Informationen zum Buch

»Wenn es bei Rockmusik um etwas geht, dann um Ekstase.« Rio Reiser

In diesem sehr persönlichen Buch beschreibt Gert Möbius das Leben seines Bruders, des großen Musikers und Exzentrikers Rio Reiser. Sichtbar werden eine überraschende Persönlichkeit mit all ihren Brüchen und Verzweiflungen und zugleich ein Panorama deutscher Musik- und Politikgeschichte.

Nie zuvor konnte man Rio Reiser so nah erleben, denn dieses Buch enthält neben zahlreichen persönlichen Dokumenten, aus denen Gert Möbius erstmals zitiert, auch Auszüge eines Tagebuches, das Rio Reiser in den Jahren 1972 bis 1974 führte, sowie zahlreiche bislang unveröffentlichte Fotos.

Mit den Anarchohymnen »Keine Macht für Niemand« und »Macht kaputt, was euch kaputt macht« wurde die Band Ton Steine Scherben zum Sprachrohr der linken Szene, wo sich Alternative, Hausbesetzer und Wehrdienstverweigerer sammelten und neue Daseinskonzepte ausprobierten. Gert Möbius schildert in diesem Buch anhand von persönlichen Aufzeichnungen und Tagebüchern Rio Reisers die wilden Jahre, in denen die Welt auf den Kopf und wieder zurückgestellt wurde. Er zeigt aber auch die sensible und verletzliche Seite des Künstlers. Denn Rio Reiser litt an der Liebe und deren Vergehen und stürzte sich in immer neue erotische Abenteuer, deren Scheitern wir seine schönsten Liebeslieder verdanken.

Gert Möbius

Halt dich an deiner Liebe fest

Rio Reiser

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Vorbemerkung

Die Anfänge der Familie Möbius

Wir verlassen Berlin

Streng, Schimpf und Reinlich

Zwischen Nachtasyl und Kehrwoche

Melanchton, Dürer, Lebkuchen, Sachs, Würstchen, Hegel & Rio

Lass uns das Ding drehen

Rio entdeckt die Beatmusik

Noch einmal Nürnberg und Rückkehr nach Berlin

Umsprung Zack – Beng!

»Spinnen, lieben, saufen, rauchen, verrückt sein den ganzen Tag«

Die Bewegung der Studenten

Das Hoffmanns Comic Teater, der SDS und die Kultur

Those were the days

Der erste Joint und Rio outet sich

Die Rocker und das weiße Pferd

Die Roten Steine & Ton Steine Scherben erobern Kreuzberg

Das Hoffmanns Comic Teater auf neuen Pfaden

Die erste Single schlägt ein

Das Open-Air der Liebe

Ton Steine Scherben auf Tour

Die erste Hausbesetzung

Eins thut not

Keine Macht für Niemand

Tagebuch von Rio Reiser von 1972 bis 1974

Die Scherben verlassen Berlin

»Der 8. Tag« und die Folgen

Der alternative Zirkus Tempodrom

Unruhe und Aufbruch

Die Vierte und Tarot

Märzstürme erfassen das Ruhrgebiet

Eissporthalle, Elser Maxwell, Claudia und die Auflösung der Band

Ich habe ums Leben nicht gebeten

Rio auf Solopfaden

Menschenfresser oder König von Deutschland

Alles Lüge

Über Schlager und die Liebe

Dieses Land ist es nicht

Zauberland ist abgebrannt

Rio Volksmund

Rio und die Industrie

Störkraft rüstet ab

Die unsichtbaren Kinder Gottes

Irrlicht

Wohin gehen wir?

Der Vater stirbt

Über den Tod hinaus

Nachbemerkung

Bildnachweis

Über Gert Möbius

Impressum

Vorbemerkung

»Wo hat er das nur her?« Diese Frage beschäftigte den Möbius-Clan, als mein zwei Jahre älterer Bruder Peter bereits mit sieben Jahren malte und zeichnete wie kein anderer in seiner Berliner Schulklasse. Gezeichnet hatte bis dahin laut unserer Familienchronik eigentlich nur einer: mein Vater Herbert. Er war Ingenieur, stand viel am Reißbrett und zeichnete irgendwelche Pläne, etwa für Zirkusakrobaten, die in fünf Metern Höhe in eine große Metallkugel stiegen, und wenn die unten in der Manege ankam, war keiner der Artisten mehr drin.

»Wo hat er das nur her?« Diese Frage stellten sich Tanten, Patentanten, Großeltern und der Rest der Möbiusfamilie nicht bei mir, sondern erst sieben Jahre später bei Ralph Christian, der in der Familie nur Ralli hieß. Aber was die genetisch bedingte musikalische Übertragung auf Ralph, Ralli oder, wie er sich später nannte, Rio betraf, wurden schon mal behutsam vorgetragene Bezugslinien innerhalb der Verwandtschaft hergestellt, denn schließlich spielte in den zwanziger Jahren unser Urgroßvater Ernst Bensel in einem Blasorchester die ganz große Tuba, meistens in der Neuen Welt in Berlin-Neukölln, und meine Mutter Erika ließ sich widerstandslos von ihrem ungarischen Vater zum Klavierunterricht bewegen.

Irgendwann fragte ich mich, was haben meine Brüder eigentlich mehr als ich, bei dem niemals gefragt wurde: »Wo hat er das nur her?«

In den Jahren um 1968/69 schrieb Rio ein Erinnerungsbuch über seine Kindheit und Jugend. Außerdem gibt es von ihm ein Tagebuch, das er mit vierzehn Jahren begann und in den Jahren 1964 bis 1966 schrieb, und ein zweites Tagebuch, das er von Ende 1972 bis Ende Dezember 1974 geführt hat.

Dass ich mich dazu entschlossen habe, in diesem Buch, das meinem 1996 verstorbenen Bruder Rio Reiser gewidmet ist, dieses zweite Tagebuch in Auszügen erstmals zu veröffentlichen, hängt mit dem Eindruck zusammen, dass wir hier mehr über das seelische Innenleben von Rio erfahren, als es ein Biograph in der Auswertung von Interviews mit Zeitzeugen zu schildern in der Lage wäre.

Unabhängig davon werde ich aus anderen bisher unveröffentlichten Texten, aus Rios erstem Tagebuch von 1964 bis 1966, aus Briefen, die sich in Rios Nachlass befinden, und aus Gesprächen zitieren, die Rio in den Jahren 1992 und 1993 mit Hannes Eyber, dem früheren Texter der Band Ton Steine Scherben geführt hat. Für alle Zitate trifft zu, dass sie behutsam auf Orthographie und Interpunktion verändert sind. Rios sehr eigenen Ton wollte ich erhalten.

Ich werde auch nicht nur meine Erinnerungen an Rio und unsere gemeinsamen Erlebnisse aufschreiben – meine Eltern, mein älterer Bruder Peter und Menschen, mit denen wir viele Jahre gemeinsam versucht haben, diese unsere Welt zu verstehen, werden hier ebenso vorkommen wie die Zeit, in der wir aufwuchsen und erwachsen wurden.

