Über dieses Buch

Die 14-jährige Lan schuftet unter unmenschlichen Bedingungen in einer Fabrik, die Markensportschuhe herstellt. Lan kann nicht kündigen, denn ihre Familie braucht das Geld. Dann kommen ihr aber die Tochter eines deutschen Arbeitsinspektors und der Sohn des Fabrikbesitzers zu Hilfe. Zusammen versuchen sie, die Situation der Arbeiter endlich zu verbessern ...

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Glossar der vietnamesischen Ausdrücke

1

Lan zuckt vor Schmerz zusammen, als sie den Schlag auf ihrem Rücken spürt. Erschrocken fährt sie hoch und sieht die mitleidigen Blicke ihrer Arbeitskolleginnen. Sie alle wissen, was jetzt passieren wird, denn es gibt nur wenige unter ihnen, die es noch nicht erwischt hat. Je länger man hier arbeitet, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit. Niemand kann auf Dauer entkommen.

In der großen Halle gibt es wohl nur einen, der kein Mitleid hat: Minh, der ihr direkt gegenüber sitzt und sie hämisch angrinst. Seit Tagen hat er Lan nicht aus den Augen gelassen, jede ihrer Bewegungen beobachtet, auf den Moment gewartet, wo Lan vor lauter Müdigkeit mit dem Kopf auf die Werkbank kippen und in diesen kurzen ohnmachtsähnlichen Schlaf fallen würde, den alle Arbeiter in der Fabrik kennen und fürchten.

Wieder trifft sie der Bambusstock der Aufseherin und das Grinsen in Minhs Gesicht wird noch breiter. Chi Dung, eine der vier Aufseherinnen, die zur Kontrolle der Arbeiter durch die Reihen gehen, ist bekannt für ihre unnachsichtige Härte, sobald sie jemanden erwischt, der nicht mit hundertprozentigem Einsatz bei der Arbeit ist.

Vielleicht hat Minh sie sogar herbeigewunken, als er sah, wie Lans Augen immer öfter vor Erschöpfung zufielen und ihr Kopf Richtung Werkbank sank.

Lan beißt die Zähne fest zusammen, während ihr die Tränen in die Augen schießen.

Ein drittes Mal schlägt Chi Dung zu, Lan krallt ihre Hände in das Leder des Sportschuhs, der vor ihr auf dem Tisch steht. Die Tränen schießen ihr in die Augen. Schnell beugt sie ihren Kopf nach unten, versucht die Tränen mit dem Ärmel abzuwischen. Sie wird nicht weinen! Diesen Triumph wird sie weder der Aufseherin noch Minh gönnen.

»Aufwachen, du Schlafmütze! Du wirst nicht fürs Schlafen bezahlt!« Die Stimme der Aufseherin schallt durch die Fabrikhalle. Überall werden Augen weit aufgerissen, Rücken gestrafft, flinke Hände arbeiten mit doppelter Geschwindigkeit weiter.

Es ist 22 Uhr. Die offizielle Arbeitszeit ist seit vier Stunden überschritten, es ist die dritte Nacht in Folge, in der sie arbeiten müssen, um den großen Auftrag pünktlich zu erledigen. Die dritte Nacht, in der sie gegen die immer stärker werdende Müdigkeit ankämpfen. Ein fast aussichtsloser Kampf, doch niemand möchte entlassen werden.

Die Aufseherin stößt Lan mit ihrem Stock an: »Los, hoch mit dir! Gerade stehen!«

Lan springt auf und stellt sich aufrecht wie ein Soldat vor ihrem Stuhl auf, die Arme steif nach unten, die Hände an die Hosennaht gepresst.

»Mitkommen!«, kommandiert Chi Dung.

Lan stolpert hinter ihr her durch die Reihen der Arbeiterinnen, von denen sich niemand mehr traut, sie anzublicken. Alle schauen auf ihre Werkstücke und hoffen, dass nichts in ihrem Verhalten den Blick der Aufseherin in ihre Richtung lenken wird.

Neben der Eingangstür bleibt Chi Dung stehen. Aus ihrer Kitteltasche nimmt sie eine Schachtel mit Streichhölzern, holt eins heraus und bricht es in zwei Hälften.

