Nadifa Mohamed

DER GEIST
VON
TIGER BAY

Roman

Aus dem Englischen
von Susann Urban

C.H.Beck

ZUM BUCH

Nadifa Mohamed erzählt in diesem aufwühlenden Roman die wahre Geschichte des Somaliers Mahmood Mattan, die – beinahe 70 Jahre später – von trauriger Aktualität ist. Mit «Der Geist von Tiger Bay» legt die Autorin das Buch zu Stunde vor.

1952, Jahre nach seiner Ankunft in Großbritannien, ist Mahmood Mattan längst fester Bestandteil von Tiger Bay, dem berüchtigten Hafengebiet von Cardiff. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und hält sich und seine Familie mit wechselnden Jobs über Wasser. Doch als eine Ladenbesitzerin brutal ermordet wird, richten sich plötzlich alle Augen auf Mahmood. Er weiß um seine Unschuld und ist davon überzeugt, in einem Land zu leben, in dem Gerechtigkeit waltet. Aber die Aussicht auf Freiheit scheint zunehmend zu schwinden, und plötzlich begreift Mahmood: Er steht nicht nur in einem Kampf gegen rassistische Vorurteile und einen unmenschlichen Staat – er steht in einem Kampf um sein Leben. Im Schatten des Galgens begreift er, dass die Wahrheit nicht ausreichen wird, um ihn zu retten.

ZUR AUTORIN

Nadifa Mohamed, geboren 1981 in Somalia, kam als Kind mit ihrer Familie nach London und studierte in Oxford Geschichte und Politik. 2010 erschien ihr Roman «Black Mamba Boy» bei C.H.Beck, 2014 folgte «Der Garten der verlorenen Seelen».

Susann Urban studierte Germanistik und Anglistik und ist als Übersetzerin tätig. Für C.H.Beck übersetzte sie u.a. «Letzter Mann im Turm» von Aravind Adiga, «Der Garten der verlorenen Seelen» von Nadifa Mohamed sowie «Mein Leben» von M. K. Gandhi.

INHALT

KOW
1

Tiger Bay, Februar 1952

LABA
2

SADDEX
3

AFAR
4

SHAN
5

LIX
6

21. Oktober 1940

TODDOBA
7

SIDDEED
8

SAGAAL
9

TOBAN
10

KOW IYO TOBAN
11

LABA IYO TOBAN
12

SADDEX IYO TOBAN
13

AFAR IYO TOBAN
14

SHAN IYO TOBAN
15

CHALAS
DAS ENDE

7.15 Uhr, Mittwoch, 3. September 1952

EPILOG

DANKSAGUNG

GLOSSAR

NACHWEISE

Für M. H. M. und L.V.

«Naf yahay orod oo, arligi qabo oo, halkii
aad ku ogeyd, ka soo eeg.»
«O Seele, zu deiner Heimat eile,
wo du sie einst gekannt.» 

Ahmed Ismail Hussein, «Hudeidi»,
geschrieben während seiner Inhaftierung
in Französisch-Somaliland 1964

Remember the green glow of phosphorous,
on a bow waved warm tropic night,
the wonderful wild roaring forties,
when you fought the storm at its height.

The scent of the spices of Java,
a frigate birds cry to the moon,
the sound of the anchor chain surging,
when we stayed in that crystal lagoon.

No requiem plays at your passing,
no friend to bid you goodbye,
who knows that the sea birds are grieving,
and perhaps a fool such as I.

Aus «The Last Tramp Steamer»,
Harry «Shipmate» Cooke

KOW
1

Tiger Bay, Februar 1952

«Der König ist tot. Lang lebe die Königin.» Aus dem Radio knistert die Stimme des Sprechers und umwabert die gespannt lauschenden Gäste von Berlin’s Milk Bar wie der Nebel die schwermütigen Straßenlaternen, deren fahles Licht kaum das Straßenpflaster erhellt.

Der Geräuschpegel steigt, Milkshakes und Colas klirren gegen Irish Coffees, Stühle schrammen über die schwarz-weißen Fliesen.

Berlin hämmert mit einem Löffel gegen die Theke und brüllt mit seiner Löwendompteurstimme: «Hebt eure Gläser, meine Damen und Herren, auf unseren alten König! Möge er ein schönes Seemannsgrab bekommen.»

«Da unten wird er viele von uns treffen», gibt der alte Ismail zurück, «und auf dem Weg runter kann er schon mal an seinen Entschuldigungen arbeiten.»

«Ich w-w-w-ette, die hat er sch-sch-schon auf dem T-t-t-otenbett g-g-g-geschrieben.» Ein Gast kichert hämisch.

Durch den Rock ’n’ Roll und die zischende Espressomaschine hindurch hört Berlin seinen Namen. «Maxa tiri?», fragt er, als sich Mahmood Mattan durch die Menge zur Bar vordrängt.

«Ich hab gesagt, mach mir noch ’n Kaffee.»

Berlin fasst seine Frau, die aus Trinidad stammt, um die Taille und schiebt sie Richtung Mahmood. «Lou, gib diesem Querulanten noch ’n Kaffee.»

An der Bar stehen viele von Tiger Bays somalischen Seeleuten, die mit ihren Krawatten, Uhrenketten und Trilby-Hüten wie eine Mischung aus Gangster und Dandy aussehen. Nur Mahmood trägt einen Homburg, den er tief ins eingefallene Gesicht bis zu den traurigen Augen gezogen hat. Er ist ein ruhiger Geselle, taucht stets so lautlos auf, wie er verschwindet, mischt sich nie unter die Seeleute, Spieler, Diebe. Wenn er anwesend ist, halten die Männer ihre Habseligkeiten fest und die Augen auf seine langen, eleganten Finger gerichtet, nur Tahir Gass, erst vor Kurzem aus der Irrenanstalt von Whitchurch entlassen, rückt dicht an ihn heran, er sucht vergebens Mahmoods Freundschaft. Tahir befindet sich auf einem Weg, den niemand mit ihm gehen kann oder will, unsichtbare Elektroschocks lassen seine Glieder zucken, Gefühlsregungen flackern über sein Gesicht wie über eine Kinoleinwand.

«Die Unabhängigkeit steht vor der Tür.» Ismail nimmt einen Schluck aus seinem Henkelbecher und lächelt. «Indien is weggebrochen, wie sollen sie sich jetzt bei den anderen rausreden?»

