CHRISTIANE HAGN

Macht’s gut,
Ihr Trottel!

AUF DER SUCHE
NACH DEM PARADIES

 

Impressum

Christiane Hagn

Macht’s gut, Ihr Trottel!

Auf der Suche nach dem Paradies

eISBN: 978-3959100-16-8

Eden Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH


Copyright © 2015 Edel Germany GmbH

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

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1. Auflage 2015

Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

Projektkoordination: Nina Schumacher

Lektorat: Dana Steglich und Tanja Bertele

Coverfoto: Dudarev Mikhail/Shutterstock

Covergestaltung: Johanna Höflich

Fotos im Innenteil: S. 1-12, S. 13 (mitte und unten), S.15 (unten), S.16 (oben)

© Privat; S. 13 (oben) © Tanja Velten; S.14, S.15 (oben), S.16 (unten)

© Raphael Bruggey

E-Book-Konvertierung: Datagrafix Inc.| www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Schamlos unbeschwert

Es war ein guter Abend. Ich war glücklich über das gerade abgegebene Manuskript und in Stimmung, einfach nur den Moment zu genießen, frei von Sorgen, Selbstzweifeln und der Angst vor berechtigter Kritik. Eine seltene Stimmung völliger Unbeschwertheit hatte mich erfasst. Und in dieser Stimmung sah ich ihn zum ersten Mal. Ich lächelte. Er erwiderte das Lächeln. Das war zwar schön, aber nicht unbedingt notwendig. Es ging mir gut, ich bedurfte an diesem Abend keiner Bestätigung durch ein Gegenüber. Ich war mir selbst genug. Ausnahmsweise.

Als er eine Stunde später nicht auf die Bühne, sondern samt Gitarre auf das Fensterbrett gegenüber der Bühne ging, sich vorstellte und zu singen begann, war es trotzdem um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt.

Ich verliebe mich schnell und oft. Mindestens einmal pro Woche. Manchmal auch mehrmals täglich. Doch in diesem Moment war ich nicht nur verliebt, sondern wie von Sinnen. Nur ein einziger Gedanke konnte mein gerade eben noch so unbeschwertes Gemüt erreichen: Ich will ihn küssen, kennenlernen, heiraten. Nein, das ist nicht richtig. Es war vielmehr: Ich muss ihn küssen, kennenlernen, heiraten. Ich hatte ein neues Ziel.

Ich tat das, was man vermutlich nur in unbeschwerter Stimmung tun kann: Ich schrieb meinen Namen und meine Telefonnummer auf einen Zettel und legte diesen, als ich noch vor dem dritten Lied die Bar verließ, in seinen Gitarrenkoffer. So hatte ich gehandelt und müsste mir niemals vorwerfen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Außerdem hatte ich nichts zu verlieren. Ich lebe in Berlin. Schämen kann man sich woanders.

Vier Tage später bekam ich eine SMS von ihm. Er unterschrieb mit seinem Namen, als ob ich nicht wüsste, wer er sei. Als ob ich darauf nicht die letzten 96 Stunden gewartet hätte. Als ob ich nicht stündlich mein Handy auf neue Nachrichten überprüft, mir selbst Test-SMS geschrieben und Schweißausbrüche bekommen hätte, sobald mein Telefon auch nur einen Ton von sich gab. Als ich nach vier Tagen nun seine Nachricht las, erschien es mir selbstverständlich, dass er sich gemeldet hatte. Natürlich würde er sich melden. Ich lächelte unbeschwert.

Wir trafen uns zwei Tage später in einer dunklen Bar, tranken Bier, stellten uns Fragen, lachten viel und oft. Mal, weil es lustig war, öfter, weil wir verlegen waren. Wir berührten uns unauffällig, absichtlich zufällig. Nach vier Bier und einer Schachtel Zigaretten wechselten wir in eine noch dunklere Bar. Nach fünf Bier küssten wir uns. Unsere Lippen waren wie füreinander geschaffen. Seine Lippen, die passende Memory-­Karte zu meinen.

Wir gingen getrennte Wege nach Hause, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als meinen Körper um seinen zu schlingen. Aber ich wollte ihn schließlich nicht nur küssen, sondern kennenlernen und heiraten. Und daher beschloss ich, mit dem Körperumschlingen noch zu warten. Ich hörte, das sei besser so. Und diesmal wollte ich alles richtig machen. Unbedingt.

Es dauerte eine ganze Woche, bis er sich wieder meldete. Diesmal tat ich am Telefon nur unbeschwert und hoffte, er würde die Aufregung in meiner überdrehten Stimme nicht bemerken. Wir gingen wieder aus und in dieser Nacht auch zusammen nach Hause. Unsere Körper umschlangen sich, ein Körper-Memory.

Als ich nachts aufwachte und ihn dort liegen sah, in seinem Bett, schlafend und friedlich wie ein Engel, da wusste ich es: Ich war nicht verliebt. Ich war verloren.

