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1. Auflage 2015
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-028767-9
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epub: ISBN 978-3-17-028769-3
mobi: ISBN 978-3-17-028770-9
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Vor fast zwei Jahrzehnten habe ich, Brita Schirmer, in Berlin eine Elterngruppe für Angehörige von Menschen im Autismus-Spektrum ins Leben gerufen. Die Idee entstand, nachdem sich eine Mutter bei mir während eines Beratungsgesprächs darüber beklagt hatte, wie einsam sie sich in ihrer Situation mit einem Sohn im Autismus-Spektrum fühle. Sie erklärte mir, wie sehr sie den Austausch mit Familien mit einer ähnlichen Lebenssituation vermissen würde.
Diese Information nahm ich zum Anlass, ein erstes Treffen für diese Mütter und Väter zu organisieren. Seitdem trifft sich eine Gruppe von Angehörigen, zumeist Eltern, einmal im Monat und ein Teil von ihnen fährt sogar einmal im Jahr mit ihren Töchtern und Söhnen für ein Wochenende gemeinsam weg.
In der Zwischenzeit waren schon Angehörige von über 150 Familien bei den monatlichen Treffen der Elterngruppe. Einige kommen regelmäßig, andere einige Male im Jahr und die nächsten nur dann, wenn sie ein Problem im Zusammenhang mit ihrem Kind quält. Dies ist oft die Zeit, unmittelbar nachdem bei ihrem Sohn oder ihrer Tochter die Diagnose gestellt wurde, manchmal auch, wenn der Übergang in die oder aus der Schule ansteht oder die Pubertät neue Fragen aufwirft.
Zwischen vielen Familien sind in den vergangenen Jahren Freundschaften entstanden. Einige fahren zusammen in den Urlaub und besuchen sich regelmäßig. Ein Teil der Eltern hat sich organisiert und bietet unter dem Namen Elternzentrum Berlin e. V. Beratung und Informationsveranstaltungen zum Thema Autismus an und vertritt öffentlich die Interessen der Menschen im Autismus-Spektrum.
In diesem Buch kommen 15 Mütter und Väter aus dieser Gruppe zu Wort. Sie berichten von sehr persönlichen und berührenden Erfahrungen, die sie mit ihren Kindern gemacht haben. Sie schildern, wer oder was ihnen am meisten geholfen hat und was sie sich für ihren Sohn wünschen. Dass ausschließlich Eltern eines Sohnes zu Wort kommen ist Zufall, wenngleich auch grundsätzlich mehr Männer als Frauen im Autismus-Spektrum sind (Bölte, 2009b, S. 69f.).
Natürlich ist es schon eine besondere Gruppe von Eltern, die überhaupt in ein Interview einwilligt (Solomon, 2013, S. 34). Viele Aussagen der Eltern spiegeln so zwar individuelle Erfahrungen wider, scheinen aber dennoch in einem gewissen Rahmen verallgemeinerungswürdig: Das Leben findet nach einer schwierigen, manchmal traurigen, konflikthaften und mitunter auch trostlos erscheinenden Phase seine Normalität wieder. Die beinhaltet eben auch Glück mit dem Kind und schöne Erlebnisse, die als bereichernd erlebt werden.
Entgegen eines gängigen Vorurteils genießen die meisten der Eltern ihr Leben, so wie es andere Mütter und Väter auch tun. Die Forschung unterstützt diese Auffassung. Familien mit einem behinderten Kind erleben zwar mehr Stress, aber nicht weniger positive Gefühle (Hackenberg, 2008, S. 55).
Es ist faszinierend zu sehen, welche Stärke und Kraft viele Mütter und Väter entwickeln, um ihre schwierige Lebenssituation zu bewältigen. Das Zusammenleben mit ihrem Kind betrachten die meisten von ihnen, wie Anne L. in diesem Buch als Bereicherung.
Ein Kind im Autismus-Spektrum zu haben, ist also für Eltern nicht das Ende eines schönen Lebens und auch nicht eine Begrenzung der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht wenige Elternteile befürchten dies ja nach der Diagnosestellung zunächst. Doch das Zusammenleben mit einem Kind im Autismus-Spektrum gibt dem Leben zwar eine unerwartete Richtung, viele Mütter und Väter empfinden jedoch ihr Kind als eine Quelle von Glück. Sie begrüßen rückblickend die Veränderung ihrer Lebensperspektive und einige, wie zum Beispiel Ines N. in ihrem Interview, berichten sogar von der Festigung ihrer Partnerschaft durch das Kind. Die starke Belastung, denen die Familien ausgesetzt sind, soll dabei aber keinesfalls bagatellisiert werden und wird beim Lesen der Interviews auch deutlich.
Das wichtigste Anliegen dieses Buches ist es, den Eltern, die erst kürzlich die Diagnose ihres Kindes erfahren haben, Mut zu machen: Das Leben geht weiter und es kann ein schönes Leben sein. Mit diesem oder vielleicht sogar wegen dieses Kindes, weil es aufmerksam macht auf Dinge, auf die sie nie aufmerksam geworden wären. Und weil es Anlass gibt, die eigenen Werte und Prioritäten zu überprüfen oder toleranter zu werden, wie es Thomas H. in seinem Interview von sich sagt. Wer ist wirklich ein Freund, auch in einer schwierigen Situation? Was sind die Dinge, auf die es tatsächlich ankommt im Leben? Was macht das Leben lebenswert? Das Leben mit einem Kind im Autismus-Spektrum veranlasst dazu, viele Dinge ganz neu zu überdenken und sich mit Themen auseinanderzusetzen, mit denen man sich sonst nie beschäftigt hätte. Was für eine Chance!
