ist» – und schweigen gerade deswegen darüber. «Happyland ist eine Welt, in der Rassismus das Vergehen der anderen ist» – jener, die «mit Vorsatz» handeln. Folglich machen sich viele Weiße «vielmehr Sorgen darüber, rassistisch genannt zu werden, als sich tatsächlich mit Rassismus und dessen Wirkungsweisen zu beschäftigen».[2] Vielen fällt es leichter, Rassismus wegzuerklären, als ihn anzuschauen. Beschweigen und Verleugnen sind aber längst nicht die einzigen Bestandteile des Grenzschutzzauns von «Happyland». Dieser baut auch auf Frustration, Empörung oder Wut und darauf, Scham- und Schuldgefühle auf andere zu projizieren. Stichwort: Blaming the victim. Die Empörung richtet sich dabei nicht gegen den Gegenstand des Vorwurfs, sondern den Vorwurf selbst bzw. jene Person, die ihn erhebt – und wehrt diesen dabei ohne inhaltliche Bezugnahme ab. Nehmen wir nur die seit Sommer 2020 erneut entfachten Debatten um das M-Wort. Viele denken, wer es als rassistisch ansehe, dass es in Namen von Lebensmitteln oder Apotheken und Straßen vorkomme, sei uninformiert, hypersensibel und in jedem Fall zu politisch korrekt. Andere wollen über dieses Problem oder auch Rassismus im Allgemeinen sprechen, wissen aber teilweise nicht, wie. Ebendieser Wunsch, begreifen zu wollen, öffnet den Grenzzaun und damit den Weg zu Kompetenzen, mittels derer Rassismus bekämpft werden kann.
Dazu möchte das Buch einen Beitrag leisten. Zu dessen Credo gehört es, über Rassismus zu reden und zu schreiben, ohne ihn zu reproduzieren. Dafür muss erstens ein sprachlicher Fokus auf Akteur*innen und Vorgänge im Rassismus gerichtet werden. Das bedeutet etwa, dass ich eher in Aktiv- als in Passivsätzen schreibe: «Weiße diskriminieren Schwarze» statt «Schwarze werden diskriminiert». Auch in anderen Formulierungen bemühe ich mich, den Prozess selbst zu benennen. So spreche ich etwa von der europäischen Versklavung von Afrikaner*innen statt vom Transatlantischen Sklavenhandel: Während der Begriff «Handel» Legitimität suggeriert, drückt europäische Versklavung aus, dass es eines illegitimen Handelns bedurfte, wobei auch die Handelnden (Europa) benannt werden.
Zu meiner Strategie, Rassismus zu thematisieren, ohne ihn zu reproduzieren, gehört auch, dass ich rassistische Wörter nicht ausschreibe, sondern abkürze oder (bei der Ersterwähnung) typografisch absenke, um mit ihrem nachkolonial-rassistischen Überdauern zu brechen und Denkgewohnheiten zu irritieren. Es geht darum, Reflexionsprozesse anzustoßen und deutlich zu machen, dass diese Begriffe den Glauben an ‹Rassen› und eine entsprechende Bejahung des Rassismus im Wort führen. Ich kann Begriffe so aus einer analytischen Perspektive heraus benennen (z.B.: Kant benutzt immer das N-Wort) und zugleich die Macht rassistischer Wörter über die Gegenwart dadurch bändigen, dass ich rassistisches Vokabular nach dem oder den ersten Buchstaben abkürze. Das mache ich in diesem Buch nahezu durchgängig und konsequent (in wenigen Fällen schreibe ich die Wörter bei der Erstnennung aus, damit der Kontext klar ist); und dies tue ich entgegen verbreiteter wissenschaftlicher Praxis auch in direkten und indirekten Zitaten sowie dem Verzeichnis von im Text und in den Fußnoten angeführten Titeln und Werken. Damit setze ich der Gewalt, die diesen Wörtern in jedem einzelnen Gebrauchskontext innewohnt, Grenzen.[3]