»Augen auf!« kommandiert sie und Lan reißt ihre Augen auf, so weit sie kann. Je weiter sie die Augen selber öffnet, desto weniger tut es weh, haben ihr die anderen erzählt. Für Lan ist es das erste Mal, und das ist immer am schlimmsten. Chi Dung schiebt die eine Streichholzhälfte unter ihr geöffnetes Augenlid und piekst dann das andere Ende unterhalb des Auges in die Haut. Das Gleiche macht sie mit dem rechten Auge. Sie arbeitet schnell und mit sicheren, geübten Handbewegungen.

Lans Augen tränen vor Schmerz und vor hilfloser Wut. Sie kann ihre Hände kaum ruhig halten, so dringend ist der Wunsch, die Augen zu reiben, der Wunsch, die Streichhölzer herauszureißen und Chi Dung in ihr verkniffenes Gesicht zu schleudern.

Dann muss Lan sich auf einen Stuhl stellen, mit dem Gesicht und ihren durch die Streichhölzer weit aufgespannten Augen zur Halle, als lebende Warnung für alle Arbeiter, auf keinen Fall einzuschlafen.

Für die meisten ist es ein gewohnter Anblick, nichts, was in ihren Masken gleichenden Gesichtern irgendeine Erregung hervorrufen könnte. Nach vierzehn Stunden nahezu ununterbrochener Arbeit fallen in jeder Nacht irgendeinem die Augen zu und so steht auch fast jede Nacht einer von ihnen als Warnung für die anderen dort.

Lan sieht auf ihre gesenkten Köpfe, und sie weiß, dass die Gedanken in diesen Köpfen bei ihr sind, auch wenn es niemand zeigt. Das ist das Einzige, was die Arbeit hier erträglich macht: das Wissen, dass sie alle mitleiden, auch wenn niemals jemand ein offenes Wort oder einen Blick riskiert, solange die Aufseherin in der Nähe ist.

Die meisten Arbeiter in der Halle sind Mädchen und junge Frauen. Offiziell sind sie alle älter als vierzehn, aber da man bei der Einstellung keinen Pass vorlegen muss, die meisten von ihnen nicht mal einen besitzen, gibt es viele unter ihnen, die jünger sind. In letzter Zeit werden sie sogar bevorzugt eingestellt, weil sie billiger sind und alles ertragen. Sie haben auch etwas zu verbergen und brauchen dringend das Geld.

Lan schaut über die gebeugten Köpfe. Niemand sieht in ihre Richtung, niemand außer Minh, der immer wieder den Kopf hebt, nur wenige Sekunden lang, aber sie reichen, sodass Lan den zufriedenen Ausdruck in seinem Gesicht erkennt.

Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Aufseherin ist am anderen Ende der Halle. Lan nutzt die Chance und verlagert ihr Gewicht auf das linke Bein. Vorsichtig bewegt sie das rechte ein wenig hin und her. Als Chi Dung in ihre Richtung schaut, stellt sie es schnell wieder auf den Stuhl.

Von der gegenüberliegenden Wand schaut das Bild Ho Chi Minhs zu ihr herüber. Was hätte er wohl gesagt, wenn er einen Blick in diese Halle werfen könnte? Ein Leben lang hat er für die Freiheit seines Volkes gekämpft, erst gegen die Franzosen, dann gegen die Amerikaner. Die Vietnamesen sollten ihr Leben selbst bestimmen können und nicht länger durch die ausländischen Herrscher ausgebeutet werden. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Das wollte er für sein Volk. »Der letzte Kommunist Vietnams« hat jemand unter das Bild geschrieben. Die Firmenleitung lässt es immer wieder abwischen und einen Tag später steht es wieder da als leiser Protest der Arbeiter gegen die Ausbeutung durch die eigenen Landsleute.

Ihre Augen tränen ununterbrochen, Lan schwankt und wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Die Uhr über der Tür tickt. Eine Stunde, zwei Stunden, Stunden, die man ihr vom Lohn abziehen wird. Wie viel wird am Ende des Monats übrig bleiben? Die 570.000 Dong*, die sie monatlich bekommt, reichen auch so kaum zum Leben. Und wenn man wie Lan und die meisten anderen hier auch noch die Eltern und Geschwister unterstützt, ist der Verlust jedes einzelnen Dong eine Katastrophe.