Vielleicht fragen Sie sich am Ende dann auch: »Wo habe ich das nur her?«

Die Anfänge der Familie Möbius

»Zu Weihnachten habe ich dieses Buch geschenkt bekommen. Da war es noch leer. Jetzt hat es eine Woche in meinem Schrank gelegen, und ich habe jeden Abend mal kurz nachgedacht, womit ich es wohl füllen kann. Mit Liedern, mit Gedichten, Fotos, Zeichnungen, Geschichten, wahren und unwahren Geschichten, Geschichten, die hätten passieren können, oder die besser nicht passiert wären, oder was noch kommen kann oder kommen könnte, über mich, über meine Freunde oder Feinde. Ok. Wir werden sehen«, schrieb Rio 1964 im Alter von vierzehn Jahren in sein erstes Tagebuch. »Ich fang da an, wo ich angefangen habe. Das ist eigentlich ne anmaßende Behauptung. Denn wer weiß schon, wo es angefangen hat. Vielleicht habe ich da angefangen, wo meine Eltern gerade aufgehört haben. Oder vielleicht schon früher. Wer weiß, wo ich war, zehn Monate bevor ich den Namen Ralph Christian bekam. Ich weiß es jedenfalls nicht. Ok, ok. Es geschah in Berlin. Am Anfang des Jahres 1950. Das ist eine Zahl. Sagt sie Dir was? Sagt sie Dir, dass der Krieg die letzten fünf Sommer nicht mehr erlebt hatte? Dass fast alles noch in Schutt und Asche lag? Dass Berlin nicht mehr deutsche Reichshauptstadt war? Adenauer, Stalin, Kalter Krieg, amerikanischer Sektor, verbuddelte Waffen, SS-Uniformen, Bully Buhlan. Es wird ja alles wieder gut, Angst und Hoffnung, die Russen, die Ostzone, der Ostsektor, was weiß ich noch alles: Graubraun mit ein paar Sonnenstrahlen.«

Zu dieser ersten Seite in Rios Tagebuch kann ich ergänzen, dass unser Vater Herbert der Sohn von Rosa und Paul Möbius war. Beide kamen aus ländlichen Verhältnissen; Paul war so etwas Ähnliches wie Geschäftsführer bei einem Großbauern und Zuckerfabrikanten mit Namen Schmelzer in Alt-Tucheband an der Oder. Die Familie zog nach Berlin, und unser Großvater schaffte es sogar, als Oberkellner bei Staatsempfängen in Erscheinung zu treten. Später, fast bis zum Kriegsende, war er Hausmeister bei William E. Dodd, der von 1933 bis 1937 amerikanischer Botschafter in Nazideutschland war.

Familienfeier mit Eltern, Großeltern, Tanten und Patentanten, Berlin um 1939

Unser Vater lernte bei Siemens Werkzeugmacher, besuchte später die Ingenieurschule Gauß und blieb erst einmal dem Siemenskonzern treu. Er war ein begeisterter Fotograf, und als Siemens in Berlin in die Krise geriet, machte er sich als Konstrukteur und Fotograf selbständig. Er erhielt zum Beispiel den Auftrag vom Berliner Magistrat, sämtliche Ruinen in Berlin abzulichten. Im Krieg war er nicht gewesen.

Die Eltern unserer Mutter hießen Martha und Philipp Braun. Philipp war Friseur mit einem Geschäft direkt neben dem Reichsministerium am Reichpietschufer in Schöneberg. Prominente wie die Familie von Braun nebst Sohn, dem späteren Raketenbauer Wernher Magnus Maximilian Freiherr von Braun, der britische Botschafter, der Magier Erik Jan Hanussen, der angeblich den Reichstagsbrand vorausgesehen hat, und andere damals bekannte Persönlichkeiten waren seine Kunden. Der aus dem rumänisch/ungarischen Temeswar stammende Opa war als wandernder Handwerksgeselle in halb Europa rumgekommen. Als er schließlich in der Reichshauptstadt Berlin gelandet war, lernte er unsere Großmutter Martha kennen, mit der er 1915 ein Kind, unsere Mutter, zeugte, das sie auf den Namen Erika tauften. Geheiratet haben die beiden erst ein paar Jahre später.

Eiserne Hochzeit der Urgroßeltern Bensel, um 1955

Da Philipp nicht nur sehr kulturinteressiert war, sondern auch über gediegene Gesprächsthemen mit seinen arrivierten Kunden verfügen wollte, besuchte er mit seiner Tochter alle relevanten Kulturereignisse in Berlin, Scala, die Comedian Harmonists, die Theater von Max Reinhardt bis Gustaf Gründgens.

Der Großvater unserer Mutter Erika – sie war ein behütetes Einzelkind – hieß Ernst Bensel. Er kam mit seiner Frau Berta aus Altrüdnitz und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Kohlenschipper bei der Gasag. Er spielte, wie schon erwähnt, in der Berliner Neuen Welt die Tuba, bekam mit 83 Jahren Krebs und erfand für sich im Kampf gegen diese völlig unnötige Krankheit eine eigene Therapie, die darin bestand, dass er von morgens bis abends nur noch Äpfel und Schmalz zu sich nahm. Nach gut zwölf Monaten war sein Magenkrebs verschwunden. Mit neunzig Jahren, kurz nach seiner Eisernen Hochzeit, verließ er seine Berta und zog von der Neuköllner Weichselstraße zu einer über dreißig Jahre jüngeren Frau in die Nähe der Berliner Trabrennbahn. Mit 94 Jahren schlief er dann in den Armen seiner dicken Mariendorferin in göttlicher Gelassenheit für immer ein.

Unser Vater Herbert Möbius, um 1935

1943 begann der Bombenkrieg der Alliierten auf die Reichshauptstadt Berlin. Wer irgendwie außerhalb eine Bleibe wusste, machte sich mit Sack und Pack auf, bloß raus aus der Stadt. Unsere Eltern hatten gute Freunde im Fränkischen, in einem Kaff nahe Uffenheim-Illesheim. Dort kamen sie mit meinem damals zweijährigen Bruder Peter erst einmal unter, und in dieser Idylle, im Oktober 1943, erblickte ich das Licht einer Welt, die der »Führer« immer weiter in den Irrsinn zu treiben bereit war, und über neunzig Prozent der Deutschen standen bis 1945 kerzengerade hinter ihm. Meine Eltern gehörten eher zu den übrigen zehn Prozent, sie waren, wie der bekannte Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, in der »Bekennenden Kirche« aktiv. Unser Vater hatte Glück. Sein Status als Uk (unabkömmlich bei Siemens), bewahrte ihn davor, zum Dienst für Volk und Vaterland antreten zu müssen. Als er zum Volkssturm gerufen wurde, versteckte er sich bis zum Ende des Krieges dort, wo ihn keiner kannte.

Ehemalige Privatvilla des amerikanisches Botschafters Dodd, um 1945

Kurze Zeit nach meiner Geburt kehrten wir nach Berlin zurück, aber das war ein Fehler, denn wir zogen natürlich dorthin, wohin ein echter Siemensianer hingehört – nach Siemensstadt. Dieser Berliner Stadtteil war in jenen Kriegstagen ein sehr wichtiges Ziel für amerikanische und englische Bomben. Eine davon traf auch unser Wohnhaus, und alles, was sich meine Eltern zur Hochzeit an Einrichtungsgegenständen angeschafft hatten, ging in alliierten Flammen auf.

