Daniel Hedinger
DIE ACHSE
Berlin–Rom–Tokio
1919–1946
C.H.Beck
Ein Jahrzehnt lang schien nichts den Aufstieg der Achsenmächte stoppen zu können. Im Sommer 1942 beherrschte das Bündnis zwischen Deutschland, Italien und Japan weite Teile der Welt. Doch innerhalb weniger Jahre scheiterte die Achse: nicht nur militärisch, sondern auch moralisch. Im Rückblick galt vielen das Bündnis als schwach und relativ unbedeutend für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Anhand umfangreicher Archivrecherchen schreibt Daniel Hedinger seine Geschichte neu und zeigt, wie stark die drei Regime miteinander verbunden waren. Erst ihr Zusammenwirken schuf eine Dynamik, die für einen kurzen, erschreckenden Moment eine Umgestaltung der Welt nach faschistischen Grundsätzen möglich werden ließ. Die drei Regime radikalisierten sich wechselseitig, gewannen dadurch an Dynamik und entwickelten in der Folge internationale Sprengkraft. Gleichzeitig beschränkte sich ihr Projekt nie allein auf die geopolitische Umverteilung der Welt. Vielmehr strebten die Achsenmächte eine faschistische Neuordnung an, die radikal mit allem Bestehenden brechen sollte. Ihr Bündnis gründete also auf ideologischen Gemeinsamkeiten und geteilten Weltanschauungen. Vor dem Hintergrund aktueller weltpolitischer Entwicklungen erscheint Daniel Hedingers Geschichte der Achse, die zugleich auch eine Globalgeschichte des Faschismus bietet, plötzlich eigenartig vertraut und bedrohlich nahe.
Daniel Hedinger ist Privatdozent am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Einleitung
PROLOG: Ein Frieden ohne Sieger.
Frühjahr 1919
Orlandos Tränen und die Neuordnung der Welt
Eine neue Diplomatie:
Wilsons Moment und Konoes Antwort
Verpasste Chancen
Deutsche Abwesenheit
Die Zuspätkommenden und die faschistische Revolution
Hitler, Konoe, Mussolini:
Der Auftritt der «neuen Männer» und ihrer
«proletarischen Nationen»
Der Frieden, sein Scheitern und die Geschichte
des 20. Jahrhunderts
Teil 1: GRAVITATION
1932–1935
I: Der erste globale Moment des Faschismus.
Herbst & Winter 1932/33
Römische Universalitäten
Der japanische Faschismusboom
Die Nationalsozialisten und die letzten Tage
der Weimarer Republik
Japan geht eigene Wege
An der Macht
Die Genese glokaler Faschismen
II: Ein faschistischer Krieg.
Abessinien und der imperiale Nexus der Achse.
Winter 1935/36
Römische Weihnachten
Japanische Solidaritäten
Deutsche Profiteure
Die kolonialen Ursprünge des Appeasements
Der mandschurische Impuls
Faschistische Kriegsführung und koloniale Räume
Proletarischer Imperialismus
Der imperiale Nexus
Teil 2: KOOPERATION
1936–1939
III: Der Antikominternpakt und die Globalisierung der Achse.
Herbst 1936
Der Pakt
Eine faschistische Revolte in Tokio
Der Beginn einer Dreiecksbeziehung
oder die Genese der Achse
Der Spanische Bürgerkrieg und der Xi’an-Zwischenfall
Italiens Beitritt oder die Globalität der Achse
IV: Faschisten auf Reisen. Imperiale Peripherien und die Ästhetisierung der Politik.
Frühjahr 1938
Globaler Faschismus und sein Spektakel
Totale Eskalation: Der Krieg in China
Die Freundschaftsmission des PNF in der Ausstellung des Heiligen Krieges
Die Feste des Faschismus
Europäische Faschisten im Dienst des Panasianismus
München: Die Apotheose des Appeasements
Teil 3: ESKALATION
1940–1942
V: Der deutsche Blitzkrieg, die Neuordnung Ostasiens und der Dreimächtepakt.
Frühling & Sommer 1940
Der Fall Frankreichs
Der Kriegsausbruch in Europa:
Die Stunde der Enttäuschten und Getäuschten
Faschistische Chronopolitik:
Der deutsche Blitzkrieg
Die deutschen Siege aus der Perspektive der Achsenpartner
Die japanische Neuordnung und ihre Trinität:
Südvorstoß, Einparteiensystem und Dreimächtepakt
Der Dreimächtepakt
VI: Der totale Krieg und die Neuordnung der Welt.
Jahreswende 1941/42
Pearl Harbor und die Krise vor Moskau
Die Klärung der Fronten. Die japanisch-amerikanischen Verhandlungen und das «Unternehmen Barbarossa»
Japans Blitzkrieg
Die Kriegserklärung an die USA und die Verwirklichung des faschistischen Weltanschauungskriegs
1942: «Auf Messers Schneide»
Faschistischer Imperialismus und Mobilisierung in den letzten Kriegsjahren
EPILOG: Die faschistische Weltverschwörung vor Gericht.
Frühling–Herbst 1946
Synchrones Vergessen oder ein letzter globaler Moment des Faschismus
Die Choreografie des Untergangs der Achse
Italien geht seine eigenen Wege
Nürnberg, Tokio und die faschistische Weltverschwörung
Die historiografische Beseitigung der Achse
Entflochtene Geschichte.
Der Weltkrieg, sein imperialer Nexus und der Faschismus
SYNOPSIS: Die Achse Berlin–Rom–Tokio, der Faschismus und der perfekte Sturm
Dank
ANHANG
Anmerkungen
Einleitung
Prolog: Ein Frieden ohne Sieger. Frühjahr 1919
Teil 1: Gravitation.1932–1935
I: Der erste globale Moment des Faschismus.
Herbst & Winter 1932/33
II: Ein faschistischer Krieg. Abessinien und der imperiale Nexus der Achse.
Winter 1935/36
Teil 2: Kooperation
1936–1939
III: Der Antikominternpakt und die Globalisierung der Achse.