Mittels solcher Strategien kann auf kritische, reflektierende und fragmentierende Weise über Rassismus gesprochen und wie hier geschrieben werden. Im ersten Kapitel werden Strategien und Auswirkungen von Diskriminierung im Allgemeinen und von Rassismus im Besonderen diskutiert, um daraus eine Definition abzuleiten. Das schließt ein, Rassismus von anderen Diskriminierungsformen und Begriffen abzugrenzen und seine verschiedenen Strömungen und Facetten vergleichend zu betrachten. Das zweite Kapitel durchmisst anschließend die globale Geschichte des Rassismus in Siebenmeilenstiefeln, wobei ein Augenmerk auf deutschen Prozessen liegt. Die jeweiligen Rassentheorien werden aus entsprechenden politischen Kontexten heraus betrachtet und philosophische und naturwissenschaftliche Texte, die Rassismus hervorgebracht und tradiert haben, im Kontext rassistischer Praxen analysiert. Das geschieht in gegebener Verschränkung von verschiedenen Rassismen (etwa Antisemitismus oder Rassismus gegenüber Schwarzen) sowie Ebenen des Rassismus (von Alltagsrassismus bis zu institutionellem Rassismus). Dabei ist es unerlässlich, die Spuren bis ins Mittelalter und in die Antike zurückzuverfolgen – wurde hier doch die Grundlage des modernen Rassismus geschaffen. Dieser Tiefenblick aus der Geschichte heraus lässt verstehen, dass Rassismus weder in der Aufklärung noch im NS aus dem Nichts entstand – und als jahrtausendealte Grammatik sozialer Ungleichheit auch nicht einfach so verschwinden wird. Aufbauend auf diesem historischen Abriss, folgt im dritten Kapitel eine Bestandsaufnahme von Rassismus in der Gegenwart – der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Politik, strukturell-institutionellem Rassismus und Alltagsrassismus sowie gesellschaftlichen Debatten. Deutschland steht dabei ebenso im Zentrum wie im Vergleich. Ein abschließendes Fazit reflektiert, was getan werden kann, um Rassismus die Stirn zu bieten.
Zur Geschichte der Menschheit gehört es, dass sich Gesellschaften immer wieder geopolitisch voneinander abgrenzen – mit allen dazugehörigen Konflikten und Kriegen, Eroberungen und Okkupationen, Ent- und Besiedelungen sowie Erzählungen, dass die Anderen anders seien: kulturell, religiös oder körperlich, in gegebenen Verschränkungen.
Nicht etwa, dass Abgrenzungsbestrebungen eine genetisch festgelegte und damit angeborene Eigenschaft des Menschen wären. Vielmehr geht es dabei um Herrschaft, die sich aus Machtkonstellationen erhebt. Solche Muster wurden und werden nicht nur zur Abgrenzung nach außen, sondern auch zur gesellschaftlichen Organisation nach ‹innen› benutzt. Alle gesellschaftlichen Ordnungen, von denen wir genauere Zeugnisse besitzen, haben sich so organisiert: Die einen haben/dürfen mehr als andere. Das ist nicht alternativlos. Aber eine wirklich gelebte Alternative dazu gibt es bislang kaum. Im Herzen dieser Abgrenzungen nach innen wie nach außen steht eine auch ökonomisch rentable politische Kulturtechnik, die in der Wissenschaft als Othering bezeichnet wird. Im Wortkern steckt das englische Wort other. Das ist als Andere zu übersetzen. Zu diesem Anderen gehört das Verständnis von sich selbst als Norm oder Normalität. Und genau darum geht es beim Othering.
