Handlungsfelder Sozialer Arbeit
Herausgegeben von
Martin Becker
Cornelia Kricheldorff
Jürgen Schwab
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1 Auflage 2015
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Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-023367-6
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epub: ISBN 978-3-17-026778-7
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Der Band »Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit«, erschienen im September 2012, bildet die Einführung für eine Reihe von Einzelveröffentlichungen zu verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit. In der einführenden Publikation ist das »Freiburger Modell der Handlungsfeldorientierung« genauer beschrieben, das den folgenden Bänden zu einzelnen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit auch zu Grunde liegt. Dieses curriculare Modell für das Bachelorstudium der Sozialen Arbeit nimmt aktuelle Bedingungen und Entwicklungen in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit in den Blick und leitet Aktionen und Interventionen fachlich begründet dazu ab. Dargestellt werden mögliche und notwendige Handlungskonzepte und Methoden, die zu Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, staatlichen Programmen, Trägerlandschaften, Situationen und Personen in Handlungsfeldern diskursiv in Bezug gesetzt werden. Daraus ergeben sich Gestaltungs- und Kontexterfordernisse, die einer eher technokratischen Ver- und Anwendung entgegenwirken, die »reiner« Methodenlehre latent innewohnen. Nach Möglichkeit fließen dazu Hinweise auf Evaluation und zu Projekten der Praxisforschung mit ein. Die in der Reihe vorgelegte Systematik eignet sich für die Gestaltung von Studiengängen Sozialer Arbeit und wird an der Katholischen Hochschule Freiburg seit einigen Jahren bereits in der Lehre praktiziert. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer stärker ausgeprägten Kompetenzorientierung, die im Zuge des Bologna-Prozesses didaktisch erforderlich ist.
Bei der Breite und hohen Differenzierung, die sich in den einzelnen Handlungsfeldern mit ihren unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Aufgaben und Zuständigkeiten ergibt, liegt allen Einzelbänden doch eine gemeinsame Struktur in der Darstellung Sozialer Arbeit zu Grunde. Zunächst wird der Gegenstandsbereich des jeweiligen Handlungsfeldes beschrieben und dessen spezifischer Bezug zur Wissenschaft Sozialer Arbeit hergestellt. Die Wissensgrundlagen des Handlungsfeldes werden unter Berücksichtigung gesellschaftspolitischer wie auch disziplinärer fachlicher Entwicklungen und theoretischer Rahmung aufgezeigt und in einen fachlichen Diskurs eingebunden. Interventionsformen des Handlungsfeldes werden auf der Basis professionsspezifischer Handlungskonzepte und Methoden erläutert. Für die Soziale Arbeit wichtig und geradezu konstituierend sind multidisziplinäre Perspektiven auf Handlungsfelder und soziale Probleme, die in den Beiträgen nicht fehlen dürfen. An praxisnahen Fragestellungen und ausgewählten Situations- oder Falldarstellungen werden soziale Probleme und Ansätze der Bearbeitung modellhaft erschlossen, ohne in die Falle enger, einfacher und scheinbar eindeutiger Lösungsmuster und Rezepte zu tappen. Am Ende jedes Kapitels stehen eine kurze Zusammenfassung oder auch Aufgabenstellung sowie weiterführende Literaturempfehlungen.
Ein wesentlicher Anspruch dieser Publikationsreihe ist es, einen Überblick zu aktuellen Entwicklungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit zu geben und damit einerseits den Gemeinsamkeiten – etwa in grundlegenden Modellen, Orientierungen und Fragen der professionellen Entwicklung – und andererseits den Unterschieden – etwa in den historischen und aktuellen Prozessen – im Sinne eines besseren Verständnisses nachzugehen. Damit kann jeder Band dieser Reihe zu einer Orientierungshilfe im Studium wie im Berufsfeld der Sozialen Arbeit werden, einer Art von Karte oder Wegweiser für die individuellen Richtungsentscheidungen. Je nach dem Vorwissen, der Wahl und dem Zugang des interessierten Lesers kann an einem Handlungsfeld eine vertiefende exemplarische Auseinandersetzung erfolgen. Für Berufsein- oder UmsteigerInnen bietet jeder Band eine fundierte und nützliche Einführung in ein neues Handlungsfeld und kann dort zur Orientierung beitragen. Für alle PraktikerInnen dürfte sich diese Reihe als eine hilfreiche Anleitung zur Reflexion der eigenen Alltagsroutinen und damit zur Weiterentwicklung ihrer Praxis und den Vor-Ort-Konzepten eignen. Die Vergewisserung über und die Entwicklung bzw. Umsetzung von Konzepten und Methoden unter dem aktuellen beruflichen Handlungs- und Veränderungsdruck stellt sicher keine leichte Herausforderung für die Organisationen, die Träger, ihre Mitarbeiter und Teams dar. Eine fachliche Unterstützung, auch in dieser Form der Reihe und auf unterschiedlichen Ebenen, hat sie in jedem Fall verdient.
Freiburg im August 2013
Martin Becker, Cornelia Kricheldorff und Jürgen E. Schwab
Das vorliegende Lehrbuch richtet sich an Studierende und Fachkräfte in den Professionen und Disziplinen, deren Tätigkeit sich auf die Bearbeitung von Problemen und die Unterstützung von Familien richtet. So weit, variationsreich und von Veränderungen gekennzeichnet wie das Feld der psychosozialen Arbeit mit Familien selbst ist das Feld der hier beteiligten Professionen. Dazu zählen:
• Sozialarbeiter/Sozialpädagogen
• Pädagogen, Sonder- und Heilpädagogen sowie Erzieher
• Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichentherapeuten
• Familienberater, Erziehungsberater
• medizinische Professionen, insbesondere Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin, Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Der Konzeption dieses Buches liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass sich die Probleme und Hilfebedarfe von Familien nicht angemessen über einen ausschließlich professionsspezifischen Zugang erkennen und bearbeiten lassen. Wir würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass eine Vielzahl der Probleme und Fehlentwicklungen in der Versorgung von Familien, die seit einigen Jahren in Deutschland diskutiert werden (z. B. das zu späte Erkennen von Kindesmisshandlung in Familien, die eigentlich beim Jugendamt bekannt sind), direkt damit zusammenhängen, dass die im Handlungsfeld Familie tätigen Professionen oft nur in ihrem spezifischen professionellen oder institutionellen Zusammenhang agieren und keine Kooperation bzw. Informationsaustausch über Professionsgrenzen hinweg stattfinden. Darauf weist auch die prominente Familienforscherin Ziegenhain (2012) im folgenden Zitat hin:
»Familien in einem individuellen und passgenauen Sinne zu unterstützen und zu versorgen bedeutet, Hilfen und Leistungen gleichermaßen aus der Leistungspalette Gesundheit wie aus jener der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Rehabilitation und gegebenenfalls auch der Sozialhilfe bzw. der Grundsicherung für Arbeitssuchende auszuwählen. (…) Eine allein erziehende junge Mutter mit mehreren Kindern und massiven finanziellen Schwierigkeiten kann unter Umständen nur dann von einem Programm zur Förderung ihrer elterlichen Kompetenzen profitieren, wenn sie gleichzeitig finanzielle Unterstützung erhält und ihre älteren Kinder betreut werden, während sie sich beraten lässt« (Ziegenhain 2012 S. 88).