Seit dieser Nacht drehte sich all mein Denken um diesen Mann. Diesen Musiker, der plötzlich in mein Leben kam und alles relativierte, was es vorher gegeben hatte. Liebe hatte eine neue Dimension erreicht. Alles, was ich bisher erlebt hatte, war nichts im Vergleich zu meinen Gefühlen für diesen Mann. Diesen Mann, den ich nicht wirklich kannte.

Das zu erleben, war wunderschön und grauenhaft zugleich. Denn tief in meinem Innersten spürte ich, dass meine Gefühle nicht erwidert wurden. Ja, er mochte mich. Ja, er genoss die Zeit, die wir zusammen verbrachten. Ja, er sehnte sich nach meinen Armen und meinen Schenkeln. Aber er fürchtete sich vor meinem Herzen. Und er ließ keine Gelegenheit aus, mir das zu zeigen und schließlich auch zu sagen: Er wollte keine Nähe, keine Verantwortung. Er wollte »frei« sein von emotionalem Ballast. Ich war der emotionale Ballast.

Ich versuchte, nicht mehr an ihn zu denken. Doch je stärker ich das versuchte, desto hoffnungsloser wurde es. Mein Denken kannte das Wort »nicht« nicht. Ich dachte einzig und allein an ihn, an meinen Musiker, der gerade versuchte, sich ein neues Leben in Berlin aufzubauen, einer fremden Stadt. Ein fremdes, freies Leben. Gern mit meinen Schenkeln, aber bitte ohne mein Herz.

Ich wusste, dass es falsch war. Aber ich konnte nicht anders, als ihn weiterhin zu treffen. Wieder und wieder. Nacht für Nacht. Zwischen Prenzlauer Berg und Neukölln. Bei ihm, bei mir oder in der Mitte, um anschließend bei ihm oder bei mir zu enden. Mal morgens um vier, an anderen Tagen schon um Mitternacht.

Am Morgen danach schleppte ich mich jedes Mal todmüde, aber überglücklich in mein Büro, begleitet von der Hoffnung, ihn immer noch in meinem Bett vorzufinden, wenn ich nach Hause zurückkäme. Oder zumindest anstatt seiner eine Nachricht zu entdecken. Zeilen auf einem Zettel oder ein paar Buchstaben auf meinem Bildschirm. Vielleicht auch nur ein Paar Socken als deutliches Zeichen, dass er wiederkommen würde. Denn bestimmt hatte er, der Musiker, nur dieses eine Paar. Aus Wolle, lebensnotwendig für einen echten Berliner Winter.

Und so lebte ich diesen Traum von der großen Liebe in ständiger Angst, geweckt zu werden. Doch es war einer dieser Träume, von denen man während des Träumens bereits wusste, dass es nur ein Traum war.

Bis ich eines Nachts aufwachte. Von ganz allein.

Ich saß auf ihm und bewegte mich nur sehr langsam. Auf und ab. Es war dunkel in seinem Zimmer. Auf und ab. Er lag unter mir, auf einer Matratze auf dem Boden. Ich kannte dieses Zimmer in- und auswendig. Eine typische Berliner Künstlerbude: knarrender Dielenboden, hohe Wände, Stuck.

Der Wind zog durch die nicht isolierten Altbaufenster. Rein und raus. Auf und ab. Ich fragte mich, wo diese Altbauromantik eigentlich herkam. Mir war kalt vom Wind, der meine Brustwarzen hart werden ließ. Kein schlechter Moment für steife Brustwarzen, doch ich wünschte, es würde aus Leidenschaft passieren. Leider war ich die Einzige, die in diesem Raum in dieser Nacht Leidenschaft zu empfinden versuchte. Mit diesem Künstler, in seinem minimalistischen WG-Zimmer, in dem sich nichts befand außer einem Hut an der Wand, drei Hosen, zwei T-Shirts und einer Gitarre samt Koffer.

Dieser offensichtliche Minimalismus war nichts als heuchlerische Bescheidenheit. Künstlerattitüde. Gespieltes Understatement. Koketterie. Denn zwischen Hut, Gitarre und Hose fanden sich iPhone, iPad und iBook. I, I, I. Ich, ich, ich. Das passte.

Ich versuchte, im Dunkeln seine Augen zu finden. Doch alles, was ich entdeckte, waren zwei weiße Augäpfel, die regungslos an mir vorbeistarrten, an die Decke, ins Nichts. Er war nicht bei mir. Er war ganz woanders, nicht mal in diesem Raum, nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Land. Er war auch nicht in Gedanken bei einer anderen Frau. Nicht mal das. Ich nahm an, er war auf iTunes.

»Soll ich aufhören?«, fragte ich und fühlte mich dabei wie ein Mann. Aber der Mann in diesem Zimmer zuckte nur mit den Schultern. Es war ihm egal. Ein »Ja« hätte weniger wehgetan. Ich überlegte, ob ich ihn einfach ignorieren und mich in Gedanken auf YouPorn begeben sollte. Aber dafür war ich nicht Mann genug. Ich war schließlich nur eine verliebte, dumme Frau.