Das Suffix ‹-ing› verweist darauf, dass das Andere nicht immer schon sowieso da ist. Nein, es wird gemacht, erfunden, hergestellt. Warum? Beim Othering geht es nicht einfach nur darum, das Eigene vom Anderen abzugrenzen. Es geht vor allem darum, klare Grenzen zu ziehen, um eine bestimmte Gruppe von Menschen als Norm(alität) zu setzen, aus der andere ausgeschlossen werden. Wer macht dies? Nicht die Anderen offensichtlich. Nein, das Othering ist etwas, das Menschen erfinden, um sich selbst als Norm(alität) zu setzen – und daraus Herrschaft und entsprechende Privilegien abzuleiten. Das aber muss mensch erst mal können. Hier kommt Macht ins Spiel. Denn nicht jede*r kann sagen: «Ich bin die Norm. Du bist anders.» Othering geschieht im Kontext von wirkmächtigen Systemen wie Sexismus oder Rassismus. Wenn etwa Oscar Wilde, der Ende des 19. Jhs. im Vereinigten Königreich wegen Homosexualität zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, im Gerichtssaal ausgerufen hätte, wer heterosexuell sei, sei nicht normal, hätte er das Gefängnis wohl nie mehr verlassen können.
Diese Selbstprivilegierung bewirkt wiederum die Diskriminierung der Anderen. Die Einen dürfen mehr als Andere, die Einen besitzen mehr als Andere, die Einen kontrollieren das Leben der Anderen, die Einen haben Zugang zu Ressourcen und Rechten – während ebendieser Zugang den Anderen verwehrt bleibt. Mit anderen Worten, das Ziel von Othering ist primär die Privilegierung der Einen; die Diskriminierung der Anderen ist Voraussetzung und Folge zugleich. Diskriminierung ist nicht allgegenwärtig, weil sie Menschen herabsetzen will. Sie ist es, weil sie einem bestimmten Personenkreis etwas zu bieten vermag, nämlich Macht und Herrschaft und auf diese Weise offerierte Privilegien (samt dem Instrumentarium, diese strukturell und institutionell abzusichern und moralisch und durch geteiltes Wissen zu legitimieren). Würden Diskriminierungen nur als negativ empfunden werden, könnten sich die betreffenden Strukturen, Institutionen und Diskurse nicht behaupten. Weil Diskriminierungen aber jenen Kreis von Personen, die Macht haben und diese in Herrschaftsstrukturen einspeisen, mit Privilegien ausstatten, haben sie Bestand.
Nicht nur Diskriminierte, sondern auch Diskriminierende sind also auf jeweils spezifische Weise mit Rassismus und dessen unterschiedlichen Manifestationen verbunden. Alle sind von den zugehörigen Wissensdiskursen gleichermaßen geprägt, sind in die gleichen Strukturen eingebunden und müssen sich denselben Institutionen stellen. Dennoch ist es charakteristisch für Privilegien, dass sie meist nicht einmal bemerkt werden. Das hat viel damit zu tun, dass sie auch ohne aktives Handeln zur Verfügung stehen. Weil das zugehörige System (samt der Privilegien, die es verteilt und verteidigt) weithin als normal und richtig angesehen wird, bietet es eine Struktur, Privilegien nicht als solche wahrzunehmen. Sie können nicht einmal leicht ausgeschlagen werden. Das ist ein roter Teppich, um sich von individueller Schuld und Verantwortung loszulösen. Es ist selbstverständlich sehr viel komfortabler, in der Annahme zu leben, dass die Welt so geschaffen sei, dass es mir – weil ich etwa ein weißer deutscher Mann sei – besser gehen müsse als anderen, und dass ich dazu berechtigt sei, Privilegien zu genießen, und mich daher auch nicht schlecht fühlen müsse. Es geht bei Diskriminierung also nicht nur darum, den einen Rechte und Privilegien zu sichern. Privilegierte sollen sich damit auch wohlfühlen und guten Gewissens glauben können, dass es seine Richtigkeit habe, wenn diese Anderen verwehrt bleiben – selbst wenn dies mit Gewalt einhergeht.
Hierbei greifen Konstruktionsprozesse, entsprechende Wissens- und Moralvorstellungen und Gesetzgebungen samt deren struktureller und institutioneller Umsetzung vermittels Macht und Herrschaft einander wechselseitig unter die Arme, wobei sie Handlungen prägen. Das vollzieht und vollzog sich analog und doch verschieden in unterschiedlichen lokalen Kontexten (entlang einer Binnendifferenzierung von etwa Geschlecht, Klasse, Religion oder Alter) und globalen Begegnungsgefügen. Letztere sind kulturell, religiös und rassistisch koloriert, wobei auch ökonomische, geografische, religiöse und linguistische Faktoren eine Rolle spielen.