Aber auch den Angehörigen und Professionellen soll es Mut machen. Mut zu Gesten des Verständnisses, der Anteilnahme und zur ganz konkreten Hilfe.
Um auch dem Leser, der etwas weniger mit der Thematik vertraut ist, einen Zugang zu den Erfahrungen der Eltern ermöglichen, soll im Folgenden dargestellt werden, was man unter dem Autismus-Spektrum versteht und was die Besonderheiten der Kinder und ihrer Familien sind.
Der Begriff Autismus wurde im Jahre 1911 vom Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt. Er bezeichnete damit eines von vier zentralen Merkmalen der Schizophrenie, nämlich den Kontaktverlust der von ihm beobachteten Patienten mit der Umwelt und ihren Rückzug aus der Wirklichkeit (Bleuler, 1911, S. 51).
Eugen Bleuler sah allerdings zunächst im Autismus nicht zwangsläufig etwas Pathologisches. Er verstand ihn als eine allgemein menschliche Eigenschaft, die während einer Schizophrenie nur besonders deutlich wird.
Der Terminus Autismus fand rasch Eingang in die Fachsprache der Psychiatrie. Als Loslösung von der Wirklichkeit, zusammen mit dem Überwiegen des Innenlebens diente er bald zur Bezeichnung verschiedenster Formen von Kontaktstörungen. In der Folgezeit wurde der Begriff dann aufgegriffen, um ein Symptom einer Psychose oder einer Psychopathie zu kennzeichnen (Neumärker, 2010, S. 99ff.). Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass ihn mehrere Jahrzehnte später fast zeitgleich und unabhängig voneinander zwei Männer verwendeten, um damit ein von ihnen jeweils erstmalig beschriebenes Syndrom zu bezeichnen.
Der erste war Hans Asperger (1906–1980), Pädiater und Leiter der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Universitätsklinik. Am 3. Oktober 1938 hielt er einen Vortrag, in dem er anhand eines Fallbeispiels die Charakteristika der Autistischen Psychopathen darstellte (ausführlicher unter Schirmer, 2002). Der Vortrag wurde unter dem Titel Das psychisch abnorme Kind im gleichen Jahr in der Wiener Klinischen Wochenzeitschrift abgedruckt (Asperger, 1938). Das Thema beschäftigte ihn auch in der Folgezeit und wurde von ihm in verschiedenen Vorträgen und Publikationen fortgeführt (Neumärker, 2010, S. 113).
Seine Habilitationsschrift mit dem Titel Die »Autistischen Psychopathen« im Kindesalter (Asperger, 1944) ging im Jahre 1943 bei der Schriftleitung der Zeitschrift Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten ein. Er bezog sich in der Begründung seiner Terminologie hierin explizit auf die fachwissenschaftlich äußerst bedeutsame Arbeit Eugen Bleulers und dessen Begriffsschöpfung (ebd., S. 84).
Hans Asperger beschrieb in seiner Habilitationsschrift vier Jungen: Fritz V., Harro L., Ernst K. und Hellmuth L. Das vierte Kind, Hellmuth K., dient dabei der Abgrenzung der Autistischen Psychopathie von einer cerebralen Störung. Während die erste angeboren ist, hat die zweite eine andere Ursache, bei Hellmuth L. war sie aufgrund eines Geburtstraumas entstanden.
Hans Asperger fasste in seiner Beschreibung folgende Merkmale zusammen, die bei einem Kind auftreten müssen, wenn bei ihm eine Autistische Psychopathie vorliegt:
Es handelt sich um eine angeborene Störung.
Es gibt eine Einschränkung der Beziehungen zur Umwelt auf allen Gebieten.
Die Auffälligkeiten bestehen schon vom zweiten Lebensjahr an und bleiben das ganze Leben hindurch bestehen.
In der verbalen und nonverbalen Kommunikation fallen Besonderheiten auf, wobei die sprachliche Ausdrucksfähigkeit gut ist.
Die Kinder sind kreativ und begabt, wenn es um eigene Interessen geht.
Sie sind beeinträchtigt, vor allem wenn die eigenen Interessen nicht berührt werden oder mechanisch auswendig gelernt werden soll.
Die Kinder haben Schwierigkeiten beim Erlernen von alltäglichen Verrichtungen.
Sie haben eine qualitativ andere Gefühlsebene.
Die Kinder vollführen sogenannte »Bosheitsakte«.
Sie sind motorisch ungeschickt,
haben ein gutes logisches Denkvermögen,
Besonderheiten in der Wahrnehmung,
ein reifes Kunstverständnis und
Auffälligkeiten im Bereich der Sexualität (Asperger, 1944).
Der zweite Pionier auf diesem Gebiet war der Kinderpsychiater Leo Kanner (1896–1981), zu dieser Zeit Direktor der Child-Psychiatric-Clinic in Baltimore. Er nannte 1943 das von ihm entdeckte Syndrom early infantile autism. Er beschrieb es anhand der Falldarstellungen von elf Kindern (Kanner, 1943). Für kennzeichnend hielt er u. a. folgende Merkmale:
Die Kinder haben eine angeborene Unfähigkeit, mit Menschen in Beziehung zu treten, wohingegen diese zu Dingen durchaus bestehen.