Immer noch kommt es vor, dass z. B. ein Kindertherapeut sich nur für die therapeutische Behandlung des ihm anvertrauten Kindes zuständig fühlt, obwohl die Problematik des Kindes im Wesentlichen durch die Probleme im Kontext seiner Familie zu Stande kommen und aufrechterhalten werden; dass medizinischen Fachkräften das Leistungsangebot und die Unterstützungsmöglichkeiten, die die Kinder- und Jugendhilfe böten, nicht bekannt sind, so dass es über eine rein medizinische Behandlung von Familienangehörigen hinaus keine substantiellen Hilfsangebote an die Gesamtfamilie und ihren Kontext gibt; dass soziale Fachkräfte die psychische Störung eines Familienmitglieds nicht erkennen und sie daher nicht in der Lage sind, die Person in einen geeigneten Behandlungskontext zuzuweisen, so dass die Maßnahmen und Hilfeleistungen aus dem Angebot der Kinder- und Jugendhilfe nicht zu substantiellen Veränderungen in der Familie führen; dass Lehrer in der Schule zwar den Zusammenhang zwischen Leistungsproblemen und psychischer Belastung ihrer Schüler erkennen, sich aber nicht aufgerufen fühlen, aktiv zu werden und eine diagnostische und unterstützende Intervention in der Familie in Gang zu setzen. Derartige Beispiele ließen sich noch in vielfältiger Weise fortsetzen.
Daher halten wir auch Ansätze, wie sie bspw. im neuen Lehrbuch »Soziale Arbeit mit Familien« von Uhlendorf et al. (2013) vermittelt werden, die ausschließlich an den Definitionen, Konzepten und Methoden einer Profession, hier der Sozialen Arbeit ansetzen, für verfehlt. Mittlerweile gibt es, auch aus der klinischen Sozialarbeit selbst, deutliche empirische Hinweise darauf, dass klassische Interventionsformen der Jugendhilfe wie z. B. die Sozialpädagogische Familienhilfe ihre Wirkung häufig auch deshalb verfehlen, weil sie eine professionsspezifisch zu eingeengte Vorgehensweise umsetzen, anstatt in Interventionsprozessen systematisch diagnostische, soziale, psychologische, psychotherapeutische, heilpädagogische und medizinische Hilfen, Erkenntnisse und Methoden zu verknüpfen (Gahleitner & Hahn 2008).
Der Schlüsselbegriff einer zeitgemäßen Familienhilfe heute lautet daher: Vernetzung. Der Handlungsfeldbegriff, der in der vorliegenden Buchreihe umgesetzt wird, versucht, die Problematiken, Hilfebedarfe und Interventionsmöglichkeiten aus der dem Feld – hier: Familie – eigenen Struktur und Dynamik zu entwickeln. Professionen und ihre Handlungslogiken kommen erst da ins Spiel, wo Problematiken und Bedarfe von Familien aus einem Verständnis des Feldes selbst klar geworden sind und man die Frage sinnvoll stellen kann, welches Hilfsangebot, welche Intervention, welche Methode hier am ehesten Erfolg verspricht, um dann zu prüfen, von welcher Profession oder Institution – oder einer Kombination von diesen – dies geleistet werden kann. Wir halten es daher auch nicht für sinnvoll, ein Lehrbuch zur Arbeit mit Familien auf der Basis des Methodeninstrumentariums einer Profession aufzubauen, sondern wählen den Weg, Probleme und Hilfebedarfe von Familien zunächst anhand des Entwicklungszyklus der Familie in seinen verschiedenen Phasen aufzubauen, um dann noch spezifischere Problemfelder im Bereich Familie darzustellen. Maßgeblich sind hierbei die aus der Struktur, Dynamik und Entwicklungslogik von Familien hervorgehenden Problemstellungen und Aufgaben. Wie sich im Verlaufe des Buches zeigen wird, sind zeitgemäße professionelle Interventionen in den meisten Fällen nur aus einer Kombination der Handlungsweisen verschiedener Professionen und der Kooperation verschiedener Einrichtungen und Dienste zu leisten. Daher erscheinen uns gerade auch solche Konzeptionen von Institutionen und Diensten besonders zukunftsweisend zu sein, in denen schon institutionell verankert verschiedene Professionen koordiniert zusammenarbeiten und Familien möglichst vielfältige Dienste und Hilfsangebote aus einer Hand bzw. unter einem Dach zur Verfügung stellen. Zu nennen wären hier insbesondere neue Konzeptionen für Familienzentren, das Mehrgenerationenhaus, neue Konzeptionen für Beratungszentren, Familienkliniken sowie die erreichten Fortschritte bei der Koordinierung im Rahmen der Frühen Hilfen, die im Folgenden ausführlich dargestellt werden. Im Bereich der Familienberatung ist das sog. Multidisziplinäre Team sogar gesetzlich fest geschrieben. Besonderer Bedarf an Vernetzung und Kooperation besteht darüber hinaus im Bereich des Kinderschutzes. Ein weiterer Bereich, in welchem eine interprofessionelle Kooperation nun auch gesetzlich festgeschrieben ist, ist die Familiengerichtsbarkeit bzw. die Beratung von Eltern nach Trennung/Scheidung in Sorge- und Umgangsrechtskonflikten (Roesler 2012).