2

Bald wird die Sonne aufgehen. Lans Gedanken wandern zu der kleinen Hütte am Rande des Reisfeldes vier Stunden Fußweg von hier, wo ihre Eltern bald aufstehen werden. Ihr Vater, um mit dem einzigen Schatz der Familie, dem Wasserbüffel, das Feld umzupflügen, und ihre Mutter, um auf den Markt zu gehen und wie jeden Morgen Gemüse für die morgendliche Reissuppe zu kaufen. Vielleicht reicht das Geld, das sie ihnen bei ihrem letzten Besuch gebracht hat, auch für ein Stück Hühnerfleisch in der Suppe. Ihre jüngere Schwester Thao und ihr kleiner Bruder Hieu machen sich danach auf den Weg in die Schule. Sie haben das große Glück, dass sie noch zur Schule gehen dürfen und hoffentlich einen Abschluss machen werden. Lans Verdienst wird gebraucht, um das Schulgeld und die Bücher zu bezahlen.

Jedes Mal, wenn ihre Gedanken bis hierher geflogen sind, wird sie sehr traurig. Sie hatte so viele Pläne. Ärztin wollte sie werden, damals, als sie noch zur Schule gehen durfte. Sie war die Beste ihrer Klasse. Sie lernte schnell und gerne. Ihre Lehrerin sprach schon von einem Stipendium, das sie ihr besorgen wollte, und von einem Studium in Frankreich oder Amerika.

Und dann kam alles ganz anders.

Der Vater wurde krank, konnte monatelang nicht auf dem Reisfeld arbeiten. Es gab oft nur eine Mahlzeit am Tag, das Schulgeld, die Uniform und die Bücher wurden zum unbezahlbaren Luxus.

Aus der Traum vom Studium.

Lan war dreizehn, als sie die Schule von einem Tag zum anderen verlassen musste, um der Mutter und ihrem Onkel auf dem Reisfeld zu helfen. Vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ging sie neben ihrem Onkel mit dem Pflug hinter dem Wasserbüffel durch die schlammige Erde. Danach steckte sie mit Hilfe der Mutter kleine Reispflanzen in die Erde und schöpfte Wasser aus den Kanälen auf das Feld.

Sobald der Vater wieder gesund war, half er mit, aber Lan wartete vergeblich auf die Erlaubnis, zurück in die Schule zu gehen.

»Wir brauchen dich hier auf dem Feld«, sagte der Vater, als Lan endlich den Mut hatte, zu fragen. »Was willst du in der Schule? Du hast das Nötigste gelernt. Lesen, ein wenig schreiben und rechnen. Mehr brauchst du nicht.«

Lan widersprach nicht, es war der Vater, der die Entscheidungen in der Familie traf. Und da half es auch nicht, dass alle wussten, dass sie als Ärztin später viel Geld verdienen und die Familie unterstützen könnte. Jetzt mussten die Bäuche gefüllt werden und jetzt brauchte der Vater Hilfe.

Nur manchmal, wenn Lan die anderen Kinder morgens am Feld vorbei in die Schule gehen sah, wurde sie traurig.

Der Einzige, der sie verstand, war ihr Großvater. Aber auch er konnte ihr nicht helfen. Der Vater brauchte weiterhin teure Medikamente, und außerdem gab es da noch die Familie des Onkels, die aus dem großen Topf der Familie miternährt werden musste.

Der schönste Tag in der Woche war für Lan der Samstag, wenn sie am frühen Nachmittag ihre frühere Lehrerin besuchen durfte. Die hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Lan in die Schule zurückkommen konnte, und lieh ihr Bücher, erklärte ihr, so weit es in der kurzen Zeit möglich war, die Matheaufgaben und sprach vor allem viel Englisch mit ihr. »Englisch ist der Schlüssel zu eurer Zukunft!«, sagte sie und Lan lernte in jeder freien Minute zu Hause. Manchmal schlief sie über ihren Büchern ein.