Ebendieses Miteinander von Norm versus Othering und Privilegien versus Diskriminierung und deren Einbindung und Umsetzung in Strukturen, Institutionen, Gesetze, Moral und Wissen ist das Grundprinzip sozialer Ungleichheit, das gesellschaftliche Ordnungen im Inneren hierarchisch organisiert und hierarchisierende Abgrenzungen nach außen ebenso antreibt wie abrundet. Rassismus bewegt sich in ebendiesem Muster.
Das Othering des Rassismus baut darauf auf, Menschen nach ‹Rassen› zu unterteilen. Es gibt verschiedene Ideen dazu, aus welchen sprachlichen Kontexten heraus sich das Wort ‹Rasse› etabliert hat. Relativ sicher kann gesagt werden, dass das deutsche Wort ‹Rasse› – sowie auch das englische Wort race – aus den analogen Wörtern romanischer Sprachen, etwa Spanisch raza, Portugiesisch raça, Italienisch razza oder Französisch race, entlehnt wurde. Dabei leiten sich die romanischen Begriffe (aus der mediterranen spanisch/portugiesisch-arabischen Nähe heraus) möglicherweise wiederum aus dem Arabischen ra’s = Kopf, Ursprung ab – oder sie sind zumindest entsprechend geprägt.[1] Ra’s meint dabei, dass jemand seine Abstammung im Sinne seines Ursprungs (ras) im Kopf (ras) hatte, sie also auswendig kannte.[2] Diese Bedeutung wurde von den romanischen Sprachen aufgenommen und ausgeweitet.
Verwendungen des Wortes ‹Rasse›, die seit dem frühen 13. Jh. belegt sind, drücken die Idee aus, dass Natur und Abstammung Wesenszüge von menschlichen Verbünden (z.B. familiär) festlegen,[3] wobei eine Nähe zu den lateinischen Wörtern für (genealogische) Wurzel, radix, oder (genealogisches) Geschlecht, generatio, oder Natur/Wesen/Art, ratio, vermutet werden kann. So etablierte sich raça/raz(z)a als Vokabel für genealogisch verwandte Gruppen, wie etwa Dynastien – aber auch Familien im Allgemeinen.[4] Eine Binnennuancierung nach Klasse blieb dabei aber (im tradierten Sinne von eine ‹Rasse› haben) entscheidend.
Der früheste Beleg dafür findet sich 1438 bei Alfonso Martínez de Toledo, der eine bäuerliche und ritterliche Herkunft über den Begriff raza kontrastiert:[5] Mensch werde in eine Herkunft (und, verbunden damit, eine Art Tätigkeitsprofil) hineingeboren und bleibe dort auch, ohne eine andere zu begehren. Diese vererbungscodierte Klassenidentität spielt etwa im Streit zwischen dem französischen Geburts- und Amtsadel im 16. Jh. eine Rolle. Dem Geburtsadel drückte ‹Rasse› dabei im Sinne des arabischen ra’s aus, eine Ahnengenealogie vorweisen zu können, aus der eine ‹Reinheit des Blutes› spreche. In diesem Sinne ist etwa auch eine frühe deutsche Verwendung des Begriffes aus dem Jahr 1581 belegt: «eure Razza stirbt […] nicht aus», die das Deutsche Fremdwörterbuch 1977 «Riederer» zuschreibt, ohne zu spezifizieren, um wen es sich dabei genau handelt.[6]
In ebendiesem Sinne verwendeten die Statuten von Toledo zur limpieza de sangre (1449) ‹Rasse›, um Jüd*innen, Muslim*innen sowie Herätiker und H. (auch als Konvertierte) von den Altchrist*innen abzusetzen. So gesehen, sind Toledos Statuten von der Reinheit des Blutes die frühesten Zeugnisse des Gebrauchs von ‹Rasse› im Sinne des sich formierenden Rassismus. Seit Ende des 15. Jhs. finden sich weitere Belege für die christliche Vorstellung, sich als ‹weiße Rasse› im Kampf um Herrschaft als überlegene Norm aufzustellen. Folglich sind ‹Rassen› «Resultat, nicht Voraussetzung rassistischer Argumentation».[7]