Herbst 1936
IV: Faschisten auf Reisen. Imperiale Peripherien und die Ästhetisierung der Politik. Frühjahr 1938
Teil 3: Eskalation. 1940–1942
V: Der deutsche Blitzkrieg, die Neuordnung Ostasiens und der Dreimächtepakt. Frühling & Sommer 1940
VI: Der totale Krieg und die Neuordnung der Welt.
Jahreswende 1941/42
Epilog: Die faschistische Weltverschwörung vor Gericht.
Frühling–Herbst 1946
Synopsis: Die Achse Berlin–Rom–Tokio, der Faschismus und der perfekte Sturm
Bibliografie
1. Quellen
a) Abkürzungen: Archive und Quellensammlungen
b) Zeitschriften und Zeitungen
c) Publizierte Quellen
2. Darstellungen
Abbildungsnachweis
Personenregister
Karten
Nichts schien den Aufstieg der drei Mächte aufzuhalten. Am 18. Januar 1942, nach einem Jahrzehnt der Expansion, teilten Deutschland, Japan und Italien die Welt vertraglich unter sich auf. Sie taten dies entlang des «70. Grads östlicher Länge».[1] Dies entsprach einer Linie, die sich quer durch die Sowjetunion, nur wenig hinter dem Ural, bis nach Britisch-Indien zog. Die östliche Sphäre fiel dem japanischen Kaiserreich zu, die Westliche hatten sich die beiden europäischen Partner zu teilen. In den folgenden Monaten näherten sich ihre Armeen dieser fiktiven Grenze scheinbar unaufhaltsam an. Mitte des Jahres, auf dem Höhepunkt ihrer Expansion, herrschten die Drei über gewaltige Imperien, die im Osten in die Tiefen des Pazifiks und bis an die Grenzen Indiens und Australiens reichten. Im Westen erstreckten sie sich vom Nordkap und der Atlantikküste, nach Nordafrika und bis weit nach Russland hinein. Für kurze Zeit schien es, als stünde der Realisierung einer neuen Weltordnung durch das Bündnis zwischen Deutschland, Japan und Italien nichts mehr im Wege.
Dieses Buch erzählt die Geschichte der Achse Berlin–Rom–Tokio. Es handelt davon, wie die drei Mächte sich fanden und wie sie beim Versuch, die Welt global neu zu ordnen, diese in einen Krieg von nie da gewesenem Ausmaß stürzten. Ihr Traum von einer neuen Weltordnung mag nur von kurzer Dauer gewesen sein. Doch es war ein geteilter Traum. Denn innere Radikalisierung und äußere Expansion erfolgten nicht im abgeschlossenen Rahmen nationaler Biotope. Vielmehr war die Achse ein Produkt transnationaler Kooperation und Interaktion: Die drei Regime radikalisierten sich wechselseitig, gewannen an Dynamik und entwickelten in der Folge internationale Sprengkraft. Gleichzeitig beschränkte sich ihr Projekt nie allein auf die geopolitische Umverteilung der Welt. Vielmehr strebten die Achsenmächte auch eine Umgestaltung aller sozialer und kultureller Ordnungen an. Ihre Neuordnung sollte faschistischer Natur sein und radikal mit allem Bestehenden brechen. Damit gründete das Bündnis auf ideologischen Gemeinsamkeiten und geteilten Weltanschauungen. Das Folgende ist daher auch eine Globalgeschichte des Faschismus.
Das Buch bietet Synthese und Interpretation zugleich: Eine Synthese ist es, indem es die geteilte Geschichte der drei Länder in längeren Verläufen vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nachzeichnet. Im Fokus stehen dabei acht globale Momente – der erste im Frühjahr 1919, der letzte im Herbst 1946. Eine Synthese ist es auch, indem es erstmals die Geschichte der Achse unter Berücksichtigung aller drei Mächte behandelt; gleichzeitig finden die Perspektiven Außenstehender und Gegner der Achse Beachtung. Eine Interpretation bietet das Buch insofern, als es das Bündnis als starkes, folgenschweres und global ausgreifendes Gebilde beschreibt. Dies kommt einer Neubewertung der Achse gleich, hat doch die Historiografie ihre bündnispolitische Qualität für gering erachtet. Eine Interpretation liefert es aber auch, indem es die ideologische Fundierung des Bündnisses betont und damit den Blick auf den Faschismus als ein globales Phänomen der Zwischenkriegszeit lenkt.
Hinsichtlich der drei Nationen impliziert eine verflochtene Geschichte der Achse jeweils Unterschiedliches: Japan wird hier nicht als peripherer Fall oder sekundärer Akteur beschrieben, der sich den europäischen Partnern spät und letztendlich nur halbherzig annäherte; vielmehr erscheint das Kaiserreich als regionaler Hegemon, von dem die erste Herausforderung der Nachkriegsordnung ausging. Italien und sein Faschismus wiederum spielen in dieser Geschichte gerade in ihren globalen Verästelungen eine viel tragendere Rolle, als dies dem Land meist zugestanden wird. Und für das Deutsche Reich ermöglicht diese Perspektive eine Einbettung in den internationalen Kontext der Zwischenkriegszeit. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass der Nationalsozialismus oft sui generis verstanden wird und isoliert vom Rest der Welt Betrachtung findet.
Dieses Buch fordert einige der vorherrschenden Ansichten sowohl in Bezug auf die Bedeutung der Achse sowie hinsichtlich der Reichweite des Faschismus heraus. Als Interpretation weist es dabei gleichzeitig über die eigentliche Bündnisgeschichte hinaus. Denn eine geteilte Geschichte der Achse impliziert dreierlei: Erstens trägt sie zu einer Globalgeschichte des Zweiten Weltkrieges bei, lenkt sie doch den Blick auf die Globalität des Konflikts. Erst durch die Kooperation zwischen Berlin, Rom und Tokio begannen sich im Laufe der Dreißigerjahre die europäischen und asiatischen Krisen und Kriegsschauplätze zu verbinden. Und auch der Prozess der Globalisierung des Weltkrieges, der sich in den zwei Jahren zwischen dem deutschen Überfall auf Polen und dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor vollzog, bleibt jenseits der Geschichte des Bündnisses unverständlich. Zweitens lenkt die Geschichte der Achse die Aufmerksamkeit auf koloniale Kontexte und transimperiale Ursachen des Weltkrieges. Denn imperiale Räume, etwa die Mandschurei oder Äthiopien, spielten sowohl bei der Genese des Bündnisses als auch der Eskalation des Krieges eine zentrale Rolle. Letztendlich waren es Deutschlands Partner, die primär die Verantwortung dafür trugen, dass der asiatische, afrikanische und amerikanische Kontinent involviert wurden. Erfolgreiche Expansion wirkte dabei wechselseitig anziehend; so entstand ein imperialer Nexus, der die drei Mächte aneinanderband und den Weg in den Weltkrieg ebnete. Drittens erscheint angesichts der Geschichte der Achse Faschismus nicht als ein auf Europa beschränktes Projekt, sondern als ein globales Phänomen, ein Weltordnungsentwurf und damit als ein dritter Weg, angesiedelt zwischen Kapitalismus und Kommunismus.