Berlin reißt drohend die Augen auf. «Die sagen, wir haben dich bei den Eiern, Bimbo! Dein Land, deine Züge, deine Flüsse, deine Schulen, alles gehört uns, auch der Kaffeesatz in deiner Tasse. Du weißt, was sie den Mau-Mau und sämtlichen Kikuyu in Kenia antun – sperren sie ein, Männer wie Kinder.»

Mahmood nimmt von Lou seinen Kaffee entgegen und grinst, er schert sich nicht um Politik. Während er seine Manschetten zurechtzupft, rinnt Kaffee vom Becherrand auf seine blank gewienerten Schuhe, er zerrt ein Schnupftuch aus der Hosentasche, wischt die Tropfen weg und poliert nach. Die Brogues sind neu, schwarz und spitz wie Neufundlandkohle, so gute Schuhe trägt keiner der anderen Kerle hier an den Füßen. Drei Pfundnoten brennen ihm ein Loch in die Tasche, wollen beim Poker eingesetzt werden, abgeknapst hat er sie sich, aufs Mittagessen verzichtet und nachts aufs Feuer, wie eine Mumie in seine Decken gewickelt. Er lehnt sich über die Bar und stößt Ismail an. «Kommt Billa Khan heut Abend?»

«Bin ich ausm Dschungel? Wenn’s bloß so wär! Ich sag zu ihm, schau dich um, das hier is der Dschungel, überall Büsche und Bäume. In meinem Land wächst gar nichts», beendet Ismail sein Witzchen und sieht Mahmood an. «Woher soll ich das wissen? Frag einen deiner Ganovenbrüder.»

Mit einem verächtlichen Schmatzen saugt Mahmood Luft durch die geschlossenen Zähne, schüttet den Espresso hinunter und greift nach seinem beigefarbenen Regenmantel. Dann schiebt er sich durch die Menge hinaus ins Freie.

Wie ein Schaufelschlag trifft ihn die kalte Luft ins Gesicht, und obwohl er den Mantel eng um sich zieht, packt ihn die eisige Februarnacht und lässt seine Zähne klappern. Sein Blick wird durch einen grauen Fleck getrübt, wo ihm einmal ein glühender Kohlensplitter aus dem Heizkessel ins rechte Auge geflogen war. Ein Schmerz, so durchdringend, dass es ihn hochhob und er mit dem Rücken auf der abkühlenden Schlacke hinter ihm landete. Schaufeln und Pricker klirrten zu Boden, als ihm die anderen Heizer zu Hilfe kamen, ihm die Finger aus dem Gesicht rissen. Seine Tränen verzerrten ihre vertrauten Gesichter, ihre Augen waren die einzigen hellen Flecken im düsteren Maschinenraum; unter dem Schrillen des Notalarms marschierte der leitende Ingenieur schweren Stiefelschritts die Stahltreppe nach unten. Danach lag Mahmood zwei Wochen lang mit dickem Kopfverband in einem Hamburger Krankenhaus.

Dieser Fleck und ein kaputter Rücken sind die einzigen körperlichen Andenken an sein Seefahrerleben; seit knapp drei Jahren ist er nicht mehr an Bord gewesen, hat stattdessen als Gießer gearbeitet oder sich um armselige kleine Heizkessel in Gefängnissen und Krankenhäusern gekümmert. Doch die See ruft ihn noch immer, so laut wie die Schwalben, die über ihm durch die Luft gleiten, aber Laura und die Jungen haben ihn hier vor Anker gelegt. Söhne, die dem walisischen Blut der Mutter zum Trotz somalisch aussehen, sich unter «Daddy, Daddy, Daddy»-Rufen an seine Beine klammern, seinen Kopf nach unten ziehen, sein pomadisiertes Haar zerwühlen und seine Wangen mit ihren dicken Schmatzern nach Limonade und Milch riechen lassen.

Die Straßen sind ruhig, nur die Nachricht vom Tod des Königs weht aus vielen der niedrigen, windumspielten Häuserreihen, an denen er vorbeikommt. Jeder Radioempfänger auf seine eigene Zeit eingestellt, mal eine Sekunde früher dran, mal eine Sekunde später. In einigen wenigen Geschäften auf der Bute Street brennt Licht: bei Zussens Pfandleihe, wo viele seiner Kleider auf Ablöse warten, beim zypriotischen Friseur, wo er sich das Haar schneiden lässt, und bei Volackis Laden, wo er früher seine Seemannsausrüstung gekauft hat, jetzt nur noch gelegentlich ein Kleid für Laura ergattert. Die hohen Fenster von Cory’s Rest sind beschlagen, hinter dem Bleiglas tanzen und lachen Gestalten. Er steckt den Kopf durch die Tür, vielleicht ist einer seiner Stammgegner da, doch um den Snookertisch herum nur unbekannte westindische Gesichter. Früher hatte er zu der Arbeiterarmee gehört, die aus aller Welt rekrutiert wurde, um die Tausenden im Krieg gefallenen Seeleute und Hafenarbeiter zu ersetzen: Dockarbeiter, Talleyleute, Vorarbeiter, Stauer, Winschleute, Lukenvize, Qualitätskontrolleure, Kornträger, Holzträger, Geileute, Lademeister, Speicherarbeiter, Hafenwächter, Reepschläger, Fährleute, Decksleute, Lotsen, Schleppkahnfahrer, Ewerführer, Quartierleute, Schmiede, Waterclerks, Lascher, Messer, Wäger, Baggerfahrer, Nietenklopper, Stauvize, Baumwollküper, Kranführer, Kohlenzieher und sein eigenes Bataillon, die Heizer.

Mahmood lässt das prächtige Cory’s Rest mit seinen girlandenverzierten Säulen hinter sich und geht Richtung Hafen, dem vom Nebel rötlich gefärbten Himmel entgegen. Er beobachtet gern das nächtliche Industriespektakel: das dreckige Meerwasser, das Feuer zu fangen scheint, während Fässer mit geriffelter, weiß glühender Schlacke von den East Moors Steelworks in die Abendflut gekippt werden. Die Eisenbahn am Kai rattert und kreischt, Wagen schießen zwischen den Schwaden der Stahlwerkschornsteine und der wütenden, dampfenden See hin und her. Ein gespenstischer und betörender Anblick, der ihm jedes Mal den Atem stocken lässt, beinahe erwartet er, dass dieses brodelnde, zischende, vom Benzin schillernde Wasser eine Insel oder einen Vulkan ausspuckt, aber bis zum Morgen kühlt es wieder zu mürrisch-dunkler Gleichförmigkeit ab. Das Hafengelände und das angrenzende Viertel Butetown umfassen gerade einmal eine Quadratmeile, doch für ihn und seine Nachbarn ist dies eine ganze Metropole. Im vorigen Jahrhundert stampfte ein schottischer Adliger den Hafen aus dem Marschland und benannte die Straßen nach seinen Verwandten. Mahmood hat das Gerücht gehört, der erste Scheck der Welt über eine Million Pfund Sterling sei hier an der Kohlenbörse gezeichnet worden. Auch jetzt noch treten hier morgens Männer eines anderen Kalibers, die Melone auf dem Kopf, die Arbeit im Mercantile Marine Office oder im Custom House an. Sowohl beim Marine Office als auch bei der Seaman’s Union weiß man, durch welche Tür man einzutreten hat, wenn man Ärger vermeiden will, das gilt gleichermaßen für weiße wie schwarze Arbeiter.