Dann kam das Jahr der Riesenüberschwemmung, in dem die Reisernte fast komplett ausfiel. Die Familie brauchte dringend Geld. Ein Nachbarjunge erzählte von den großen Schuhfabriken in der Nähe von Cu Chi, wo man Sportschuhe für die Menschen in den USA und Europa herstellte. 570.000 Dong pro Monat sollte man bekommen, und wenn man Überstunden machte, noch mehr. Lan und die Hoffnungen der ganzen Familie auf einen reichen Geldsegen machten sich auf den Weg nach Cu Chi.

Dort, wo früher nur Reisfelder waren, hatte die Familie Le große graue Hallen gebaut, rundherum eine hohe Mauer errichtet und beim Eingangstor zwei Wachposten aufgestellt. Auf dem Gelände lagen auch die einfachen Unterkünfte für die Arbeiter und Arbeiterinnen.

Es gibt ständig großen Bedarf an neuen Arbeitern, sodass Lan sofort eine Anstellung bekam. Herrn Les Familie hatte gute Kontakte zur Regierung und so erhielt er bevorzugt die begehrten Aufträge aus den USA und aus Europa.

Lan erinnert sich noch genau an ihren ersten Arbeitstag vor einem halben Jahr. Sie kam in die Halle, wo in langen Reihen die Arbeiterinnen saßen. Es war laut, obwohl niemand redete. Alle saßen mit gebeugten Köpfen über ihrer Arbeit. Keiner schaute hoch, als sie kam. Nur die Aufseher, meistens junge Frauen mit gelben Armbinden, musterten sie kritisch.

Man hatte ihr einen Platz in der Reihe zugewiesen, wo die Sohlen geklebt wurden.

Ein süßlicher, betäubender Duft hing in der Luft. Der Klebstoff, mit dem die einzelnen Schichten der Sohlen zusammengeklebt wurden, machte ihren Kopf schwer. Die ersten Wochen hatte sie permanent Kopfschmerzen. Und auch heute noch verursacht der Geruch in den ersten Minuten jeder Schicht eine leichte Übelkeit, an die sie sich aber wie alle anderen inzwischen gewöhnt hat.

Nicht gewöhnen dagegen kann sie sich an den hasserfüllten Blick von Minh, der sie vom ersten Moment an bis heute verfolgt hat. Inzwischen weiß sie, warum er sie hasst. Sie sitzt dort, wo zuvor seine Freundin Phuong gearbeitet hat. Phuong ist entlassen worden, weil sie einmal zu oft auf die Toilette gehen wollte.

»Du warst schon einmal!«, hat Chi Dung sie angeschrien. »Einmal pro Schicht, das muss reichen. Ihr kennt die Regeln. Ihr werdet nicht fürs Pissen bezahlt!«

Phuong hat nichts gesagt. Sie war im zweiten Monat schwanger, ihr war oft übel, aber sie hatte Angst, dass man sie entlassen würde. So schwieg sie, unterdrückte die Übelkeit und kippte dann einfach vom Stuhl. Ohne Schrei, einfach so. Sie lag mit kreidebleichem Gesicht dort. Minh hob sie auf und trug sie hinaus, ohne sich um das Geschrei der Aufseherin zu kümmern. Am Ende hatte er noch Glück, dass nur Phuong entlassen wurde und man ihm bloß die eine Stunde, die er bei ihr draußen im Hof geblieben war, vom Lohn abzog.

Phuong verlor das Kind. Als sie nach einigen Tagen, immer noch sehr bleich, zurückkam und um ihren alten Arbeitsplatz bat, hat Chi Dung auf Lan gezeigt und zu ihr gesagt: »Du siehst doch, dass der Platz besetzt ist. Für Schwächlinge ist hier der falsche Ort.«

Es war nicht Lans Schuld. Der Platz war ihr zugewiesen worden. Und Minhs Hass, der sich eigentlich gegen die Aufseherinnen richten müsste, hätte jedes Mädchen verfolgt, das Phuongs Platz einnahm.

