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»Das Gesetz des Dschungels ist streng, und wer gegen die Vorschrift fehlt, wird ohne Gnade mit dem Tod bestraft.«
AUS: DAS DSCHUNGELBUCH

Dunkel und bedrohlich, fremd und unheimlich – das ist der indische Dschungel in Kiplings Dschungelbuch für die Menschen, die ihn betreten müssen. Doch das »Menschenjunge« Mowgli, das mutterseelenallein im Dschungel auftaucht und von einem Wolfsrudel aufgenommen wird, gewöhnt sich schnell an die neue Umgebung und passt sich an das Leben im Dschungel an. So findet Mowgli neben einer neuen Familie Freunde fürs Leben – Panther Bagheera und Baloo den Bären –, die ihn das Gesetz des Dschungels lehren wollen, ohne dessen Einhaltung niemand im Dschungel überleben kann. Doch Mowgli rebelliert immer wieder und ewig können seine tierischen Freunde den heranwachsenden Jungen nicht vor dem Ernst des Lebens bewahren – und erst recht nicht vor seinem Erzfeind, dem Tiger Shere Khan …

Rudyard Kipling

Das Dschungelbuch

Rudyard Kipling

Das Dschungelbuch

Mowglis Abenteuer

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© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2015 Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2015 Der Text wurde behutsam revidiert nach den Ausgaben Leipzig 1966 und 1969 Covergestaltung: network! Werbeagentur GmbH, München Bildnachweis: »black panther«, © Dirk Freder / iStock. by Getty Images eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0508-7

www.verlagshaus-roemerweg.de

»Höre, Menschenjunges«, sagte der Bär, und seine Stimme grollte wie Donner in schwüler Nacht. »Ich lehrte dich die Gesetze aller Völker des Dschungels, mit Ausnahme des Affenvolkes, das in den Bäumen haust. Ihr Volk hat kein Gesetz; rechtlos sind sie.«

INHALT

MOWGLIS BRÜDER

Jagdgesang des Seeonee-Rudels

KAAS JAGDTANZ

Wanderlied des Affenvolkes

»TIGER! TIGER

Mowglis Siegeslied

WIE ANGST KAM

Das Gesetz des Dschungels

DEN DSCHUNGEL LOS!

Mowglis Lied wider die Menschen

DES KÖNIGS ANKUS

Das Lied des kleinen Jägers

ROTHUND

Chils Gesang

DER FRÜHLINGSLAUF

Der Abgesang

IM RUKH

Editorische Notiz

Abbildungsnachweis

MOWGLIS BRÜDER

Nun bringt der Weih die dunkle Nacht,

Und Mang, die Fledermaus, erwacht.

Der Stall birgt alles Herdentier,

Denn bis zum Morgen herrschen wir!

Die Stunde stolzer Kraft hebt an

Für Prankenhieb und scharfen Zahn.

Jagdheil! und kühn gehetzt, gerafft:

Das Dschungelrecht ist jetzt in Kraft.

Nachtgesang im Dschungel

Gegen sieben Uhr an einem recht schwülen Sommerabend in den Seeonee-Bergen erwachte Vater Wolf, gähnte, reckte sich und streckte die Läufe, einen nach dem anderen, um das Schlafgefühl in den Pfoten loszuwerden. Neben ihm lag Mutter Wolf, die lange graue Nase quer über den vier winselnden und quarrenden Jungen, und von draußen her schien der Mond in die Höhle, in der sie alle hausten.

»A–ruff«, knurrte Vater Wolf, »schon wieder Zeit, auf Jagd zu gehen.« Gerade wollte er den Hang hinabsetzen, als am Eingang der Höhle ein kleiner Schatten mit buschiger Rute erschien und winselte:

»Glück sei mit dir, Häuptling der Wölfe! Und viel Glück deinen edlen Kindern; weiße scharfe Zähne sollen ihnen wachsen. Mögen sie nie die Hungernden und Darbenden vergessen in dieser Welt!«

Der Schakal war es – Tabaqui, der Schüssellecker. Die Wölfe in Indien verachten ihn, weil er Unheil stiftend umherstreift und böse Geschichten erzählt. Ja, er verschlingt sogar alte Lumpen und Lederstücke von den Abfallhaufen der Dörfer. Aber sie fürchten ihn auch, denn Tabaqui wird leicht von Tollwut befallen, viel leichter als irgendein anderes Tier im Dschungel. Dann vergißt er, daß er je Angst gehabt hat, rennt blindwütend durch die Wälder und beißt und tötet alles, was ihm in den Weg kommt. Dann flüchtet selbst der Tiger vor dem kleinen Tabaqui und verbirgt sich im Dickicht; denn von der Tollwut befallen zu werden, ist die größte Schande für die Tiere der Wildnis. Wir Menschen nennen es Hydrophobie, aber die Bewohner des Dschungels sagen einfach Dewanee – Wahnsinn – und flüchten.

»Tritt ein und schau«, sagte Vater Wolf. »Fraß findest du hier nicht.«

»Für einen Wolf wohl kaum«, antwortete Tabaqui. »Aber für ein so niedriges Geschöpf wie mich ist ein trockener Knochen ein Festschmaus. Wer sind wir denn, wir Gidur-log, wir armes Schakalvolk, daß wir wählerisch sein könnten?« Er trabte nach dem Hintergrund der Höhle und fand dort den Knochen eines gerissenen Bocks mit noch etwas Fleisch daran; bald saß er und knackte vergnügt an dem Knochen.

»Tiefen Dank für das prächtige Mahl«, sagte er, sich die Lippen leckend. »Ach, wie schön sind die edlen Kinder! Wie groß und klar sind ihre Augen. Und so jung sind sie noch, die lieben Kleinen! Freilich – freilich, es ist ja allbekannt, daß Kinder von Königen schon Männer sind von Geburt an.«

Nun wußte Tabaqui ebenso gut wie jeder andere, daß man nichts Unschicklicheres tun kann, als Kinder ins Gesicht hinein zu loben – denn das ist von schlimmer Vorbedeutung. Und es freute ihn, als Vater und Mutter Wolf betreten schwiegen.

Noch eine Weile saß Tabaqui und weidete sich an dem Unheil, das er angerichtet hatte. Dann sagte er boshaft:

»Shere Khan, der Gewaltige, hat seine Jagdgründe verlegt. Hier in diesen Hügeln wird er jagen im nächsten Mond – so sagte er mir selbst.«

Shere Khan war der Tiger, der an den Ufern des Waingunga-Flusses lebte – ungefähr zwanzig Meilen entfernt.

»Dazu hat er kein Recht!« brauste Vater Wolf auf. »Nach dem Gesetz des Dschungels darf er seine Jagdgründe nicht wechseln ohne vorherige Ankündigung. Alles Wild wird er uns vergrämen auf zehn Meilen im Umkreis, und ich – ich muß jetzt jagen für zwei.«

»Seine Mutter nannte ihn nicht ohne Grund Lungri, den Lahmen«, warf Mutter Wolf ein. »Lahm auf einem Fuß ist er von Geburt an. Darum auch reißt er nur Rindvieh. Nun sind die Dörfler am Waingunga zornig über ihn, und jetzt kommt er hierher und wird unsere Dörfler aufbringen. Um seinetwillen werden sie den Dschungel ausräuchern, wenn er schon wieder weit fort ist; wir aber und unsere Jungen müssen dann flüchten, wenn das Gras in Brand gesteckt ist. Wahrlich, sehr dankbar sind wir ihm, dem großen Shere Khan!«

»Soll ich ihm vielleicht euren Dank überbringen?« fragte Tabaqui.