Die «Achse» ist ein Begriff, der noch heute manche Verwirrung anzurichten imstande ist. Erstmals breitenwirksam Verwendung fand er in einer Rede von Benito Mussolini. Am 1. November 1936 beschwor der Duce vor Hunderttausenden von Menschen auf dem Mailänder Domplatz eine Achse Rom–Berlin, um die er in Zukunft Europa rotieren lassen wollte.[2] Für Europa war die von Mussolini wohl eher beiläufig gewählte Metapher durchaus treffend: Rom und Berlin liegen praktisch auf einem Längengrad. Und für ein paar Jahre sollte es tatsächlich danach aussehen, als könne das Bündnis beider Staaten sowohl den Westen als auch den Osten des Kontinents um sich rotieren lassen. Doch schwieriger gestaltete sich der Einbezug Tokios. Die deutsche Seite, in solchen Fragen vielleicht stets etwas präziser, sprach in der Folge gerne von einem «weltpolitischen Dreieck».[3] Auf Deutsch und Italienisch ist mit «Achse» daher noch heute primär die Verbindung zwischen Rom und Berlin gemeint.
Im außereuropäischen beziehungsweise angelsächsischen Bereich gab es diese Einschränkung jedoch nie. Hier war die Inklusion Japans schon für die Zeitgenossen selbstverständlich. Das Bündnis zwischen Berlin, Rom und Tokio mochte auf Karten abgebildet ein spitzwinkliges, krass überdehntes Dreieck darstellen und keineswegs eine gradlinige, robuste Achse (Abbildung 1). Doch in Japan selbst löste dies kaum grundsätzliche Zweifel aus – weder an der Begrifflichkeit noch an der gewagten Bündniskonstellation. Vielmehr eigneten sich die dortigen Medien und politischen Eliten das Schlagwort umgehend an.[4] Letztendlich aber waren es in erster Linie Außenstehende und Gegner, die den Begriff «Achse» in diesem erweiterten Sinne nutzten. Prominenz erlangte er so zunächst vor allem in linken Kreisen im Kontext der Kriege in Spanien und China.[5] Viele Zeitgenossen gingen zu diesem Zeitpunkt von einem starken, dynamischen und global ausgreifenden Bündnis faschistischer Mächte aus. Insbesondere nach Pearl Harbor schloss im angelsächsischen Raum die Rede von axis powers dann sowieso stets auch Japan mit ein.[6] Daran hat sich bis heute nichts geändert und in diesem Sinne findet der Begriff hier Verwendung.
Das eigentliche Bündnis bestand aus einem komplexen Netzwerk an Verträgen, das laufend ausgebaut wurde. Den Anfang machte der deutsch-japanische Antikominternpakt vom 25. November 1936. Diesem schloss sich Italien ein Jahr später an. Der Prozess gipfelte im September 1940 im Dreimächtepakt. Doch das sind nur die zentralen Eckpunkte, denn zwischen 1936 und 1943 verging kein Jahr, in dem nicht zumindest zwei der drei Mächte weitere Abkommen schlossen. Zudem umfasste das Bündnissystem der Achse eine ganze Reihe von weiteren «Partnern»: Noch vor Kriegsausbruch in Europa traten Mandschukuo, Spanien und Ungarn dem Antikominternpakt bei. Und den Dreimächtepakt unterschrieben auch Ungarn, Rumänien, die Slowakische Republik, Bulgarien und der Unabhängige Staat Kroatien. Sie alle zählten schließlich auch zu den Unterzeichnern des Antikominternpakts, der am 25. November 1941 in Berlin um fünf Jahre erneuert wurde. Dänemark, Finnland und Nanjing-China gesellten sich nun ebenfalls dazu. Doch den nachträglich dem Bündnis beigetretenen Staaten wurde ein gleichwertiger Status verweigert, handelte es sich doch meist um Vasallenstaaten oder besetzte Gebiete. Damit internationalisierte die Achse das Ideal faschistischer Hierarchisierung. Letztendlich scheiterte das Bündnis kläglich. Daher lassen sich die Grundzüge der angestrebten faschistischen Weltordnung nur in Umrissen erkennen. Doch vom Scheitelpunkt um 1942 aus betrachtet, spricht alles dafür, dass eine rassistisch hierarchisierte Weltordnung basierend auf imperialen Großräumen das Resultat eines Sieges der Achse gewesen wäre.
Weit mehr als andere neigen Faschisten zu nationalen Essentialisierungen und gegenseitigen Überbietungswettbewerben. Kooperationsschwierigkeiten und Koordinationsschwächen, anhaltende Distanzen und Spannungen, unterbrochene Verbindungen und gescheiterte Transfers sind daher ebenso Bestandteil der Geschichte der Achse wie gesteigerte Verflechtung zwischen den drei Ländern. Und dennoch lässt sich die Destabilisierung der Weltordnung der Zwischenkriegszeit nur im Kontext einer geteilten Geschichte Deutschlands, Japans und Italiens verstehen. Denn alle drei Mächte vermochten vom Vorpreschen der jeweils anderen zu profitieren. Doch erst die Kooperation erlaubte es ihnen, die isoliert nicht über die entsprechenden Mittel verfügt hätten, die Versailler Nachkriegsordnung grundlegend herauszufordern. In diesem Sinne war die Achse Berlin–Rom–Tokio stets mehr als die Summe ihrer Einzelteile. In dieser Konstellation gewann sie bis Mitte 1942 laufend an Momentum, wobei sich für gut ein Jahrzehnt außenpolitisch-militärische mit ideologischen Erfolgen scheinbar nahtlos ergänzten.