Irgendwann landeten wir bei den Eltern unseres Vaters, bei Rosa und Paul, dem Hausmeisterehepaar, das immer noch in der Villa des amerikanischen Botschafters William E. Dodd wohnte. Im Umkreis dieses ebenfalls durch Bomben demolierten Anwesens gab es noch viele andere Botschaften und deutsche Gau-Vertretungen, etwa die der Franken. Als dieser Nazineubau innerhalb weniger Minuten nur noch ein Gerippe war, holte man sich kostenfrei alles heraus, was man durch des Führers Wahnsinn verloren hatte, Möbel, Bilder etc.

Unsere Mutter Erika Braun am neuen Klavier, um 1931

»Das Klavier meiner Mutter hatte Brandspuren auf dem schwarzen Lack. Wir hatten richtig teure Mahagonimöbel, die sich meine Eltern aus der amerikanischen Botschaft angeeignet oder aus angrenzenden Häusern geholt hatten. Zu dieser Zeit haben alle geplündert«, erzählte Rio.

Aus dieser Inbesitznahme durch unsere Eltern hängt in meinem Arbeitszimmer noch immer ein schönes Aquarell, das den fränkischen Hesselberg im Morgenlicht darstellt. Wenn man es genau betrachtet, entdeckt man ganz oben auf dem Gipfel ein Hakenkreuz. Dazu muss man wissen, dass der Hesselberg eine Art Wallfahrtsort gläubiger Nationalsozialisten war. Sie nannten ihn auch den »Heiligen Berg der Franken«.

Wie auch immer, wir wohnten jetzt alle dichtgedrängt in der zerstörten Behausung meiner Großeltern. Gott sei Dank gab es einen großen Garten, und meine Oma Rosa, die vom Lande kam, freute sich, endlich wieder ein Stück Erde bewirtschaften zu können. Dazu gehörte für sie die Anschaffung von Karnickeln und Federvieh. Durch diese geschickt gewählte Ernährungsbasis war ein Überleben für uns alle möglich. Woher der Rest kam, darüber wurde in unserer Familie in diesen harten Zeiten nie gesprochen.

Zu Hause bei Martha, Erika und Philipp Braun, um 1933

Überlebt haben wir den Krieg in den Luftschutzräumen der japanischen Botschaft, schließlich war Japan ein Verbündeter des Deutschen Reiches, und meine Mutter pflegte später des Öfteren zu betonen: »Ohne die Japaner gäbe es uns gar nicht mehr.«

Im April/Mai 1945 kamen als Befreier die Russen nach Berlin. Sie kamen auch zu uns, und die, die da plötzlich vor unserer deutsch/amerikanischen Eichentür standen, waren gottlob alles Offiziere. Sie kamen mit Zieharmonika, Wodka und guter Laune, es gab keine Vergewaltigung und keine Aggressionen, sondern immer nur Party.

Unser Vater, der so gut wie nie Alkohol anrührte, war sehr bemüht, die familiäre Stimmung zwischen uns und den Sowjetsoldaten aufrechtzuhalten, und so schlich er, wenn der Wodka der Russen sich dem Ende zuneigte, heimlich in den Garten und buddelte die dort von Dodd hinterlassenen und von Großvater Paul vergrabenen Weinschätze aus. Die Versöhnungsfeier konnte dann weitergehen, lustig und sangesfreudig, so dass die siegreichen Sowjetsoldaten sogar unseren Vater, der mit seiner Frau lange Jahre im Kirchenchor der Sankt-Matthäus-Gemeinde in Berlin-Tiergarten gesungen hatte, in Stimmung zu versetzen vermochten. Mitglieder meiner Familie könnten beeiden, dass Vater Herbert in diesen Tagen zum ersten und zum letzten Mal betrunken gewesen ist. Dank der strammen Stalinarmee gab es nur diese eine Ausnahme. Und auch ich kann bezeugen, unseren Vater nie lallend oder schwankend erlebt zu haben. Er rauchte zwar wie ein Schlot, lehnte aber als deutscher Ingenieur alle bewusstseinstrübenden oder bewusstseinserweiternden Drogen ab.

Trauung der Eltern in der St. Matthäus Kirche, August 1940

Unsere nichtrauchende Mutter Erika hingegen trank gern mal ein bisschen über den Durst und paffte hin und wieder in unserer Wohnung in der Nürnberger Rankestraße am späten Abend mit mir und Rio einen schwarzen Afghanen. Hätte sie das häufiger getan, wäre sie möglicherweise mit ihrem Siemensianer etwas öfter auf Wolke sieben davongeschwebt. So aber mussten wir unseren Vater nicht nur einmal dabei ertappen, wie er mit einer anderen als mit seiner Erika in die Fremde flog.

Ein Ruinenfoto von Herbert Möbius: Berlin, Bahnhof Zoo, 1945

Die Nachkriegsjahre in Berlin waren eine harte Zeit für fast alle Berliner, egal, ob im westlichen oder östlichen Teil der Stadt. Auch für uns, die wir zwischenzeitlich in die Brückenallee, nahe des S-Bahnhofs Bellevue, gezogen waren. Auf dem Flur stand eine große Tontonne, in der steinharte, getrocknete Kartoffelstäbchen aufbewahrt wurden. Aus diesem Gefäß konnten wir Kinder uns immer dann bedienen, wenn die tägliche Kost unseren Hunger nicht zu stillen vermocht hatte. Unsere Wohnung hatte sieben Zimmer, und die brauchten wir auch, weil unser Vater, mittlerweile freischaffender Konstrukteur und Fotograf, gezwungen war, Büro, Werkstatt und Fotolabor dort unterzubringen. Seine überaus treue Gehilfin für alles, ja in der Tat für alles – auch in der Dunkelkammer –, hieß Frau Freitag.

Onkel Robert und unsere Mutter beim Feiern, Sylvester 1948

Im nahe gelegenen Tiergarten, dort, wo sich viele Jahre später die Akademie der Künste/West niederließ, hatten die amerikanischen Streitkräfte eine Art Open-Air-Puff eröffnet. Wir Kinder durften natürlich nicht da hin.

Unsere Spielplätze waren die Ruinen. Dort fanden fast täglich Bandenschlachten statt. Was sonst hätte unserer kriegsgeschädigten Psyche auch einfallen sollen. Es flogen Ruinensteine durch die Berliner Luft, und einer traf mich eines Tages am Kopf. Heftig blutend lief ich nach Hause. Kollateralschaden? So jedenfalls habe ich es meinen Eltern erzählt, aber die Wahrheit war, dass ich selbst aktiv an diesem Krieg teilgenommen hatte. Wir Kinder aus den Großstädten waren durch die vielen Bombennächte traumatisiert, aber weder Eltern noch Lehrer noch Ärzte waren gewillt, unser Verhalten damit in Zusammenhang zu bringen. Schließlich lasteten auch auf ihnen, die allesamt an Hitler geglaubt hatten, Schuldgefühle, die sie jetzt bemüht waren zu verdrängen. Aber wo Gefahr war, wuchs auch das Rettende: Die Berliner wollten ihre Zeit nicht damit verschwenden, über ihre Fehler nachzudenken. Sie wollten leben, sie wollten essen, rauchen, trinken und lieben.