»Pack dich!« jappte Vater Wolf. »Geh zu deinem Herrn und Meister! Unheil genug hast du gestiftet in einer Nacht!«

»Ich gehe!« sagte Tabaqui gelassen. »Da könnt ihr ihn schon hören, den Shere Khan, drunten im Dickicht. Die Botschaft konnte ich mir sparen.«

Lauschend spitzte Vater Wolf die Ohren; da vernahm er unten im Tal, das sich zu einem kleinen Bach hinabsenkt, das ärgerliche, schnarrende, näselnde Gewinsel eines Tigers, der nichts geschlagen hatte und den es nicht kümmert, daß alles Dschungelvolk sein Mißgeschick erfährt.

»Der Narr, der!« knurrte Vater Wolf. »Die Nachtarbeit mit solchem Lärm zu beginnen! Glaubt er etwa, daß unsere Böcke ebenso dumm sind wie seine fetten Ochsen am Waingunga-Fluß?«

»Still!« sagte Mutter Wolf. »Still, Alter! Hörst du denn nicht? Weder Ochsen noch Böcke hetzt er heute nacht, den Menschen jagt er!«

Das Gewinsel des Tigers ging nun über in ein langgezogenes, summendes Schnurren – so laut und doch so unbestimmt, daß es schien, als käme es aus allen Himmelsrichtungen zugleich. Das war das Summen, das den Holzfällern und Zigeunern, die in den Lichtungen rasten, das Blut erstarren läßt und sie manchmal genau in den Rachen des Tigers laufen läßt.

»Menschen!« wiederholte Vater Wolf und fletschte seine weißen Zähne. »Puh! Gibt es denn nicht genug Gewürm und Frösche in den Sümpfen, daß er Menschen fressen muß …, und noch dazu in unserem Gebiet?«

Das Gesetz des Dschungels, das nichts ohne guten Grund vorschreibt, verbietet den Tieren, Menschen anzugreifen, mit der einzigen Ausnahme, wenn ein Tier seine Jungen das Jagen und Töten lehrt. Das aber darf nur abseits geschehen, niemals in den Jagdgründen des eigenen Rudels oder Stammes. Der wahre Grund dafür ist, daß früher oder später, wenn ein Mensch getötet ist, die weißen Männer anrücken auf Elefanten, mit Büchsen bewaffnet, begleitet von Hunderten von braunen Männern, mit Gongs, Raketen und Fackeln. Dann haben alle im Dschungel zu leiden. Die Tiere aber geben als Grund an, daß der Mensch das schwächlichste und wehrloseste aller Geschöpfe ist, daher sei es unsportlich, ihn anzugreifen. Sie sagen ferner – und das ist die Wahrheit –, vom Menschenfleisch würden sie räudig und verlören die Zähne.

Lauter wurde das Schnurren und endete plötzlich in einem scharfen, tiefkehligen »Aaaoh!« beim Aufsprung des Tigers.

Dann ertönte Geheul – untigerisches Geheul und Gemaunz des Shere Khan. »Er hat gefehlt«, sagte Mutter Wolf. »Was war es?«

Vater Wolf trabte ein paar Schritte vor die Höhle und vernahm das wütende Geheul Shere Khans, der in den Büschen im Talgrund herumfegte.

»So ein Dummkopf«, brummelte Vater Wolf. »In das Feuer eines Holzfällers ist er gesprungen und hat sich dabei die Pfoten verbrannt! Tabaqui ist bei ihm.«

»Etwas kommt den Hügel herauf«, flüsterte Mutter Wolf und stellte einen Lauscher hoch. »Aufgepaßt!«

In dem Gebüsch raschelte es leise, und Vater Wolf duckte sich, zum Sprung bereit. Dann aber geschah etwas höchst Seltsames. Der Wolf war gesprungen, bevor er noch das Ziel erkannt hatte, und suchte sich nun plötzlich mitten im Satz aufzuhalten. Die Folge war, daß er vier oder fünf Fuß kerzengerade in die Luft schoß und fast auf derselben Stelle landete, von der er abgesprungen war.

»Ein Mensch!« stieß er hervor. »Ein Menschenjunges! Sieh nur!«

Gerade vor ihm, an einen niedrigen Zweig geklammert, stand ein nackter brauner Junge, der eben erst laufen gelernt hatte – ein ganz zartes, kleines, krauslockiges Wesen, das da in der Nacht zu einer Wolfshöhle gekommen war. Er sah dem Wolf ins Gesicht und lachte.

»Was?« fragte Mutter Wolf »Ist das ein Menschenjunges? Ich habe noch nie eins gesehen. Bring es her!«

Wölfe, die ihre eigenen Jungen über Stock und Stein tragen, können, wenn nötig, ein Ei zwischen die Zähne nehmen, ohne es zu zerbrechen. Obgleich sich Vater Wolfs Kiefer genau über dem Rükken des Kindes schlossen, so hatten seine spitzen Zähne doch nicht einmal die weiche Haut des strampelnden Kleinen geritzt, als er ihn zu seinen eigenen Jungen legte.

»Wie winzig! Wie nackt und – wie tapfer!« sagte Mutter Wolf sanft. Der Kleine drängte die Wolfsjungen beiseite, um dicht an das warme Fell der Mutter zu gelangen. »Ahai, er sucht seine Nahrung ganz wie die anderen. Das also ist ein Menschenjunges. Sag, hat sich je eine Wölfin rühmen können, ein Menschenjunges unter ihren Kindern zu haben?«

»Hier und dort hörte ich davon, doch niemals in unserem Rudel oder zu meiner Zeit«, antwortete Vater Wolf. »Wahrhaftig, ganz ohne Haar ist der Körper. Mit einem Prankenschlag könnte ich es zerquetschen. Aber sieh’ doch, wie es aufschaut zu uns, und nicht ein bißchen Angst hat es.«

Da plötzlich wurde es dunkel in der Höhle. Dem Mondlicht wurde der Eintritt versperrt, denn Shere Khans mächtiger, eckiger Kopf und breite Schultern schoben sich in den Eingang. Tabaqui rief hinter ihm her mit schriller Stimme:

»Hier, mein Gebieter – hier ist es hineingegangen.«

»Shere Khan erweist uns große Ehre!« sagte Vater Wolf, doch Zorn glomm in seinen Augen. »Was wünscht Shere Khan?«

»Meine Beute! Ein Menschenjunges ist hier hereingeflüchtet! Seine Eltern sind davongelaufen. Gib es heraus! Es gehört mir!«

Wie Vater Wolf gesagt hatte, war Shere Khan in das Feuer eines Holzfällers gesprungen, und der Schmerz in den verbrannten Pfoten machte ihn rasend. Aber Vater Wolf wußte, daß die Öffnung der Höhle zu klein sei, um dem Tiger Eingang zu gestatten. Schon in seiner jetzigen Stellung waren Shere Khans Schultern und Vordertatzen eingezwängt, und er glich einer wütenden Katze, die vergebens versucht, in ein Mauseloch zu dringen.