In der umfangreichen Literatur zum Zweiten Weltkrieg fristet die Achse Berlin–Tokio–Rom ein Schattendasein. Denn obwohl die drei Länder die Welt in den Krieg stürzten, ist ihre geteilte Geschichte wenig erforscht. Die Arbeiten, die sich des Themas annahmen, haben das Bündnis kleingeschrieben – etwa als eine «kraftlose, internationale Grimasse», als «hohle Allianz» oder «Allianz ohne Rückgrat», als «Papiertiger», «Sandburg» oder «Scheinbündnis».[7] Diese Lesart war ein Produkt der unmittelbaren Nachkriegszeit und des Kalten Krieges, doch sie wirkt bis heute fort.[8] Im Lauf der Jahrzehnte hat sie auch ihren Weg in die allgemeine Literatur zum Zweiten Weltkrieg gefunden.[9] Dabei ist das Bündnis nach 1945 stark von seiner Niederlage her gedacht worden. So gesehen glauben wir, die Geschichte der Achse zu kennen und kennen doch nur ihr Ende.
Die auf die Achse Berlin–Rom–Tokio fokussierte Literatur fand meist aufgrund bilateraler Beziehungsgeschichten zu ihrem Urteil. Dabei dominierten politik- und diplomatiegeschichtliche Perspektiven, die um ideologische Fragen einen weiten Bogen machten. Zur Verbindung Tokio–Berlin beziehungsweise Berlin–Rom liegt eine ganze Reihe von Studien vor, ohne dass sich die jeweiligen Forschungsstände viel zu sagen hätten.[10] In Bezug auf die deutsch-italienischen Beziehungen lässt sich seit einiger Zeit die Tendenz zu einer Neubewertung beobachten.[11] Die Achse Rom–Tokio hingegen fand lange kaum Beachtung.[12] Insgesamt jedoch neigen bilaterale Studien dazu, Logik und Dynamik des trilateralen Beziehungsgeflechts auf nationalgeschichtliche Paarbeziehungen zu reduzieren. Sie sind damit kaum in der Lage, die Destabilisierung der Weltordnung während der Dreißigerjahre in ihrem globalen Kontext zu erfassen.
Das Buch versteht sich auch als ein Beitrag zu einer Globalgeschichte des Faschismus. Dafür greift es neuere Ansätze einer transnationalen Faschismusforschung auf, welche die Aufmerksamkeit auf Phänomene wie Hybridisierungen, Relokalisierungen oder Gravitation gelenkt haben.[13] Gerade die Geschichte der Achse Berlin–Rom–Tokio bietet sich dafür an, stellt sie doch die herkömmliche Vorstellung von faschistischem Original und Kopie, Zentrum und Peripherie nachhaltig infrage. Faschismus war eine auf die Wiedergeburt der Nation abzielende Ideologie.[14] Auch um dies zu zeigen, eignet sich die geteilte Geschichte der Achsenmächte. Denn in allen drei Ländern versuchten Faschisten mit Hilfe ultranationalistischer Programme die sozialen Krisen der Moderne zu überwinden. Durch gesteigerte Gewalt und imperiale Expansion sollte das eigene «Volk gereinigt» und die eigene Nation regeneriert werden. In diesen rassistisch-völkischen Wunschträumen einer sozialpolitischen Neuordnung erkannten die drei Mächte sich wieder; darüber näherten sie sich an.
Im Kern beschreibt Faschismus also ein nationalistisch-revolutionäres Phänomen, das auf eine grundlegende Umgestaltung aller sozialen, kulturellen und geopolitischen Ordnungen abzielt. Auch die Achse kannte, wie wir sehen werden, kein Innehalten, keinen Stillstand; die Geschichte des Bündnisses erscheint uns daher oft getrieben und gehetzt. Damit aber rücken transnationale Prozesse faschistischer Radikalisierung ins Zentrum des Interesses. Dies impliziert, die statische Analyse faschistischer Ideologien mit Studien politischer und sozialer Praxis und Performanz zu erweitern.[15] Auf die Achse bezogen bedeutet dies, dass wir die Sprengkraft und Dynamik, die das Bündnis entwickelte, nur verstehen können, wenn wir Expansions-, Radikalisierungs- und Beschleunigungspotenzial des Faschismus systematisch mitberücksichtigen. Dabei entstand, wie das Folgende zeigt, faschistische Radikalisierung erst im transnationalen Wechselspiel der Achsenmächte. In diesem Sinne lässt sich von einer kumulativen Radikalisierung der Achse sprechen.
Die Vorstellung einer «kumulativen Radikalisierung» fand bisher Verwendung, um eine funktionalistische Erklärung für die Ermordung der europäischen Juden zu liefern. Die kumulative Radikalisierung des Nationalsozialismus war dabei das Produkt eines «chaotischen Bürokratiegefüges» mit zahlreichen Parallelorganisationen, ungeklärten Kompetenzen und fehlenden Konfliktregelungsmechanismen.[16] Das Buch versucht, das Konzept aus dem deutschen Kontext zu lösen und ins transnationale Beziehungsgefüge der Achse zu überführen. Dabei zeigt sich, dass mangelnde Koordination, chaotische Zuständigkeiten und fehlende Konfliktregelungsmechanismen stete Begleiter im Umgang der Achsenmächte miteinander waren. Konkurrenz und Kooperation kamen dabei in ein dialektisches Verhältnis; was folgte, war eine auf «Konkurrenz basierte Kooperation».[17] Der daraus resultierende Überbietungswettbewerb zwischen den drei Mächten schuf laufend die Grundlage weiterer Radikalisierung.