Das Viertel hinter dem Finanzdistrikt gehört allen, Eisenbahnschienen und Kanäle umzäunen die Menschen und trennen sie vom restlichen Cardiff.

Für Neuankömmlinge ist das Labyrinth aus kleinen Brücken, Kanalschleusen und Straßenbahnlinien verwirrend; noch kurz vor seiner Ankunft trugen somalische Seeleute die Adresse ihrer Unterkunft an einem Schild um den Hals, damit Passanten ihnen den Weg weisen konnten. Die Kinder nutzen die Kanäle als Spielplatz, und als einmal zwei von ihnen verschwunden waren, suchte Mahmood eine blaue, schlaflose Nacht lang das Schlammwasser nach ihnen ab. Morgens fand man sie – ein weißes und ein schwarzes, beide ertrunken. Noch sind seine Söhne zu klein, um sich herumzutreiben, alhamdulillah. Eines Tages, wenn sie älter sind, wird er ihnen die Hafenstadt zeigen, die norwegische Kirche und den koscheren Schlachthof, die Kräne, Ausleger und qualmenden Schornsteine, die Holzteiche, Kreosotfabriken und Viehhöfe, die drei breiten Durchfahrtsstraßen Bute Street, James Street, Stuart Street, die von immer schmaler werdenden Reihenhäusern durchzogen sind. Die Flaggen und Schornsteine von Schifffahrtsflotten aus aller Welt drängen sich an den Moleköpfen und breiten sich über die Hafenbecken aus. Im Stillen plant Mahmood die Zukunft, jetzt gibt er sich jedoch der eisigen Kälte geschlagen, die durch die Spalten zwischen den Mantelknopflöchern dringt, und entscheidet sich gegen eine weitere Pokernacht. Er macht sich auf den Heimweg nach Adamsdown, wo das wahre Feuer seines Lebens brennt.

Violet lässt sich schwer auf den Holzstuhl fallen und wartet darauf, dass Diana den Tisch deckt. «Wo ist Gracie?»

«Macht nur noch einige Aufgaben für die Schule fertig, sie kommt gleich runter.»

«Ich finde, sie lernt zu viel, Di, sie sieht ausgezehrt aus.»

«Red keinen Unsinn. Sie nimmt kaum mal den Füller in die Hand, verbringt ihre Abende hauptsächlich damit, in meinen Stöckelschuhen zu Jazzplatten herumzuhüpfen. Als ich hoch bin, um sie aufzumuntern, war ihr Gesicht mit Max Factor Sunset Shine zugekleistert. Die denkt, Hollywood wartet auf sie.»

«Die Putzfrau hat erzählt, dass sie beim Bettüberziehen unter ihrem Kopfkissen ein Foto von Ben in Fliegermontur gefunden hat.»

«Ich weiß.» Ihr Lächeln erstarrt, und sie dreht Violet den Rücken zu.

Violet drückt Dianas Unterarm. «Sei stark. Kojch.»

«Komm jetzt runter, Grace, wir warten auf dich!», ruft Diana die Treppe hoch, reißt sich die Schürze herunter und hängt sie zusammengefaltet über ihre Stuhllehne. Die Pfunde, die sie über die Weihnachtstage zugelegt hat, sieht man ihrem muskulösen Körper immer noch an. Ihr grünes Etuikleid spannt am Rücken. Das schwarze Haar fällt ihr in lockeren Wellen über die Schultern, sie müsste es schneiden lassen, aber Violet gefällt es so, ihre Schwester wirkt damit südländischer.

«Du bist geradezu ein Perpetuum mobile.»

«Nicht freiwillig, das kann ich dir sagen. Maggie hat Daniel überredet, das Huhn abzuliefern, weil ich vorhin so viele Kunden hatte. Alle, aber auch alle wollten ihr Geld auf ein Pferd setzen, das irgendeine Verbindung zum König hat: His Majesty, Balmoral, Buckingham Palace. Mag sein, dass sie ihm auf diese Weise die letzte Ehre erweisen wollen, vielleicht ist es auch nur Aberglaube, jedenfalls habe ich so etwas noch nie erlebt.»

«Einem von ihnen habe ich seinen Heuervorschuss ausgezahlt, und dann habe ich gesehen, dass er zu dir geht. Wenn man einem Narren Geld in die Hand gibt …»

«Ach, das ist Tahir, der Arme, er ist nicht ganz richtig im Kopf. Einer der Seeleute hat gesagt, er sei von italienischen Soldaten in Afrika ‹missbraucht› worden, wie sie es nennen. Mir hat er erzählt, er ist der König von Somalia und hat im Krieg Tausende Männer getötet.»

«Auf welches Pferd hat er gesetzt?»

«Auf die Empress of India.» Diana öffnet die roten Lippen zu einem lauten Lachen. «Wahrscheinlich denkt er, das ist seine Frau.»

«Ach du meine Güte. Ich wasche mir nur rasch die Hände.» Mit einem Lächeln betrachtet Violet den gedeckten Tisch. Brathähnchen, Essiggurken, Salzkartoffeln, Karotten mit roten Zwiebeln und Roter Bete, außerdem ein Stapel Mohnbialys.

Sie kommt vom Spülbecken zurück, schlüpft mit den bestrumpften Füßen aus ihren schwarzen orthopädischen Schnürschuhen, dehnt das verkrümmte Rückgrat; die Skoliose hat ihren Brustkorb und ihre Schulterblätter wie Puzzleteile zusammengeschoben. Ihre Haut ist heller als die ihrer Schwestern, sie hat das Gesicht des Vaters, bis hin zu den tiefen Furchen neben dem Mund, und sowohl ihr Kleid als auch ihr rotwangiges Gesicht wirken nonnenhaft rein. Ihr Haar ist immer noch dunkel, aber oberhalb der dünnen Augenbrauen ist ein Hauch Weiß im dreieckigen Haaransatz zu erahnen. Sie wirkt wie eine Frau, die immer älter aussah, als sie tatsächlich war, und nun den Punkt erreicht hat, an dem sie ihren Körper als maßgeschneidert empfindet: die bescheidene Ladenbesitzerin in Cardiff.