Jedes Sehen des menschlichen Körpers beinhaltet eine soziale Dimension, schreibt Mary Douglas 1970. Das heißt, ohne das Verlangen, soziale Hierarchien und Grenzen herzustellen, bestünde auch nicht das Interesse, körperliche Grenzen zu erfinden.[8] Jede vermeintlich natürliche Sicht auf körperliche Unterschiede habe immer eine soziale Dimension. Denn ohne ein Interesse daran, soziale Unterschiede herzustellen, gäbe es auch kein Interesse an starren Grenzziehungen zwischen Körpern. Deswegen folgt es keineswegs reiner Willkür, welche Kriterien angelegt werden, um körperliche Unterschiede zu zementieren. Vielmehr zielt die zugehörige Logik auf ein Bewertungsverfahren ab, das dem jeweiligen gesellschaftlichen Machtkontext und dessen ökonomischen und politischen Interessen – sowie den gegebenen Möglichkeiten – angepasst ist.
Der eigentliche Zweck von ‹Rasse› war es, die europäische Kolonisierung der Welt zu legitimieren und Europa als allen Anderen überlegen zu konstruieren. Entsprechend wurden Körper so kartiert, dass sie diesem Zweck dienten. Aus einer Vielzahl möglicher und zumeist visuell sichtbarer körperlicher Merkmale wurden, schreibt Albert Memmi, aus einem weißen Machtzentrum heraus und in dessen Herrschaftsinteresse einzelne herausgenommen und zu Bündeln geschnürt, die vermeintlich naturgegebene Antithesen repräsentieren und entsprechend relevante Unterscheidungsmerkmale offerieren sollten.[9]
Schon ab der frühesten Verwendung im 15. Jh. taucht die Idee von Blut als Schauplatz von ‹Rasse› auf, jedoch eher als Metapher für Abstammung, nicht im eigentlich körperlich nachweisbaren Sinn. Dafür wurde zunächst das Konstrukt ‹Hautfarbe› bemüht: Unter Aufrufung der christlichen Farbsymbolik kam ein Abstraktionsprozess zum Tragen, der christliche Europäer*innen als ‹weiß› und damit (göttlich) überlegen deklarierte, wobei Afrika als schwarze stagnierende (Tier-)Natur die unterste Stufe zugewiesen wurde. Auch innerhalb Europas gab es Differenzierungen etwa entlang von Raum/Nation, Sprache/Kultur, unterschiedlichen christlichen Konfessionen sowie Geschlecht. Jedoch wurde von diesen innereuropäischen Grenzziehungen, allen realpolitischen Konflikten zum Trotz, abstrahiert, um eine gemeinsame weiße (christliche) Norm(alität) ins Zentrum der Welt zu stellen.
So als ‹weiß› codiert, drangen Rassentheorien später immer tiefer in den Körper hinein. Als sich etwa die klimatheoretischen Skalierungen von ‹Hautfarben› nicht mehr halten ließen, weil Kolonialismus hieß, dass Weiße in den Tropen und Schwarze in nördlichen Breitengraden lebten, wurden zusätzlich zu den Formen von Lippen und Nasen zunehmend auch Schädel, Skelette oder Geschlechtsorgane kartiert. Als die Zahl der so kartierten ‹Rassen› an der Wende zum 20. Jh. etwa 100 erreichte und das Modell dennoch kaum weniger überzeugte, wurde postuliert, dass ‹Rassen› über das Blut genetisch nachweisbar wären. Und seit das widerlegt ist, gibt es einen Backlash – den Rückschlag, wieder verstärkt auf ‹Hautfarben› zurückzugreifen. Ergänzend dazu wird die Strategie verstärkt, Körperlichkeiten (etwa auf Bartkosmetik oder Kleidung) auszulagern.