Selbst in der Medizin, beispielsweise in der hausärztlichen Praxis, aber auch in stationären Klinikkontext, ist mittlerweile die Erkenntnis angekommen, dass Patienten Familien haben und eine Erkrankung, insbesondere eine chronische Erkrankung, sinnvoll nur im Kontext der Familie verstanden, diagnostiziert und behandelt werden kann. Diese neue Ausrichtung in der medizinischen Versorgung wird als Familienmedizin bezeichnet, wobei sich dieser Ansatz in Deutschland bisher nur zögerlich durchsetzt, während in den USA eine zum Teil schon jahrzehntelange Praxis und Institutionalisierung der Familienmedizin stattgefunden hat (vgl. McDaniel et al. 1992; einen guten Überblick über die Situation in Deutschland gibt das Themenheft der Zeitschrift Familiendynamik 2/2013). Familienmedizin akzeptiert die grundlegende Tatsache, dass von einer Erkrankung meist auch andere Familienangehörige betroffen sind (z. B. wirkt sich eine Prostatakrebserkrankung beim Mann immer auch auf die Paarbeziehung und die Sexualität aus), dass man bei einem Gespräch mit Angehörigen oder der ganzen Familie sehr viel mehr über die Kontextbedingungen der Erkrankung und ihre Auswirkungen auf die Familie erfährt (typisch ist z. B., dass ein erfahrener Kardiologe bei einer Herzerkrankung des Mannes routinemäßig auch ein Gespräch mit der Partnerin führt, weil er von dieser sehr viel mehr über die Belastungen ihres Partners erfährt) und dass man für eine erfolgreiche Behandlung die Unterstützung von Angehörigen bzw. der Familie gewinnen muss (dies wird z. B. in der psychotherapeutischen Behandlung von Essstörungen systematisch umgesetzt, indem immer auch einen Familiengespräch geführt wird; s. Kap. 12). Der letztere Aspekt der Einbeziehung von Angehörigen in die Behandlung wird vor allem in neueren Ansätzen der Versorgung von psychisch Kranken in gemeindepsychiatrischen Versorgungskonzepten umgesetzt. Während in Deutschland entsprechende Konzepte nur zögerlich umgesetzt werden, haben andere Länder, insbesondere Großbritannien und skandinavische Länder entsprechende Konzepte schon flächendeckend implementiert, und erreichen damit sowohl erfolgreiche Behandlungsergebnisse als auch wirtschaftliche Rentabilität; so konnte im Rahmen eines finnischen Schizophrenieprojektes nachgewiesen werden, dass ab dem Zeitpunkt, in dem im Behandlungskonzept systemische Familientherapie zum Einsatz kam, es zu einer drastischen Verbesserung der Symptomatik der Patienten kam und sich die Rate der Patienten, die nach der Behandlung wieder voll arbeitsfähig waren, nahezu verdoppelt hatte; Entsprechendes gilt für das Improving Access to Psychotherapies (IAPT)-Programm in Großbritannien (Tophoven & Wessels 2012). In einem an diesen Vorläufern orientierten Modellprojekt der Technikerkrankenkasse in Deutschland (Netzwerk psychische Gesundheit) ist ebenfalls eine Einbeziehung der Angehörigen bzw. der Lebenspartner in die Behandlung vorgesehen. In verschiedenen Kapiteln dieses Buches werden exemplarische Ansätze vorgestellt, z. B. das Konzept der Familienrehabilitationsklinik (s. Kap. 14),
Das vorliegende Lehrbuch und die dazugehörige Buchreihe stützen sich auf den Handlungsfeldbegriff und das im Zuge der Bologna-Reform in den darin neu entstandenen Studiengängen entwickelte Modell kompetenzorientierten Lernens, das im Folgenden am Beispiel der Profession Soziale Arbeit näher ausgeführt wird:
»Handlungsfeldorientierung im Sinne des Freiburger Modells bedeutet deshalb, die aktuellen Bedingungen und Entwicklungen in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit in den Blick zu nehmen und die daraus abzuleitenden Aktionen und Interventionen, mit denen die Soziale Arbeit fachlich antwortet, in Bezug zu setzen zu den jeweils passenden, weil notwendigen Handlungskonzepten und Methoden. (…) Handlungskonzepte, Methoden und Techniken werden also auf handlungsfeldspezifische Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, Governance, Trägerlandschaften, Situationen und Personen zugeschnitten. Dadurch werden Gestaltungs- und Kontexterfordernisse deutlich, die an Handlungskonzepte und Methoden zu stellen sind und es wird deren technokratischen Ver- und Anwendungen vorgebeugt, die reiner Methodenlehre latent innewohnt. Handlungsfeldorientierung meint, Lebens- und Problemlagen in der wechselseitigen Bedingtheit von individueller Ausprägung und gesellschaftlicher Kontextrealisierung kritisch wahrzunehmen und zu verstehen und dafür das relevante Erklärung- und Handlungswissen zu vermitteln« (Becker et al. 2012, S. 10f.). Es wäre hier nur zu ergänzen, dass das Gesagte in gleicher Weise für andere Professionen wie die Psychologie, die Medizin oder die Pädagogik gilt.
Das Kompetenzmodell handlungsfeldspezifischen Lernens und Arbeitens soll nun im Folgenden für den Bereich Arbeit mit Familien konkretisiert werden.
1. Analyse- und Planungskompetenz: Die Kapitel dieses Buches zielen darauf ab, den (angehenden) Fachkräften durch Hintergrundinformationen, Erklärungsmodelle, spezifische Theorien und Fallbeispiele eine Analyse- und Interpretationskompetenz zu vermitteln, die dann insbesondere im Kapitel zur Diagnostik zusammenfließt. Für den Bereich der Planung von Interventionen, insbesondere der Hilfeplanung, werden entsprechende problemspezifische Interventionskonzepte vorgestellt.
2. Interaktions- und Kommunikationskompetenz: In der Darstellung der Interventionsformen spielen insbesondere Formen der Beratung, der Familientherapie, der Mediation sowie spezifischer Interventionsprogramme eine zentrale Rolle. Natürlich muss Kommunikationskompetenz praktisch geübt werden, entsprechende Methoden, wie z. B. systemische Gesprächsführung und Fragen, werden problembezogen dargestellt.