Ihre verbale Kommunikation ist auffällig. Ein Teil der Kinder erwirbt die Sprache nicht, bei den anderen dient sie lange Zeit nicht dazu, einen Inhalt zu übermitteln.
Sie bestehen auf Gleichförmigkeit und haben eine begrenzte Variation spontaner Aktivitäten.
Sie stammen aus sehr intelligenten Familien.
Sie haben ein gutes kognitives Potential und ausgezeichnete Fähigkeiten, etwas auswendig zu lernen (ebd.).
Kanners auf Englisch publizierte Arbeit wurde weltweit stärker zur Kenntnis genommen als die von Hans Asperger auf Deutsch geschriebene.
Ein Psychiater in Europa oder in den USA bezieht sich heute bei seiner Diagnosestellung auf eines von zwei Klassifikationssystem, in dem Störungen mit ihren Namen und Symptomen aufgelistet werden. In beiden Manualen werden sie nach bestimmten Kriterien hierarchisch geordnet und mit einem Code aus Buchstaben und Zahlen verschlüsselt.
Das erste wird von der Weltgesundheitsorganisation erstellt. Es ist die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD). Die Abkürzung ICD steht für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Beim zweiten handelt es sich um das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) der American Psychiatric Association.
Beide Materialien werden regelmäßig überarbeitet. Auch das Verständnis dessen, was als psychische Störung verstanden wird, unterliegt einem Zeitgeist. Dabei werden ICD und DSM in wesentlichen Aspekten aufeinander abgestimmt.
Es dauerte mehr als 35 Jahre, bis die Syndrome, die von Hans Asperger und Leo Kanner beschrieben worden waren, Eingang in diese Klassifikationssysteme fanden. Erst im Jahre 1979 wurde der frühkindliche Autismus in das ICD-9 aufgenommen. Ein Jahr später findet man ihn auch in der dritten Überarbeitung des DSM.
Das Asperger-Syndrom wurde sogar noch später, nämlich im Jahre 1992, im ICD-10 erwähnt. Die von Hans Asperger ursprünglich gewählte Bezeichnung Autistische Psychopathie wurde als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Sie wurde durch die Verwendung seines Namens ersetzt. 1994 wurde die Asperger-Störung auch im DSM-IV, der vierten Überarbeitung, erstmalig aufgeführt.
Im ICD-10 findet man nun noch eine dritte tiefgreifende Entwicklungsstörung, die den Autismus im Namen hat: den atypischen Autismus. Alle drei Formen werden als eigenständige und voneinander abgrenzbare tiefgreifende Entwicklungsstörungen verstanden.
Damit war zum einen die Voraussetzung für ein deutlich ansteigendes allgemeines Interesse an diesen Phänomenen geschaffen. Zum anderen setzte sich aber damit auch endgültig eine defizitorientierte Betrachtungsweise des Autismus durch. Leo Kanners und Hans Aspergers Darstellungen hatten noch sowohl Stärken als auch Schwächen enthalten. Hans Asperger hatte im Jahre 1938 explizit formuliert: »Nicht alles, was aus der Reihe fällt, was also ›abnorm‹ ist, muß deshalb auch schon ›minderwertig‹ sein« (Asperger, 1938).
Natürlich gibt es Menschen im Autismus-Spektrum nicht erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Allerdings hatten sie bis dahin andere Diagnosen erhalten (vgl. King, Bearman, 2009, S. 1125). Einige galten als Menschen mit geistiger Behinderung oder man diagnostizierte bei ihnen eine Sprachentwicklungsverzögerung (ebd.), eine minimale Hirnschädigung unklarer Genese, eine minimale cerebrale Dysfunktion, eine Zwangsstörung mit neuronaler Dysfunktion oder eine Mehrfachbehinderung. Es gab auch Kinder, die als verhaltensgestört galten. Einige Menschen, die heute eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum erhalten würden, fielen erst durch ihre später hinzukommenden psychischen Probleme, wie z. B. Depressionen, auf.
Mit der Aufnahme in die Klassifikationssysteme ICD und DSM stiegen nun die Diagnosezahlen rasant an. Zugleich begann mit dem Kinofilm Rain man auch ein mediales Interesse an dem Thema. Große Teile der Bevölkerung wurden auf diese Weise mit den Auswirkungen einer Autismus-Spektrum-Störung bekannt.
Im Mai 2013 erschien das DSM 5. In diesem Manual wurde die kategoriale Betrachtung des Autismus mit seinen verschiedenen Formen zugunsten der Idee eines einheitlichen Kontinuums mit unterschiedlichen Ausprägungen aufgegeben. In Untersuchungen war zuvor festgestellt worden, dass Erwachsene mit frühkindlichem Autismus in ihrer Symptomatik nicht eindeutig von denen mit Asperger-Syndrom unterschieden werden können (Amorosa, 2010, S. 26). Damit wurde fraglich, ob es sich tatsächlich um klar abgrenzbare Entwicklungsstörungen handeln konnte.