Drei Forschungsperspektiven bieten sich an, um Prozesse der kumulativen Radikalisierung der Achse zu diskutieren. Erstens faschistische Diplomatie und Kulturpolitik; zweitens faschistischer Imperialismus; und drittens, eng damit verbunden, faschistische Kriegsführung und Gewalt. Zum ersten Punkt: Faschistische Kulturpolitik und visuelle Strategien politischer Interaktion stehen schon länger im Zentrum der Forschung.[18] Dabei geht es um faschistisches Spektakel und damit die Frage, wie das Bündnis in globalen Kontexten inszeniert und gefeiert wurde. In den Blick geraten dadurch Akteure, die oft jenseits etablierter Kanäle zwischenstaatlicher Diplomatie agierten. Solche faschistische Broker oder Mittler spielten bei der Genese der Achse eine entscheidende Rolle, schufen sie doch transnationale Netzwerke sozialer Praxis.[19] Sie koordinierten die Austauschbeziehungen nicht nur; ihre medienwirksamen Besuche und Handlungen verliehen dem Bündnis gleichsam erst Substanz.
Zweitens lenkt die Geschichte der Achse den Blick auf faschistischen Imperialismus und damit auf koloniale Kontexte des Zweiten Weltkrieges.[20] Die Historiografie hat es lange vorgezogen, die Geschichte des Krieges als einen Konflikt zwischen Nationalstaaten zu schreiben. Doch global betrachtet war der Zweite Weltkrieg in erster Linie ein Kampf zwischen Imperien, ein Krieg um Imperien beziehungsweise um die Frage, welche imperiale Ordnung die Welt beherrschen sollte. Vor diesem Hintergrund eröffnet das Buch eine transimperiale Perspektive auf die Genese der Achse; eine solche denkt Kooperation, Konkurrenz und Konnektivität im kolonialen Kontext systematisch mit.[21] Radikalisierter Großraumimperialismus faschistischer Machart kombinierte in allen drei Fällen koloniale Kriegsführung mit ethnischer Säuberung, ökonomischer Ausplünderung und weiträumigem Siedlerkolonialismus. Erstmals zeigte sich faschistischer Imperialismus in den frühen Dreißigerjahren im Kontext der Besatzung der Mandschurei. Danach war es ein imperialer Nexus, der die drei Mächte sich näher kommen ließ und schließlich band.[22]
Drittens geht es im Folgenden um faschistische Gewalt und Kriegsführung.[23] Faschistische Regime neigten zur Totalisierung des Krieges. Erst im Krieg fanden sie gleichsam zu sich selbst und entwickelten ihr volles Zerstörungspotenzial.[24] Um dies zu erreichen, radikalisierten faschistische Regime imperiale Logiken und Formen kolonialer Kriegsführung; diese verbanden sie wiederum mit auf das Innere der Gesellschaft abzielenden Bürgerkriegen sowie zwischenstaatlichen Großkriegen. Der Zweite Weltkrieg war daher weit mehr als ein konventioneller Krieg zwischen Großmächten. Gesteigerte Gewalt und Vernichtung sind zentrale Bestandteile seiner Geschichte. Dies zeigen schon die Opferzahlen des Weltkrieges, für die zu rund 80 Prozent die Achsenmächte verantwortlich zeichneten. Dabei fügten die drei Mächte bis ans Ende des Krieges ihren Gegnern weit mehr Verluste zu, als sie selbst erlitten. Die gesteigerte Gewalt ihrer Expansion lässt sich nur im Kontext der Ideologisierung der Kriegsführung verstehen.
Die Geschichte der Achse wird im Folgenden anhand von acht chronologisch aufgereihten «globalen Momenten» erzählt.[25] Eingerahmt von einem Prolog, der auf die Pariser Friedensverhandlungen von 1919 blickt, und einem Epilog, der die Prozesse in Nürnberg und Tokio 1946 thematisiert, besteht das Buch aus drei Teilen zu je zwei Kapiteln. Diese Teile entsprechen drei längeren, distinktiven Phasen der Geschichte der Achse, die jeweils rund drei Jahre dauerten. Der erste Teil beschreibt eine erste Phase faschistischer Expansion in den Jahren 1932 bis 1935, während der sich die drei Mächte langsam aber stetig annäherten. Diese Annäherung war das Resultat wechselseitiger «Gravitation», die vor dem Hintergrund einer ersten Welle der Globalisierung faschistischer Ideologien einsetzte. Im zweiten Teil steht die «Kooperation» zwischen den Achsenmächten, die die Jahre 1936 bis 1939 prägten, im Zentrum. Hier liegt der Fokus auf der faschistischen Bündnispraxis, die für alle Welt sichtbar der Achse Strahlkraft verlieh. Die Globalisierung und Totalisierung des Krieges ist das Thema des dritten Teils: Er beschreibt, wie die schrittweise «Eskalation» des Krieges in den Jahren 1940–1942 transformativ, gar revitalisierend auf die Bündniskonstellation wirkte.
Im Zentrum jedes einzelnen Kapitels wiederum steht jeweils ein spezifischer «globaler Moment» faschistischer Expansion. Als verdichtete Momente, die Tage, Wochen oder höchstens wenige Monate dauerten, lassen sich diese räumlich und zeitlich konkret verordnen. Der Fokus liegt damit jeweils auf einem Ereignis, das von einem lokalen Gravitationszentrum ausging, aber unmittelbar global ausstrahlte. Einzeln betrachtet, ermöglicht jeder Moment eine synchrone Multiperspektivität. In eine chronologische Abfolge gereiht, erlaubt ihre Diskussion, längere Linien zu ziehen und Prozesse der Radikalisierung, Expansion und Gobalisierung faschistischer Ideologien sichtbar zu machen.