Also ging ich von ihm runter, zog mich an. Wollte mich anziehen, besser gesagt, denn ich konnte meinen Schlüpfer nicht finden. Scheißminimalistische Künstlerbude. Er war wie vom Erdboden verschluckt, zwischen den Dielen verschwunden, zusammen mit der gerade gestorbenen Hoffnung, vielleicht auch schon auf Ebay unter der Kategorie »zu verschenken an Selbstabholer«.

Natürlich fing ich an zu heulen. Aber nur ganz still. Die Dielen knarrten lauter, als meine Nase lief. Ich zog mich im Dunkeln an, ohne Schlüpfer, und wusste, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Den Schlüpfer auch nicht.

Nach vier Monaten des wachen Träumens gab ich es auf, um sein Herz zu kämpfen. Ein Herz wie ein kaputter Kaugummiautomat, in den man vergeblich Münze um Münze einwirft, aber nicht einmal einen steinharten, blauen Kaugummi als Gegenleistung zurückbekommt. Er liebte mich nicht. Er liebte nicht mal sich selbst. Und ich, ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Ich mochte mich auch nicht mehr.

Enttäuschung tut weh. Schlimmer noch ist es, sich diese einzugestehen.

Getrennt nach Hause zu gehen, hat nichts genützt. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Trotz iPhone, iPad und iBook.

Ob er jemals meinen Schlüpfer finden wird?

Atemlos

Nach dieser Nacht sah die Welt anders aus. Statt lila Wolken war alles plötzlich trist, grau, trüb und ungerecht. Dauerwolkenbruch in meinem verwirrten Kopf und keine Besserung in Sicht. Ich hatte Liebeskummer, richtig schlimmen Liebeskummer. Aber »richtig schlimmer Liebeskummer« klingt wie »echt bunte Farben«. Liebeskummer ist immer schrecklich. Das ist bekannt. Und Liebeskummer geht vorbei. Das ist auch bekannt. Allerdings nicht, wenn man, wie ich, die perfekte Methode entwickelt hat, um Liebeskummer möglichst lange aufrechtzuerhalten.

So wurde ich auch diesmal zur Königin der Selbstkasteiung, um mich lange und leidvoll in meinem Leid suhlen zu können. Ich dachte absichtlich nur an ihn und ausschließlich an die schönen Erlebnisse. Ich sah mir täglich Fotos von ihm an und installierte die wenigen, die ich hatte, als Diashow für meinen Bildschirmschoner. Seine Musik hörte ich rauf und runter, Tag und Nacht.

Die wenigen Male, die ich mich selbst befriedigte, dachte ich natürlich nur an ihn: an seine Hände, seinen Mund, sein Gesicht, seinen Geruch. Dabei legte ich mir seinen Schal auf mein Gesicht, der das einzige Stück Textil war, das er tatsächlich bei mir vergessen hatte. Immerhin waren es keine Socken.

Im Supermarkt konzentrierte ich mich auf Essen, das wir zusammen gekocht hatten, bis mir auffiel, dass wir das ja nie getan hatten. So endeten meine Einkäufe meist mit einem Wagen voller Bier und Zigaretten, die Nahrung unserer Nächte. In dem seltenen Fall, in dem ich mich von – Freundinnen überreden ließ auszugehen, um neue Bekanntschaften zu schließen, sprach ich nur von ihm.

An den Wochenenden suchte ich die Orte auf, die wir gemeinsam besucht hatten. Dabei handelte es sich vorrangig um Spätkäufe, die wir auf dem Weg zu mir oder zu ihm passiert hatten. Doch ohne ihn hatten sie jegliche Romantik, jegliches Spektakel verloren. Ein Spätkauf war plötzlich nur noch ein Spätkauf.

So vergingen die Wochen. Von wegen, die Zeit heilt alle Wunden! Ich war mir ganz sicher, niemals über ihn hinwegzukommen und sehr bald völlig den Verstand zu verlieren, sollte ich so weitermachen.

Bis eines Tages, wie aus dem Nichts, ein letzter Funken Selbsterhaltungstrieb in mir aufglimmte und mich anfeuerte, diesen selbstzerstörerischen Wahnsinn auf der Stelle zu beenden. Vielleicht kam er auch gar nicht aus dem Nichts, sondern vielmehr aus dem Telefon, als Tina anrief: »Wollen wir heute was machen, Heulsuse? Oder bist du immer noch auf der Suche nach deinem Selbstwertgefühl?«

Sie hatte recht. Mein erbärmliches Selbstmitleid musste endlich ein Ende nehmen. Ich wusste nur nicht, wie. Ich konnte schließlich nicht raus aus meiner Haut. Doch wenn man einfach nicht aus seiner Haut kann, so dachte ich, dann doch wenigstens aus dem Land. Denn bei Liebeskummer half nur eine einzige Sache, vorausgesetzt, man wollte ihn beenden: Abstand.