«Schalt das Radio ein, Di, ich möchte den Rest der Nachrichten hören. Stell dir Prinzessin Elisabeth – Verzeihung, Königin Elisabeth – vor, wie sie im Flugzeug sitzt, wohl wissend, dass sie ihr ruhiges, bescheidenes Leben mit Mann und Kinderchen aufgeben und den Thron besteigen muss.»

«Es zwingt sie keiner dazu. Von mir aus kann sie in Kenia bleiben und das Ende der Monarchie ausrufen.»

«Du hast kein Pflichtgefühl. Wie könnte sie das tun, wenn ein ganzes Land, ein ganzes Empire auf sie wartet?»

«Typisch für dich, du Papas Liebling. Du bringst mich zum Lachen, Violet, Dad hinterlässt dir diesen Laden, und du nimmst es derartig ernst, als hätte er dir die gesamte Welt vererbt. Ich sehe förmlich dein Gesicht in der Zeitung, wie du öffentlich das feierliche Versprechen abgibst, Bute Street 203 nach bestem Wissen und Gewissen zu regieren, so wahr dir Gott helfe.»

«Dieser Laden ist mein Leben, und wenn ich ihn 48 verkauft hätte, was wäre damit gewonnen gewesen? Eine Witwe, eine alte Jungfer und ein kleines Mädchen, die Wohnungen und Arbeitsstellen wechseln wie andere ihr Hemd.»

«Wir hätten nach London oder New York gehen sollen.»

«Und von vorn anfangen? Nein, Diana, du bist noch jung genug, um zu heiraten und weitere Kinder zu bekommen. Ich nicht.»

«Das stimmt nicht. Vielleicht keine Kinder, aber heiraten könntest du ohne jeden Zweifel immer noch.»

«Soll ich mich mit den Gaunern und Scharlatanen abgeben, die mich nur wegen meines Ladens wollen?»

«Schon gut, schon gut. Es ist deine Entscheidung.» Beschwichtigend hebt Diana die Hände und brüllt dann lauthals: «Grace, komm sofort runter!»

«Komme!»

«Jetzt sofort! Tante Violet ist müde, und das Essen wird kalt.»

Es trampelt die Wendeltreppe hinunter, und dann ist sie da – der Mittelpunkt ihrer beider Welt –, 1,38 Meter pure, hoffnungsvolle Verheißung.

Sie küsst Diana und Violet auf die Wange und schlängelt sich auf ihren Stuhl. Allmählich verändert sich Grace’ weiches rundes Gesicht, Bens eckiger Kiefer drängt heraus, und ihre Nase bekommt den eleganten Volacki-Schwung. Zehn Sommer, zehn Winter ohne ihn, denkt Diana beim Anblick des sommersprossigen Gesichts ihrer Tochter.

«Hast du für deine Prüfungen gelernt, Herzblatt?», fragt Violet, tranchiert das Hähnchen und legt Grace drei Scheiben auf den Teller.

Grace beißt herzhaft in ein Bialys und lächelt verschmitzt.

«Ich habe angefangen, Tante Violet, aber dann …»

«Naa?» Diana verdreht die Augen. «War mein Schminktäschchen interessanter?»

«Du hättest es nicht rumliegen lassen sollen, Mam, du weißt, wie doll schnell ich mich ablenken lasse.»

«Was bist du für ein Frechdachs, Gracie», lacht Violet.

Der Radiosprecher ist der Vierte in der Tischrunde, eine volle Männerstimme aus London, die nach Frack samt weißer Fliege und Lackschuhen aus der Bond Street klingt. Das Klirren der Messer und Gabeln mischt sich unter getragenen Choralgesang und Glockengeläut – von Big Ben bis zu einem mittelalterlichen Kirchlein am äußersten Rand der Hebriden. Außerhalb ihres Esszimmers liegt das Land in Trauer, die Sterne sind in ihrem Lauf erstarrt, der Mond ist schwarz gewandet.

«Bring das Geschirr in die Küche und mach dich bettfertig, Grace.»

«Ja, Mammy.» Grace kippt den Rest ihres Himbeersirups hinunter und stapelt sich möglichst viele Teller auf die Arme, so, wie sie es bei den Kellnerinnen in Betty’s Café gesehen hat.

«Einen nach dem anderen, die kannst du nicht alle auf einmal tragen.» Diana nimmt ihr einen Teil des Geschirrs ab und folgt ihr in die Küche.

Violet möchte sich am liebsten sofort auf ihrem Bett ausstrecken und schlafen, aber sie muss noch die Tageseinnahmen notieren, die Haustür verschließen – die oberen und unteren Riegel, zwei Vorhängeschlösser, ein Yale-Schloss – sowie die Hintertür, ehe sie sich mit der Geldkassette in ihr Schlafzimmer zurückziehen kann. Das Gewicht dieser Aufgaben drückt sie auf den Stuhl. Schließlich rafft sie sich auf und geht wie gewohnt in den nebenan liegenden Laden zurück.

Selbst zu dieser späten Stunde dröhnt Musik durch die Mauern des Nachbarhauses, einer maltesischen Pension – Rock ’n’ Roll, anzüglich das Saxofon, drängend die Trommeln –, und Diana hämmert Ruhe fordernd mit der Faust gegen den Putz. Seit einer Explosion während ihrer Zeit bei der Women’s Auxiliary Air Force ist sie auf einem Ohr schwerhörig, aber die Malteser drehen ihre Musik derart auf, dass sie Tote aufwecken könnte. Ihre Tochter schläft allerdings ungerührt. Diana schlüpft ins Nachthemd und unter die seidene Daunensteppdecke, Violets Hochzeitsgeschenk, das merkwürdigerweise an einer Ecke immer noch nach Bens Rasierwasser duftet. Nachts ist er so gegenwärtig, als wäre seine Abwesenheit am Tag nur eine Täuschung. Sie zieht sein Tagebuch unter dem Kopfkissen hervor, geht vorsichtig mit dem blauen Blöckchen um, damit die losen Seiten nicht herausfallen. Im Lampenlicht wirken die Seiten durchsichtig, wie eine Reihe Libellen schwebt seine feine gleichmäßige Handschrift in der Luft. Sie blinzelt zweimal und führt das Tagebuch näher an die Augen, damit die Wörter stillstehen. Mittlerweile lesen sich die Einträge nicht mehr wie die eines Toten, sondern lassen ihr den Glauben, dass er immer noch dort draußen in Ägypten ist, Schutz vor Sandstürmen sucht, die Souks von Suez und Bardia auf der Suche nach Mitbringseln durchstreift, ehe er mit «seinen Jungens» von der 38. Squadron den Nachtflug antritt. Vor dem Krieg war ihr nicht bewusst gewesen, wie wunderbar er schreiben konnte. Selbst seine leeren Tage, in denen er las, was ihm in die Hände fiel, waren so geschildert, dass sie die erdrückende Apathie in seinem Zelt spüren konnte. Inzwischen sind ihr die verlassenen italienischen Stellungen mit den zurückgelassenen Lastwagen, Krädern, Springerstiefeln und Ferngläsern so vertraut wie die Rummelplätze ihrer Kindheit mit den dampfbetriebenen Fahrgeschäften. Das quecksilbrige Glühen des vom Vollmond beschienenen Mittelmeers scheint erinnerungswürdiger als die schäumende Irische See.