»Wir Wölfe sind ein freies Volk«, sagte der Wolf. »Unsere Befehle nehmen wir nur von dem Führer des Rudels entgegen, aber nicht von irgendeinem gestreiften Viehmörder. Das Menschenjunge gehört uns. Wir können es töten oder am Leben lassen, ganz nach unserem Belieben!«

»Belieben oder Nichtbelieben! Was schwatzt du für dummes Zeug. Bei dem Ochsen, den ich soeben schlug, soll ich hier stehen und mir die Nase wundstoßen am Eingang eurer Hundebehausung, um das zu verlangen, was mir gehört? Shere Khan ist es, der mit dir spricht!«

Des Tigers Gebrüll erfüllte die Höhle mit rollendem Donner. Mutter Wolf schüttelte ihre Jungen von sich ab; sie sprang vor, und ihre Augen starrten wie zwei grüne Mondsicheln in der Dunkelheit auf die beiden lohenden Lichter im gewaltigen Kopf Shere Khans.

»Und ich, Raksha, der Dämon, bin’s, der jetzt spricht und dir antwortet. Das Menschenjunge gehört mir, du lahmer Lungri – und mein wird es bleiben. Es soll nicht getötet werden! Es soll leben, um mit dem Pack zu rennen und zu jagen und zuletzt – sieh dich vor, du großer Jäger kleiner nackter Jungen, du alter Frosch-Esser, du Fischfänger – sieh dich vor, denn zuletzt, soll es dich hetzen, unser kleines Menschenjunges, ja, und soll dir das Fell über die Katzenohren ziehen. Und nun pack dich fort. Oder ich schwör’s bei dem letzten Sambhur, den ich schlug (ich vergreife mich nicht am hungrigen Herdenvieh), ich schwör’s, du verbranntes Biest, lahmer sollst du zu deiner Mutter zurückkehren, als du zur Welt gekommen bist. Fort mit dir!«

Ganz verblüfft blickte Vater Wolf sie an. Fast vergessen hatte er die Zeit, da er Mutter Wolf sich errang im offenen ehrlichen Kampf gegen fünf andere Wölfe – damals, als sie mit dem Pack lief und nicht umsonst der Dämon genannt wurde.

Shere Khan würde es wohl mit Vater Wolf aufgenommen haben, aber gegen Mutter Wolf anzugehen, das wagte er denn doch nicht, denn er wußte, daß sie alle Vorteile der Lage für sich hatte und es einen Kampf auf Tod und Leben geben würde. So zog er sich knurrend aus dem engen Eingang zurück und brüllte, als er frei war:

»Im eigenen Hof kläfft jeder Hund! Aber wir wollen doch erst einmal sehen, was das Rudel zu dieser Geschichte sagen wird. Mir allein gehört das Menschenjunge, und zwischen meine Zähne wird es doch noch kommen zuletzt, ihr buschschwänzigen Spitzbuben, ihr!«

Mutter Wolf warf sich keuchend zwischen ihre Jungen nieder, und der Vater Wolf sagte mit besorgter Miene: »Shere Khan hat nicht ganz unrecht. Das Menschenjunge muß dem Rudel gezeigt werden. Willst du es wirklich behalten?«

»Wirklich behalten?« fragte sie entrüstet. »Nackt und ganz allein kam es zu uns in der Nacht und sehr hungrig und hatte doch nicht ein bißchen Furcht. Sieh’ doch nur, jetzt hat es schon wieder eins meiner Kinder beiseite gedrückt. Und dieser lahme Viehschlächter hätte es beinahe verschlungen und sich dann zum Waingunga-Fluß aus dem Staub gemacht, während die Dorfbewohner hier alle Schlupfwinkel durchsucht hätten, um Rache zu nehmen! Ihn behalten? Natürlich will ich das. Lieg’ still, kleiner Frosch. Oh, mein Mowgli – denn Mowgli, Frosch, werde ich dich nennen –, der Tag wird für dich kommen, diesen Shere Khan zu jagen und zu hetzen, wie er dich heute gehetzt hat!«

»Aber was wird unser Rudel dazu sagen?« meinte Vater Wolf.

Das Gesetz des Dschungels stellt es jedem Wolf frei, sich von dem Rudel zu trennen, wenn er die Wölfin in sein Lager holt. Sobald aber seine Jungen groß genug sind, um auf eigenen Läufen zu stehen, muß er sie zur Ratsversammlung bringen, die einmal im Monat zur Zeit des Vollmondes tagt; und dort werden sie von allen Wölfen des Rats in Augenschein genommen und anerkannt. Nach dieser Musterung haben die Jungen das Recht, frei umherzustreifen; und bevor sie nicht ihren ersten Bock gerissen haben, darf unter keinen Umständen ein erwachsener Wolf sie angreifen oder töten. Das Gesetz des Dschungels ist streng, und wer gegen die Vorschrift fehlt, wird ohne Gnade mit dem Tod bestraft. Wenn man ein bißchen nachdenkt, muß man zugeben, daß es so sein muß.

Vater Wolf wartete, bis seine Kleinen laufen konnten, und dann nahm er sie alle mit Mutter Wolf und Mowgli eines Nachts mit zum Ratsfelsen, einer Hügelkuppe, die mit Steinen und Geröll bedeckt war und die wohl hundert Wölfen und mehr ein sicheres Versteck bot. Akela, der große graue Einsiedlerwolf, war dank seiner Stärke und Schläue der Führer des Rudels. Er lag lang ausgestreckt auf einem ragenden Felsblock, und etwas tiefer unterhalb kauerten mehr als vierzig Wölfe von jeder Farbe und Gestalt. Da waren dachsgraue Veteranen, die es allein mit jedem Bock aufnahmen, bis herunter zu den schwarzen, drei Jahre alten Wölfen, die meinten, sie könnten es auch. Der große graue Einzelgänger hatte das Rudel nun schon ein Jahr lang geführt. In seiner Jugend war er zweimal in Wolfsfallen geraten, und einmal hatte man ihn beinahe erschlagen; deshalb kannte er ein gut Teil von den Sitten und Gebräuchen der Menschen.