3. Reflexions- und Evaluationskompetenz: Indem Hintergrundtheorien, Entwicklungsmodelle und Erklärungskonzepte zur Verfügung gestellt werden, wird Fachkräften ein Interpretationsinstrumentarium an die Hand gegeben, mit dem konkrete Fälle und Problemstellungen reflektiert, begutachtet, interpretiert und erklärt werden können.
1. Selbstkompetenz: Selbstkompetenz meint vor allem die Entwicklung einer professionellen Einstellung und Haltung und die Entwicklung einer professionellen Identität für das jeweilige Arbeitsfeld. Im Feld Familie bedarf es hierzu einer Selbstverortung im Feld der Werthaltungen und Theorien zu Familie. Entsprechende Konzepte werden in Kapitel 1 zur Verfügung gestellt. Unseres Erachtens spielt gerade im Arbeitsfeld Familie hierbei eine zentrale Rolle, die eigene Identität und die eigene Gewordenheit aus der eigenen Ursprungsfamilie heraus zumindest ausführlich reflektiert zu haben, wenn nicht gar im Rahmen von Selbsterfahrung die spezifische Struktur der eigenen Familie durchleuchtet zu haben. Ansonsten besteht bei Fachkräften die Gefahr, dass sie aufgrund unreflektierter eigener Prägungen blinde Flecken aufweisen, die sich im ungünstigsten Falle zum Schaden von Klienten auswirken können.
2. Fallkompetenz: In der psychosozialen Arbeit in ihrer aktuellen Ausrichtung spielt eine zentrale Rolle, dass bei der Bearbeitung von Fällen nicht nur die Probleme, hier der Familie, sondern auch ihre Ressourcen in den Blick zu nehmen sind, um daraus ein geeignetes Hilfsangebot zu entwickeln. Der Aufbau des vorliegenden Buches basiert auf den Entwicklungsphasen der Familie und besonderen Problemstellungen, die sowohl in diesen Familienphasen als auch durch kritische Ereignisse im Rahmen der Familie auftreten können. Zudem ist Familie immer in einem sozialen und auch institutionellen Umfeld verortet, und Hilfeangebote und Unterstützungsmaßnahmen für Familien finden häufig in einem institutionellen Rahmen statt. Beides wird im Folgenden ausführlich dargestellt.
3. Systemkompetenz: Es ist ein Grundverständnis für die hier vorgestellten Konzepte und Interventionsformen, dass Familie als ein System zu betrachten ist und sowohl Probleme als auch deren Veränderung nur in einem systemischen Konzept sinnvoll gedacht werden können. Darüber hinaus, dies ist ein Grundtenor des vorliegenden Buches, kann eine zeitgemäße Familienhilfe nur über eine umfassende Vernetzung von Hilfsangeboten stattfinden. Daher bedürfen Fachkräfte in der Arbeit mit Familien über ein umfassendes Wissen über das komplexe Feld der institutionellen und professionellen Familienhilfe, der daran beteiligten Institutionen und Interventionsformen sowie deren Vernetzung.
Ausführliche Darstellungen zum professionellen Selbstverständnis und zur Entwicklung der Professionen finden sich für die Soziale Arbeit bei Uhlendorff et al. (2013), für die Psychologie bei Schneewind (2010), für die Medizin bei McDaniel et al. (1992).
Borst, U.; Fischer H. R.; v. Schlippe, A. (Hrsg.) (2013): Familienmedizin. Themenheft der Zeitschrift »Familiendynamik«, 38 (2). Stuttgart: Klett-Cotta.
Uhlendorff, U.; Euteneuer, M.; Sabla, K.-P. (2013): Soziale Arbeit mit Familien. München: Reinhardt.
Schneewind, K.A. (2010). Familienpsychologie (3., überarb. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Becker, M.; Kricheldorff, C.; Schwab, J. E. (2012): Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit. In: Kricheldorff, C.; Becker, M.; Schwab, J. E. (Hrsg.): Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer, S. 7–16.
Bei dem Versuch, Familie zu definieren, wird schnell die Verschwommenheit dieses Begriffes angesichts postmoderner Unübersichtlichkeit deutlich. In den unterschiedlichen Festlegungen des Begriffes »Familie« zeigen sich dabei die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte sowie der Wandel in Werten und Sichtweisen. In den Familienberichten der Bundesregierung findet man schon in einem vergleichsweise kurzen historischen Zeitraum enorme Veränderungen. Spricht noch der erste Familienbericht 1968 von Familie als der »Gruppe, in der ein Ehepaar mit seinen Kindern zusammenlebt«, wird im zweiten Familienbericht 1975 schon der Aspekt der Ehe fallengelassen und nur noch von einem »Beziehungsgefüge eines Elternpaares mit einem oder mehreren eigenen Kindern (Kernfamilie)« gesprochen. Der dritte Familienbericht 1979 betrachtet Familie als eine »zwei Generationen umfassende Gruppe von Eltern und Kindern« und unterscheidet vollständige von unvollständigen Familien, 1986 ist Familie dann aber plötzlich eine »soziale Einheit von drei und mehr Generationen«. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen versuchte, diesen gordischen Definitionsknoten mit der einfachen Formel zu durchschlagen: »Familie ist da, wo Kinder sind.« Einige Autoren bezeichnen es angesichts dieser Lage sogar als ein »Ding der Unmöglichkeit, Familie allgemeingültig zu definieren« (Bayerl 2006, S. 43). Zumindest können an jede dieser Definitionen verschiedene kritische Fragen gestellt werden: Ist eine Alleinerziehende mit Kind keine Familie? Endet Familie, wenn die Kinder ausziehen? Bezeichnet Familie die Kernfamilie oder nicht doch gerade den generationenübergreifenden Verband? Im Zeitalter hoher Scheidungsraten setzen sich Familien zudem neu zusammen, und es entsteht die Frage, wo eine Familie endet und die andere beginnt – Scheidungskinder können demgemäß Mitglied in mehreren Familien sein.