Es dauert eine Weile, bis Violet das Geräusch zuordnen kann. Ihr Albtraum ist immer noch lebendig, vor ihrem geistigen Auge sieht sie Hände gegen Synagogenfenster schlagen, während das weiße Gebäude in Flammen aufgeht, das Polarlicht lässt den Nachthimmel blaugrün schimmern, in den ungehört die Schreie der Männer, Frauen und Kinder steigen.

Ein Schrillen.

Alarmglocken schrillen.

Sie gelten nicht denen, die in der schul sterben, sondern ihr, in ihrem eigenen Haus. Kerzengerade sitzt sie im Bett, die Hände an den Kopf gepresst, ihr Herzschlag ist lauter als das metallische Rasseln der Alarmanlage. Sie schiebt die Füße in die Hausschuhe, greift sich einen silbernen Kerzenhalter vom Frisiertisch und schaltet sämtliche Lampen ein. Auf dem Treppenabsatz sind Schritte zu hören, und sie umklammert, einer Ohnmacht nahe, den Türknauf. Wahrscheinlich wäre es einfacher, hier und jetzt, still und leise zu sterben, denkt sie, als sich dem zu stellen, was sich auf der anderen Seite befindet. Sie lehnt die Stirn gegen die Tür, schließt die Augen und dreht langsam den Knauf.

«Alles in Ordnung, Violet, das Fenster ist zertrümmert, aber unten ist niemand.» Diana steht oben an der Treppe, in ihrer Manteltasche steckt eine Taschenlampe, und in jeder Hand hält sie einen Hammer. Beim Anblick des totenblassen Gesichts ihrer Schwester geht sie mit schweren Schritten auf Violet zu und nimmt sie in den Arm. «Reg dich nicht auf, Schwesterherz, alles ist gut. Wer immer es war, hat sich verdrückt.»

Zitternd klammert sich Violet an Diana und bemüht sich um Fassung; es ist nicht nur dieser Einbruch oder die Einbrüche davor, sondern es sind auch die Briefe, die auf der Fußmatte landen und die in Osteuropa ermordeten Verwandten aufzählen. Namen aus ihrer Kindheit, an die sie sich kaum mehr erinnert, Gestalten, denen sie nur mit Mühe auf den alten Familienfotos Namen zuweisen kann, suchen sie in ihren Träumen heim, scharen sich um ihren Esstisch und bitten um Essen, Wasser, einen Schlafplatz – bitte, bitte, bitte –, flehen sie auf Polnisch an, kuzyna, ocal mnie, Cousine, rette mich. Nirgendwo fühlt sie sich mehr sicher, als wollte die Welt sie wegfegen, sie und alle, die sind wie sie, durch verschlossene Türen und Fenster kriechen, ihr das Leben aus der Lunge saugen. Awram tot, Chaja tot, Schmuel tot. Gestorben in Litauen, Polen, Deutschland. Immer mehr Namen füllen die Gedenktafel an der Synagoge. Die Tatsachen wirken immer noch irreal. Wie können sie alle tot sein? Die Briefe der Volackis aus New York und London stapeln sich, ergeben aber immer weniger Sinn, Gerüchte, wer wo wann wie umgekommen ist, ein steter Fluss an Todesnachrichten, an deren Ende noch ein klein wenig Glück gezwängt wird – eine Geburt in Stepney, ein Studienabschluss in Brooklyn.

«Welches Fenster ist kaputt?», fragt sie schließlich.

«Das kleine hinten. Morgen früh soll Daniel kommen und es zumauern. So lange habe ich es mit Kisten zugestellt. Komm, leg dich zu Gracie, während ich die Augen offen halte.»

Mit einem gehorsamen Nicken schleicht Violet ins Zimmer ihrer Nichte und schlüpft zu ihr ins Bett. Sie nimmt das schlafende Kind in den Arm, kommt sich kleiner und verletzlicher als Grace vor. Auf dem Boden vor dem Bett liegt ein Atlas, Violet greift danach und blättert ihn durch; das Rot des Britischen Empire bedeckt die Seiten. In letzter Zeit hat sie ihren Horizont erweitern müssen, fantastisch anmutende Namen kennengelernt – Usbekische und Kirgisische Sozialistische Sowjetrepublik, Mandschurei –, denn die starken jungen Männer und Frauen, die sich in den Wäldern versteckten und Hitler überlebten, waren vor der Katastrophe davongerannt, immer weiter, immer weiter, immer weiter nach Osten, als wollten sie vom Rand der Welt springen. Es ist den unverheirateten Frauen zugefallen, die weder Mann noch Familie als Ausrede haben, diese heimatlosen Kinder aufzuspüren, diese jungen Männer und Frauen, für die sie als Gemeinschaft verantwortlich sind, die niemandem trauen, aber alles annehmen, was man ihnen gibt. Sie schickt diesen entfernten Verwandten, sogar deren mittellosen Freunden Geld mittels Banken in Amsterdam, Frankfurt, Istanbul, Schanghai, stets im Ungewissen, ob es sie rechtzeitig erreicht oder ob sie zur Vernunft kommen und in die Zivilisation zurückkehren, falls diese den Namen überhaupt noch verdient. Violet lässt den Atlas auf den Boden fallen. Grace’ rhythmisches Ein- und Ausatmen beruhigt sie, jedoch nicht so sehr, dass sie einschläft; ihre Ohren konzentrieren sich auf Diana, die unten das Glas zusammenfegt, furchtlos und mit festem Schritt über die Dielen geht, hin und her, bis sie endlich die Treppe hochstapft, während die ersten Vögel die Dämmerung herbeizwitschern.