Den so konstruierten körperlichen Unterschieden (und den diesbezüglichen Kriterien) wurden, so Memmi weiter, bestimmte soziale, kulturelle und religiöse Eigenschaften und Verhaltensmuster zugeschrieben – und verallgemeinernd und verabsolutierend gewertet und hierarchisiert. Dabei spielten sich Theolog*innen, Philosoph*innen und Naturwissenschaftler*innen in einem paneuropäisch weißen Projekt wechselseitig in die Hände. Um das ‹Rasse›-Othering von weiß versus Schwarz/gelb/rot zu fundieren, wurde der Natur-Kultur-Binarismus mobilisiert, der sich als Vernunft-versus-Emotion-Paradigma ausformte. Für diese Konstruktion baute die sogenannte «Chain of being» aus antiken, mittelalterlichen und humanistischen Philosophien heraus eine ideologische Pyramide: Menschen stünden sowohl über den Mineralien, Pflanzen, Tieren als auch unter dem Göttlichen. Ebendieses Muster wurde dann aus den Rassentheorien heraus zur Binnendifferenzierung von Menschen benutzt: je näher dem Göttlichen, umso überlegener, weil Verkörperung von Kultur; je näher den Tieren, desto unterlegener, weil Teil von Natur. Und so wie die anthropozentrische Logik den Menschen (als Repräsentanz von Kultur) die Natur als Ressource ansehen lässt, die von Menschen gebändigt oder gezähmt werden müsse (was sich in Unterwerfung, Ausbeutung, Herrschaft übersetzt), gilt das auch für soziale Ordnungen und deren menschliche Interaktionen: Jene, die mehr Kultur seien, dürfen, ja, müssten jene unterwerfen, will sagen ‹zivilisieren›, die Natur verkörpern. Denn je mehr Natur, desto mehr der Kultur unterlegen und deswegen weniger Mensch – und je weniger Mensch, desto weniger Anspruch darauf, menschenwürdig behandelt zu werden.
Im Kern läuft dieser «Manichäismus»[10] auf die Formel «Kultur versus Natur», also Weiß versus Schwarz, Gut versus Böse, Errettung versus Verdammnis, ‹Zivilisation› versus Wildheit/B., Überlegenheit versus Unterlegenheit, Intelligenz/Rationalität versus Emotion und Subjekt versus Objekt [11] und damit auf eine Legitimierung sozialer Ungleichheit hinaus. Es sei von Natur aus definiert, dass die Einen zum Herrschen und Besitzen, die Anderen zum Dienen und Besessen-Werden geboren seien. Geografische Differenzen entsprächen dabei körperlich kartierbaren religiösen, kulturellen und mentalen Unterschieden. Je mehr Kultur und Mensch, desto mehr Verstand, Fortschritt und ‹Zivilisation› – und daher Berechtigung und Berufung, über jene zu herrschen, die all dies vermeintlich nicht verkörpern. Aus dieser Logik heraus galt Kolonialismus als ebenso zwangslogisch wie moralisch gerechtfertigt. Weil Weiße die Einzigen seien, die ‹Zivilisation› verkörperten, sei es eine weiße Bürde, konkret die des «weißen Mannes»,[12] die Welt zu ‹zivilisieren›. Von hier war es nur ein kurzer Schritt, sich diese vermeintliche ‹Zivilisationsarbeit› durch Ressourcen und/oder un(ter)bezahlte Arbeitskräfte vergüten zu lassen – und entsprechende Gewalt zu legitimieren.