Deutlich wird aber auch, dass es doch konstitutive Elemente gibt, die in den verschiedenen Definitionsversuchen immer wieder aufscheinen. Festzustellen ist, dass eine Partnerschaft von Eltern und das Vorhandensein von Kindern hauptsächliche Bestandteile von Familie sind. Die folgende Definition fasst solche konstitutiven Elemente zusammen und scheint damit auch heute einigermaßen konsensfähig:
»Familie ist eine Gruppe von Menschen, die durch nahe und dauerhafte Beziehungen miteinander verbunden sind, die sich auf eine nachfolgende Generation hin orientiert und die einen erzieherischen und sozialisatorischen Kontext für die Entwicklung der Mitglieder bereitstellt« (Hofer et al. 2002, S. 6).
Häufig wird auf die Besonderheit der Familie mit ihrer biologischen und sozialen Doppelnatur hingewiesen: Familien sind in der Regel biologisch miteinander verwandt (aber eben auch nicht immer), zugleich sind sie die intimste Form sozialer Gemeinschaft, in der das höchste Maß an emotionaler Verbundenheit besteht, dass in sozialen Gemeinschaften denkbar ist. In Familien besteht ein besonderes Kooperations-, Solidaritäts- und Loyalitätsverhältnis. Die Familienmitglieder haben jeweils unterschiedliche Rollen und Funktionen, was darauf hinweist, dass eine Familie auch dazu dient, Aufgaben zu verteilen (z. B. Erwerbsarbeit und Kindererziehung); die zentrale Aufgabe von Familie ist hierbei ihre Sozialisationsfunktion: Sie bietet eine einmalige Grundlage, um das Aufwachsen von Kindern und ihre Heranbildung zu kompetenten Mitgliedern der sozialen Gemeinschaft sicherzustellen.
Angesichts der dargestellten Definitionsprobleme spricht man heute auch von »doing family«, d. h. man betont den Herstellungsaspekt von Familie. Damit ist gemeint, dass die Familienstruktur, ihr Zusammenhalt, die Verbindung unter den Familienmitgliedern und die gemeinsamen Aktivitäten jeweils eine Herstellungsleistung der Familienmitglieder sind, die sozusagen jeden Tag neu konstruiert werden müssen (Helming 2010).
Rechtlicher Familienbegriff »Die Familie steht unter dem besonderen Schutze des
Tab. 1: Aspekte des Familienbegriffs
Die aufgeführten Schwierigkeiten beim Versuch, Familie heute zu definieren, sind letztlich auf die gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in diesem Feld zurückzuführen, die auch nach wie vor anhalten. Allgemein wird heute vom »Wandel der Familie« gesprochen, in vielen sozialwissenschaftlichen Analysen wird dies auch als »Krise« oder »Zerfall« der Familie bezeichnet (Peuckert 2008, Nave- Herz 2007). Verschiedene historische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse tragen zu dieser Entwicklung bei und sollen im Folgenden erläutert werden.
Betrachtet man die statistische Entwicklung der Geburtenrate seit Gründung des deutschen Reiches 1871, so hat die epochalste Veränderung schon vor über 100 Jahren stattgefunden: Mit Einführung einer allgemeinen Rentenversicherung entfiel die Notwendigkeit, die Existenz im Alter über eine möglichst hohe Kinderzahl abzusichern – in der Folge fiel die Geburtenrate dramatisch. Je höher ein Land technisch industrialisiert ist, je eher werden dem Kind immaterielle Werte beigemessen, z. B. die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse. Seit Mitte der 1960er Jahre ist die Geburtenrate soweit abgesunken, dass Demografen mittlerweile von einer schrumpfenden Bevölkerung in Deutschland ausgehen, was vielfältige Folgen für Gesellschaft und Politik hat: Stichworte »Überalterung« und »Pflegenotstand«, »Rentenproblem« usw. Einige Daten:
Deutschland hat seit etwa vier Jahrzehnten eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit; 21% der 1965 geborenen Frauen bleiben kinderlos; Ein-Kind-Familien haben sich statistisch gesehen zu einer Normalität entwickelt; Mütter sind bei der Geburt des ersten Kindes immer älter, der Durchschnitt liegt im Moment bei 29,4 Jahren; von den Menschen, die derzeit in Deutschland in der Phase der Familienzeit leben (25–45-Jährige) sind 24% ohne Kinder und 31% ohne Partner (Schneider 2012).
Andererseits täuscht dieses Bild aber auch, nach wie vor ist die traditionelle Kernfamilie mit Vater und Mutter und einem oder mehreren Kindern die weitaus häufigste Lebensform von Familien: im Jahr 2005 lebten 82% aller Kinder unter 18 Jahren in den alten Bundesländern in einer herkömmlichen Kernfamilie, in den neuen Bundesländern 62%. Immerhin noch 48% dieser Familien haben zwei Kinder, 19% haben drei und 8% mindestens vier Kinder. Auch die Verbindung zur Großelterngeneration ist in der Regel gegeben, nur 20% der 10- bis 15-Jährigen haben keinerlei Kontakt mehr zu ihren Großeltern. Im Durchschnitt hat eine Familie in Deutschland 1,6 Kinder, allerdings ist der Kinderwunsch in den letzten 15 Jahren deutlich gestiegen (von 57% 1997 auf 69% 2008). Probleme sind allerdings die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die noch zu geringen Betreuungsmöglichkeiten im Kleinkindalter für berufstätige Eltern. Die Erwerbstätigkeit von Müttern in Deutschland ist immer noch stark abhängig vom Alter des Kindes, im europäischen Vergleich nimmt Deutschland hier eher einen hinteren Platz ein.
Dem steht gegenüber, dass Familie nach wie vor für die allermeisten Menschen den wichtigsten Lebensbereich darstellt und nach wie vor ein hohes Ansehen genießt: 2007 gaben 90% der Deutschen bei der Frage, was für sie persönliches Glück bedeutet, an, dies sei die Familie. In seinem Familienreport 2009 hat das Bundesfamilienministerium festgestellt: Familie gilt nach wie vor als die soziale Mitte der Gesellschaft. Dieser hohe Wert, den Familie hat, findet sich auch bei Jugendlichen: während in Erhebungen in den Jahren 1990 und 2000 noch jeweils knapp 70% der Jugendlichen Familie als einen sehr wichtigen Lebensbereich bezeichneten, waren es 2011 schon 82%. Auch Treue in Partnerschaften wird von den heutigen Jugendlichen sehr hoch bewertet und, wie Erhebungen zeigen, auch gelebt (Institut für Jugendkulturforschung 2012).