Daniel kommt, während sie frühstücken; die Angst der Nacht ist vom heimeligen Kaffee- und Toastduft verhüllt. Violet wird rot, als er sich vorbeugt und ein Stück Brotrinde von ihrem Teller stibitzt, seine tiefe Stimme mit dem ausländischen Akzent erregt sie, sein bärenhafter Körper füllt das Esszimmer aus. Verstohlen betrachtet sie sein blasses, großäugiges Gesicht, das zwischen Bartpelz und Astrachanhut beinahe verschwindet, im Schnurrbart bleiben Krümel hängen. Seinem feuchten Schaffellmantel entströmt Moschusduft, als er ihn auszieht und im Flur aufhängt. Daniel gehört Maggie, der mittleren Schwester, aber in Violets Herz haben sich Verlangen und Neid eingeschlichen. Durch ihren Körper wallt ungekannt starke Begierde, die auf Daniel gerichtet ist, seine große, breite Gestalt wirkt wie das Grab ihrer Hoffnung, eines Tages Kinder zu gebären. Er ist in ihren Wachträumen: seine Lippen, seine Hände, die rosafarbenen Brustwarzen, die sich lüstern und himbeerig von seiner schneeweißen Haut abheben. Das Feuer in ihrem Schoß flammt plötzlich auf, ehe die Wechseljahre die Hitze verlagern. Sie freut sich dem Ende all dessen entgegen – alles besser als die liebeskranke, mädchenhafte Vernarrtheit in einen Mann, für den sie wie eine Schwester ist.

«Maggie hat Sorgen um euch Mädchen, sie meint, dass es auf der Straße immer übler zugeht. Ich sag ihr, das ist eben der Preis fürs Geschäft, aber heut Morgen ist sie wie ’n Huhn, läuft hin und her, hin und her. Ich soll euch eine Waffe besorgen!» Daniel zieht sich eine Stehleiter heran und schlägt das restliche Glas aus dem Fensterrahmen. «Muss kleiner Mann gewesen sein, wenn er denkt, er kommt durch dieses Fenster rein.»

Er hat Violet den Rücken zugewandt, die unweigerlich seinen Hintern betrachtet, über den sich straff die Hose spannt. Schnell wendet sie den Blick ab, als sie bemerkt, dass Diana sie anlächelt.

«Kein Grund zur Sorge», erwidert Diana. «Vi und ich sind uns einig, dass wir einen Einbrecher zwar nicht erstechen, aber ihm sehr wohl was über die Rübe ziehen könnten. Gestern Nacht kam Vi mit hoch erhobenem Kerzenleuchter aus ihrem Zimmer, bestimmt hätte sie Hackfleisch aus ihm gemacht.»

Daniel lacht dröhnend, und dann ist nur noch Knirschen zu hören, als der Mörtel angerührt wird, das Kratzen von Metall auf Stein und das Klack-Klack der Ziegel, die aufeinandergeschichtet werden. Rasch erlischt das Lichtquadrat, und eine weitere Schranke zwischen Violet und der Welt ist errichtet.

Nachdem Daniel sich zu dem Herrenausstattergeschäft in der Church Street aufgemacht hat, das ihm und seinen Brüdern gehört, gibt Grace den beiden Frauen einen Abschiedskuss und schlendert zur Grundschule St Mary’s, die wenige Minuten entfernt neben der Kirche liegt, in der die meisten Anwohner getauft, verheiratet und verabschiedet werden. Diana öffnet in dem kleinen, feuchten Nebengebäude im Hof ihr Wettbüro, lässt das Radio laufen, damit sie über die wichtigen Tagesrennen informiert ist. Ihre Fingernägel, die so dick scharlachrot lackiert sind, dass sie wie in Vinyl getaucht aussehen, sind der einzige Farbtupfer im Raum. Im Laufe des Tages schminkt sie sich nach und nach das Gesicht, ein Foto, das in der Dunkelkammer entwickelt wird, bis sie um fünf Uhr nachmittags für einen roten Teppich bereit wäre; die Verwandlung von junger Witwe zum alternden Starlet ist vollzogen. Violet hingegen legt gewöhnlich nie Make-up oder Nagellack auf, sie trägt ein schlichtes wadenlanges, dunkelblaues Kleid und am Büstenhalter das silberne Kriegsabzeichen ihres Vaters, das ihr Mut verleihen soll.

Eine der Auslagen sieht noch so aus, wie ihr Vater sie hinterließ: voll teurer Kompasse und mit Elfenbein intarsierter Flachmänner, die außerhalb der finanziellen Möglichkeiten ihrer Kunden liegen, den Laden aber von den anderen in der Straße abheben. Das restliche Geschäft der Volackis ist mit billigen und beliebten Artikeln vollgestopft: Gummistiefel hängen an Haken, schwarze Schulturnschuhe sind in hölzerne Ablagefächer gequetscht, Baumwollkleider hängen duftig-luftig an einer Stange in der Nähe des Lagers, in Seidenpapier gehüllte Wolldecken stapeln sich in den oberen Regalen. In Dianas Augen ist das Geschäft eine «Gummizelle», ein erdrückend enger Raum mit gepolsterten Wänden, ein Ort des Wahnsinns, dessen Methode nur Violet kennt, während sich die Waren um sie herum wacklig stapeln. Sie verkauft Messer, Rasiermesser, Seile, Südwester, Ölzeug, stabile Arbeitsstiefel, Seesäcke, Pfeifen, Tabak und Schnupftabak, aber am besten verdient sie, wenn sie den Seeleuten, die auf Fahrt gehen, ihre Heuervorschüsse auszahlt. In den tiefen Fächern der schweren Kasse mit der Handkurbel, die ausschließlich von Violet bedient wird, sammeln sich täglich mehr als hundert Pfund an, vom Safe oder der Schublade, in der sie größere Scheine aufbewahrt, ganz zu schweigen. Die letzten Kunden kommen nach Ladenschluss, klopfen diskret, aber ungeduldig gegen die Glasscheibe, benötigen dringend Streichhölzer oder Zigaretten; damit das Leben unkomplizierter wird, nehmen es alle mit den Gesetzen nicht ganz so genau.