PROLOG
Die seit Wochen schwelende Krise der Pariser Friedensverhandlungen erreichte ihren Höhepunkt an einem frühlingshaften Ostersonntag in der zweiten Aprilhälfte. Sie tat dies in einer Szene, die jeglicher Diplomatie entbehrte. Die Hauptrolle spielte der italienische Premierminister und Delegationsleiter Vittorio Emanuele Orlando. Frances Stevenson, die als Sekretärin und Geliebte des britischen Regierungschefs David Lloyd George in Paris weilte, wurde zur Zeugin:
«Gegen 11.30 Uhr ging ich zum Salonfenster, von wo aus man den Konferenzraum in Präsident Wilsons Haus sehen konnte, um zu schauen, ob es Anzeichen dafür gab, dass das Treffen endete. Plötzlich erschien Orlando am Fenster […]. Es machte den Anschein, als weine er, ich konnte es aber nicht glauben, bis ich sah, dass er sich ein Taschentuch nahm und seine Augen und Wangen abwischte.»[1]
Orlandos Gefühlsausbruch ereignete sich im intimen Rahmen des «Rats der Vier», in dem die Regierungschefs der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Italiens seit Wochen über die Neuordnung der Welt verhandelten. Soeben hatte er erfahren, dass die anderen drei nicht bereit waren, den territorialen Ansprüchen Italiens nachzugeben. Orlandos emotionale Darbietung war höchst außergewöhnlich. Entsprechend hilflos und schockiert reagierten die Anwesenden: Die anwesenden Engländer waren konsterniert und blieben wie versteinert stehen. Das Verhalten Orlandos befremdete sie. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson dagegen lief auf ihn zu, nahm ihn in die Arme und versuchte, ihn zu trösten – ohne jedoch von seiner kompromisslosen Haltung abzuweichen.[2] Später gab Wilson zu, dass er den Vorfall als erschreckend und peinlich empfunden habe.[3]
Peinlich wirkte der Auftritt Orlandos insofern, als er den ritualisierten Codes und Formen der Diplomatie widersprach. Seit der frühen Neuzeit hatte sich im diplomatischen Verkehr ein Ideal der Affektkontrolle und Leidenschaftslosigkeit etabliert, in dem für emotionale Ausbrüche kein Platz war.[4] In diesem Geiste beschrieb der britische Diplomat Harold Nicolson die Gefühle, die ihn auf seiner Reise an die Pariser Friedenskonferenz begleitet hatten:
«Den Lunch nahm ich an diesem Morgen zwischen Calais und dem Gare du Nord ein, in voller Überzeugung eine Aufgabe vor mir zu haben, für die ich durch langes Studium, hohe Ideale und dem Fehlen jeglicher Leidenschaft und Vorurteile wie geschaffen war.»[5]
Großbritannien herrschte nüchtern und unaufgeregt über die Welt – zumindest sah es Nicolson so. Doch während der nächsten Monate sollten sich all die hohen Ideale und langwierigen Studien als unnütz erweisen. Denn Leidenschaften und Vorurteile waren auf der Pariser Friedenskonferenz, die mit allem Gewesenen brach, allgegenwärtig. Und Nicolson blieb nichts, als letztendlich freimütig einzugestehen, dass er sich bezüglich seiner «Zuversicht tragisch getäuscht» hätte.[6]
Der Pariser Frühling 1919 war geprägt von der gesteigerten Emotionalität nationaler Erwartungshaltungen. Diese beschränkte sich keinesfalls auf die italienische Seite. Doch inmitten der Nervosität, die die Verhandlungen Ende April prägten, war es angesichts von Orlandos Grenzüberschreitung einfach, die Emotionalität dem italienischen Temperament anzukreiden: Bediente sein Auftritt nicht alle Klischees eines gefühlsbetonten, labilen Südländers? Die britischen Vertreter, dank hoher Ideale und langer Ausbildung scheinbar gefeit vor allen Regungen des Lebens, empfanden die Szene als deplatziert. Folglich verschwieg sie der britische Sekretär des «Rats der Vier», Maurice Hankey, in seinen offiziellen Aufzeichnungen. Seiner Frau gegenüber äußerte er sich jedoch deutlich: Dem eigenen Sohn hätte er für eine solche unehrenhafte Zurschaustellung von Emotionen den Hintern versohlt, schrieb er nach Hause.[7] Dass Hankey gegenüber seiner Frau über eine solch durchgreifende Reaktion sinnierte, ist symptomatisch für die Behandlung Italiens durch die Großmächte und entspricht zeitgenössischen Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in den internationalen Beziehungen. Wenn es um die Rangordnung der Mächte und ihrer kolonialen Ansprüche ging, kam dem italienischen Königreich in Bezug auf sein Alter als auch dem ihm zugeschriebenen Geschlecht eine Sonderrolle zu. Wahlweise galt Italien als junge und daher kindlich-kindische oder aber als schwache und daher «weibliche Großmacht».[8] Orlandos Auftritt passte da scheinbar perfekt ins Bild: Kinder und Frauen mögen weinen, «richtige» Männer nicht.
Entsprechend paternalistisch verhielt sich Wilson, nicht nur, als er Orlando mit einer beschwichtigenden Geste zu trösten suchte. In einem Zeitungsartikel wandte er sich direkt ans italienische Volk und appellierte an dessen Vernunft. Mit dieser Intervention, die ihrerseits mit allen Formen traditioneller Diplomatie brach, erreichte er indes nur eines: Er erregte die Gemüter in Italien nur noch stärker. Edward M. House, der persönliche Berater Wilsons, etwa klagte angesichts der Situation und der «gesteigerten Gefühle» des Moments: «Jedes Argument wird verwendet, um sie zur Vernunft zu bringen, doch bisher hat sie nichts bewegt.»[9] Mochte der Wunsch seitens der Vertreter der drei Großmächte noch so groß sein, Italien ließ sich nicht wie ein kleines, unerzogenes Kind behandeln, das man mit ein paar Schlägen zur Vernunft bringen konnte. Schließlich war es Wilsons Zeitungsartikel, der das Fass zum Überlaufen brachte: Überstürzt und unter Protest verließ die italienische Delegation die Friedensverhandlungen und reiste zurück nach Rom.