Wie alle, mussten auch unsere Eltern »hamstern« gehen, das hieß, sich mit irgendwelchen tauschbaren Gegenständen in übervolle Züge zu quetschen und bei den umliegenden Bauern um Gemüse, Fleisch, Milch und Butter zu betteln.

Eines Morgens sah ich auf unserem Balkon ein abgezogenes Kaninchen am Gitter hängen. Beim Anblick dieses toten Tieres wurde mir auf der Stelle schlecht, und ich war in den nächsten zwölf Jahren nicht mehr in der Lage, Fleisch zu essen. Erst 1961, als Lehrling bei der Hamburg-Mannheimer-Lebensversicherung in Nürnberg, musste ich diese Lebensweise aufgeben, weil die dortige betriebsinterne Mittagsküche keine Vegetarier kannte.

Ende 1949 sollten unsere Eltern einen dritten Sohn im noch immer heftig zerstörten Berlin begrüßen. Für den Heiligen Abend war er angekündigt, aber er wollte nicht erscheinen, oder er fühlte sich noch nicht gegen diesen Irrsinn gewappnet, der ihn bald überraschen sollte. Auf der LP »Die Schwarze« gibt es einen Song mit dem Titel »Bleib wo du bist«. Da heißt es am Ende: »Du – noch nicht verfroren, noch nicht verloren, noch ungeboren, und ahnungslos, sicher im Schoß, was wird geschehen, wenn sie dich sehen – Bleib wo du bist!«

Rio kam dann aber doch siebzehn Tage später in der Brückenallee 17 gesund zur Welt. Eine Amme hielt ihn hoch, damit wir ihn alle sehen konnten – und ich soll gesagt haben: »Wir müssen auch mehr Männer sein!« Rio erzählt in seiner Autobiographie, er habe bei seiner Geburt das blitzende Osramlicht seines fotografierenden Vaters gesehen.

Rio Reiser neben seiner Mutter, 9. Januar 1950

Als Rio 29 Jahre alt war, schrieb er einen Brief an seine Mutter, in dem er sich nach dem Sinn seiner Existenz fragte. 1979 war ein Krisenjahr für Rio. Er wusste nicht, wohin seine Reise in jeder Beziehung gehen sollte.

»Wenn ich mich jetzt nicht verrechnet habe, dann war es Ende November 1944, als Du ziemlich genau so alt warst, wie ich jetzt. Stimmts? Bevor ich weiter schreibe, will ich Dir sagen: Ich habe nicht die Absicht, mit dem, was ich jetzt schreibe, Dich in irgendeiner Weise zu belehren, oder Dir Vorwürfe zu machen.

Im Gegenteil!

Dann wollte ich Dich bitten, Dich an Dich selbst zu erinnern, ich meine Dich im November 1944. Ja, da warst Du 29 Jahre alt – wie ich jetzt. Na, ich weiß ja nicht, wie Du damals gefühlt und gedacht hast. Fünf Frühlinge später haben Vater und Du mich erzeugt, und dann hast Du mich auf diese Welt gebracht.

Meine Fragen an Dich sind, ohne dass ich eine Antwort hören will:

Wie kam es dazu? Ich meine zu Mir? Was hast Du Dir von mir erwartet, oder erhofft? Erstaune ich Dich, oder bin ich so, wie Du es erwartet hast? Erkennst Du Dich in mir wieder? Erkennst Du Vater oder wen erkennst Du in mir wieder?

Meine Fragen an mich sind:

Bin ich Dir dankbar? War es auch mein Wunsch, geboren zu werden? Will und kann ich das, was Du von mir erwartest, erfüllen? Ist es möglich zu unterscheiden einerseits zwischen meinen und Deinen ›Scheinwünschen‹ und ›Scheinhoffnungen‹ und andererseits meinen und Deinen ›echten Wünschen und Hoffnungen‹? Erkenne ich mich in Dir wieder? Erkenne ich Vater oder jemand anderes in mir wieder?

Auf meine Fragen an mich will ich versuchen eine Antwort zu geben:

Ich glaube, dass ich war – bevor ich von Vater und Dir gezeugt und von Dir getragen und geboren wurde. Ich glaube, dass es mein freier Entschluss und mein ›Schicksal‹ war, wiedergeboren zu werden und weiter zu lernen, zu erfahren, zu erkennen – neugeboren zu werden – eine neue Stufe zu erreichen, ein anderes Licht zu sehen – bis mich der Widerspruch zwischen Mir und Allem Anderen nicht mehr schmerzt, sondern glücklich macht. Das Spiel erlernen. Du hast mich getragen und geboren.«

Rio Reiser hat immer versucht, die Seele derer zu erreichen, die mit der Welt in Unfrieden lebten, die nicht mehr zu erkennen vermochten, warum sie überhaupt auf dieser Welt ihr Dasein fristeten.

Aber erst einmal musste Ralph Christian Möbius getauft werden. Das sollte in der Kirche geschehen, in der 1940 unsere Eltern schon das Heiratsgelübde abgelegt hatten und Peter 1941 das Taufwasser zu spüren bekam. Ich war zu dem Zeitpunkt noch nicht auf der Welt und weiß deshalb nicht, ob mein älterer Bruder sich problemlos diesem Ritual unterwarf, aber bei Rio war ich dabei. Ich werde nie vergessen, wie er, nachdem der in der Sankt-Matthäus-Kirche tätige Pfarrer meinem Bruder das Weihwasser über den fast kahlen kleinen Kopf gegossen hatte, aufschrie, sich im Talar des evangelischen Geistlichen festkrallte und nicht mehr bereit war, ihn loszulassen. Die herumstehende Verwandtschaft schaute während dieses Happenings alles andere als amüsiert auf den winterlich kalten Steinboden. Aber im dialektischen Sinne konnte man seinen Auftritt in dieser Kirche als Signal für sein späteres künstlerisches Engagement deuten.

Na, auch ’n Schluck? Onkel Robert, seine Frau Lolo und Rio in Berlin, 1950

Rio hat sich auch nicht konfirmieren lassen wollen und sich ganz klar gegen die Eltern durchgesetzt, aber später hat er auf seine Einnahmen dennoch Kirchensteuern gezahlt. Und wieder Jahre später hat er das nicht mehr einsehen wollen, denn schließlich hatte er sich mit vierzehn Jahren geweigert, dieser von ihm nicht akzeptierten Religionsgemeinschaft beizutreten. Mit Hilfe des Anwalts Gregor Gysi hat er gegen diese allein durch die Taufe begründete Vereinnahmung der Kirche klagen wollen. Aber Gysi sah in Rios Klagebegehren keine reale Erfolgschance. Und noch einmal später, nach Rios Tod, wollte die Kirchengemeinde in Leck durchsetzen, dass die Kosten für die Trauerfeier von den Erben bezahlt wurden. Ihr Argument: Rio wäre kein evangelischer Christ gewesen. Da musste ich dem diensthabenden Pfarrer Rios Steuererklärungen der letzten Jahre »unter die Nase halten« – allein von 1990 bis 1996 hatte Rio etwa 65000 DM Kirchensteuer abgeführt.