Im DSM 5 spricht man deshalb von der Autismus-Spektrum-Störung. Die Frage, ob man einzelne Formen des Autismus klar voneinander abgrenzen kann, wird damit unnötig. Allerdings bleibt es weiterhin bei einer Orientierung an dem Störungsaspekt. Doch letztlich verwundert dies nicht weiter, schließlich soll eine Diagnose auch zu Ansprüchen gegenüber Leistungsträgern wie Krankenkassen oder Sozialämtern führen.
Eine aktuelle überarbeitete Variante des ICD wird noch im Jahre 2015 erwartet.
In den letzten Jahren setzt sich immer stärker die Erkenntnis durch, dass es sich beim Autismus nicht nur um eine Summe von Defiziten, sondern um ein besonderes Fähigkeitenprofil handelt, das durchaus auch Stärken beinhaltet (Theunissen, 2015).
Welche der vielen individuellen Eigenschaften eines Menschen als wertvoll und welche als nutzlos bewertet werden, hängt von der Anforderungssituation ab, die in einer Kultur an den Menschen gestellt werden. Ob eine ganz konkrete Eigenschaft als Defizit oder als Fähigkeit interpretiert wird, ist unterschiedlich. Blind zu sein kann bspw. als Defizit, aber wie z. B. bei Teiresias, dem blinden Seher aus der griechischen Mythologie, oder Homer, dem blinden Dichter, auch als Gabe verstanden werden. Um eine Alternative zur einseitig negativen Betrachtungsweise des Autismus’ und einer ausschließlichen Fokussierung auf den Störungsaspekt anzubieten, spricht man in der letzten Zeit immer häufiger vom Autismus-Spektrum.
Dies ist eine Entwicklung, die ganz maßgeblich von Menschen mit dem Asperger-Syndrom vorangetrieben wurde. Im Jahre 2000 entstand in der Bundesrepublik in Mülheim die erste Asperger-Selbsthilfegruppe. Vier Jahre später wurde Aspies e. V. als Interessenvertretung für Menschen mit Asperger-Syndrom in der Bundesrepublik ins Leben gerufen. Diese Menschen haben ein berechtigtes Interesse daran, nicht nur als »defizitär«, »mangelhaft«, »gestört« oder »krank«, sondern auch mit ihren Stärken gesehen werden.
Sie verweisen zur Erklärung des Phänomens Autismus auf die Neurodiversität. Keine zwei Menschen, nicht einmal eineiige Zwillinge, gleichen sich in ihren körperlichen Merkmalen, also Größe, Haar- und Augenfarbe, dem Abdruck der Papillarleisten am Endglied eines Fingers (dem Fingerabdruck) und natürlich auch ihrer Hirnentwicklung vollständig. Mit dieser milliardenfachen Verschiedenheit muss und darf die Menschheit schon immer zurechtkommen. Sie ist keinesfalls nur problematisch, sondern birgt für eine arbeitsteilige Gesellschaft ein großes Potential (Krüger, 2014). Sie hat auch dafür gesorgt, dass die Menschheit sich an unterschiedlichste Lebensumstände auf dieser Erde anpassen konnte. Ganz egal, wie sich die Lebensverhältnisse änderten, mindestens ein Teil der menschlichen Population war immer gut genug angepasst, um überleben und sich fortpflanzen zu können. Menschen im Autismus-Spektrum sind nach dieser Theorie einfach eine Möglichkeit, wie Menschen sein können. Den Autismus begreifen sie als Teil ihrer Identität, nicht als Krankheit.
Seit einiger Zeit ist bekannt, dass es sich beim Autismus um ein Phänomen handelt, das mit spezifischen Besonderheiten in der Hirnentwicklung einhergeht (z. B. Bauman, Kemper, 1994). Dessen ungeachtet wird er bisher nur auf der Grundlage der Beurteilung des Verhaltens einer Person diagnostiziert. Das bedeutet, dass der Kinder- und Jugendpsychiater ein Kind beobachtet und seine engsten Bezugspersonen befragt, um die Diagnose stellen zu können. Bei Erwachsenen erfolgt die Diagnose ebenfalls durch einen Psychiater.
Die Diagnosestellung erfordert viel Erfahrung. In der Zwischenzeit gibt es zwar Verfahren, die einem Untersucher helfen sollen, geeignete Untersuchungssituationen zu schaffen, seine Beobachtungen auf bestimmte Verhaltensbereiche zu lenken und auch das Interview mit den Eltern zu führen. Dennoch bleibt ein Interpretationsspielraum. Deshalb haben viele Kinder im Laufe ihrer Entwicklung eine Reihe unterschiedlicher Diagnosen erhalten.
Als auffällig bei einem Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum gelten insbesondere:
eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion,
eine qualitative Beeinträchtigung der Kommunikationsfähigkeit und
beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten.
Zu jedem dieser Bereiche existiert eine Palette möglicher Symptome, von denen eine genau definierte Anzahl zutreffen muss, damit die Diagnose gerechtfertigt ist. Es handelt sich also stets um eine Summationsdiagnose: das gemeinsame Auftreten verschiedener Symptome ist entscheidend.
Ein einzelnes Symptom, wie der auffällige Blickkontakt, ist für eine Autismus-Spektrum-Störung so unspezifisch wie Fieber für eine Erkältung. Fieber ist dabei oft, aber nicht zwangsläufig zu beobachten und kann auch bei anderen Erkrankungen auftreten.