In der Versammlung wurde wenig gesprochen. Mitten im Kreis, um den die Eltern saßen, stolperten und purzelten die Kleinen umher; ab und zu kam ein Altwolf lautlos herbei, sah sich die Jungen genau an, beschnüffelte sie sorgfältig und schritt dann wieder gravitätisch auf seinen Platz zurück. Manchmal schob eine besorgte Mutter ihr Kleines recht weit hinaus in das helle Mondlicht, um ganz sicher zu sein, daß man es nicht übersehen habe. Von seinem Felsen rief Akela immer wieder: »Ihr kennt das Gesetz – ihr kennt das Gesetz wohl. Seht genau, ihr Wölfe!« Und ängstliche Mütter nahmen den Ruf auf und wiederholten: »Seht – seht genau, ihr Wölfe!«

Und zuletzt – Mutter Wolfs Nackenhaare stellten sich hoch –, zuletzt schob Vater Wolf »Mowgli, den Frosch«, wie sie ihn nannten, in den Kreis. Da saß er lachend und spielte mit kleinen Steinchen, die im Mondlicht glänzten. Akela hob seinen Kopf nicht von den Pranken, sondern wiederholte den eintönigen Ruf: »Sehr – Seht genau, ihr Wölfe!«

Da kam ein dumpfes Gebrüll hinter den Felsen hervor. Es war Shere Khans Stimme: »Das Junge gehört mir! Gebt es mir! Was hat das freie Volk mit einem Menschenjungen zu schaffen?«

Akela rührte nicht einmal die Lauscher, er sagte nur: »Seht wohl, ihr Wölfe! Was geht das freie Volk die Weisung eines Fremdlings an?«

Da erhob sich im Rat ein Grollen und Murren. Ein junger Wolf im vierten Jahr griff Shere Khans Frage auf und warf sie Akela zu: »Was hat das freie Volk mit einem Menschenjungen zu schaffen?«

Das Gesetz des Dschungels bestimmt, daß im Falle einer Meinungsverschiedenheit, ob ein Junges im Rudel aufgenommen werden soll oder nicht, mindestens zwei Mitglieder des Rats zugunsten des Kleinen sprechen müssen, doch haben die beiden Elternteile keine Stimme.

»Wer spricht für das Junge?« fragte Akela. »Wer unter dem freien Volk spricht für ihn?«

Keiner meldete sich, und Mutter Wolf machte sich bereit zu ihrem letzten Kampf – denn sie wußte, daß es ihr letzter sein würde, wenn es zum Kampf kam.

In diesem Augenblick stellte sich Baloo auf die Hinterbeine und knurrte – Baloo, der schläfrige braune Bär, der die jungen Wölfe das Dschungelgesetz lehrt. Der einzige Fremdling ist er im Rat der Wölfe, er kann gehen und kommen, ganz wie er will, denn er lebt nur von Nüssen, Wurzeln und Honig.

»Das Menschenjunge, das Menschenjunge?« fragte er. »Ich spreche für das Menschenjunge. Warum denn nicht? Was kann ein Menschenjunges dem Pack schaden? Wie? Schöne Reden halten kann ich nicht, aber ich spreche die Wahrheit. Nehmt ihn auf, und laßt ihn mit dem Rudel laufen. Ich selbst werde ihn unterrichten.«

»Noch einen Fürsprecher brauchen wir!« sagte Akela. »Baloos Wort gilt, er ist der Lehrer der Jungen. Wer spricht noch außer Baloo?«

Ein dunkler Schatten fiel in den Kreis. Es war Bagheera, der schwarze Panther, tintenschwarz über und über, doch mit der Pantherzeichnung, die in der Seide des Felles zuweilen aufleuchtete. Jeder kannte Bagheera, und niemand kreuzte gern seinen Pfad; denn schlau war er wie Tabaqui, stark wie der Büffel und tollkühn wie Hathi, der Elefant, wenn er verwundet ist. Aber seine Stimme war sanft wie wilder Honig, der vom Baum tröpfelt, und sein Fell weicher als Flaumfedern.

»Du, Akela, und ihr, das freie Volk!« schnurrte er. »Ich habe kein Recht in eurer Versammlung; doch nach dem Dschungelgesetz kann das Leben eines Jungen, dessen Aufnahme bestritten wird, für einen Preis erkauft werden. Und das Gesetz schreibt nicht vor, wer den Preis bezahlen soll und wer nicht. Spreche ich wahr?«

»Gut, sehr gut!« jaulten die immer hungrigen jungen Wölfe. »Hört, was Bagheera sagt! Um einen Preis ist das Junge einzukaufen in das Rudel. So steht’s im Gesetz!«

»Ich habe kein Recht hier zu sprechen, so bitte ich um eure Erlaubnis!«

»Sprich nur!« schrien zwanzig Stimmen.

»Ein nacktes Junges zu töten, ist Schmach und Schande. Im übrigen taugt es besser dazu, euch an ihm zu erproben, wenn es erst groß und erwachsen ist. Baloo hat gesprochen. Den Worten Baloos füge ich nur einen Bullen hinzu – fett, sage ich euch, und eben erst getötet! Keine halbe Meile liegt er von hier, wenn ihr bereit seid, das Menschenjunge aufzunehmen nach dem Gesetz. Leuchtet euch das ein?«

Da tönte es bunt durcheinander: »Warum sollten wir nicht? Was kann es schaden? Er wird ja doch im Winterregen umkommen oder in der Sonne verdorren. Was kann uns denn so ein nackter Frosch antun? Laßt ihn mit dem Rudel laufen! Wo ist dein Bulle, Bagheera? Wir stimmen für den Antrag!«

Und wieder erklang Akelas heiseres Bellen vom Felsen her: »Seht, ihr Wölfe, seht genau!«

Mowgli spielte versonnen mit den Steinchen; so wurde er es gar nicht gewahr, daß die Wölfe einer nach dem anderen herankamen, um ihn zu betrachten. Dann liefen sie alle den Hügel hinab zu dem toten Bullen, und nur Akela, Bagheera, Baloo und Mowglis eigene Wölfe blieben zurück. Shere Khans Gebrüll erfüllte die Nacht; denn er war sehr zornig, daß man ihm Mowgli nicht ausgeliefert hatte.

»Heule nur!« brummte Bagheera in seinen Bart. »Heule nur, die Zeit wird kommen, dann wird das nackte Ding dir in einer anderen Tonart aufspielen – oder ich weiß nichts von Menschen.«

»Gut getan!« sagte Akela. »Menschen und ihre Jungen sind sehr klug. Wer weiß – er kann uns später eine Hilfe werden.«

»Wahrlich, Hilfe in der Not; denn keiner kann hoffen, das Rudel ewig zu führen«, sagte Bagheera.

Akela antwortete nicht. Er gedachte der Zeit, die für jeden Leiter eines Rudels kommt, wenn seine Stärke von ihm weicht, wenn er schwach und immer schwächer wird, bis zuletzt die eigenen Wölfe über ihn herfallen und ihn reißen. Ein neuer Führer ersteht, bis auch er an die Reihe kommt, getötet zu werden.

»Nimm das Menschenjunge fort mit dir«, sagte Akela zu Vater Wolf, »und erziehe ihn, wie es sich ziemt für einen vom freien Volk.«

… Und so geschah es, daß Mowgli in das Rudel der Seeonee-Wölfe aufgenommen wurde um den Preis eines fetten Bullen und auf Baloos Fürsprache.