Ich musste also weg aus Berlin, wo mich jede Ampel, jede U-Bahn-Station, jeder Pflasterstein, jeder Dönerstand und eben jeder verdammte Spätkauf an ihn erinnerten. An ihn und all die Nächte, in denen ich auf seinen Anruf oder seine kurz angebundene Nachricht gewartet hatte, um mitten im verschneiten, eiskalten Berlin zu ihm zu wandern, bewaffnet mit Bier, Zigaretten und dem Traum von der großen Liebe. Ein Traum, den ich Nacht für Nacht gelebt hatte. In einer WG-Küche, Kette rauchend, wie in alten französischen Schwarz-Weiß-Filmen: Er als Jean-Paul Belmondo, ich als Jean Seberg. Wenn nur das Aufwachen nicht gewesen wäre …

Ich musste raus aus dieser Stadt der anonymen Liebschaften. Weg von Distanz, von Verantwortungslosigkeit, von Ungebundenheit. Weg von Verlustangst, Bindungsangst, Überdruss, Labilität. Weg von virtuellen Freundschaften und realen Enttäuschungen. Weg von Accounts, Erinnerungen und seinem Schal in meinem Bett. Weg von der Realität.

Und weg konnte nicht weit genug sein. Das andere Ende der Welt schien mir daher gerade weit weg genug: Australien.

Mein Chef hatte wie immer Verständnis. Er meinte, ich sollte mich unbedingt mal erholen. Meine Akkuratesse hätte in letzter Zeit sowieso zu wünschen übrig gelassen. Im Gegensatz zu ihm hatten meine Eltern kein Verständnis, wie immer. Sie meinten, ständig nur vor mir selbst davonzulaufen, wäre sinnlos. Sie hatten recht und ich blieb stur. Alles wie immer.

In dem Moment, als ich samt Rucksack meine Wohnung verließ und hinter mir dreimal absperrte, um die nächsten Wochen auf der Flucht vor mir selbst im Ausland zu verbringen, beschloss ich, mein Leben zu ändern. Von nun an würde ich selbst auf mich aufpassen und mich vor Enttäuschungen schützen. Schließlich war ich keine Geisel meines Herzens. Ich hatte auch noch meinen Verstand und es war an der Zeit, davon Gebrauch zu machen.

Den Scheißschal ließ ich zu Hause.

Aus Prinzip!

Nach nur eineinhalb Tagen im Flugzeug kam ich dann auch schon in Melbourne an. Kaum hatte ich das Flughafengebäude verlassen, rauchte ich meine letzte Zigarette. Wenn ich mein Leben ändern und von nun an selbst auf mich aufpassen wollte, konnte ich keinen tödlichen Lungenkrebs gebrauchen. Wer würde mich denn pflegen und in den Tod begleiten? Den letzten Zug inhalierte ich sehr tief. Als ich gerade Gefahr lief, schwermütig zu werden, fiel mir Sanne auch schon um den Hals. Meine gute, alte Sanne, die immer ein bisschen nach Vanille duftete. Und im Auto wartete natürlich Klaus. Der liebe, treue Klaus, der immer ein bisschen nach alten Büchern roch. Alles auch wie immer. Das tat gut.

Sanne und ich hatten uns, außer auf Skype, seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Klaus nicht zu vergessen, den hatte ich natürlich auch seit Jahren nicht gesehen, denn Klaus war immer da, wo Sanne war. Die beiden sind das, was man eine Sandkastenliebe nennt.

Sanne und ich hatten uns allerdings etwas später kennengelernt. Während des Studiums, als wir ausgerechnet vor der Mensa mit unseren Fahrrädern zusammenknallten. Wir trugen beide blaue Flecken davon, wurden Freundinnen und Klaus, der war von da an immer mit dabei. Ich schloss Sanne schnell in mein Herz und akzeptierte Klaus an ihrer Seite wie ein lieb gewonnenes Accessoire. Vielleicht wie eine Handtasche, eine sprechende Handtasche, die immer zum richtigen Zeitpunkt ein Taschentuch, passendes Kleingeld oder einen Lippenpflegestift bereit- oder einem die Haare aus dem Gesicht hielt, wenn man es, wie Klaus sagen würde, »mit dem Piccolöchen mal wieder übertrieben hatte«.

Sanne studierte Medizin. Ich nicht. Sanne fuhr in den Semesterferien mit den Jesus Freaks zum Surfen. Ich nicht. Sanne lehnte Sex vor der Ehe ab. Ich nicht. Sanne hatte nie Liebeskummer. Ich immer. Sanne und mich verband nichts. Nichts außer unserer Gegensätzlichkeit und unserem Humor.

Nach Abschluss unseres Studiums, für das ich ein bisschen länger gebraucht hatte als Sanne, ging ich nach Berlin und sie nach Ulm. Danach folgten für sie Heidelberg, München, Paris, Melbourne. Und Klaus folgte ihr, natürlich nicht ohne sie vorher zu heiraten. Klar, Klaus wollte endlich ran an den Speck. Wer könnte es ihm verdenken?

Und jetzt war ich hier. Bei den beiden in Melbourne, was mir als die ideale Ausgangsstation erschien, um meine Liebeskummerreise zu beginnen. Als Erstes musste ich wieder auf die Beine kommen und das würde nirgendwo besser funktionieren als im geborgenen Hafen von Sanne und Klaus. Dort, wo es keinen Kummer gab.