Die häufig beklagte Tendenz, Deutschland werde ein Land der Singles, bestätigt sich statistisch nicht, 2007 lag der Anteil der Singles bei 7% und ist seitdem nicht gestiegen. In den mittleren Lebensjahren sind heute anteilig etwa genauso viele Menschen Single wie vor 30–50 Jahren. Der Anstieg der Ein-Person-Haushalte ist erklärbar durch den Trend, dass Menschen später heiraten, dass es mehr alte Menschen gibt, deren Partner verstorben sind, auch durch Mobilitätsbedarfe von Berufstätigen. Darüber hinaus zeigt sich bei einer detaillierten statistischen Analyse, dass viele Singles nur ein Durchgangsstadium zwischen zwei Partnerschaften darstellen, was durch eine erhöhte Trennungs- bzw. Scheidungsrate zustande kommt. Partnerschaft und Familie haben also nicht an Ansehen verloren, es ist schlichtweg mehr Dynamik in diesem Feld entstanden.
Allerdings hat sich Elternschaft heute für viele zu einer möglichen Option entwickelt, die in Konkurrenz zu anderen Lebensalternativen steht. Die Anforderungen an Elternschaft, die Erwartungen an gute Eltern und die Normen, die für Erziehung gesetzt werden, sind immer höher geworden, woran man schnell auch scheitern kann. Gleichzeitig sind aber die Anforderungen im Berufsleben parallel dazu ebenfalls angestiegen, ebenso die Anforderungen an Mobilität und Flexibilität. Das gleiche gilt für Paarbeziehungen: die Erwartungen an eine gute Partnerschaft und an das, was die Partner dem anderen jeweils entgegenbringen und bieten sollten, sind ebenfalls gewachsen.
All das führt Schneider (2012) in folgender These zusammen: »Wachsende Anforderungen an die Elternrolle bei weithin fehlenden Alltagserfahrungen im Umgang mit Kindern führen zu Überforderung und verstärken das Gefühl, etwas falsch zu machen bzw. die wahrgenommenen Erziehungsstandards nicht erfüllen zu können« (S. 29). Zugleich führt diese Romantisierung der Bedürfnisse von Kindern und der Überhöhung der Anforderungen an die Elternrolle zu einer zu geringen Beachtung der Bedeutung der Paarbeziehung für die Entwicklung und die Gesundheit der Familie als Ganzes.
Dem liegt ein grundlegender Wertewandel in der Gesellschaft zugrunde: von Pflicht- und Akzeptanzwertorientierungen zu Selbstwertorientierungen. In diesem Zusammenhang wird oft von einer Krise von Ehe und Familie gesprochen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der sog. »traditionellen Familienform« um eine historisch einmalige Situation handelte, da nie eine Familienform so dominant war wie in der Nachkriegszeit der 1950er und 1960er Jahre. Die moderne Kleinfamilie hatte sich beinahe universell durchgesetzt, es herrschte somit ein Zustand vor, der ungewöhnlich homogen war und diese Familienform als selbstverständliche Normallebensform voraussetzte (Institutionalisierung). Mit moderner Kleinfamilie ist die »… selbstständige Haushaltsgemeinschaft eines Ehepaares mit seinen minderjährigen leiblichen Kindern« (Peuckert 2008, S. 9) gemeint. Mit der »Institution Ehe« ging auch die »Institution Elternschaft« einher. Historisch betrachtet ist diese Familienform keineswegs traditionell, vielmehr findet man vor 1900 ähnlich wie heute eine Vielzahl an Familienformen, u. a. Alleinerziehendenfamilien, Stiefffamilien usw.; diese hatten jedoch andere Entstehungsbedingungen als heute, z. B. eine höhere Sterblichkeitsrate durch das damals nicht behandelbare Kindbettfieber, Kriege u. a. Allerdings muss gesagt werden, dass die heutige psychologische Idee von Familie und Familiensinn erst in der Moderne entstand als ein Phänomen im wirtschaftlich erfolgreichen Bürgertum, bei dem es zu einer Trennung von Arbeit und Familie kam. Erst hier entstand überhaupt die Möglichkeit einer Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, erst hier gab es eigene Zimmer für Familienmitglieder, erst hier entstand eine eigenständige Phase der Kindheit mit ihren emotionalen und Entwicklungsbedürfnissen. Parallel zu dieser Entwicklung entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Idee der romantischen Liebe als der entscheidende Grund für Heirat; insofern entstand auch erst im 19. Jahrhundert die Zwei-Eltern-Familie als ideologisches Normalmuster der Familie. Daher stellt das oft als traditionell bezeichnete Familienmodell von Berufsmann und Hausfrau eine Erscheinung der Moderne dar, ist also erst für eine kurze Zeitspanne bekannt, und insofern im historischen Sinne überhaupt nicht traditionell. Dasselbe gilt für die oft beschworene generationenübergreifende Familie, von der das Bild eines friedvollen und intensiv emotional verbundenen Zusammenlebens von drei oder mehr Generationen unter einem Dach gezeichnet wird. Dies stimmt in keiner Weise mit den historischen Gegebenheiten überein. Zum einen war das Zusammenleben von drei Generationen aufgrund der höheren Sterblichkeit und der niedrigeren Lebenserwartung in früheren Zeiten viel seltener der Fall als heute. Dies hat nebenbei bemerkt auch starke Auswirkungen auf die Gestaltung von Paarbeziehungen: niemals zuvor in der Geschichte erlebten Partner in einer Paarbeziehung so viele Jahre miteinander wie heute, d. h. für viele heutige Phänomene in Beziehungen gibt es keine historischen Modelle. In der landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft der vorindustriellen Zeit war das Zusammenleben der Generationen auf Bauernhöfen eher die Ausnahme und in keinem Falle unproblematisch. Dies belegen rechtliche Regelungen über Erbschaften und Wohnrechte, Altenteilverträge usw., die man noch heute in Archiven in ländlichen Gegenden finden kann. Hier war zum Teil bis ins Detail festgelegt, ab welchem Zeitpunkt die alten Leute den Hof verlassen und aufs Altenteil ziehen mussten, welche Güter und Lebensmittel sie erhielten sowie welche Rechte sie hatten, den Hof zu betreten oder auch nicht. In zahlreichen Märchen aus dem ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit (z. B. Sammlung der Gebrüder Grimm) wird thematisiert, dass man nicht so hart zu den alten Leuten sein solle, sie z. B. nicht verhungern lassen solle, wenn die Lebensmittel knapp sind. All dies macht deutlich, dass das Zusammenleben der Generationen in der vorindustriellen Zeit in keiner Weise romantisiert werden darf (Nave-Herz 2000; für eine ausführliche Darstellung der historischen Bedingungen und des Wandels von Familie s. Seiffge-Krenke et. al. 2012).