So ist es auch mit jedem Symptom, das zu einer Autismus-Spektrum-Störung gehören kann: es kann auch typisch für eine bestimmte Entwicklungsphase sein. Dies trifft z. B. auf die Echolalie zu. Hierbei handelt es sich um das Wiederholen von Worten oder Sätzen. Eine Echolalie kann spontan auftreten, wenn man das Kind z. B. fragt: »Möchtest du etwas trinken?« und es antwortet: »Möchtest du etwas trinken?« Sie kann aber auch verzögert sein. Dann wiederholt das Kind vielleicht den ganzen Tag einen Werbejingle, den es am Morgen während der Fahrt in die Schule im Auto gehört hat. Einige Kinder ohne Entwicklungssauffälligkeiten echolalieren in einer frühen Phase ihres Spracherwerbs ebenfalls.
Andere Symptome, die im Rahmen einer Autismus-Spektrum-Störung auftreten können, existieren auch im Zusammenhang mit anderen Störungen und Behinderungen, wie die Stereotypien. Stereotypien sind funktionslos erscheinende Bewegungsabläufe, wie das Wedeln mit den Händen, das Schaukeln mit dem Oberkörper, das Drehen von Objekten oder das Rieseln mit Sand. Kinder, die in einem extrem anregungsarmen Umfeld aufgewachsen sind, zeigen ebenfalls stereotypes Verhalten.
Kein einziges Symptom tritt einzig und allein nur in Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrum-Störung auf. Darüber hinaus können die Symptome auch unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Grenze zu dem, was man als »normal« bezeichnet ist unscharf. Menschen aus dem autistischen Spektrum sind sehr unterschiedlich. Schließlich handelt es sich ja auch jeweils um eine eigene Persönlichkeit mit einer individuellen Symptomkombination in ihrer spezifischen Ausprägung.
Doch selbstverständlich durchdringen die drei oben genannten Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung sich gegenseitig. Die Sprache begleitet das soziale Verhalten eines Menschen und ist selbst ein wichtiger Teil von ihr. Schwierigkeiten in der Kommunikation sind zugleich Schwierigkeiten im Sozial- und Kontaktverhalten. Dass fehlende Kommunikationsmöglichkeiten u. a. zu problematischem Sozialverhalten führen können, ist naheliegend.
Im Bereich der sozialen Interaktion reichen die Besonderheiten von der Unfähigkeit, auf den eigenen Namen erwartungsgemäß zu reagieren, bis hin zu Problemen, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen.
Es gibt Kinder, die scheinen jeden sozialen Kontakt abzulehnen und am zufriedensten zu sein, wenn man sie allein lässt. Dann gibt es solche, die soziale Annäherung zulassen, aber nicht von sich aus initiieren. Und schließlich existiert eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum, die zwar aktiv Kontakte aufnehmen wollen, aber dies in ungeeigneter Art und Weise versuchen (Dodd, 2007, S. 98).
Die Besonderheiten in der Kommunikationsfähigkeit reichen vom Ausbleiben der verbalen Sprachentwicklung über die sogenannte Echolalie bis hin zu Schwierigkeiten, »zwischen den Zeilen zu lesen« und übertragene Bedeutungen und Körpersprache zu verstehen.
Die beschränkten, repetitiven und stereotypen Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten können sich darin zeigen, dass diese Menschen Stereotypien oder Spezialinteressen haben, mit denen sie sich sehr intensiv beschäftigen. Für Aktivitäten aus anderen Lebensbereichen hingegen sind sie kaum zu interessieren. Oft beharren sie darauf, dass bestimmte Aspekte ihrer Umwelt unverändert bleiben, so z. B. zeitliche Abläufe, die Anordnung von Spielzeug im Zimmer oder welche Wege zum Einkaufen gegangen werden.
Das Diagnosealter für eine Autismus-Spektrum-Störung ist in der Bundesrepublik noch immer viel zu hoch (Keenan, Kerr, Dillenburger, 2015, S. 24). Es liegt beim Frühkindlichen Autismus bei sechs Jahren, beim Asperger-Syndrom erfolgt die Diagnosestellung noch später. Dabei werden Mädchen oft später diagnostiziert als Jungen (Fröhlich et al., 2014, S. 3).
Die Gründe dafür sind vielfältig: Einige Eltern wissen zu wenig über frühkindliche Entwicklungsschritte und sehen keinen Grund zur Besorgnis. Dies könnte mit den soziologischen Entwicklungen zu tun haben. Man braucht zwar zum Autofahren einen Führerschein, das Kindererziehen lernt man aber nicht. Wo Familien nicht mehr im Verbund zusammenleben, sieht man nicht mehr regelmäßig Kinder aufwachsen, und gibt es keine Alten, die mit ihren reichen Erfahrungen die jungen Mütter und ihre kleinen Kinder begleiten können.
Charis H., eine Mutter, die in einem Interview zu Wort kommt, fand ihren erstgeborenen und später mit frühkindlichem Autismus diagnostizierten Sohn im Vergleich zu anderen Kindern sogar »viel lieber«, weil er sich in ihren Augen so ausdauernd allein beschäftigen konnte. Nachvollziehbarer Weise sah sie keinen Grund, deshalb einen Facharzt aufzusuchen.