Der Plan ging auf. Ich genoss die Zeit mit Sanne und Klaus. Wir verbrachten Nachmittage in der Sonne von St. Kilda Beach, gingen in den Luna Park und fuhren mit dem Scenic Rollercoaster, einer Achterbahn mit Aussicht. Sanne und ich fanden das furchtbar aufregend und klammerten uns bei jeder Kurve aneinander. Wir kreischten wie hysterische Italienerinnen im Sommerschlussverkauf. Klaus fuhr nicht mit. Er wartete unten, las sein Buch und hielt unsere Handtaschen.

Unsere Gegensätzlichkeit war wie immer eine Quelle der Herausforderung. Ein Crashkurs zum Thema Kompromisse. Ich gab nach und trank mit Sanne in der mir verhassten Starbucks-Kette Kaffee, weigerte mich aber, »Latte« zu sagen und meinen Vornamen zu nennen. Aus Prinzip. Sanne gab auch nach und bestieg mit mir einen Touristen-Sightseeing-Bus, weigerte sich aber, das »I love Melbourne«-Käppi aufzusetzen und das Erinnerungsfoto für zehn Dollar zu kaufen. Aus Prinzip. Klaus verstand nicht, was es hier und da nachzugeben gäbe. Man könnte nicht »aus Prinzip« einen bestimmten Kaffee nicht trinken oder bestimmte öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen. »Aus Prinzip« sollte man nur Dinge tun oder eben nicht tun, die Relevanz hätten, fand Klaus. Und wir gaben ihm recht. Aus Prinzip. Damit er endlich die Klappe hielt, was wir ziemlich relevant fanden.

An jenen Tagen, an denen Sanne und Klaus keine Zeit hatten, zog ich allein los, um die Stadt zu erkunden. Und nach nur wenigen Tagen in Melbourne gewöhnte ich mich nicht nur an die übermenschliche und damit schon unheimliche australische Freundlichkeit, sondern auch an Standard-­Redewendungen, die ich beherzt in meinen eigenen Wortschatz aufnahm. Ich antwortete fast nur noch mit »No worries« oder »Fair enough«. Das passte irgendwie immer.

Außerdem machte ich es mir zur Gewohnheit, morgens an der Strandpromenade von St. Kilda »poached eggs« zu frühstücken. Dort erlebte ich zum ersten Mal seit Langem auch allein ein Gefühl der Erleichterung. Der Schmerz ließ nach, auch wenn der fahle Nachgeschmack enttäuschter, unerwiderter Liebe immer noch wie ein Belag, der nach totem Biber schmeckte, auf meiner Zunge klebte. »Poached eggs« konnten ihn ein wenig überdecken und mich wieder atmen lassen.

Nach diesem Seelenfrühstück ging ich los, die Stadt erkunden. Ich schlenderte die Swanston und Bourke Street entlang, fuhr auf den Eureka Tower und bewunderte Melbourne aus der Vogelperspektive, 297 Meter über dem Meeresboden. Auf dem Queen Victoria Market aß ich das beste Sushi meines Lebens und probierte Kurzhaarperücken auf. Obwohl sich viele Frauen mit Liebeskummer die Haare abschneiden, entschied ich mich gegen eine neue Frisur. Doch ich ließ mir tatsächlich die Spitzen schneiden. Das war für mich schon Abenteuer genug.

Geteilte Leidenschaft

An meinem letzten Abend in Melbourne lernte ich ein befreundetes Pärchen meines Pärchens kennen und konnte mich nicht sattsehen an diesem ungleichen Paar, das in ein paar Wochen heiraten wollte. Sie war wunderschön: groß, schlank, porzellanfarbene Haut, dunkelblondes, glattes und sehr langes Haar. Er war mindestens zwei Köpfe kleiner als sie, stark übergewichtig und hatte derart verkniffene Augen, dass er immer irgendwie aussah, als würde ihn die Sonne blenden. Er vergötterte diese Frau und sie schien sich an seiner Seite sehr wohl zu fühlen. Ich konnte nicht ausmachen, ob ich verblüfft oder ratlos war. Fest stand, dass ich schwer damit beschäftigt war, mir meine oberflächliche Beurteilung ihrer Liebe nicht anmerken zu lassen.

Wir tranken Aperitifs, machten Pizza und mixten Cocktails. Das ungleiche Paar schlug vor, anschließend zu einer Tango-Milonga zu gehen, die in einer alten Kirche stattfinden würde. Ich war mir sicher, dass mein Tangotalent stümperhaft war, und konnte mir außerdem nicht vorstellen, wie man so eine Tanzveranstaltung in einer Kirche – und daher vermutlich ohne Bar – abhalten und genießen könnte. Aber trotzdem war ich neugierig genug, um mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen.

Und es war wunderschön. Die Erhabenheit und Kälte, die das steinerne, schlichte Gebäude ausstrahlte, unterlegt mit den melancholisch anrührenden Tangoklängen, gefüllt mit all diesen Menschen, die wie in Trance versunken Tangokreise drehten, einander berührend, ohne sich zu umschlingen, faszinierten mich. Ungeniert staunte und beobachtete ich die Paare, wie sie ihre Runden drehten. Mein Blick blieb immer wieder an dem ungleichen Paar hängen.