Zehn oder zwölf Jahre müßt ihr nun überspringen und euch selbst das seltsame Leben ausmalen, das Mowgli unter den Wölfen führte; denn alles im einzelnen zu erzählen, würde Bände füllen. Mit den Wolfsjungen wuchs er auf, aber diese waren natürlich schon groß und stark, ehe noch Mowgli alle seine Milchzähne hatte. Vater Wolf lehrte ihn alles, was ein Wolf wissen mußte, und weihte ihn in das Leben im Dschungel ein, bis jedes Rascheln im Gras, jeder Hauch der warmen Nachtluft, jeder Ruf der Eule über seinem Kopf, jeder Kratzer von den Krallen der Fledermäuse, wenn sie eine Weile im Baum gerastet hatten, und jeder matschende Sprung des kleinsten Silberfisches im Teich – bis dies alles seine genaue Bedeutung für ihn hatte. Und wenn er nicht lernte, dann lag er in der Sonne und schlief und aß und legte sich wieder schlafen. War er durstig, oder war es ihm heiß, schwamm er in den Weihern des Waldes. Hatte er ein Gelüst nach Honig (Baloo sagte ihm nämlich, daß Honig und Nüsse mindestens so gut schmeckten wie Fleisch), dann kletterte er in den Bäumen umher, und Bagheera zeigte ihm, wie er das tun müsse. Der schwarze Panther war ein verständiger Lehrer. Er sprang zuerst selbst den Baum hinauf, als sei es gar kein Kunststück, streckte sich bequem auf einem Ast aus und rief: »Komm her zu mir, kleiner Bruder!« Anfänglich wollte Mowgli sich anklammern wie das Faultier, aber später schwang er sich durch die Baumkronen fast so kühn wie der graue Affe.

Er hatte bald auch seinen Platz bei dem Ratsfelsen in der Versammlung. Und hier machte er eines Tages die seltsame Entdekkung, daß die Wölfe seinen Blick nicht aushalten konnten. Starrte er einem von ihnen gerade ins Gesicht, so senkte der Wolf die Augen. Und so gewöhnte er sich daran, rein aus Mutwillen, sie anzustarren. Oft aber auch zog er mit seinen kleinen flinken Händen die Dornen aus den Ballen seiner Freunde, denn Wölfe leiden schrecklich unter Dornen und Splittern in ihren Pfoten und ihrem Fell. Zuweilen schlich er sich des Nachts nahe an die Dörfer heran und betrachtete neugierig die Bewohner der Hütten; aber er mißtraute den Menschen, denn Bagheera hatte ihm eine Kastenfalle gezeigt, die mit schweren Fangeisen so geschickt im Gras verborgen war, daß Mowgli beinahe hineingeraten wäre. Am liebsten ging Mowgli mit dem Panther so recht in das dunkle, feuchtwarme Herz des Urwaldes, um dort den schwülen Tag über zu schlafen und des Nachts Bagheera auf der Jagd zu begleiten. Wenn der Panther hungrig war, tötete er rechts und links alles, was ihm in den Weg kam, und so tat auch Mowgli – mit einer einzigen Ausnahme. Sobald er alt und verständig genug geworden, sprach Bagheera zu ihm: »Der ganze Dschungel gehört dir, und du darfst alles erlegen, was du zu töten vermagst – aber um des Bullen willen, für den du erkauft wurdest, darfst du niemals Rindvieh töten oder essen, es sei jung oder alt. So lautet das Gesetz des Dschungels.«

Und Mowgli gehorchte gewissenhaft. Er wuchs und wurde so stark, wie ein Knabe werden muß, der nicht weiß, was lernen heißt, und an nichts zu denken hat als an eßbare Dinge.

Mutter Wolf erzählte ihm ein- oder zweimal, daß man Shere Khan nicht trauen dürfe und daß er die Pflicht habe, eines Tages den Tiger zu töten. Ein Jungwolf würde zu jeder Stunde dieser Mahnung gedacht haben; Mowgli aber vergaß sie immer und immer wieder, denn er war nur ein Knabe. Er selbst würde sich allerdings einen Wolf genannt haben, hätte er die Sprache der Menschen reden können.

Häufig kreuzte Shere Khan herausfordernd Mowglis Pfad im Dschungel; denn Akela wurde älter und schwächer, und der lahme Tiger schloß Freundschaft mit den Jungwölfen des Rudels, die ihm folgten um des Beuteabfalls willen. Das aber wäre nie geschehen in den Tagen von Akelas Macht. Shere Khan schmeichelte den jungen Wölfen und fragte oft verwundert, warum sich so starke, junge Jäger von einem verreckenden alten Wolf und einem nackten Menschenjungen leiten ließen.

»Man erzählt sich im Dschungel«, näselte er dann wohl höhnisch, »daß ihr in der Ratsversammlung nicht wagt, dem Menschenkind in die Augen zu schauen!« Dann knurrten die jungen Wölfe und sträubten das Fell.

Bagheera, der seine Augen und Ohren überall hatte, erfuhr davon; und er warnte Mowgli, daß Shere Khan ihm eines schönen Tages auflauern und ihn töten werde. Aber Mowgli lachte nur und antwortete: »Ich habe doch das Rudel und habe dich und habe Baloo, der zwar faul geworden ist, aber immer noch für mich ein paar Schläge austeilen würde. Warum also mich fürchten?«

An einem sehr heißen Tag war es, da überkam den schwarzen Panther ein neuer Gedanke – vielleicht hatte er etwas gehört, oder Ikki, das Stachelschwein, hatte ihm davon erzählt. Kurz und gut, zu Mowgli sagte er plötzlich im tiefsten Dschungel, als des Knaben Kopf auf Bagheeras schwarzem, schimmerndem Fell ruhte:

»Kleiner Bruder, wie oft sagte ich dir schon, daß Shere Khan dein Feind ist?«

»So oft, als Nüsse an der Palme dort hängen«, antwortete Mowgli, der natürlich nicht zählen konnte. »Doch was soll’s? Schläfrig bin ich, Bagheera, und Shere Khan ist nichts als ein langer Schwanz und ein großes Maul wie Mao, der Pfau.«

»Aber jetzt ist nicht Zeit zum Schlafen. Baloo weiß es; ich weiß es; das Rudel weiß es, und sogar die dummen, dummen Rehe wissen’s. Dir hat es auch Tabaqui erzählt.«

»Ho, ho«, höhnte Mowgli. »Tabaqui kam vor kurzem zu mir, das Maul voll frecher Redensarten: ich sei ein nacktes Menschenjunges und tauge nicht einmal, um Erdnüsse auszugraben. Aber ich, ich packte ihn beim Schwanz und schwang ihn zweimal gegen eine Palme, um ihn Anstand zu lehren.«

»Dummheit war das! Tabaqui ist zwar ein Unheilstifter, dennoch hätte er dir von Dingen erzählen können, die dich nahe angehen. Sperr die Augen auf, kleiner Bruder. Shere Khan wird es nicht wagen, dich im Dschungel zu töten; aber bedenke, Akela ist sehr alt geworden, und bald wird der Tag kommen, an dem er nicht mehr den Bock zu reißen vermag, und dann – hört er auf, Führer des Rudels zu sein. Viele der Wölfe, die dich damals im Rat musterten, sind nun schon ergraut; die Jungen aber hängen Shere Khan an, der ihnen vorschwatzt, daß für ein Menschenjunges kein Platz ist im Rudel. Bald wirst du ein Mann sein.«

»Und was ist denn ein Mann, daß er nicht mit seinen Brüdern laufen soll?« fragte Mowgli erregt. »Im Dschungel bin ich geboren, nach dem Gesetz des Dschungels habe ich gelebt. Keiner ist im Rudel, dem ich nicht schon einen Dorn aus der Pfote zog. Es sind doch meine Brüder.«

Bagheera streckte sich in seiner ganzen Länge aus und schloß halb die Augen.