Andere Eltern können zum Schutz der eigenen Psyche die abweichend verlaufende Entwicklung ihres Kindes nicht wahrhaben. Vor allem aber sind viele Kinderärzte, die für besorgte Eltern die ersten professionellen Ansprechpartner sind, nicht ausreichend informiert. Einige können frühe Hinweiszeichen nicht deuten, andere fürchten, Eltern unnötig zu beunruhigen oder ein Kind zu stigmatisieren. Schließlich variiert die Entwicklungsgeschwindigkeit von Kindern auch. Viele haben keine Kenntnis von Anlaufstellen für weiterführende Diagnostik und Beratung für die Eltern, wie regional existierende Therapiezentren. Auf diese Weise geht wertvolle Zeit für Frühförderung verloren.
So kommt es für einige Familien zu einer langen und belastenden Zeit der Suche nach Erklärungen für das Verhalten des Kindes. Da viele Kinder im Autismus-Spektrum nicht auf Ansprache reagieren, wird bei ihnen zunächst vermutet, sie seien hörbehindert. So war es auch bei den Söhnen von Anne L. und Sabine H., die für dieses Buch interviewt wurden. Anne L.s Sohn erhielt nach Ausschluss einer Hörbeeinträchtigung zunächst die Diagnose Entwicklungsverzögerung, vor allem Sprachentwicklungsverzögerung, später wurde ein Problem mit der Wahrnehmungsverarbeitung vermutet, bevor endlich ein frühkindlicher Autismus festgestellt wurde.
Auf die Diagnose reagieren Eltern unterschiedlich. Für Anne L. und den Vater ihres Kindes war sie ein Schock, wie auch für Horst E., für den zunächst »eine Welt zusammengebrochen« ist. Für Sabine H. hingegen war sie eine Erleichterung, weil sie ihr endlich Klarheit darüber gab, wieso sich ihr Sohn so ungewöhnlich entwickelte. Auch Charis H. hat die Diagnosestellung als hilfreich erlebt, weil sie glaubte, ihrem Kind nun endlich helfen zu können.
In keinem Fall wurden die Eltern nach der Diagnosestellung professionell begleitet. Bei der Verarbeitung der Neuigkeit waren sie auf sich allein gestellt.
Bei einigen Müttern aus diesem Buch war bereits die Schwangerschaft so problematisch, dass ihre Kinder nach der Geburt sofort unter einer besonderen Entwicklungskontrolle standen. Andere Eltern hatten nach einer unauffälligen Schwangerschaft bereits unmittelbar nach der Geburt das Gefühl, dass ihr Kind anders ist als andere. Oftmals können die Eltern ihre Empfindungen nicht konkretisieren. Es handelt sich meist um qualitative, weniger um quantitative Angaben, die sie machen können. Sie haben also z. B. den Eindruck, dass ihr Kind sie weniger anschaut als andere Kinder ihre Eltern. Die Eltern können ihre Sorgen und Ängste deshalb ihren Angehörigen oder dem Kinderarzt schlecht schildern. Auch eine der interviewten Mütter hatte gleich nach der Geburt das unklare Gefühl, dass mit ihrem Baby etwas nicht stimme.
Tatsächlich haben einige Säuglinge im Autismus-Spektrum weniger Interesse als andere Kinder an Sprache und bevorzugen die menschliche Stimme nicht so deutlich gegenüber anderen Tönen und Geräuschen (Snippe, 2013, S. 28). Mehrere interviewte Mütter, z. B. die von Max, erzählen im Interview davon, dass es zu den ersten Auffälligkeiten in der Entwicklung ihres Kindes gehörte, dass sie nicht auf Ansprache reagierten.
Ein Viertel der Babys moduliert sein Schreien so undifferenziert, dass ihre Mütter nicht herauslesen können, warum sie weinen (vgl. Klicpera, Innerhofer, 1999, S. 65). Ein Teil der Kinder schreit gar nicht, um seine Bedürfnisse auszudrücken (vgl. ebd.), auch von dieser Erfahrung erzählt eine Mutter in diesem Buch. Diese Kinder müssen dann nach einem Plan und können nicht nach ihren eigenen Bedürfnissen gefüttert werden, weil sie diese nicht kommunizieren können. Andere Babys scheinen sich von ihren Eltern nicht trösten zu lassen und schreien ausdauernd.
Und während neurotypische1 Kinder schon im ersten Lebensjahr beginnen, vorsprachliche Dialoge zu führen und dabei Rhythmus und Stimmführung der eigenen Muttersprache verblüffend gut imitieren, lautiert ungefähr die Hälfte der Kinder im Autismus-Spektrum im ersten Lebensjahr ohne die für andere Kinder übliche redeartige Intonation (ebd., S. 65).
Vielen Kindern im Autismus-Spektrum gelingt auch die Differenzierung der Phoneme zu diesem Zeitpunkt nicht. Einige verwenden deshalb nur einen geringen Teil der in einer Sprache häufiger vorkommenden Phoneme (ebd., S. 67).
Im Alter von neun bis 15 Monaten sagen neurotypische Kinder ihre ersten Wörter. Kinder im Autismus-Spektrum zeigen diesen Entwicklungsschritt oft nicht altersgerecht. Etwa 20% aller Menschen im Autismus-Spektrum entwickelt ohne intensive therapeutische Unterstützung keine differenzierte verbale Sprache (Bölte, 2009c, S. 80).