Ihrer Unterschiedlichkeit trotzend, verschmolzen sie tanzend zu einer einzigen Person. Und plötzlich verstand ich es: Es war die Leidenschaft für Tango, die sie teilten. Das war ihre Gemeinsamkeit, die sie eins werden ließ. Sie mussten sich beim Tanzen ineinander verliebt haben. Als dieser kleine, dicke Mann sie das erste Mal so sicher durch den Raum schweben ließ, da war es um sie geschehen, dafür liebte sie ihn. Und er liebte sie dafür, dass sie ihn liebte. Nicht weil sie so schön war, sondern eher obwohl sie so schön war und dennoch in ihm den richtigen Mann für sich erkannt hatte. Der Mann, der er war: Ein kleiner, dicker Mann, der mit einer Ernsthaftigkeit seine Schritte vollführte, die ihr das Gefühl gaben, eine Prinzessin zu sein und von ihm sicher durch das ganze Leben geführt zu werden. Der sie zum Lachen brachte. Der sie auf Händen trug und all ihre Bedürfnisse ernst nahm.

Wie ich die beiden so sah, war ich mir ganz sicher, dass er genau das für den Rest seines und ihres Lebens auch wirklich tun würde. Das zu beobachten, war wie ein Wunder, wäre da nicht dieses unangenehme Gefühl in meinem Inneren gewesen. Es fühlte sich ein bisschen an wie Neid. Nein, ich wollte nicht mit ihr tauschen, so erhaben war ich nicht, aber ich wollte mich gern so fühlen wie sie: sicher, geborgen, ernst genommen und bedingungslos geliebt.

Doch ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals eine Leidenschaft mit einem Partner geteilt zu haben. Vorlieben, ja. Aber »ins Kino gehen« zählt nicht ­wirklich als eine das Gemüt völlig ergreifende Emotion. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich selbst überhaupt eine Leidenschaft hatte. Außer leidenschaftlichen Liebeskummer. Vielleicht hieß es ja daher Leidenschaft, weil es Leiden schafft.

Von nun an beobachtete ich Sanne und Klaus, die sich noch etwas unsicher mit Anfängerschritten durch den Raum bewegten. Es sah ein wenig so aus, als hätte Sanne die Führung übernommen, aber Klaus war Mann genug, sich von seiner Frau durch den Raum führen zu lassen.

Um nicht nur den ganzen Abend vor mich hinzustarren und womöglich wieder melancholisch zu werden, entschied ich mich bald, auch ein Tänzchen zu wagen. Dafür wählte ich die Person, die mir am fähigsten schien, einen starrköpfigen Esel durch den Raum zu schieben: Sanne. Wir tanzten und tanzten und tanzten, bis ich alles um mich herum fast vergaß.

Doch schon am nächsten Morgen war das Fast-Vergessen vergessen. Denn der Abschied, der anfangs noch in weiter Ferne gelegen hatte, klopfte erbarmungslos an die Tür. Mit gepacktem Rucksack. Sanne und Klaus brachten mich zum Flughafen. Anders als bei meiner Ankunft war es diesmal Klaus, der im Auto ununterbrochen redete, in dem kläglichen Versuch, die traurige Stimmung zu vertreiben. Der Abschied fiel uns allen schwer. Als ich spürte, dass die beiden wirklich traurig waren, fing ich doch noch an zu heulen. Vielleicht auch deshalb, weil ich selbst immer eher froh bin, wenn Besuch – so schön er auch gewesen sein mag – wieder Adieu sagt.

Wir drückten uns zum Abschied. Als ich mich ein letztes Mal umdrehte, bevor ich den Check-in-Bereich passierte, und Sanne dabei erwischte, wie sie sich verstohlen ein Tränchen wegwischte, bemerkte ich, wie sehr ich sie all die Jahre wirklich vermisst hatte.

Ich spürte, dass mein Aufenthalt bei den beiden nicht alle Wunden geheilt, aber zumindest die schlimmsten Blutungen gestoppt hatte. Vor dem unvermeidlichen Alleinsein, das nun folgen würde, fürchtete ich mich. Aber ich wusste auch, dass es jetzt an der Zeit war, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen, um den Rest des Heilungsprozesses auf mich zu nehmen. Und in diesem Moment fiel mir auf, dass ich doch eine Leidenschaft hatte: das Reisen.

Seelenverwandt

Sydney war gut zu mir. Denn diese Stadt gab mir kaum Gelegenheit, trübsinnig zu sein. Nachdenklich ja, trübsinnig nein. So saß ich am ersten Tag stundenlang vor der weißen Oper, die wie eine überdimensional große Muschel aus dem Meer ragte. Ich staunte und konnte mich an diesem Gebäude einfach nicht sattsehen. Ähnlich wie vor wenigen Wochen noch an ihm. Er, der immer noch und immer wieder in meinen Gedanken herumschwirrte und ein unangenehm zärtliches Gefühl in meiner Herzgegend hinterließ. Ein leichtes Stechen, manchmal nur ein Ziehen. Nicht mehr der tief eingerammte Dolch, der mehrmals umgedreht wurde, wie in jener Nacht, in der mein Schlüpfer verschwand.