Es fällt mir schwer, die Geschichte geradlinig zu erzählen. Wie im Leben nicht alles geradeaus läuft, so schweife ich bei der Beschreibung der Ereignisse immer wieder ab. Zuweilen fühlt man sich wie ein Träumender, man sieht die Bilder, hört die Stimmen, riecht den frischen Schnee im Wald, leidet beim Fall in tiefe Abgründe oder schwimmt mutterseelenallein im unendlichen, grünblauschwarzen Meer. Zu jeder Geschichte fällt mir oft noch eine andere Begebenheit ein, eine, die sich mit dem Erzählten aus anderen Tagen vermählt und den einen oder anderen Sachverhalt in einem neuen Licht erscheinen lässt. Ich habe mir deshalb gar nicht erst vorgenommen, nach einem festen Plan vorzugehen. Ich finde es viel aufregender, mich scheinbar ziellos treiben zu lassen.

Wir verlassen Berlin

Kurz nach Rios Geburt, im Jahr 1951, zog die Familie Möbius aus Berlin weg. Warum diese Eile? Ihr dritter Sohn war schließlich noch gar nicht lange auf der Welt. Aber sie müssen schon länger vorgehabt haben, die Stadt zu verlassen. Der Plan ging aber in die große Ferne – nach Brasilien oder Chile. Unser Vater hatte schon Konstruktionspläne nach Südamerika geschickt, welche – das haben wir Kinder nicht erfahren.

Bis es so weit war, hatte ich noch meine Mandeln und mein rechtes Auge verloren. Im Streit mit Peter um einen Stock gab der Klügere, also mein älterer Bruder, nach, und mir fuhr das blöde Holz ins rechte Auge. Seither bin ich auf diesem Auge blind, aber als ein im Sternbild Waage Geborener kann ich damit nicht nur gut umgehen, sondern meine Einäugigkeit hat mir sehr beim Fotografieren und Filmen geholfen.

Kurz vor dem Aufbruch nach Südamerika hatte Großmutter Martha demonstrativ ein scharfes Beil vor unsere Tür in der Moabiter Brückenallee 17 gestellt, um klarzustellen, was sie von den Auswanderungsplänen hielt.

Nun traute sich unsere Mutter nicht mehr, ja zu Südamerika zu sagen, die Pläne wurden umgeschrieben – die Lösung hieß: dann eben nicht nach Südamerika, sondern nur nach Süddeutschland – zurück unter die Siemensknute – ein Rückschritt für unseren armen kreativen Vater und ein sehr fauler Kompromiss.

Das neue Ziel hieß Traunreut. Diesen Ort in Oberbayern gab es erst seit etwa einem Jahr. Hier hatte der Siemens-Konzern ein Werk errichtet, und zwar mitten im größten Giftgaslager Europas. Da erfüllten überwiegend nur die vor den Sowjets geflüchteten ehemaligen Nazis ihr vom Konzern erwartetes Soll.

Unsere neue Heimat Traunreut, Oberbayern

Unsere Eltern ergriffen nicht vor den Russen die Flucht, sondern vor einem Mitglied der eigenen Familie. Die Neuköllner Großmutter Martha Braun wollte nie, dass ihre Tochter sich von ihr emanzipierte. Deshalb ließ sie auch nichts unversucht, um ihre Suche nach einem Mann zu vereiteln, und als dann unser Vater schließlich doch gegen all ihre Widerstände seine Erika 1940 zum Traualtar führte, war das eine für sie unüberwindbare Niederlage. Als unsere Mutter ihr kurze Zeit später freudestrahlend mitteilte, dass sie schwanger sei, schaute die Friseurmeisterin vom Reichpietschufer augenrollend in den bewölkten Berliner Himmel. Dann platzte sie mit dem von meiner Mutter überlieferten Satz heraus: »Ja, mein Kind, bist du denn jetzt völlig wahnsinnig geworden!«

Man muss wissen, dass Martha ihren Philipp in den letzten Kriegstagen im April 1945 von heute auf morgen verloren hatte. Ja, verloren – niemand gab ihr Auskunft, wo er geblieben oder gestorben war. Als er, wie fast alle männlichen Personen (außer meinem schlauen Vater), zum letzten Gefecht um Berlin gezwungen wurde, konnte er sich nicht einfach vom Rasiermesser auf das Maschinengewehr umstellen. Meine Großmutter ließ Abend für Abend immer wieder bedeutungsschwer ihr metallenes Pendel über dem Foto ihres charmanten Mannes schwingen, aber ihr geliebter Figaro aus Temeswar gab keine Antwort auf ihre flehende Frage nach seinem Verbleib. Peter, Rio und ich haben später mit Tischrücken experimentiert – vergebens – keine Antwort. So war die Sache für meine Oma irgendwann, auch mit Hilfe von Schultheißbier und kleinen Portionen Cognac, vom Tisch.

Ich hatte zu dieser Großmutter immer ein sehr ambivalentes Verhältnis, auch wegen meines Unfalls. Sie hatte nämlich an jenem Tag, als ich mein rechtes Auge einbüßte, die Aufsicht über uns zwei Geschwister übernommen und den Streit zwischen mir und meinem Bruder zu spät erkannt …, und dann passierte ausgerechnet unter der Obhut der Frau, die schon bei der Erziehung ihrer Tochter stets unter der Angst gelitten hatte, ihrer mütterlichen Beschützerrolle nicht gewachsen zu sein, dieses Malheur.

In den folgenden Jahren kompensierte sie ihr Schuldgefühl, indem sie mich ohne Übereinstimmung mit ihrer Tochter übertrieben verwöhnte. Ich wurde von ihr geradezu zu einem Großmuttersöhnchen gemacht.

Obgleich unsere Eltern vor ihr die Flucht ergiffen hatten, war sie, kaum waren wir in Traunreut angekommen, auch schon wieder da. Sie wohnte monatelang bei uns und versuchte immer wieder geschickt oder ungeschickt, einen Keil zwischen mich und meine Mutter zu treiben. Was diese Frau, die im Sternbild des Löwen geboren worden war, damit bezweckte, war mir als damals acht- oder neunjährigem Jungen natürlich nicht klar.

Besuch der Großeltern in Traunreut, v.l.n.r.: Gert, Erika, Rio, Rosa, Paul, Herbert und Peter, 1952

Traunreut war, wie schon geschildert, ein Ort des Aufbaus, überall Baustellen, Bagger und Gerüste. Die treibende Kraft war Siemens, und wenn von der Ortsverwaltung fremde Kräfte hinzugeholt wurden, um z.B. Kirchen, das Rathaus und Schulen zu bauen, dann entwarfen die Architekten diese Gebäude in einem strengen Stil, der dem Bauhaus ähnlich war. Meine Schule zum Beispiel war in ein schlichtes Rechteck eingepasst, und die Einrichtung der Klassenräume, die man nur mit Pantoffeln betreten durfte, war einzigartig funktional.