Als die Schicht kurz nach Mitternacht endlich beendet wird, spürt Lan ihre Beine nicht mehr. Ihre Augen brennen und sind rot angeschwollen. Ihre Freundin Hoa hilft ihr, die Streichhölzer vorsichtig zu entfernen. Die Haut ist so gereizt, dass sie sofort einreißt.

»Sieh dich vor!«, ruft ihr die Aufseherin zu. »Draußen warten genügend andere Mädchen, die gerne deine Stelle einnehmen würden!«

Leider hat sie recht. Draußen vor den Toren der Fabrik warten im Schatten unter den Bäumen täglich stundenlang junge Frauen, um einen Platz in der Halle zu bekommen. Sie werden nicht abgeschreckt durch die hohen Mauern, die das ganze Gelände umgeben, nicht durch den Stacheldraht, der an vielen Stellen zusätzlich auf die Mauern montiert ist, und auch nicht durch die Wachposten, die jeden, der hinein- oder herauswill, sorgfältig prüfen.

Die Fabrik ist abgeriegelt wie ein Gefängnis und die Arbeiter hinter den Mauern empfinden das genauso. Und doch sind sie freiwillig hier. Niemand zwingt sie. Wer gehen will, kann gehen, jederzeit. Es gibt keine Arbeitsverträge, keine Paragrafen, die sie schützen, keine, die sie aufhalten. Und doch verlässt kaum einer freiwillig die Fabrik. Sie brauchen das Geld, das sie hier verdienen, auch wenn es kaum zum Überleben reicht.

Ein Stockwerk höher stehen die Betten, dreißig in einem Raum. Ohne sich zu waschen, ohne etwas zu essen oder zu trinken, fällt Lan in ihr Bett und in derselben Sekunde in einen tiefen Schlaf. Die nächste Schicht beginnt bereits in sechs Stunden.

3

»Aufstehen! 6.30 Uhr. Los! Aufstehen!«

Lan kneift ihre Augen ganz fest zu. Sobald der rüttelnde Arm Ruhe gibt, rollt sie sich auf die andere Seite und schläft weiter.

»Lan! Willst du entlassen werden?«

Selbst das ist Lan in diesem Moment egal. Ihr Körper besteht nur aus Müdigkeit und Schmerzen. Ihre Augen brennen.

»Los, komm! Wir sind doch alle genauso müde! Chi Dung wird sich freuen, wenn sie dich rausschmeißen kann!«

Jetzt endlich gelingt es ihr, die Augen einen Spalt weit zu öffnen. Hoa, die auch ihre Bettnachbarin ist, schaut sie vorwurfsvoll an. »Du musst dich zusammenreißen! Erst schläfst du bei der Arbeit ein und jetzt kommst du gar nicht mehr aus dem Bett heraus! Steh auf und kipp dir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich hole uns schon mal Tee.«

Lan taumelt in den angrenzenden kleinen Raum, in dem drei große Fässer mit Regenwasser stehen, daneben bunte Plastikschüsseln. Sie schöpft mit einer Schüssel Regenwasser aus der Tonne und gießt es sich über den Kopf. Einmal und noch einmal. Sie verteilt es über Gesicht und Arme und rubbelt sich mit ihrem Handtuch trocken. Jetzt ist sie immerhin so wach, dass sie die Treppe ins Erdgeschoss hinuntergehen und in dem Gewühle der frühstückenden Arbeiterinnen nach Hoa suchen kann.

Die hat schon zwei Tassen Tee organisiert und steht in der Schlange nach Reissuppe an.

»Na endlich!«, begrüßt Hoa sie. »Ich hab schon Angst gehabt, du bist wieder eingeschlafen.«

Es ist nicht das erste Mal, dass Hoa Lan vor Strafe rettet. Sie ist erst fünfzehn, ein Jahr älter als Lan, aber sie arbeitet seit zwei Jahren in der Fabrik, kennt alle Tricks und kommt auch mit nur vier Stunden Schlaf pro Nacht aus. Sie stammt aus einem kleinen Dorf in Mittelvietnam und ist auf der Suche nach Arbeit hier gestrandet. Vom ersten Tag an hat sie sich um Lan wie um eine kleine Schwester gekümmert.

»Alle mal herhören!« Ein Aufseher schlägt mit dem Klöppel an einen Gong. Schlagartig wird es still.