Wenn ich nicht gerade die Oper anstarrte, machte ich Spaziergänge durch den botanischen Garten, schlenderte die Oxford Street entlang oder verbrachte Stunden in der Sonne liegend in Manly. Dieser Strand sagte mir weitaus mehr zu als der mit Hipstern übersäte Bondi Beach, an dem sich dem Körperkult erlegene Australier und Touristen tummelten. Da hätte ich auch in Berlin bleiben können, auf dem Badeschiff.

Ich sah mir Darling Harbour an und verbrachte einen halben Tag im Taronga Zoo auf der Suche nach meinem ersten lebendigen Wombat. Über eine Stunde blieb ich nur am Wombat-Gehege stehen und versuchte, trotz der dunklen Höhlen ein Exemplar zu erspähen. Eigentlich bin ich kein großer Tierfreund, aber als ich schließlich kleine Knopfaugen im Dunkeln erblickte, schmolz mein Herz dahin. Ich fühlte mich diesen höhlengrabenden Pflanzenfressern irgendwie nahe. Erst recht, als ich die Tafel am Gehege las, die erklärte, warum die meisten Wombats es vorzogen, allein zu leben: »In freier Wildbahn leben Wombats allein. Sie können miteinander verbundene Höhlen teilen, vermeiden sich aber gegenseitig auf ihren Reisen. Im Zoo können Wombats sich aneinander gewöhnen und manchmal auch kurze Zeit miteinander verbringen.« Jetzt war es offiziell. Die Wombats und ich: Wir waren seelenverwandt.

Nach meinem Aufenthalt in Sydney flog ich nach Coolangatta an die Gold Coast. Ich war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob ich per Greyhound-Bus weiterreisen oder mir einen Wagen mieten und selbst fahren sollte. Immerhin herrschte hier Linksverkehr, ich war kurzsichtig und nachtblind. Nicht zu vergessen: allein unterwegs. Es schien mir weitaus vernünftiger, den Bus zu nehmen. Aber dann musste ich an Sanne denken, die aus Prinzip keine Touristenbusse nahm. Und damit hatte sie irgendwie recht, schließlich war ich auf der Suche nach mir selbst. Nach Abenteuer. Nach Freiheit. Nach der Möglichkeit anzuhalten, wann immer ich wollte. Nicht, wenn mir der Kaugummi kauende Greyhound-Busfahrer eine Pinkelpause genehmigte. Allein, mit geöffneten Fenstern statt Klimaanlage, mit meinem iPod statt dem TV-Unterhaltungsprogramm, an der Ostküste entlangzufahren, schien mir gerade unvernünftig und abenteuerlich genug, um meine Sehnsucht zu stillen. Sehnsucht wonach, das konnte ich nicht genau sagen, vermutlich danach, etwas zu tun, was ich mich eigentlich gar nicht traute. Es war Zeit, meine Komfortzone zu verlassen. Es war an der Zeit für einen echten Roadtrip.

Ich entschied mich für einen Hyundai in Blau. Viertürer, Automatik und alle Kilometer frei. Ich wählte die Versicherung mit der geringsten Selbstbeteiligung, verzichtete aber aus Abenteuer- und Kostengründen auf das Navigationssystem. Meinen Scherz, dass es in Australien doch eh immer nur geradeaus gehen würde, fand die Dame am Car-del-Mar-Schalter allerdings gar nicht witzig. Mit einem für australische Verhältnisse eher bescheidenen Lächeln, heißt: ohne Zähne, überreichte sie mir die Autoschlüssel. Ich hielt die Freiheit quasi in meinen Händen und konnte es kaum erwarten, die läppischen neunzig Kilometer nach Byron Bay sofort anzutreten.

Für die Strecke brauchte ich fast zwei Stunden. Und das lag mehr an der Dunkelheit, dem strömenden Regen und dem Linksverkehr als an den Geschwindigkeitsbegrenzungen. Außerdem hielt ich vor jedem Kreisverkehr an, um noch einmal in mich zu gehen. Ich habe seit klein auf eine Rechts-Links-Schwäche, auch bekannt als Angularis-Syndrom. Allerdings treffen bei mir nicht alle Symptome zu: Schreiben und Lesen ist kein Problem, Rechnen geht auch, wobei ich jedoch schon meine Finger zu Hilfe nehmen muss, nur rechts und links bereitet mir große Schwierigkeiten und erfordert immer einen kurzen Moment der Besinnung. Ebenso machte ich das Angularis-­Syndrom verantwortlich für meine Unfähigkeit zur Abstraktion. Und die Fähigkeit zur Abstraktion galt als wichtige Grundlage, um Lernerfolge verzeichnen zu können. Im Grunde konnte ich also gar nichts dafür, dass ich immer wieder die gleichen Fehler machte. Vermutlich sollte ich das meiner nächsten Bekanntschaft gleich zu Beginn mitteilen: »Hallo, mein Name ist Christiane und ich leide am Angularis-­Syndrom. Also erwarte nicht, dass ich aus meinen Fehlern lerne oder den Ehering an der richtigen Hand trage. Aber Lesen und Schreiben ist kein Problem. Soll ich dir meine Nummer aufschreiben?«