Aus soziologischer Sicht haben Prozesse der Individualisierung, der Pluralisierung und der Deinstitutionalisierung die gesellschaftliche Situation von Familie grundlegend gewandelt, die moderne Kleinfamilie ist heute nur noch eine von vielen möglichen Lebensformen. Als bedeutendster Aspekt der Deinstitutionalisierung gilt die »Auflösung und Entkoppelung des bürgerlichen Familienmusters« (Peuckert 2008, S. 29). Die bürgerliche Ehe- und Familienordnung wird unverbindlicher, die Verknüpfung von Ehe und Familie mit Liebe, gemeinsamem Haushalt, Monogamie und biologischer Elternschaft lockert sich: »Liebe kommt gut ohne Ehe aus und Ehe auch ohne Kinder: Überhaupt treten Ehe und Elternschaft deutlicher auseinander: Die ›pure‹ Ehe (ohne Kinder) wird ebenso zur Option wie die ›pure‹ Mutterschaft ohne Ehemann …« (ebd., S. 30). Deinstitutionalisierung bringt neue Freiheiten und eine Zunahme an Wahlmöglichkeiten mit sich (»Multioptionsgesellschaft«), woraus sich allerdings auch Verhaltensunsicherheiten ergeben können. Individualisierung bezeichnet dabei den Umstand, dass angesichts der abnehmenden Bindungskraft traditioneller Wertvorstellungen und Verhaltensnormen die Individuen ihre Lebensläufe und Identitäten eigenständig konstruieren dürfen, aber auch müssen. Dies führt zu der heute zu beobachtenden Pluralität an Lebens- und eben auch Familienformen.
Heute haben besonders kinderlose Lebensformen, wie z. B. nicht eheliche Lebensgemeinschaften und Alleinstehende an Bedeutung dazugewonnen. Aber auch die Struktur der bestehenden Familien hat sich verändert, womit besonders die Stieffamilien und Einelternfamilien gemeint sind. Als Ursache gelten dafür heute u. a. die hohen Scheidungszahlen, woraus sich die neuen Familienformen häufig ergeben. Hinzu kommt, dass es durch die gestiegenen Scheidungszahlen immer mehr Menschen gibt, die wieder als zukünftige Partner infrage kommen.
Es ist allerdings zu beachten, dass trotz des beschriebenen Wertewandels und entgegen anderslautender medialer Darstellungen auch heute noch die Mehrzahl der Bevölkerung nach konventionellen Mustern lebt. Die hohe Scheidungsrate führt dabei nicht zwangsläufig zu einem Bedeutungsverlust der Ehe, es ist viel mehr festzustellen, dass Paare ihre Ehe auflösen, weil sie dieser eine hohe Bedeutung und Wichtigkeit zuordnen, auch in der Hoffnung auf eine spätere bessere Partnerschaft.
Die allgemeine Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung kann man in einer wachsenden Kindorientierung, Verringerung von Kontrolle und einer Verstärkung von Emotionalität und Kommunikation beschreiben, kurz: einem Wandel von einer Autoritätsorientierung hin zu einer Verhandlungs-Beziehung im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Der psychologisch-emotionale Wert von Kindern hat sich erhöht, das Kind wird dementsprechend verändert wahrgenommen und behandelt. Zudem hat sich in der Familienforschung seit den 1990er Jahren eine Sicht auf die Eltern-Kind-Beziehungen entwickelt, welche die individuellen Rechte und Bedürfnisse des Kindes betont: das Kind wird als Akteur in eigener Sache konzeptualisiert. Die Erziehung in der Familie wird vor diesem Hintergrund als »Koproduktion von Eltern und Kindern« verstanden. Der Wandel in der Wahrnehmung von Kindern hat sich zudem in veränderten familienrechtlichen Regelungen gezeigt, besonders im veränderten Kindschafts- und Sorgerecht (s. u.). Diese Regelungen orientieren sich an einem Leitbild, welches ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in den Vordergrund stellt. Damit geht einher, dass der Begriff des Kindeswohls zentrale Bedeutung für die Gestaltung familiärer Beziehungen erhält (s. u.).
Aufgrund der beschriebenen Entwicklungen wachsen heute die Mehrheit der Kinder in Ein- oder Zwei-Kind-Familien auf. Dies und der beschriebene Wertewandel führen zwangsläufig zu neuen Sozialisationsbedingungen für Kinder. Die Funktion der Kinder in den Familien hat sich gewandelt ebenso wie das Selbstverständnis von Eltern: das Kind hat einen hohen Wert und »darf nicht scheitern« mit der Folge einer Intensivierung von Beziehung; Erziehung findet informierter statt; es gibt neue Mutter- und Vaterrollen; immer mehr Leistungen müssen, vor allem von Seiten der Mütter, mobilisiert werden; aufgrund egalitärerer beruflicher Chancen entsteht ein Bedarf nach umfassender Fremdbetreuung von Kindern auch schon unter drei Jahren; usw. Es ist jedoch festzuhalten, dass angesichts der verschiedene Lebensformen der Familie es keinen empirischen Beleg dafür gibt, dass Eltern aufgrund der Lebensform ihre Kinder schlechter erziehen würden; jedoch sind die verschiedenen Familienformen jeweils spezifischen Belastungen ausgesetzt (Tschöppe- Scheffler 2006).