Dieses Prinzip hat Rassismus in den nachfolgenden Jahrhunderten nie verlassen, nur bestärkt. Das Ziel war und blieb, weiße Ansprüche auf Herrschaft, Macht und Privilegien zu legitimieren und zu verfestigen – und umgekehrt die entsprechend Anderen davon auszuschließen. Rassismus wuchs zu einer jahrtausendealten Macht- und Herrschaftsstruktur heran, die immer noch nach der Zukunft greift. Noch heute bauen europäische und nordamerikanische Industriestaaten ihre Bruttoinlandsprodukte auf Rohstoffen und viel zu billigen Arbeitskräften aus dem Globalen Süden auf, während die ‹westliche›[13] Massentierhaltung dort lokale Fleischmärkte überrollt und ‹westliche› Waffengeschäfte Menschen in der MENA-Region (Middle East and North Africa) töten. Nur die Rassismuslogik macht es plausibel, dass der Globale Norden einen privilegierten Zugriff auf Rechte, Ressourcen, ökonomische, rechtliche, soziale, gesundheitliche Privilegien und damit Lebensqualität hat(te) – obwohl dies auf Kosten der Anderen geht. Auch innerstaatliche Muster von ungleicher Verteilung von Wohlstand bis Repräsentation, Sicherheit bis Zugehörigkeit sind in ‹westlichen Staaten› rassistisch codiert.
Die Meinungsfreiheit lässt ausreichend Raum dafür, etwas als rassistisch oder eben auch nichtrassistisch zu bezeichnen. Am Ende aber ist Rassismus keine Meinung, sondern eine Macht- und Herrschaftsstruktur, die vermittels Privilegierung und Diskriminierung Leben bewertet, beeinflusst, beeinträchtigt und beendet. Letzteres ist laut Grundgesetz (1949: Art 1, Abs 1; Art. 3, Abs. 3), StGB (1871: § 130 & § 186ff.) sowie dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verboten. Letztlich aber darf die Frage, was Rassismus ist, weder Meinungen noch Gerichten allein überlassen bleiben. So wie die Erde den Menschen ohne wissenschaftlich fundiertes Wissen eine Scheibe geblieben wäre, ist es letztlich ebenso möglich wie notwendig, Befunde darüber, ob etwas rassistisch ist oder nicht, wissend herzuleiten und wissenschaftlich zu unterfüttern. Aus meiner Herleitung ergibt sich, Rassismus auf die knappe Formel «white supremacy», Vorherrschaft (und Privilegierung) von Weißsein, zu bringen. Diese hat gesellschaftliche, wirtschaftliche, juristische, kulturelle und politische Strukturen und Institutionen implementiert, welche Moralvorstellungen, Wissen und Handlungen ebenso prägten, wie sie von diesen getragen wurden. Deswegen sind struktureller/institutioneller und Alltagsrassismus zwei Seiten des gleichen Systems. Rassismus hat System, weil er so allumfänglich ist und aus der Wiederholung heraus lebt. So aufgestellt, ist Rassismus auch jenseits von Vorsatz oder individuellen Intentionen wirkmächtig. Entsprechende gesellschaftliche Diskurse «wiegen schwerer als eigene Erfahrungen und sind allzu häufig immun gegen Einwände. Brüche und Widersprüche zwischen Bildern und Erfahrungen werden geglättet.»[1] Dämonisierung (und entsprechende Beleidigungen) sowie Exotisierung (und entsprechende Komplimente) sind dabei zwei Seiten der gleichen Medaille. Auch Paternalismus und zu Paradoxien führende Scheinheiligkeiten gehören zum Gesamtbild, das Rassismus ermöglicht, die Welt dem Weißsein passfähig zu machen.
Entsprechend wirkt Rassismus als physische Gewalt durch Massaker, Genozide, Pogrome und Terroranschläge sowie über strukturell-institutionelle Gewalt: etwa in Form von diskriminierenden Gesetzgebungen (u.a. der Verweigerung von Rechten, Besteuerungen, Eugenik, Vertreibungen und Betätigungsverboten) und, über direkte Gesetze hinaus, durch Diskriminierung bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche, im beruflichen Werdegang sowie durch Ungleichbehandlung bei polizeilichen Maßnahmen. Diese Gewalt, diese Strukturen und Institutionen prägen Moralvorstellungen und Wissen und umgekehrt. Daraus ergibt sich epistemische Gewalt. Rassistisches Wissen prägt Kunst, Musik oder Literatur ebenso wie Theologie, Natur-, Sozial- oder Kulturwissenschaft. Dies wiederum rahmt Alltagsdiskriminierung im Spektrum von (stereotypisierenden bis beleidigenden) Mikroaggressionen und Ausgrenzungsrhetoriken, die sich im Zirkelschluss auch als Praktiken, Gewalt, Strukturen, Institutionen äußern.