Ich war schon in Berlin ungern zur Schule gegangen. Aus Protest schrieb ich alle Texte spiegelverkehrt, und meine damalige Lehrerin konnte meine Hausaufgaben nur mit ihrem Schminkspiegel aus ihrer Handtasche begutachten und bewerten.

In Traunreut waren die aus den nunmehr polnischen Gebieten geflohenen Lehrkräfte beinahe innovative Waldorflehrer. Zwar verteilten sie bei grober Unterrichtsstörung auch schon mal Ohrfeigen, aber das hielt sich sehr im Rahmen. Was es aber in den fünfziger Jahren sonst in keiner Schule gab: Wir durften auf Drehstühlen sitzen, und zu Beginn des Unterrichts wurde gesungen und Blockflöte gespielt.

»Lieber Herrgott im Himmi, hoab oan anzige Bitt’, wenn die Madeln und die Bub’n singa, lieber Herrgott sing mit.« Das war so in etwa das Erste, was ich in meiner neuen Heimat Traunreut bei Traunstein in Oberbayern, nicht weit vom Chiemsee und den Alpen, in der Schule lernen musste. Der dirigierende Lehrer des Klassenchors hieß Knirch, kam aus dem Sudetenland, trug bayerische Lederhosen und Janker mit Hirschknöpfen und war nach seiner nazistischen Vergangenheit komplett in der bayerischen Volkskultur aufgegangen. Wie er das in den wenigen Jahren, die nach dem Zweiten Weltkrieg vergangen waren, so authentisch schaffen konnte, blieb mir ein absolutes Rätsel. Er war auch der Veranstalter von allen möglichen Feiertagen wie Sonnenwende, Fasching, Knecht Ruprecht, usw. Er organisierte Feste, von denen ich nie wieder in einem der anderen Bundesländer, in denen wir später lebten, etwas gehört habe.

Auch die nicht in eine bestimmte Richtung festgelegte Unterrichtsform entsprach mehr dem Konzept einer Waldorfschule als dem starren Reglement der bayerischen Lehrplangestaltung. Eigentlich hätte hier nach der Naziherrschaft eine fortschrittliche Schulkonzeption im Sinne von Pestalozzi eine Chance haben können. Aber das damalige Bayern und die Traunreuter Eltern waren von solchen »Utopien« noch meilenweit entfernt. Unsere Mutter las allerdings schon damals mit stiller Begeisterung Sigmund Freud und andere fortschrittliche Literatur.

Weil unsere Mutter viel las, nicht unter Langeweile litt und sich ohne Frust dem »Kindergroßkriegen« widmete, fühlten wir uns besser behandelt als die meisten anderen der um uns herum wohnenden Kinder. Dort gehörten oft noch Prügel zur üblichen Kommunikation zwischen Eltern und Schutzbefohlenen.

Mein Bruder Peter ging nur kurz in dieser künstlichen Neustadt Traunreut zur Schule. Unsere Eltern hatten mit ihrem Ältesten Großes vor, schließlich verteidigte er immer innovativer und nachhaltiger seinen Status als Wunderkind. Mittlerweile konnte er nicht nur sehr gut malen, sondern begeisterte sich mehr und mehr für das Theater und für alles, was mit Kostümen, Schminken, Bühnenbild zusammenhing. Als die Eltern erfuhren, dass es nicht weit von Traunreut, nämlich in Stein, ein sehr gutes, kulturorientiertes Internat gäbe, war der Beschluss zwischen Erika und Herbert einhellig – der Junge muss nach Stein! Dort erfuhren sie, dass eine interne Internatsaufnahme nicht billig wäre, sie kostete in etwa so viel, wie unser Vater in einem ganzen Monat als Verpackungsingenieur bei Siemens verdiente. Hätte die Familie, damit das Genie Peter die ihm zustehende Förderung erfuhr, im wahrsten Sinne des Wortes an den berühmten Bettelstab kommen sollen? Und was würde dann aus mir und Rio werden? Die Eltern fragten höflich in der Verwaltung nach, ob es auch noch eine andere Möglichkeit gäbe, ihren Sohn auf dieses Supergymnasium zu schicken. Sie bekamen zur Antwort, es gäbe auch den Status »Externer Internatsschüler«, aber dazu müsste eine besondere Begabung vorliegen. Die Antwort von unseren Eltern kam wie aus einem Mund: »Die liegt vor!« Sie knallten die Mappe mit den Bildern ihres Sohnes auf das Pult. Ein hinzu gerufener Lehrer, der hausinterne Kunsterzieher, betrat das Büro, schaute sich die Werke an und nickte der Sekretärin ein bayerisches Okay zu. Damit war Peter Michael Möbius Schüler des Prominenteninternats Stein, auf dem auch die Kinder von Wieland und Wolfgang Wagner, Nachfahren der Bismarcks, Sprösslinge der Hoteldynastie Adlon usw. waren.

Unser Bruder Peter blühte jetzt richtig auf. Trug er vorher noch wegen einer Hornhautverkrümmung eine gelbe Hornbrille, die schuld daran war, dass er sich ein paar Jahre zuvor noch häufig in der Berliner Volksschule gegen seine aggressiven Schulkameraden mit der blechernen Schulmilchkanne hatte wehren müssen, brauchte er von heute auf morgen keine Sehhilfe mehr. Ein Wunder, aber unsere belesene Mutter hatte schon immer gewusst, dass die meisten Krankheiten seelischer Natur sind.

Peter war also gut untergebracht. Er glänzte in der Schule, animierte die Klasse zu Theateraufführungen und wurde sogar als Externer zum Vorzeigeschüler der Aufbewahrungsanstalt für karrieregestresste Eltern, die beabsichtigten, ihre Kinder hier unterzubringen.

Und wie erging es dem Rest der Familie in diesem ehemaligen bayrischen Giftgaslager? Rio war mit seinen drei bis vier Jahren ein relativ pflegeleichtes Kind, auch langweilte er sich nie und fühlte sich am wohlsten, wenn er allein vor sich hin spielen durfte. Unserer Mutter wurde das eines Tages ein wenig unheimlich, und sie machte sich auf den Weg, um einen Kindergartenplatz für ihren Sohn zu beschaffen. Ihr Ziel war es, Rio mit gleichaltrigen Kindern in Kontakt zu bringen. Er war aber daran überhaupt nicht interessiert und verweigerte sich dem katholischen Kindergarten der Frau Müller kategorisch. In Zweierreihen aufstellen, in Reih und Glied spazieren gehen, jeden Tag immer zur selben Zeit Mittagsschlaf machen, dieser Drill ging ihm total auf die Nerven. Nach ein paar Wochen Versuchsanstalt war das Experiment gescheitert. Zu Hause spielte und malte Rio da, wo er es wollte, Knöpfe konnten für ihn alles Mögliche sein, Autos, Tiere, Soldaten, und er hatte einen Holzbaukasten.