Die Lage in Paris war ernst. Die Konferenz drohte zu scheitern.[10] Schließlich war mit der Ankunft der deutschen Delegation nun beinahe stündlich zu rechnen. Einen Entwurf des Friedensvertrags, den man ihr hätte vorlegen können, gab es aber noch nicht. Dennoch hatte die Entente die Deutschen bereits nach Versailles geladen. Zum Zeitpunkt von Orlandos Gefühlsausbruch erhielt der «Rat der Vier» eine Nachricht, dass deren Ankunft in Wochenfrist bevorstünde. Ein gleichzeitig eintreffender Geheimdienstbericht aus Berlin enthielt wenig Erfreuliches: Er prophezeite, dass die aktuelle Regierung, deren Tage wohl gezählt seien, unter diesen Umständen einem Frieden kaum zustimmen dürfte.[11]
Die Aussicht auf eine kommunistische Revolution in Deutschland, eine weitere Entwicklung, die der Bericht für wahrscheinlich hielt, trug nichts zur Aufhellung der Stimmung in Paris bei. Tatsächlich hatte eine zweite revolutionäre Welle das besiegte Land erfasst, nachdem Ende 1918 die erste den Kaiser und sein Reich hinweggespült hatte. Nun drohte, wie zuvor in Russland, ein weiterer Schub Deutschland in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Doch das Reich war mitnichten der einzige Krisenherd: Die seit Monaten grassierende «Spanische Grippe» hatte soziale Spannungen überall in Europa verschärft. In Moskau war die Kommunistische Internationale Anfang März zum dritten Mal zusammengekommen. Und nun stand der 1. Mai unmittelbar bevor. Für Paris befürchtete die französische Regierung angesichts der vielen demobilisierten Soldaten besonders heftige Demonstrationen. Eine Weltrevolution von links schien vielen zum Greifen nahe.
Gleichzeitig ging die koloniale Welt in Flammen auf. Anfang März hatten Nationalisten in Korea versucht, die Unabhängigkeit von Japan zu erklären. Auch im britischen Empire, besonders in Ägypten und Indien, rumorte es. Nur eine Woche vor der Zuspitzung der italienischen Krise hatte das Massaker von Amritsar Hunderte von Indern das Leben gekostet. In China wiederum stand die Bewegung des Vierten Mai in den Startlöchern. Die Protagonisten der Westmächte waren angesichts der Fülle von Herausforderungen heillos überfordert und berieten in den letzten Apriltagen noch stärker als zuvor im exklusiven Rahmen des «Rats der Vier». Ebenso selbstherrlich wie gehetzt versuchten sie unter Ausschluss der Welt, ihren Vorstellungen einer globalen Neuordnung Gestalt zu verleihen.
Die Tränen Orlandos stehen somit symbolisch für eine viel umfassendere Krise. In diesem Moment kündigten sich bereits all die Ordnungskonflikte an, die das 20. Jahrhundert bis an sein Ende prägen sollten: Wilson versus Lenin lautete der erste Antagonismus. Imperialismus versus Dekolonisierung ein zweiter. Nationalismus versus Internationalismus der dritte. Orlandos Tränen und die italienische Agitation gehörten zu Letzterem. Sie standen am Beginn der Genese faschistischer Bewegungen, die die westliche Weltordnung nach 1919 ebenso grundsätzlich infrage stellen sollten wie kommunistische und antikoloniale Bewegungen. Doch ganz so weit war es noch nicht, auch wenn sich für aufmerksame Zeitgenossen die drei Konfliktfelder bereits deutlich am Horizont abzeichneten. Die Diplomaten und Politiker der Westmächte aber blieben vorerst weitgehend der Großmachtlogik des 19. Jahrhunderts verhaftet: Für sie waren Ende April 1919 die von Italien ausgelöste Krise und die Frage nach dem Frieden mit Deutschland die drängendsten aller Probleme.
Doch in genau dieser Hinsicht kam es in den nächsten Tagen noch schlimmer. Denn nun begann Japan, die einzige anwesende nicht-europäische Großmacht, aufzubegehren. Ihre Delegation drohte ebenfalls mit der Abreise, falls die Westmächte den japanischen Gebietsansprüchen in China nicht nachkämen. Mit einem unübertroffenen Timing – Nicolson bezeichnete es als von «erlesener Durchtriebenheit»[12] – sprachen die japanischen Delegationsleiter am Tag nach Orlandos Auftritt bei Präsident Wilson vor und legten ihre Forderungen auf den Tisch.[13] Jetzt rächte sich, dass die Westmächte all diese Fragen aufgeschoben hatten, weil sie zunächst scheinbar Wichtigeres lösen zu müssen glaubten. Während Monaten hatte sich die Friedenskonferenz auf Probleme wie die deutsch-französische Grenzziehung oder die Neuordnung Osteuropas konzentriert. Die italienischen und japanischen Ansprüche sollten danach in einer knappen Woche, nachdem die Einladung an Deutschland bereits erfolgt war, abgearbeitet werden.
Sisley Huddleston, ein britischer Journalist, sah, was auf dem Spiel stand:
«Während Italien in Aufruhr war, die Großen Vier sich auf die Großen Drei reduziert sahen und selbst ein [erneuter] Krieg niemanden wirklich erstaunt hätte, machten sich die deutschen Bevollmächtigten auf den Weg von Berlin nach Versailles. […] Doch alldem nicht genug. Japan drohte dem Beispiel Italiens zu folgen. Einen Moment lang schien es unvermeidlich, dass die herbeizitierten Deutschen niemanden vorfinden würden, um sie zu empfangen.»[14]
Paris drohte also zu verwaisen. Der Frieden schien in weite Ferne gerückt. Für die Beteiligten hielt der Ostersonntag damit keinerlei Erlösung bereit. Nach einem Tag voller Passion fiel der amerikanische Präsident erschöpft ins Bett, nachdem er noch kurz in der Bibel gelesen hatte.[15] Dem von ihm seit 1917 immer wieder vorgebrachten Ideal eines Friedens ohne Sieger sollte zwar letztendlich eine Auferstehung beschert sein – doch in einer zur grotesken Unkenntlichkeit gewandelten Form. Für den Moment aber regierte in Paris vor allem eins: Chaos, Angst und Emotionalität. Und verantwortlich dafür waren die drei zukünftigen Achsenmächte. Die Italiener, die bereits wieder abgereist waren, die Japaner, die kurz davorstanden, und die Deutschen, die noch nicht einmal eingetroffen waren.