»Es ist ein neuer Auftrag aus Europa gekommen, und ihr wisst: Jeder neue Auftrag bedeutet Arbeit und Verdienst für euch. Aber der Auftrag ist eilig. Wenn wir die Schuhe nicht pünktlich verschiffen, verliert die Fabrik den Auftrag und ihr euren Job.« Der Aufseher macht eine Pause und schaut aufmerksam in die müden Gesichter vor ihm. Niemand sagt etwas, alle wissen, was als Nächstes kommt. »Wir suchen Arbeiter und Arbeiterinnen, die heute Nacht und morgen am Sonntag freiwillig arbeiten wollen. Wer meldet sich?«

Nur zögerlich gehen die ersten Arme in die Höhe. Lan, die inzwischen bis zur Suppenausgabe vorgerückt ist, nimmt ihre Schale und will gehen, als Hoa sie anstößt.

»Los, Arm hoch!«

»Aber ich will nicht arbeiten. Der hat gesagt ›freiwillig‹. Gleich zweimal hat er das gesagt.«

»Arm hoch – oder willst du entlassen werden?«

»Er hat ›freiwillig‹ gesagt«, wiederholt Lan trotzig. »Ich bin müde und außerdem will ich morgen meine Familie besuchen.«

»Wenn du deinen Arm jetzt nicht hoch nimmst, hast du Dauerurlaub! Los, mach schon!«

Widerwillig hebt Lan ihren Arm und sieht mit Erstaunen, dass die Arme aller Arbeiterinnen oben sind. Nicht eine hat sich getraut Nein zu sagen.

Der Aufseher nickt befriedigt. »Gut so! Gut so! Eure Arbeitsmoral ist zu loben. Ich werde dem Boss davon berichten! Er wird euch sicher auch persönlich ein Lob aussprechen. « Er dreht sich um.

»Ein paar Dong mehr wären noch besser!«

Der Aufseher fährt erbost herum. »Wer war das?«

Er schaut in schweigende Gesichter, Masken, die keine Miene verziehen. »Ihr werdet gut bezahlt. Vergesst das nicht!«

»Und die Überstunden?« Minh ist der Einzige, der sich traut, offen seine Meinung zu sagen. »Gestern waren es sechs, am Tag davor fünf! Wir wollen Geld dafür!«

Jetzt werden auch die anderen mutiger. Sie umringen den Aufseher, der aber sofort eine Trillerpfeife hervorzieht und laut pfeift.

Hoa zieht Lan die Treppe hoch. »Bloß weg hier! Gleich ist die Werkspolizei da, und jeder, der sich eingemischt hat, wird entlassen!«

»Aber Minh hat Recht. Wir arbeiten vierzehn Stunden und mehr am Tag für den gleichen Monatslohn. Oder wird der wegen der Nachtschichten erhöht?«

Hoa schüttelt den Kopf. »Ideen hast du! Natürlich nicht. Überstunden machen wir, damit wir die Aufträge pünktlich erledigen können. Damit der Kunde zufrieden ist und uns einen neuen Auftrag gibt. Damit wir auch im nächsten Monat noch Arbeit haben.«

»Besser hätte das der Boss auch nicht sagen können.« Lan sieht ihre Freundin empört an. »Wir arbeiten doch, damit der Boss sich ein noch größeres Haus bauen kann.«

Hoa zuckt mit den Schultern. »Es ist so, wie es ist! Du kannst es nicht ändern. Du kannst bleiben und durchhalten oder aufgeben und gehen. Protestieren kostet zuviel Kraft und die haben wir nicht, oder?«

Lan nickt. Hoa hat recht. Sie hat ja selbst kaum mehr Kraft, um die Treppe hinaufzugehen.

Mit dampfenden Schälchen und Tassen setzen sie sich ein Stockwerk höher auf ihre Betten und schlürfen die heiße Suppe. Lan hat in den letzten Wochen gelernt, jeden Löffel der Suppe ganz langsam im Mund herumzuschwenken und erst dann hinunterzuschlucken. Sie bildet sich ein, dass sie so länger vorhält, denn für die nächsten acht Stunden wird es nichts weiter geben.