Auch das Spielverhalten ist oft anders als bei anderen Kindern. Viele Babys im Autismus-Spektrum zeigen nur wenig Interesse an sozialen Spielen, wie Guck-guck. Sie kratzen langandauernd an Oberflächen, schauen unentwegt fasziniert auf Muster oder Lichter und scheinen sehr selbstzufrieden. So erinnert sich auch Thomas H., dass sein Sohn Tom oft außergewöhnlich ausdauernd und konzentriert eine Kugel beobachtete, die er am Fensterbrett entlang rollte.
Die gemeinsame Aufmerksamkeit, die Kinder meist um den neunten Lebensmonat herum herstellen können, ist bei Kindern im Autismus-Spektrum geringer ausgeprägt ist als bei anderen Kindern gleicher Entwicklungsstufe (Klicpera, Innerhofer, 1999, S. 102). Das bedeutet, dass sie zum einen weniger gut in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf etwas auszurichten, das die Eltern beobachten, und zum anderen die Eltern weniger gut auf etwas aufmerksam machen können, was ihr Interesse erweckt.
Ca. 20 bis 30% der Kinder im Autismus-Spektrum beginnt zunächst mit der Sprachentwicklung, sie stagniert aber plötzlich (Bölte, 2009c, S. 77). Zum Teil werden auch bereits erlernte Wörter nicht weiter verwendet. Für einige Familien ist dies eine der ersten Beobachtungen, die sie beunruhigen. Es handelt sich um die Gruppe der Kinder im Autismus-Spektrum, die sich in den ersten Lebensmonaten unauffällig entwickelt, bzw. deren Eltern die Auffälligkeiten zumindest nicht bemerken. Irgendwann in den ersten drei Lebensjahren kommt es dann zu einem Einschnitt. Viele Kinder verlieren in dessen Folge sogar einen Teil ihrer bisher bereits erworbenen Fähigkeiten wieder und beziehen sich kaum noch auf andere Menschen. Bisher ist nicht klar, welche neuronalen Prozesse zu diesem Bruch in der Entwicklung führen.
1 Als »neurotypisch« bezeichnet man Menschen, die nicht im Autismus-Spektrum sind.
»Jeder Nachwuchs verwundert seine Eltern […]. Außergewöhnliche Kinder verstärken die elterliche Veranlagung: Potentiell schlechte Eltern werden schreckliche Eltern, und potentiell gute Eltern werden oft ganz hervorragende Eltern« (Solomon, 2013, S. 16).
Während man in den 1960er Jahren annahm, dass ein frühkindlicher Autismus durch emotionale Distanziertheit der Mütter hervorgerufen wird, man sprach in dem Zusammenhang auch von der Kühlschrankmutter (vgl. Bölte, 2009a, S. 24), gilt diese Theorie längst als überholt. Eltern können durch Erziehungsfehler nicht bewirken, dass ihr Kind in das Autismus-Spektrum gerät. Man weiß in der Zwischenzeit, dass es eine genetische Disposition gibt (Klauck, 2009, S. 87).
Wie es sich auch in den nachfolgenden Interviews widerspiegelt, bilden die Eltern eines Kindes im Autismus-Spektrum eine inhomogene Gruppe. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Alters, ihres kulturellen Hintergrundes, ihrer Religion, ihrer Erfahrungen, ihres Bildungsstandes, ihres sozio-ökonomischen Status’ und nicht alle leben zusammen. Kaum jemals zuvor in der Geschichte gab es in unserem Kulturraum so verschiedenartige und allgemein akzeptierte Lebensentwürfe. Unter den interviewten Elternteilen gibt es alleinerziehende Mütter, Paare, die mit ihrem Kind gemeinsam leben, und solche, die sich getrennt haben.
Wie beim Lesen des Textes schnell deutlich wird, ist ihnen gemeinsam, dass ihre Söhne und Töchter besondere Bedürfnisse im Hinblick auf die Betreuung, Unterstützung, Beaufsichtigung, Entwicklungsförderung und eventuell auch Pflege haben.
Darüber hinaus sind Eltern eines Kindes im Autismus-Spektrum aber auch im Hinblick auf das Leben mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter sogenannte traditionslose Eltern (Hackenberg, 2008, S. 46). Ihnen, aber auch ihrem Umfeld, fehlen Erfahrungen im Umgang mit Kindern im Autismus-Spektrum, auf die sie zurückgreifen können und die sie in ihrem Handeln leiten könnten. Die Eltern stehen vor unbekannten Aufgaben, für deren Bewältigung ihnen die Handlungskompetenz fehlt. Die eigenen Erfahrungen mit anderen Kindern sind dabei nicht ausreichend, um dem Kind gerecht werden zu können (Lambeck, 1992, S. 14). Normorientierte Vorstellungen über den Entwicklungsverlauf eines Kindes müssen mit einem Sohn oder einer Tochter im Autismus-Spektrum immer wieder an die Realität und die Möglichkeiten des Heranwachsenden angepasst werden (Bormann-Kischkel, 2010, S. 211).
Nur eine interviewte Mutter hat einen Bruder mit einer Behinderung. Alle anderen Eltern hatten vor der Geburt ihres Kindes keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung.