Dabei hatte ein halbes Jahr zuvor alles so verheißungsvoll begonnen. Nach dem plötzlichen Zusammenbruch der Mittelmächte hatten gegen Ende 1918 viele auf einen schnellen, globalen, gar gerechten Frieden gehofft. Personifiziert wurde die Euphorie durch Woodrow Wilson, der mit seinem 14-Punkte-Programm einen Entwurf für die Nachkriegsordnung vorgelegt hatte. Ein Eckpfeiler war die Forderung nach einer neuen, volksnahen, offenen Diplomatie, eine Forderung, der er nach seiner Ankunft in Europa selbst nachkam, als er sich auf eine Art grand tour begab. Überall begrüßten ihn die Menschen begeistert – so auch in Rom.[16] Doch der Preis für die neue Diplomatie sollte hoch sein: Wilson nährte allerorts Hoffnungen, schürte Erwartungen und trug damit seinen Teil zur gesteigerten Emotionalität bei, die im Frühjahr 1919 nicht nur Paris, sondern scheinbar die ganze Welt erfasst hatte.
Inmitten von Chaos und Revolution war ein beunruhigender Nebeneffekt dieser neuartigen Diplomatie, dass Politiker sich mehr denn je mit Ansprüchen und Forderungen aus ihrer Heimat konfrontiert sahen. Stärker als zuvor setzten sie daher auf öffentliche Inszenierungen. Die Überwindung etablierter Rituale schien das Gebot der Stunde. Schließlich war die herkömmliche Diplomatie diskreditiert: Der Ausbruch des Weltkrieges wurde ihr angelastet. Zu den formalisierten und stark codierten Ritualen der Welt vor 1914 führte fünf Jahre später daher kein Weg mehr zurück. Erstmals hatte sich dies bereits 1918 angedeutet, als die Bolschewiki gegenüber den Mittelmächten in Brest-Litowsk auf öffentliche Verhandlungen bestanden hatten. Dabei war ihnen eine publikumswirksame Darbietung gelungen.[17] Dies und die damit einhergehende Denunziation imperialer Ambitionen der Großmächte brüskierten nicht nur die deutschen Diplomaten, die so etwas noch nie erlebt hatten, sondern auch die Entente. Denn zum bolschewistischen Verständnis von öffentlicher Diplomatie gehörte, die zaristischen Geheimverträge zu veröffentlichen. Dazu zählte der Londoner Vertrag, der Italiens Kriegseintritt besiegelt hatte. Offensichtlich war nun die Zeit für solch traditionelle Diplomatie vorbei. Was folgte, war der «Einzug von Ideologie» in die zwischenstaatlichen Beziehungen.[18]
Von Beginn an implizierte Wilsons Friedensentwurf nicht weniger als eine neue Weltordnung. Doch den Preis für eine pax americana, die globale Vormachtstellung der angelsächsischen Welt, waren nicht alle bereit zu zahlen. Am schlagkräftigsten formulierte ein gewisser Konoe Fumimaro, zu diesem Zeitpunkt keine 30 Jahre alt, die Kritik.
Konoe ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten der neueren japanischen Geschichte.[19] Dem späteren mehrfachen Premierminister war der politische Aufstieg in die Wiege gelegt: Konoe war das Oberhaupt eines der angesehensten Adelshäuser. Dieses war durch Jahrhunderte der Herrschaft, in denen die eigenen Töchter immer wieder mit dem Kaiser vermählt worden waren, untrennbar mit dem Thron verbunden. Von Konoe wird berichtet, dass er es als Einziger wagte, in Anwesenheit des Tennos mit übereinandergeschlagenen Beinen dazusitzen. Nonkonformistisch, gar rebellisch gab sich der junge Konoe bereits im Umfeld der Pariser Konferenz. Er hatte seine Bühne gut gewählt. Denn entschlossenen Akteuren eröffneten sich im Frühling 1919 ungeahnte Möglichkeiten.
Und Konoe wusste seine Chance zu nutzen. Noch vor seiner Abreise nach Paris, doch pünktlich zur Ankunft des amerikanischen Präsidenten in Europa veröffentlichte er einen viel beachteten Artikel, der zum «Widerstand gegen den englisch-amerikanischen Frieden» aufrief.[20] Er offenbarte darin unter anderem seine Sympathien für das Reich, denn er zählte Deutschland wie Japan zu den «nicht-habenden Nationen» und zu den «Großmächten im Entstehen». Gleichzeitig forderte Konoe die Gleichbehandlung aller «Rassen». Der amerikanische Botschafter in Tokio warnte seine Regierung: «Unter diesen Umständen wird Japan die gleiche Haltung wie Deutschland vor dem Krieg einnehmen und den Status quo zerstören wollen.»[21] Umso besorgter stimmte ihn, dass Konoes Ansichten von vielen japanischen Publizisten geteilt wurden. Auf das Potenzial des Kaiserreiches, die angelsächsische Weltordnung und den imperialen Status quo herauszufordern, hatten Diplomaten seit der Jahrhundertwende hingewiesen. Ähnlichkeiten mit dem Deutschen Reich waren ihnen dabei nicht entgangen. Doch Japan verfügte über ein Alleinstellungsmerkmal, das es im Kontext kolonialer Expansion gar noch bedrohlicher machte: Sein Erscheinen auf der politischen Weltbühne stellte die Vormachtstellung des «weißen Mannes» nachhaltig infrage.
Konoes Artikel fand schnell Verbreitung. Vor allem in China stieß seine Forderung nach einem Ende der Diskriminierung von Asiaten auf viel Zustimmung. Zu denjenigen, die ihn gelesen hatten, gehörte niemand Geringerer als der Gründer der chinesischen Republik, Sun Yat-sen. Sun war vom Manifest so beeindruckt, dass er sich mit Konoe, als dieser auf seiner Reise nach Paris in Schanghai einen Zwischenstopp einlegte, persönlich traf. Andere jedoch reagierten weitaus weniger wohlwollend. Saionji Kinmochi, Konoes Mentor und Japans Delegationsleiter, war angesichts des internationalen Echos, das der Artikel ausgelöst hatte, entsetzt.[22] Doch dies hinderte Saionji nicht daran, Konoe als Mitglied der japanischen Delegation und als seinen persönlichen Assistenten nach Paris zu bringen.