LABA
2

Allmählich wird das koschere Hackfleisch, das in der Pfanne brutzelt, braun, und Mahmood gibt einen Teelöffel Chilipulver ins Öl. In East London kaufte er immer koscheres Fleisch, denn ein paar Häuser weiter befand sich ein guter Metzger, und koscher ist aus religiöser Sicht genauso gut wie halal, und mittlerweile schmeckt es ihm sogar besser. Er schnuppert an dem Gewürz mit dem geheimnisvollen Hindi-Etikett und riecht Kreuzkümmel, Gelbwurz und Ingwer heraus – passt schon – und streut einen Teelöffel über das Lamm. Zum Mittagessen gibt es dazu Zuckermais aus der Dose und abends zum Rest den übrig gebliebenen Reis. Besser werden seine Mahlzeiten derzeit nicht, obwohl er als Gehilfe eines Smutjes Dämpfen, Schmoren und Braten gelernt hat und, als er aushilfsweise in der Küche der somalischen Pension arbeitete, in der er letztes Jahr wohnte, auch Backen.

Immer noch ist Mahmood fassungslos, dass er nun ebenfalls zu den Männern gehört, die für sich selbst sorgen und in der Einsamkeit eines kalten möblierten Zimmers ihren Teller auf dem Schoß balancieren müssen. Er hat Laura immer in der Küche geholfen – welcher andere Mann hätte das getan? –, notgedrungen, denn ihr fehlt es an Geschmack. Es war ihm gelungen, ihr die Verwendung von Kräutern und Gewürzen beizubringen, aber trotzdem kamen ihre Karotten immer noch halb roh auf den Tisch, die Kartoffeln matschig, das Fleisch knochentrocken. Jetzt ist er gezwungen, neben allem anderen auch noch seine Mahlzeiten allein zu bewerkstelligen. Alles mit der Hand am Arm.

Mahmood muss sich in Erinnerung rufen, dass er Laura nicht hasst. Dass er ohne sie nicht besser dran ist. Dass diese wutroten Gedanken, die ihm durch den Kopf schießen, während er die Straße entlanggeht – ihre Titten sind zu klein, ihr Arsch ist zu flach, ihr Gesicht zu lang –, gar nicht ernst gemeint sind.

Laura hat ihn an diesem Längen- und Breitengrad festgenagelt. Er wohnt einzig und allein in diesem Haus – zusammen mit schwarzen Männern, mit denen er weder Sprache, Kultur noch Religion teilt –, damit er sie beobachten und die Dinge zwischen ihnen am Laufen halten kann, bis sie zur Vernunft kommt. Er hat im Blick, mit wem sie Umgang hat, und überquert alle paar Tage die Straße, um seine Söhne zu sehen. In vielerlei Hinsicht ist seine derzeitige Situation eine Verbesserung gegenüber der heruntergekommenen somalischen Pension, aus der er nach dem Vorfall in der Moschee ausziehen musste. Er hat ein eigenes Zimmer mit Schloss an der Tür, wohnt nicht mehr in einem mit Feldbetten zugestellten Dachboden. Er muss nicht mehr das nächtliche Dauerhusten ertragen, den Tratsch, die tropfende Wäsche, die an den unter der Decke gespannten Leinen trocknet. Sämtliche Matrosen dort waren faule Säcke, die im Bett kleben blieben und darauf warteten, dass ein anderer aufstand und den Ofen anfeuerte. Mahmood erinnert sich an das vergilbte Blatt mit den Vorschriften, das über seinem Bett an der Wand hing und dessen Text ihm Warsame zum Abschied laut vortrug, ehe er ihm befahl, die Koffer zu packen.

  1. Der Betreiber einer Seemannsunterkunft darf weder Spirituosen ausschenken noch an ihrem Verkauf in irgendeiner Weise beteiligt sein. Er darf weder mit Bekleidung, Seemannsausrüstung oder Bettzeug handeln oder am Handel mit oben genannten Objekten Interesse zeigen.

  2. Das Gesundheitsamt, Vertreter des Handelsministeriums und die Polizei haben jederzeit das Recht auf Zutritt und Inspektion des Heims.

  3. Der Betreiber hat jedem, der in seinen Schlafräumen unterkommt, mindestens einen Kubikmeter Raum zur Verfügung zu stellen. Die Zahl der Beherbergten darf die vom Stadtrat genehmigte nicht überschreiten.

  4. Der Betreiber muss hinsichtlich WCs, Waschgelegenheiten und allgemeiner Hygiene bestimmte Auflagen erfüllen. Er hat die entsprechenden Verordnungen der Stadt sowie die Gebühren für die Nutzung der sanitären Einrichtungen an gut sichtbarer Stelle aufzuhängen. Die zu entrichtenden Gebühren für die Nutzung dürfen die der ausgehängten Gebührenordnung nicht überschreiten.

  5. Der Betreiber darf im Heim weder Diebe, mutmaßliche Diebe, Prostituierte, mutmaßliche Prostituierte oder andere Personen von moralisch zweifelhaftem Charakter beherbergen bzw. hat solche umgehend auszuweisen.

Mahmood hatte gelacht, als Warsame zum letzten Punkt kam. Er war also nicht besser als eine Prostituierte? Ajeeb. Er packte seine Kiste, räumte seinen Kubikmeter und zog noch am selben Nachmittag bei Doc Madison ein.

Roter Backstein und Bleiglas, es riecht nach Bleiche und Niederlage. Das Arbeitsamt wirkt wie eine Kirche, Stellenanzeigen fallen von den Wänden wie Gebetsbilder, und kleinliche Verwaltungsmitarbeiter teilen staatliche Zuwendungen so unnahbar aus, wie Priester Oblaten in bedürftige Münder legen. Es wimmelt von arbeitslosen Berg- und Hafenarbeitern, Fuhrleuten, Hilfskräften, Klempnern, Straßenhändlern und Fabrikarbeitern, die jeglichen Blickkontakt miteinander vermeiden. Die Kiefernbohlen vor dem Schalter tragen Spuren der schweren Arbeitsschuhe und sind mit Zigarettenstummeln und Streichhölzern übersät.

SCHWEISSER GESUCHT

ZEHN JAHRE BERUFSERFAHRUNG ERFORDERLICH

NOCH NICHT VOLLJÄHRIG?

LEHRSTELLEN

ZIMMERLEUTE GESUCHT

TOTENGRÄBER

Mahmood steckt die Hände in sein Sportjackett und schiebt sich auf der Suche nach Arbeit in einer Gießerei oder einem Kesselraum an den Aushängen entlang. In seinen Taschen hat er nur Klimpergeld, alles andere ging beim Pokern drauf. Keine aussichtsreichen freien Stellen; keine der Firmen, die üblicherweise Farbige einstellen, hat Bedarf. Er betrachtet nochmals die Totengräber-Ausschreibung des Western Cemetery. Die Bezahlung ist gar nicht so schlecht, aber beim Gedanken, harte, feuchte Erde schaufeln und steife Leichen in den Löchern verbuddeln zu müssen, schüttelt er unwillkürlich den Kopf und sagt leise: «Astaghfirullah.»