Wenn er auf Spielplätze ging, habe ich ihn aber öfter begleitet, um ihn vor den großen oder dicken Mitspielern in Schutz zu nehmen, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Rio war zwar ein relativ ruhiges Kind, aber wenn ihm etwas absolut gegen den Strich ging, schrie er nicht nur, sondern die Haut an seinen Nasenflügeln verfärbte sich grünlichgelb. Keiner in unserer Familie hatte je so etwas gesehen. Dummerweise lachten Peter und ich, wenn sich diese merkwürdige Hautreaktion zeigte, aber das erregte Rios sensibles Gemüt nur noch mehr.

Ralli (Rio) und ich, 1951

Große Begeisterung für die Schule konnte ich nicht aufbringen. Streber waren sowieso verhasst, sie bekamen jedenfalls in unserer Klasse kein Bein auf den Boden. Die Zeit nach der Schule dagegen war wunderbar für mich und meine Freunde. Fußball spielen, im Winter am nahe gelegenen Idiotenhügel Ski fahren, im Herbst Äpfel bei den bayerischen Bauern um Traunreut herum klauen, Pfifferlinge und Blaubeeren im Wald suchen, auf Bäume steigen, Tarzan spielen, kleine Flüsse stauen, Murmeln spielen, abends bei den Nachbarn Klingelstreiche veranstalten, in Neubauten Versteck spielen, sich Tretroller für 50 Pfennig die Stunde ausleihen, angeschlagene Coca-Cola-Flaschen von der Müllhalde der Traunreuter Coca-Cola-Werke holen und den Pfand im Lebensmittelladen in Bonbons umsetzen, von den amerikanischen Soldaten weggeworfene Kaugummis im nahen Wald finden oder mit selbstgebastelten Pistolen und Flitzbogen Cowboy und Indianer spielen. Den Begriff Langeweile kannten wir in den fünfziger Jahren jedenfalls nicht.

In diesem Voralpenbayern war die Welt noch in Ordnung. Es gab zwei Hausärzte. Dr. Schmidt war eigentlich der Siemens-Werksarzt, aber er hatte nebenbei auch eine Praxis, und, wie unsere Mutter sagte, »von Tuten und Blasen keine Ahnung«. Ohne langen Blick in sein Ärzte-ABC war von ihm keine Diagnose zu erwarten. Der andere Hausarzt hieß Dr. Rabe, ein alter Hund wie Humphrey Bogart, der in seinem offenen Cabriokäfer lässig durch die Siemensgassen fuhr. Wenn er zu einem Hausbesuch gerufen wurde, wusste der Erkrankte, wie jeder im Ort, dass man für den Schluckspecht Rabe einen doppelten Asbach Uralt bereitzustellen hatte. Er war immer guter Stimmung, und böse medizinische Prophezeiungen waren von ihm nie zu erwarten. Auch mich hat dieser Dr. Rabe nach dem obligatorischen Cognac ohne Untersuchung einmal wegen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingewiesen.

Traunreut, dieses vom Dorf zur Kleinstadt aufgestiegene nichtbayerische Phänomen, war aber noch sehr viel mehr für mich und unsere Familie. Unsere Nachbarin Hilde H., die Frau ihres Nazimannes Hänschen, konnte wie meine Mutter nicht nur Klavier spielen, sondern auch singen. Wenn sie Lieder von Zarah Leander schmetterte, war Rio mit seinen fünf Jahren immer hellwach.

Frau Grohmann, die zwei Stockwerke über uns wohnte, kam für uns wiederum aus einer ganz anderen Welt. Nach neuestem Pariser Chic gekleidet, war sie für viele sudetendeutsche und schlesische Frauen zwar der Maßstab für Eleganz und Arroganz, aber auch für ein niveauvolles Gespräch über Literatur und Kunst war sie immer zu haben. Eine Etage zwischen Grohmanns und uns hatte die sechsköpfige Familie Roth ihr Lager aufgeschlagen, alles Vegetarier, und dauernd war einer krank. Auch ohne Fleisch, sagte unsere Mutter, muss man nicht immer gesund bleiben. Vielleicht hatte sie ja recht. Ich als Vegetarier hatte mir meine Krankheiten meist selbst im Häuserkampf in unserer Neubaurepublik zugezogen. So stand ich einmal auf einem langen Brett, das über einem Baubock lag. Wie hätte ich auch ahnen können, dass einer meiner Freunde aus dem ersten Stock eines noch unfertigen Hauses auf die andere Seite des Holzbretts springen, mich so in die Höhe schießen und in einer Art Salto mit der Nase zuerst auf dem Erdboden landen lassen würde. Die Folge war ein schiefes Nasenbein, das ich bis heute wie ein Boxer mit Würde trage.

Streng, Schimpf und Reinlich

Nach fünf Jahren, also 1956, hieß es wieder einmal Abschied von der neuen Heimat nehmen. Unser Familienoberhaupt hatte einen neuen Job in Mannheim bei der Zellstoff Waldorf KG bekommen. Seine Gehaltserhöhung habe ich als Argument für unseren plötzlichen Umzug allen meinen Freunden stolz ins Feld geführt. Statt 550 Deutsche Mark sollte unser Vater nämlich nun etwas über achthundert Mark Lohn erhalten. Für die damaligen Verhältnisse keine Superentlohnung, aber unsere Mutter konnte noch kurz vor unserer Abreise aus diesem Flüchtlingsort immerhin ihren Anschreibezettel beim örtlichen Lebensmittelhändler begleichen. Über dreihundert Miese hatten sich bei Herrn Hermann in den letzten Monaten angesammelt.

»An dem Tag, an dem wir umgezogen sind, is mir dann noch was passiert, was ich nich vergessen habe«, schrieb Rio in seinem Erinnerungsbuch. »Das Wohnzimmer war leergeräumt und nur das Klavier stand noch da. Ich hab auf das linke Pedal getreten, das die Filze von den Saiten hebt, damit sie nachklingen, und dann hab ich darauf rumgeklimpert. Es war natürlich ein irrer Hall in dem Zimmer. Sphären-Musik. Ich bin darauf so mächtig abgefahren, so lange, bis Mutter gesagt hat, dass ihr das Geklimper auf den Geist geht. Das war auch verständlich in all dem Trubel.«

Brühl hieß unsere neue Scheinheimat. Dieser Ort liegt zwischen Schwetzingen und Mannheim, aber richtig bekannt ist er erst viele Jahre später durch die tennisspielende Steffi Graf geworden. Als wir dort ankamen, gab es noch keine Grafs, aber ein kurfürstliches Schloss in Schwetzingen, wo auch schon Mozart um 1789 gewesen war (1790 dirigierte er in Mannheim seine Oper »Die Hochzeit des Figaro«). In diesem Schloss werden seit vielen Generationen traditionell alljährlich die Schwetzinger Festspiele veranstaltet. Wir haben dort einmal die »Die Entführung aus dem Serail« von Mozart gesehen. Auch wenn weder Rio noch ich aufgrund unseres Alters der Handlung folgen konnten, waren wir doch von den Kostümen und dem Bühnenbild beeindruckt. Die Bühne in Schwetzingen ist so großzügig ausgelegt, dass sogar Kutschen mühelos hin und her fahren konnten.