»Kleiner Bruder«, sagte er, »fühle mir einmal unter den Kiefer.«

Mowgli hob seine starke braune Hand, und gerade unter Bagheeras seidigem Kinn, dort, wo die gewaltigen Muskeln spielten unter dem glänzenden Fell, da fühlte er eine kleine kahle Stelle.

»Keiner im Dschungel weiß, daß ich, Bagheera, dieses Zeichen trage – die Spur eines Halsringes; und doch, mein kleiner Bruder, ist es wahr, daß ich unter Menschen geboren bin, und unter Menschen siechte meine Mutter dahin und verendete – in den Käfigen des Königspalastes zu Oodeypore. Das war der Grund, warum ich den Preis für dich zahlte, als du noch ein kleines, nacktes Junges warst. Ja, auch ich kam unter Menschen zur Welt. Ich hatte niemals den Dschungel gesehen. Sie fütterten mich hinter eisernem Gitter, bis ich eines Nachts fühlte, daß ich Bagheera sei, der Panther, … und kein Spielzeug für Menschen! Da zerbrach ich mit einem Schlag meiner Tatze das Schloß, das dumme, und war frei … und wurde erst wirklich Bagheera, der Panther. Und weil ich Menschenbrauch kannte, wurde ich furchtbarer im Dschungel als selbst Shere Khan. Ist es nicht so?«

»Ja, mein Bruder, alle im Dschungel fürchten Bagheera, alle, außer Mowgli.«

»Oh, du bist ein Menschenkind!« sagte der schwarze Panther mit zärtlichem Knurren. »Und so wie ich zum Dschungel heimkehrte, so wirst du zuletzt zu den Menschen zurückfinden, den Menschen, deinen Brüdern – wenn man dich nicht vorher im Rat tötet.«

»Aber warum? Warum sollten sie mich töten?«

»Sieh mich an!« sagte Bagheera, und Mowgli blickte ihm fest in die Augen. Nach einer halben Minute wandte der große Panther den Kopf zur Seite. »Deshalb«, sagte er und verschob die Pranke auf dem raschelnden Laubwerk. »Sogar ich vermag dir nicht gerade in die Augen zu sehen, und doch wurde ich unter Menschen geboren und liebe dich, mein kleiner Bruder. Aber die anderen hassen dich, weil deine Augen ihnen weh tun, weil du weise bist und ihnen Dornen aus den Tatzen gezogen hast …, kurz, weil du ein Mensch bist!« »Von alledem wußte ich nichts«, sagte Mowgli, und finster runzelten sich seine schwarzen Brauen.

»Wie lautet das Gesetz des Dschungels? Erst schlage, und dann sprich! Gerade an deiner Sorglosigkeit sehen sie, daß du ein Mensch bist. Sei aber klug. Mir schwant, wenn Akela das nächste Mal seine Beute fehlt – und jedesmal wird es ihm schwerer, den Bock zu pakken –, dann wird das ganze Rudel über dich herfallen …, über ihn und über dich. Einen Dschungelrat werden sie halten am Felsen, dann aber …, dann … Ich hab’s!« rief Bagheera erregt und sprang auf. »Höre, kleiner Bruder, lauf, so schnell du kannst, ins Tal zu den Hütten der Menschen, und hole die rote Blume, die sie dort hegen. Dann wirst du in der Stunde der Not einen mächtigeren Freund haben als mich oder Baloo oder die vom Rudel, die dich lieben. Lauf schnell, und hole die rote Blume!«

Bagheera meinte mit der roten Blume das Feuer; aber kein Tier des Dschungels wird das Feuer bei seinem Namen nennen. In großer Furcht leben alle vor dem glühenden Atem der Flamme und erfinden hundert Worte, sie zu umschreiben.

»Die rote Blume?« fragte Mowgli, »die wächst vor den Hütten in der Dämmerung. Ich will sie holen!«

»So spricht ein Menschenjunges!« erwiderte Bagheera mit Stolz. »Vergiß nicht, in kleinen Töpfen wächst sie. Und nun fort! Eile! Und bewahre sie wohl für die Zeit der Not!«

»Gut!« sagte Mowgli. »Ich laufe. Aber bist du sicher, mein lieber Bagheera«, er schlang seinen Arm um den glänzenden Hals seines Freundes und sah ihm tief in die großen Augen, »bist du auch ganz sicher, daß alles das Werk Shere Khans ist?«

»Bei dem gesprengten Schloß, das mich befreite, sicher bin ich, kleiner Bruder.«

»Dann, bei dem Bullen, der mein Kaufpreis war, dann will ich Shere Khan voll heimzahlen und vielleicht auch ein wenig mehr, als ich ihm schulde.« Und mit langen Sätzen sprang Mowgli davon.

Ja, Mensch! Ganz und gar Mensch, dachte Bagheera, sich wieder hinlegend. Oh, Shere Khan, niemals gab es schlimmere Jagd als deine Froschhetze vor zehn Jahren!

Mowgli rannte und rannte durch den Wald, und hoch schlug ihm das Herz. Als der Abendnebel stieg, gelangte er zu der Höhle, schöpfte Atem und blickte hinab ins Tal. Seine Brüder waren fort, aber Mutter Wolf lag hinten im Dämmer der Höhle. Sie hörte seinen keuchenden Atem und wußte sogleich, daß ihr kleiner Frosch Kummer hatte.

»Was hast du, Sohn?« fragte sie.

»Ach nichts, nichts, nur dummes Geschwätz von Shere Khan!« rief er zurück. »Ich jage auf den gepflügten Feldern heute nacht!« und fort war er, seinen Weg durch das Dickicht bahnend, fort zum Fluss im Talgrund.

Da plötzlich stutzte er, denn er vernahm das Geheul des jagenden Rudels, hörte dumpfes Röhren gehetzter Sambhurhirsche und das wilde Schnauben des Bockes, der sich den Verfolgern stellte. Dann ertönte das höhnische, böse Heulen der jungen Wölfe: »Akela, Akela! Der Einsiedlerwolf zeige seine Stärke. Platz für den Führer des Rudels. Spring an, Akela!«

Akela sprang, mußte aber gefehlt haben, denn Mowgli hörte das scharfe Zuschnappen des Gebisses und gleich darauf ein Wehgeheul, als der wütende Hirsch mit seinen Vorderläufen den Wolf niederschlug.

Mowgli verharrte nicht länger, sondern preschte weiter. Das Bellen und Heulen hinter ihm ward schwächer, als er durch die Äcker und Saatfelder lief zu den Wohnungen der Menschen.