Jedes Sprechen über Rassismus ist immer vom Minenfeld seiner Geschichte und Gegenwart umzingelt – und von der Frage, wie dies benannt und zugleich aufgebrochen werden kann, damit ich über Rassismus sprechen kann, ohne ihn und seine Giftwirkung zu reproduzieren. Das geht schon dabei los, wie ich den Begriff ‹Rasse› verwende.
«Rassen gibt es nicht», schreibt Collette Guillaumin, «und doch töten sie.»[1] ‹Rassen› gibt es nicht, Rassismus schon. Deswegen muss über die Macht des biologistischen Konstruktes ‹Rasse› gesprochen werden und darüber, dass dieses dem Rassismus das Instrumentarium bietet, das Menschen entlang körperlicher Raster in Muster von Diskriminierung und Privilegierung einsortiert. Vor diesem Hintergrund hält es der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Shankar Raman für unabdingbar, sich dem Begriff ‹Rasse› als wichtigster Kategorie des Rassismus offensiv zu stellen und den notwendigen Kampf um die Bedeutung von ‹Rasse› zu führen, um sich diesen Begriff aus antirassistischer Sicht anzueignen. Er schlägt eine doppelte Denkbewegung vor. Von ‹Rasse› als biologistischem Konstrukt (und daher in Anführungszeichen geschrieben) führt sie weg, und zwar hin zu Rasse (kursiv geschrieben) als soziale Position. Er bezeichnet diese Denkbewegung als ‹Racial Turn›.[2]
In ebendiesem Sinne schreibe ich in diesem Buch ‹Rasse› in einfachen Anführungszeichen, wenn es sich um das biologistische Konstrukt handelt; und Rasse in Kursivschrift, um auf die soziale Position hinzuweisen, die Rassismus erzeugt(e). Ebenso wenig wie das biologistische Konzept ‹Rasse› nicht jenseits seiner Geschichte von Wertungen und Gewalt existieren kann, kann mensch nicht über die ‹Rasse› einverleibte Geschichte von Wertungen, Gewalt und entsprechend erzeugter sozialer Ungleichheit sprechen, ohne nicht auch Rasse als soziale Position zu adressieren. ‹Rasse› wohnt von Beginn an der Idee von Rassismus inne (den es schon vor der offiziellen Benennung von ‹Rassen› gab). Deswegen kann Rassismus umgekehrt nicht besprochen werden, ohne Rasse an- und auszusprechen. Und so wie es einen Unterschied macht, ob ‹Rasse› biologistisch oder als Rasse sozialkritisch geschrieben wird, ist auch rassistisch nicht dasselbe wie ‹rassisch›. Aus Letzterem spricht die Idee von ‹Menschenrassen›. Dagegen ist ‹rassistisch› der in diesem Kontext notwendige Analysebegriff, welcher die so erzeugten und damit verbundenen Effekte, Wirkweisen oder Zuschreibungen zu benennen und anzugreifen vermag.
Seit Beginn dieses Buches spreche ich von BIPoC und weißen Personen und stehe damit mitten in der (Farb-)Codierung des Rassismus. Einerseits. Denn andererseits habe ich sie mit antirassistischen Vokabeln überschrieben: Nicht etwa von einer Schwarzen oder weißen ‹Rasse› ist hier die Rede, sondern von durch Rassismus positionierten Menschen. Diese Verwendungen stehen also nicht für biologistische Kategorien, sondern für soziale Positionen.
So wie Frauen nicht als Frauen geboren, sondern dazu gemacht werden – um Simone de Beauvoir frei zu zitieren[3] –, werden auch Männer vom Patriarchat dazu geformt, wie Männer zu ticken. Analog dazu werden Menschen beispielsweise in Schwarze oder weiße/