Tief zieht er sich den Homburg in die Stirn, nimmt einen gelben Zettel, auf dem die Nummer 9 steht, und wartet neben einem der schweren Heizkörper, bis er an der Reihe ist und zum Schalter vortreten kann. Die Hitze, die von den gusseisernen Rippen ausgeht, dringt durch seine dünne Hose bis auf die Haut, eine Mischung aus Wohlgefühl und Schmerz, und er wippt hin und her, um etwas Abstand von der Hitze zu gewinnen. Im letzten Trampdampfer, auf dem er arbeitete, hatten die Besitzer neue Kessel einbauen lassen, und alle Messingbeschläge glänzten golden im weißen Licht der Feuersbrunst. Bewundernd war er einen Schritt zurückgetreten, ehe er Kohle nachschaufelte und dadurch das weiße Licht in ein nahezu fühlendes, farbloses Gas verwandelte, das rückwärts durch den Schornstein hinaufstieg wie ein seiner Lampe entfleuchender dschinni. Mahmood gebar und nährte dieses Feuer, von Gelb zu Orange zu Weiß zu Blau bis zu jener namenlosen Farbe, die reine Energie war. Wie es wohl wäre, die wenigen Zentimeter zu überwinden, die ihn davon trennen. Ob ihm die Haut wie in der cadaabka wie ein Laken vom Fleisch fiele? Diese Feuer hatten ihn geformt, ihn vom mickrigen Kombüsenjungen zum muskelbepackten Heizer gemacht, der stundenlang am Höllentor stehen konnte, das Gesicht geröstet und mit Kohlenstaub verschmiert.

«Nummer 9!»

Mahmood setzt sich auf den Stuhl vor Schalter 4 und legt den Hut auf dem Knie ab, ehe er seine graue Kennkarte aushändigt.

Die Frau vor ihm trägt ein braunes Tweedkostüm und weinroten Lippenstift, das Haar ist zu einem dicken Knoten hochgesteckt, über den sich ein Haarnetz spannt. Sie sieht Mahmood über den Rand ihres kleinen Metallbrillengestells hinweg an. «Was kann ich für Sie tun, Mr Mattan?», fragt sie, während sie den Ausweis unter die Lupe nimmt.

«Ich brauch staatliche Hilfe, keine Arbeit gut für mich.»

«Was können Sie?» Sie dehnt jedes Wort.

«Heizkessel. Steinbruch.»

Sie sieht ihre Unterlagen durch; ihr Verhalten ist höflich, freundlicher als das mancher anderer Mitarbeiter, die ihm offenbar grollen, ob er nun Arbeit sucht oder Arbeitslosengeld einstreicht.

«Es gibt was in einer Gießerei, aber ich glaube nicht, dass Sie geeignet sind.» Den Rest lässt sie ungesagt.

Er begegnet ihrem Blick und verkneift sich ein verbittertes Lächeln.

Sie stempelt die Kennkarte an den richtigen Stellen und zählt zwei Pfund und sechs Shilling ab.

«Einen schönen Tag, Mr Mattan.»

«Ihnen auch, madam.»

Mahmood steht auf, faltet die Pfundnoten und steckt sie in seinen Geldbeutel, setzt den Hut auf und lässt die Schwermut des Arbeitsamts zugunsten von Rennbahntrubel und Pferdegetrappel hinter sich.

Die Rennbahn in Chepstow ist in einem guten Zustand; Nieselregen lässt den Geruch von Erde, Gras und Pferdescheiße emporsteigen. Morgens lief es bei den Hunderennen für Mahmood nicht besonders, aber als er jetzt setzt, hat er ein besseres Gefühl. Hufe donnern, der Boden bebt, sein Herz hämmert, die anderen Zuschauer brüllen oder flüstern: «Komm schon, komm schon.» Ein Japsen, als ein Reiter abgeworfen wird, und dann, ohne dass ein Atemzug Mahmoods Lungen entweicht, setzt sich sein Pferd mit vorgestrecktem Kopf von der wogenden Masse aus Muskeln und Mähnen ab, wird angepeitscht, angepeitscht, angepeitscht, bis über die Ziellinie. Das Konfetti der in den Wind geworfenen Wettscheine bestätigt, dass er als einer der wenigen Grips genug hatte, ein Risiko einzugehen und auf diesen Hengst zu setzen; über zehn Pfund Gewinn bei 20: 1. Als er das Pferd auf der Koppel sah, entschied er sich im letzten Moment um. Ein hübscher Rappe, der ihm, darauf hätte Mahmood schwören können, zulächelte, als der Groom ihn am Zügel vorbeiführte. Zudem ein Glück verheißender Name, Abyssinia. Namen, die mit A anfangen, bringen ihm Glück, und in Abessinien war er auch schon, ein weiteres Zeichen. Wahrscheinlich sollte er sich mehr auf As konzentrieren. Bisher gewann er mit

Achtung

Ambitious Daisy

Apache

Artist

Angel Song

Artois

Arkansas’s Pride

Atlantic Revelry.

Fünf Pfund sollte er schleunigst Doc Madison für das gemietete Zimmer in der Davis Street geben, ehe sie ihm durch die Finger rinnen und der alte Zausel ihm richtig im Nacken sitzt. Den Rest wird er für seine Söhne und Laura ausgeben, sie verwöhnen, jetzt, da die Strafe abbezahlt ist, die ihm das Gericht aufbrummt. Diese letzte Sache war ein Fehler und trug ihm im Polizeiregister nicht nur Diebstahl, sondern auch noch den Tatbestand des Frevels ein; er hat die Schraube überdreht und alle gegen sich aufgebracht. Der freitägliche Schuhhaufen vor der zawiya schien gewissermaßen vogelfrei – man konnte fast problemlos mit einem Paar antraben und mit einem anderen abmarschieren –, aber das zakat-Geld war absolut haram. Bis auf Berlin kann er keinen von ihnen mehr um etwas bitten.

Als er am Lichtspielhaus vorbeikommt, sieht er hoch, welche Filme gerade laufen: Doppeltes Dynamit. Immer noch. Neu im Programm sind Quo vadis und African Queen. Quo vadis wird er sich ansehen, über African Queen