»Bagheera sprach die Wahrheit«, keuchte er und ließ sich auf einem Strohhaufen neben dem Fenster einer Hütte niederfallen, »morgen gilt’s uns beiden – Akela und mir!«

Dann erhob er sich geräuschlos, preßte das Gesicht gegen das kleine Fenster und beobachtete das Feuer auf dem Herd. Er sah, wie in der Nacht das Weib des Dörflers aufstand und dem Feuer kleine schwarze Stücke zur Nahrung gab. Als dann der Morgen anbrach und weiß und kalt die Nebel zogen, gewahrte er, wie das Kind des Dörflers einen Weidenkorb nahm, der innen mit Lehm ausgelegt war, Stücke rotglühender Holzkohle hineintat, ihn zudeckte und hinaustrat, um nach den Kühen im Stall zu sehen.

»Ist das alles?« sagte Mowgli zu sich. »Wenn das ein Menschenjunges tun kann, so ist keine Gefahr dabei.« Er bog rasch um die Ecke, trat auf den Knaben zu, entriß ihm den Topf und war im Nebel verschwunden, während der Junge in ein lautes Angstgeheul ausbrach.

Sie sehen ganz aus wie ich – die Menschen, dachte Mowgli und blies in den Topf, wie es die Frau gemacht hatte. Es wird sterben, wenn ich es nicht füttere. Und er legte kleine Zweige und Baumrinde auf die rote Blume. Er war schon wieder weit den Berg hinauf, als er Bagheera traf, auf dessen Fell die Tautropfen des Morgens wie Mondsteine glänzten.

»Akela hat den Sprung verfehlt«, erzählte der Panther. »Sie hätten ihn schon diese Nacht getötet, aber auch dich wollten sie haben. Überall auf dem Berg suchten sie nach dir.«

»Bei den Hütten der Menschen war ich! Jetzt bin ich bereit. Sieh!« Er hielt den rauchenden Topf in die Höhe.

»Gut. Aber höre! Ich sah, wie die Menschen einen trockenen Ast in diese Masse warfen, und dann blühte plötzlich die rote Blume an seinem Ende auf. Hast du keine Angst?«

»Nein! Warum sollte ich denn? Jetzt entsinne ich mich – wenn es kein Traum war –, wie ich einst, bevor ich ein Wolf wurde, neben der roten Blume lag; warm war sie und freundlich.«

Mowgli saß den ganzen Tag in der Höhle bei seinem Feuertopf und steckte trockene Zweige hinein, um zu sehen, wie die rote Blume aufzüngelte. Zuletzt fand er einen starken Ast, der ihm gefiel. Am Abend dann, als Tabaqui in die Höhle kam und ihm höhnisch zurief, er werde gewünscht auf dem Ratsfelsen, da lachte er und lachte, bis Tabaqui entsetzt davonlief. Und lachend noch ging Mowgli zur Ratsversammlung der Wölfe.

Akela, der Einsiedlerwolf, lagerte am Fuß seines felsigen Sitzes zum Zeichen, daß die Führerschaft des Rudels frei war. Shere Khan schritt stolz auf und ab, umschmeichelt von seinem Anhang, den abfallfressenden Wölfen. Bagheera lag dicht bei Mowgli, der den Feuertopf zwischen den Knien hielt. Als alle vollzählig versammelt waren, hob Shere Khan an zu sprechen, wie er’s zur Zeit von Akelas kraftvoller Führung nie gewagt haben würde.

»Er hat kein Recht zu reden«, flüsterte Bagheera. »Sage ihm das! Ein Hundesohn ist er! Sag es ihm! Er wird dann Furcht haben!«

Mowgli sprang auf. »Freies Volk!« rief er. »Leitet Shere Khan das Rudel? Was hat ein Tiger mit der Führerschaft zu tun?«

»In Anbetracht dessen, daß die Führerschaft frei ist – in Anbetracht, daß ich ersucht worden bin zu sprechen …«, begann Shere Khan.

»Ersucht? Von wem?« rief Mowgli. »Sind wir denn alle Schakale, daß wir vor diesem lahmen Viehschlächter kriechen? Die Führerschaft über das Rudel steht ganz allein dem Rudel zu.«

Wildes Geschrei erhob sich: »Schweig, du Menschenjunges!«

Und andere riefen: »Er rede! Er hat das Gesetz gehalten!« Endlich übertönte die donnernde Stimme der Ältesten des Rudels das Gewirr: »Der tote Wolf soll sprechen. Akela hat das Wort!« Sobald nämlich der Führer des Rudels seine Beute verfehlt hat, wird er der »tote Wolf« genannt, solange er noch am Leben ist.

Akela hob müde sein graues Haupt und sagte:

»Freies Volk, und auch ihr, Schakale Shere Khans, zwölf Jahre lang führte ich euch vom Lager zum Jagen, vom Jagen zum Lager, und während der ganzen Zeit geriet keiner in Fallen, kam keiner zu Schaden. Nun habe ich meine Beute gefehlt. Ihr alle wißt von der Verschwörung gegen mich. Ihr wißt, wie ihr mich zu dem Bock in der Brunft gebracht habt, um dem Rudel meine Schwäche zu zeigen. Die Falle war gut gestellt! Euer Recht ist nun, mich hier am Ratsfelsen zu töten. Ich frage daher, wer kommt an, um mit dem alten Führer ein Ende zu machen? Denn mein Recht ist nach Dschungelgesetz, daß ihr einzeln kommt, um mich anzugehen, einer nach dem anderen.«

Tiefes Schweigen herrschte ringsum; niemand regte sich, denn keiner hatte den Mut, Akela zu Tode zu kämpfen.

Da brüllte Shere Khan:

»Bah! Was haben wir denn mit diesem zahnlosen Narren zu schaffen? Er ist sowieso dem Tode verfallen! Aber das Menschenjunge ist’s, um das es sich handelt! Freies Volk, er war meine Beute von Anbeginn! Liefert ihn mir aus! Meine Geduld mit ihm ist zu Ende! Dieser Menschenwolf hat zehn Jahre lang im Dschungel sein Unwesen getrieben! Gebt ihn heraus, oder … ich schwör’s …, ich werde immerdar in euren Gründen jagen und keinen trockenen Knochen übriglassen. Mensch ist er, eines Menschen Kind – ich hasse ihn, bis in das Mark meiner Gebeine hasse ich ihn!« Mehr als die Hälfte des Rudels heulte:

»Ein Mensch ist er! Was haben wir mit einem Menschen zu schaffen? Zum Menschenpack gehe er, wo er hingehört!«

»Um alle Dörfler gegen uns aufzuhetzen?« fragte Shere Khan. »Nein, gebt ihn mir. Mensch ist er, und keiner von uns vermag ihm in die Augen zu blicken.«

Wieder erhob Akela den grauen Kopf. »Er hat mit uns sich gesättigt. Er hat mit uns geschlafen. Er hat uns das Wild zugejagt. Er hat niemals ein Gesetz des Dschungels gebrochen.«

»Ich zahlte einen Bullen für ihn als Preis für seine Aufnahme. Gewiß, der Wert eines Bullen ist gering, aber für seine Ehre wird Bagheera möglicherweise zu kämpfen wissen«, sagte der Panther mit sanfter Stimme.