Am Tag des Umzugs wurde Rio in der Kneipe der Pension, in der unser Vater untergekommen war, abgestellt.

»Draußen war es stockdunkel und hier drinnen waren alle stockbesoffen«, erzählte er. »Und dann war ich aber baff erstaunt, dass alle hier unheimlich nett zu mir waren. Zum ersten Mal wurde ich überhaupt von wildfremden Leuten wahrgenommen. ›Ei wie? Komm doch mal her, Bub! Drück doch mal die Musikbox und trink auch mal en Schöppsche!‹ Eine Musikbox hatte ich vorher noch nie gesehen. Da ich schon ein paar Buchstaben kannte, habe ich ›In Hamburg sind die Nächte lang‹, Hans Albers, gedrückt. Das war für mich etwas ganz Besonderes. Ich konnte die Musikbox drücken, und darauf bin ich total abgefahren.«

In Brühl, wo sich Rio wohl fühlte, gab es außer uns Möbiussen nur wenige Zugezogene. Hier begegnete man noch dem originalen badensischen Dialekt. Wenn ein Fotograf sein Modell dazu anhielt, vor und während er den Auslöser drückte, das Wort »Käsekuchen« zu bilden, wäre ein Mädchen aus dem Badischen besser mit dem Wort »Zwetschgenkuchen« bedient gewesen. Zum einen, weil dadurch das typische entspannte und trotzdem bäuerliche Lächeln am besten zur Geltung kommen konnte, und zum anderen, weil Zwetschgenkuchen im Herbst in dieser Gegend das Highlight war. Unser Vater muss jedenfalls als nebenberuflicher Fotograf von diesem »Zwetschgenkuchenlächeln« sehr beeindruckt gewesen sein.

Seine Geliebte Beate Schimpf, die später die Volksschullehrerin von Rio wurde, hatte ein leicht südländisches Aussehen und große schön geschwungene Lippen – war also genau das richtige Modell für den Berliner Ingenieur Herbert, zumal beide vor unserer Ankunft in ein und derselben Brühler Pension Unterkunft gefunden hatten.

Rio ging ebenso ungern in die Schule wie ich. Er wollte nicht den ganzen Tag eingesperrt sein, und er lehnte es ab, das zu lernen, was vorgeschrieben war. Er wollte selber entscheiden, was er wissen wollte. Als ihm der Unterricht bei der italienischen Schönheit Schimpf überhaupt nicht mehr passte, stand er auf, nahm seinen Schulranzen und verabschiedete sich von der Geliebten seines Vaters mit den Worten: »Arrivederci bella donna«. Das war der ungebrochene Witz von Rio mit sieben Jahren, der in die Familiensprache überging und bei jeder passenden Gelegenheit Anwendung fand, auch von ihm.

Bis unser Vater eine Wohnung für uns in Brühl gefunden hatte, mussten wir noch in Oberbayern bleiben. Als er endlich für die Familie eine Wohnung in einem Neubau am Bahngleis von Mannheim nach Ketsch am Rhein gefunden hatte, kam seine Geliebte, die Frau mit den schönen Lippen, unter dem Vorwand, Rios schulische Leistungen besprechen zu müssen, öfter zu uns zu Besuch. Wunderkind Peter hat sie treffend in Pastellfarben gemalt und unser Vater in vielen Posen fotografiert, aber bei unserer Mutter kochte nicht nur das Kaffeewasser über.

Im Zeichen des Skorpions geboren, sann unsere Mutter auf Rache, und so machte sie sich unverfroren an den Bildungsbürger und spitzbärtigen Brühler Apotheker Wilfried Knauss ran. »Spitzbart mit Brille ist nicht des Volkes Wille«, lästerte unser Vater. Ob sich da wirklich etwas abgespielt hatte, vermag ich nicht mehr zu sagen. Ich denke mal, dieser Schachzug hatte weder eine positive noch eine negative Auswirkung auf ihre ohnehin desolate Ehe.

Um der lästigen Schule zu entgehen, täuschte Rio sogar einmal eine Blinddarmentzündung vor. Vier Wochen lag er im Krankenhaus, weil nach einer Ursache für die Schmerzen gesucht wurde.

»Lauter Männer, ich war der einzige kleine Junge da«, erzählte er. »Da wurde gesoffen und gesungen, ich bekam auch schon Mal nen Schluck ab. Die Krankenpfleger brachten die Kästen Bier rein und der Chef sang ›Ich weiß was, ich weiß was, ich weiß, was mir fehlt …‹ Solche Lieder hab ich dann gelernt und auch mitgesungen. Ansonsten konnte ich lesen, so viel wie ich wollte. Damals war es die ›Rasselbande‹, die bekam ich immer mitgebracht.«

Als in Brühl 1957 die 800-Jahrfeier ausgerichtet wurde, fragte sich mein Bruder Peter, ob er nicht den Festzug mitgestalten sollte. Er ging inzwischen in Mannheim auf das Johann-Sebastian-Bach-Gymnasium, hatte eine Laientheatergruppe in Brühl gegründet und in dem Schwank »Der Meisterboxer« von Carl Mathern & Otto Schwartz nicht nur die Hauptrolle übernommen, sondern auch noch das Bühnenbild aus dem Ärmel geschüttelt. Er sprach bei dem für den Festzug zuständigen Volksschullehrer Heinz Streng vor, und diesmal breitete er selber seine dicke Mappe mit den Bildern auf dem Tisch aus. Lehrer Streng prüfte sehr gründlich das künstlerische Material und kam nicht umhin, meinen Bruder in sein Festkomitee aufzunehmen. Bei dieser Episode fällt mir ein, dass unsere Mutter, als sie Peter in Brühl auf der Schule anmelden wollte, nach dem Gespräch mit dem Rektor einen Rückzieher machte. Sie erwähnte, dass mein Bruder Peter Linkshänder sei, worauf der Schulleiter, der Reinlich hieß und der Vorgesetzte von Frau Schimpf und Herrn Streng war, sofort die Ansicht vertrat, dass man ihm dieses Fehlverhalten abgewöhnen müsse. »Leonardo da Vinci war auch Linkshänder«, konterte unsere Mutter empört. Der badische Pädagoge war irritiert: »Wer um Himmelswillen ist das denn nun wieder?«

Mein Bruder Peter mit 16 Jahren auf Brühler Theaterbrettern

Der Festzug zur 800-Jahrfeier kam in Brühl und Umgebung gut an. Es gibt ein schönes Foto, das meinen Bruder Peter überaus stolz im Rokokokostüm auf einem Festwagen zeigt. Ich möchte noch ergänzen, dass sein künstlerischer Einsatz nicht in der Weise honoriert wurde, wie es ihm eigentlich zugestanden hätte. Er hatte fast alle Wagen gezeichnet und auch die entsprechenden Kostüme skizziert, aber Oberlehrer Streng konnte es nicht ertragen, dass ein Sechzehnjähriger ihm vor der Gemeinde Brühl die Show zu stehlen vermochte. Aber dafür hatte Peter in diesem Ort seine erste Liebe entdeckt. Wenn ich mich nicht irre, hieß sie Heidi und war die Tochter des Brühler Landarztes.