Horst E. schildert in diesem Buch sehr eindrucksvoll, wie allein er gelassen wurde nach der Mitteilung einer Diagnosebezeichnung, unter der er sich zunächst gar nichts vorstellen konnte. Er begann im Internet zu recherchieren. Eine professionelle Begleitung erhielten er und seine Familie damals nicht. So musste er nicht nur allein herausfinden, was die Diagnose seines Sohnes überhaupt bedeutet, sondern auch, welche Therapiemöglichkeiten es für ihn gibt.
»… niemand liebt ohne Einschränkung, und es ginge uns allen besser, wenn wir diese elterliche Ambivalenz nicht länger stigmatisieren würden. […] Kinder können von ihren Eltern im Grunde nur erwarten, dass diese ihr Gefühlschaos einigermaßen im Griff haben: dass sie also weder auf der Lüge des perfekten Glücks beharren noch in die Brutalität des Aufgebens verfallen. […] Es besteht kein Widerspruch dazwischen, jemanden zu lieben und diese Person zugleich als Belastung zu empfinden – tatsächlich neigt die Liebe oft dazu, die Last noch größer zu machen. Diese Eltern brauchen Raum für ihre ambivalenten Gefühle – ob sie diese nun zulassen oder nicht« (Solomon, 2013, S. 34).
Wie z. B. Anne L. profitieren viele Mütter und Väter deshalb besonders von den Erfahrungen anderer Eltern mit einem Kind im Autismus-Spektrum. Sich im Dschungel der Therapiemöglichkeiten zu orientieren, ist kräfte- und zeitraubend und kann verunsichern. Andere Eltern können Orientierungshilfe geben. Zugleich finden Eltern im Austausch mit anderen Eltern emotionale Entlastung. Untersuchungen bestätigen diesen Eindruck: Eltern, die den persönlichen Gewinn durch ihr Kind mit einer Behinderung als hoch einschätzen und über effektive Bewältigungsstrategien verfügen, stellen eine wichtige Ressource für stärker belastete Familien dar (Hackenberg, 2008, S. 68). Einer Studie zufolge fanden 72% der Eltern Behandlungsmöglichkeiten für ihr Kind über andere Eltern (Snippe, 2013, S. 78).
Mit den Ärzten, Therapeuten und Pädagogen haben die Eltern sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Einige waren traumatisch. Ines N. wurde z. B. die Diagnose ihres Sohnes in einer Art und Weise mitgeteilt, die man bestenfalls gedankenlos nennen kann. Viel hilfreicher wäre es gewesen, wenn man ihr aufgezeigt hätte, welche Möglichkeiten ihr Sohn im Leben haben kann, dass sie keine Schuld am Entstehen des Autismus hat und dass er durchaus glücklich werden kann (Solomon, 2013, S. 152f.).
Andere Eltern haben in Professionellen glücklicherweise aber auch Hilfe und Unterstützung gefunden. Es handelt sich um Fachleute, die die individuelle Bedürfnislage der Familie erkannt und ihr Handeln und ihre Hilfe daran orientiert haben. Ein Jugendamt hat Anne L. z. B. ganz unbürokratisch Hilfe gewährt. Ihr Sohn durfte nur noch wenige Stunden am Tag den Kindergarten besuchen und es hatte sich die Frage gestellt, ob sie ihre gerade begonnene Berufstätigkeit wieder aufgeben müsse. Max hatte eine gute Kindergärtnerin, die ihn und damit zugleich auch seine Mutter unterstütze.
Alle Eltern wurden dazu befragt, wer sie am meisten unterstützt hat. Die Großeltern spielen für viele Familien, wie der von Charis H. und Sabine H., dabei eine große Rolle. Sie leisten oft einen entscheidenden Beitrag zur Entlastung der Mütter und Väter.
Bedürfnisgerechte Hilfe und Unterstützung ist von großer Bedeutung dafür, ob das Leben mit dem Kind im Autismus-Spektrum von den Eltern als Belastung oder Bereicherung erlebt wird. In den Interviews wird deutlich, wie sehr es in einigen Familien an dieser Unterstützung gemangelt hat.
Für ihre eigene Psychohygiene brauchen viele Eltern Beratung hinsichtlich der Klärung, wie der Autismus entstanden sein könnte, des Umgangs mit den Verhaltensbesonderheiten ihres Kindes sowie des Umgangs mit den Besonderheiten in der Kommunikation mit ihm (Eckert, 2004, S. 66ff.).
Auch psychische Entlastung gehört zur Unterstützung. Untersuchungen zeigten, dass vor allem Mütter von Kindern mit einer Entwicklungsstörung das Gefühl einer Mitschuld am Entstehen der Störung belastet (Wagatha, 2006, S. 32ff., Solomon, 2013, S. 35f.). Viele suchen, wie auch Charis H. in diesem Buch, nach eigenem Fehlverhalten in der Zeit der Schwangerschaft oder nach Fehlentscheidungen, die zu den nun beobachtbaren Auffälligkeiten des Kindes geführt haben können (vgl. auch Sitar-Wagner, 2011, S. 90; Lewis, 2010, S. 33). Einige Mütter und Väter haben darüber hinaus noch ein schlechtes Gewissen, weil sie befürchten, ihr Kind nicht genug gefördert zu haben (Korber, 2012, S. 148).