»Ein Bulle, vor zehn Jahren bezahlt«, knurrte das Rudel. »Was kümmern uns alte gebleichte Knochen?«

»Auch nicht Bürgschaften?« Bagheera fletschte sein weißes Gebiß. »Freies Volk nennt man euch – und das mit Recht.«

»Kein Menschenjunges darf laufen und leben mit den Völkern des Dschungels«, heulte Shere Khan. »Gebt ihn mir frei!«

»Er ist unser Bruder in allem – nur nicht im Blute!« fuhr Akela fort, »und dennoch wollt ihr ihn töten? Wahrlich, zu lange schon habe ich gelebt! Manche unter euch sind Viehfresser geworden, und andere – so hörte ich sagen – schleichen sich nachts im Gefolge Shere Khans in die Dörfer und stehlen kleine Kinder von den Türschwellen! Feiglinge seid ihr und Hundegezücht, und zu Feiglingen spreche ich jetzt. Ich bin dem Tode verfallen, und keinen Wert hat mein Leben, sonst würde ich es euch anbieten, um das Menschenjunge zu retten. Aber um der Ehre des Rudels willen, die ihr – führerlos geworden – vergaßt, schwöre ich euch, daß ich mich nicht wehren will, wenn meine Zeit kommt zu sterben! Laßt das Menschenjunge in sein Dorf zurückkehren, und ich lasse mich willig von euch zerreißen, ohne zu kämpfen! Das wird zum mindesten dreien aus dem Rudel das Leben retten. Mehr kann ich nicht tun; aber, wenn ihr wollt, kann ich euch die Schande ersparen, einen Bruder zu töten, gegen den keine Klage ist – einen Bruder, für den man sprach und den man einkaufte ins Rudel nach dem Gesetz des Dschungels.«

»Er ist ein Mensch – Mensch – Mensch!« knurrte wütend das Rudel, und die meisten Wölfe begannen sich um Shere Khan zu scharen, dessen Schwanz schon die Luft peitschte.

»Jetzt ist’s an dir!« sagte Bagheera zu Mowgli. »Uns bleibt nur der Kampf!«

Mowgli stand aufrecht, den Feuertopf in den Händen. Dann streckte er die Arme aus und gähnte den knurrenden Wölfen gerade ins Gesicht. Aber im Herzen war er rasend vor Wut und Trauer, denn nach Wolfsart hatten die Wölfe ihn niemals merken lassen, wie sehr sie ihn haßten.

»Hört jetzt, ihr da!« rief er. »Überflüssig ist all dieses Hundegekläff! Gern wäre ich mit euch ein Wolf geblieben, bis an mein Lebensende – aber immer wieder habt ihr mir’s heute gesagt, ich sei ein Mensch, und ich fühle, eure Worte sind wahr! Und so nenne ich euch hinfort nicht mehr meine Brüder, sondern Sag (Hunde), wie es dem Menschen geziemt. Was ihr tun oder nicht tun werdet, das habt nicht ihr zu bestimmen – das ist allein meine Sache. Und damit euch das deutlich wird, darum habe ich, der Mensch, euch die rote Blume gebracht, vor der ihr Hunde euch fürchtet!«

Er warf den Feuertopf um, und rote Kohlen fielen auf trockenes Moos, das aufflammte; entsetzt wich das Wolfspack zurück vor den aufzüngelnden, glühenden Schlangen.

Mowgli hielt den trockenen Ast in das Feuer, bis die Zweige brannten, und dann schwang er ihn über den Kopf und sprang zwischen die kauernden Wölfe.

»Du bist ihr Herr und Meister!« flüsterte ihm Bagheera zu. »Rette Akelas Leben! Er war stets dein Freund!« Akela, der grimmige, alte Wolf, der niemals in seinem Leben um Gnade gefleht hatte, sah auf und warf einen zaghaft klagenden Blick auf den Knaben, der nakkend dastand mit wallendem, schwarzem Haar und umtanzt vom zitternden, schwankenden Schatten der flackernden Glut.

»Gut!« sagte Mowgli und blickte im Kreis um sich, »ich wußte es – ihr seid Hunde! Ich gehe von euch zu meinem eigenen Volk – wenn es mein Volk ist. Verschlossen ist mir fortan der Dschungel, und vergessen muß ich euch und das Leben bei euch. Aber ich will barmherziger sein, als ihr es wart! Da ich euer Bruder war – euer Bruder in allem, nur nicht im Blute –, verspreche ich, daß ich, bin ich Mensch unter Menschen, euch nicht an die Menschen verraten werde, wie ihr mich verraten habt. Kein Krieg soll sein zwischen mir und euch.« Mowgli stieß mit dem Fuß in die brennenden Hölzer, daß die Funken aufprasselten. »Aber noch ist eine Schuld hier zu begleichen, bevor ich gehe.« Er schritt zu Shere Khan, der dasaß, blöde blinzelnd in die Flamme starrend, und packte ihn fest an den Kinnhaaren. Bagheera war ihm gefolgt.

»Auf, Hund!« schrie Mowgli ihn an. »Auf, wenn ein Mensch mit dir spricht, oder ich stecke dir dein Fell in Brand!«

Shere Khans Ohren legten sich flach an den Kopf, und er schloß die Augen, denn allzu nahe schwelte der glimmende Ast.

»Dieser Viehschlächter prahlte, er würde mich heute töten, weil ich einst von ihm fortlief, als ich noch ein wehrloses Junges war! Ich will dir zeigen, wie die Menschen, wenn sie Männer geworden sind, die Hunde strafen! Rühre nur ein Glied, Lungri, und ich stoße dir die Feuerblume in den Rachen!«

Und er schlug den brennenden Ast dem Tiger um die Ohren, der in kläglicher Angst winselte und heulte.

»Pah! Du versengte Dschungelkatze! … Du kannst nun gehen! Aber wisse, daß ich das nächste Mal nur mit Shere Khans Fell um die Schultern hier zum Ratsfelsen kommen werde! … Und ihr anderen, ihr falschen Brüder, hört meinen Willen! … Akela geht frei von hier, wohin es ihm beliebt. Ihr werdet ihn nicht töten, weil ich es nicht will. Und nun fort mit euch allen! Ihr sollt hier nicht länger sitzen mit hängender Zunge, als wäret ihr etwas anderes als Hunde, die ich von dannen jage! Fort!«

Das Feuer brannte hell am Ende des Astes, und Mowgli schlug rechts und links in den Haufen, daß die Wölfe heulend mit versengtem Fell davonstoben.

Zuletzt waren nur Akela, Bagheera und etwa zehn Wölfe auf dem Platz, die Mowglis Freunde geblieben waren. Da ergriff Mowgli ein Schmerz im Innern, wie er ihn noch nie gekannt hatte; sein Herz krampfte sich zusammen, er schluchzte, und Tränen liefen über sein Gesicht.