Bei den Einelternfamilien handelt es sich in Deutschland vorwiegend um alleinerziehende Mütter (90%, Bundesministerium für Familie 2009), die entweder schon seit der Geburt des Kindes ledig und alleinlebend sind oder aber verwitwet oder durch Trennung/Scheidung in diesen Status gelangt sind. Dieser Familientyp galt lange Zeit als »unvollständig« und wurde aus der Defizitperspektive heraus betrachtet. Mittlerweile gilt dies als kritisch, da zwar empirisch belegt ist, dass man bei mutter- bzw. vaterlos aufwachsenden Kindern mit Auffälligkeiten rechnen kann, in heutigen Einelternfamilien aber aufgrund des zunehmenden gemeinsamen Sorgerechts und unterschiedlicher praktischer Besuchs-, Umgangs- und Sorgerechtsregelungen die Kinder in der Regel einen regelmäßigen Kontakt und eine anhaltende Bindungsbeziehung zum anderen Elternteil haben (Rauchfleisch 1997, Peuckert 2008). Alleinerziehende sehen sich jedoch trotz gesellschaftlicher Normalisierung spezifischen, v. a. wirtschaftlichen Belastungen ausgesetzt. Die Armutsquote Alleinerziehender ist ca. dreimal so hoch wie im Bundesdurchschnitt, was nachweislich einen schädigenden Einfluss auf die betroffenen Kinder hat (Bundesministerium für Familie 2009). Dies ist in den meisten Fällen bedingt durch die eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten dieser Eltern, was wiederum auf die Notwendigkeit der Schaffung angemessener Betreuungsmöglichkeiten verweist. (Detaillierte Ausführungen zur Auswirkung von Armut auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen finden sich in Bd. 5 dieser Reihe: M. Hugoth: Soziale Arbeit mit Kindern in besonderen Lebenslagen). Darüber hinaus führt die Situation, bei Erziehungsfragen in der Regel auf sich allein gestellt zu sein (Alleinerziehende haben auch ein deutlich kleineres Unterstützungsnetzwerk), häufig zu Überforderung, mit der Folge, dass bei Einelternfamilien ein größerer Anteil von inadäquatem Erziehungsverhalten vorkommt (Vetter et al. 2004). Hinzu kommen Probleme bei Konflikten zwischen getrennten Eltern (s. u.). Gerade in dieser Lebensform sind Eltern also auf Unterstützung angewiesen (Funcke & Hildenbrand 2009).
Die Stieffamilie (auch Patchworkfamilie) ist historisch keine neue Familienform, entstand früher aber in der Regel durch Verwitwung, während sie heute durch Scheidung und anschließende neue Partnerschaften der Eltern entsteht. Ein oder beide Elternteile bringen Kinder in die neue Familienform mit, zusätzlich können gemeinsame Kinder hinzukommen. Generell lässt sich sagen, dass Stieffamilien vor hohe Herausforderungen gestellt sind, als da wären: Akzeptanz des neuen Partners durch die Kinder, Loyalitätsprobleme und Rollenunsicherheiten bei allen Familienmitgliedern, Notwendigkeit der Abstimmung mit außerhalb der Familie lebenden Elternteilen u. a. m. Stieffamilien haben ein nicht auflösbares Strukturproblem im Vergleich zu konventionellen Familien in der Tatsache, dass sie aufgrund von Eltern-Kind-Beziehungen, die von außen in die Familie hineinreichen, ihre Grenzen nach außen nie klar definieren können. Die damit verbundenen Anforderungen an Flexibilität, Kommunikationsfähigkeit usw. machen professionelle Beratung für solche Familien fast unabdingbar (Funcke & Hildenbrand 2009, Krähenbühl 2007).
Schließlich sei hier noch die neue, zwar bislang seltene, aber im Wachsen begriffene Familienform des gleichgeschlechtlichen Paares mit Kindern zumindest erwähnt (Funcke & Thorn 2009).
Abschließend lässt sich sagen: Auch wenn nicht von einem Verfall der Familie gesprochen werden kann, so muss man doch feststellen, dass Lebenswelten von Familien und Erziehungsmilieus sich voneinander entfernen und die verschiedenen Familienformen sehr unterschiedliche Chancen, Ressourcen und Belastungen in sich tragen. In der Gruppe der hochbelasteten Familien treten häufig Unterversorgungslagen auf, die spezifische Unterstützungen und Interventionen erforderlich machen. (Für ausführlichere Informationen zu den gesellschaftlichen Bedingungen, Daten und Trends für Familien wird verwiesen auf Ecarius et al. 2006; Marx 2011.)
»Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist also durch keine Natur in einem bestimmten Sinne vorgegeben, sondern ist in einem erstaunlich weiten Maß offen…« (Spillmann 1980, S. 29).
Im Folgenden sollen Theorien dargestellt werden, die die Grundzüge von Familie, ihre Bedingungen sowie ihre Entwicklung beschreiben und die zugleich eine Ausgangsbasis für die Arbeit mit und in Familien sowie die Konzeption von Interventions- und Unterstützungsmaßnahmen darstellen. Dabei ist hier nicht der Raum, alle aktuellen und relevanten Theorien, die Familie beschreiben, darzustellen, stattdessen sollen prominente Ansätze herausgegriffen werden, die uns als die fruchtbarsten erscheinen, um daraus praktische Vorgehensweisen für die Unterstützung von Familien zu entwickeln.
Grundsätzlich lässt sich Familie als ein ganz besonderes Beziehungssystem beschreiben. In der Familie haben die Mitglieder untereinander Beziehungen von einer Qualität, wie sie außerhalb der Familie so prinzipiell nicht vorhanden sind, was von Schneewind (2005) mit den Begriffen »Interpersonelle Involviertheit« und »Wir-Orientierung« beschrieben wird. Die Bindungstheorie, ursprünglich von John Bowlby formuliert, bietet einen empirisch fundierten Erklärungsansatz für die Besonderheit der Qualität der Familienbeziehungen und ist auch Ausgangspunkt für mittlerweile zahlreiche Unterstützungs- und Interventionsprogramme im Bereich der Unterstützung für Familien. Die Bindungstheorie macht auch deutlich, dass die besagte besondere Qualität der Beziehungen der Familienmitglieder untereinander eine biologisch begründete Basis hat – schon Neugeborene sind in der Lage, einen Beitrag zur Herstellung dieser besonderen Interaktionsbeziehungen zu ihren Bezugspersonen zu leisten (Dornes 1992, Stern 1998).