Mein Hyundai war sehr geduldig mit mir und den vielen Runden, die wir im Kreisverkehr drehten, bis uns schwindelig wurde. Zum Dank parkte ich ihn, in Byron Bay angekommen, nicht im Parkverbot und warf ausreichend Münzen ein, damit er dort in aller Ruhe die Nacht zubringen könnte. Ich selbst entschied mich für das Nomades-Hostel und zahlte wie immer ein Vermögen für ein Vierbettzimmer. Zum Glück hatte ich das Zimmer diesmal die halbe Nacht für mich allein. Denn meine ungefähr 17-jährigen Bettgenossinnen aus den Niederlanden waren damit beschäftigt, im Erdgeschoss in einem aufblasbaren und mit Wackelpudding gefüllten Swimmingpool im Kämpfen gegeneinander anzutreten. Im Bikini versteht sich. Während sie also versuchten, sich gegenseitig die Augen auszukratzen, um die Preisprämie in Höhe von fünfzig aus­­tralischen Dollar, circa 38 Euro, zu gewinnen, dämmerte ich in einen tiefen, erschöpften Schlaf und träumte von Jelly Wrestling an meinem Arbeitsplatz. Meinen Chef hatte es in jener Nacht wirklich übel erwischt.

Der Rosenkavalier

Byron Bay und ich wurden keine Freunde. Ich fühlte mich wie ein »fish out of water«, wie die Leute vom Fernsehen wohl sagen würden, da ich mit Abstand die Älteste und die Einzige war, die allein reiste und kein Interesse daran hatte, nach Nimbin zu fahren, eine kleine Stadt mit 350 Einwohnern, in der man angeblich das beste Gras ganz Australiens kaufen konnte. Mein Argument, mit Kiffern abhängen könnte ich auch zu Hause, wurde nur mit großen Augen und der interessierten Frage aufgenommen, wo ich denn herkäme. Bei »aus Berlin« rasteten alle aus vor Freude und versicherten mir, dass das wohl die coolste Stadt der Welt sei. Ja, »cool« traf zu. In jeder Hinsicht.

Tagsüber ging ich am Meer spazieren und bewunderte ehrfürchtig die Aussicht an Australiens östlichstem Punkt. Ich knipste ein paar Pflichtfotos und machte selbstverständlich den »Look Out«-Spaziergang bis zum Leuchtturm. Gegen Nachmittag verwarf ich den Plan, meine Angst zu überwinden und endlich im Meer zu schwimmen, und kaufte stattdessen eine Eintrittskarte zum örtlichen Schwimmbad. Womöglich fing ich tatsächlich an, mich zu akzeptieren.

Obwohl mich meine holländischen Mitbewohnerinnen reichlich komisch fanden, luden sie mich am zweiten Abend ein, mit ihnen im »coolsten Club von Byron Bay« und vermutlich auch dem einzigen, dem legendären Woodys, tanzen zu gehen. Es käme, so müsste ich wissen, die »coolste Band der Welt«. Nämlich De La Soul! Daraufhin kreischten alle los und ich verkniff mir die Frage, ob De La Soul nicht so ein Compilation-­Album aus den Neunzigern wäre.

Zugegeben, die Musik war gut. Wir tranken Bier und tanzten stundenlang. Ich fühlte mich fast auch wieder 17 Jahre jung. Aber nur fast, denn ich musste mich nicht nach dem zehnten Bier übergeben. Vermutlich, weil ich nach dem fünften auf Cola umgestiegen war. Tja, Ladys. Mit dem Alter kommt eben auch die Weisheit.

Nachdem ich die Holländerin Carline auf der Toilette mit Wasser und ein paar Sauftipps für die Zukunft versorgt hatte (man muss schließlich sein Wissen an die nächste Generation weitergeben), kehrte ich schnurstracks auf die Tanzfläche zurück. Und plötzlich stand er vor mir: mein Musiker! Er stand vor mir und sah mich an. Diese Augen. Dieser Mund. Dieses Lächeln. Dieses Grübchen. Direkt vor mir. Keine zwanzig Zentimeter entfernt. Als wäre er nie weg gewesen. Und er sagte: »Hi!«

Hi? What the fuck! Hi? Zugegeben, dieses »Hi!« klang ein wenig hoch für seine Stimme, aber ich fragte mich, ob es tatsächlich möglich wäre, ihm hier zufällig über den Weg zu laufen, und falls ja, ob ich mich bei dieser Gelegenheit wohl nach meinem Schlüpfer erkundigen sollte.

Doch dann fragte er: »Kennen wir uns?«, und ich versuchte, nicht mehr so zu starren.

Nun gut, er war es also nicht, aber die Ähnlichkeit war verblüffend.

»Noch nicht!«, gab ich verwirrt und ziemlich plump zurück. Jeder Typ hätte mir jetzt wohl schon eine Abfuhr gegeben, aber der Doppelgänger wusste darauf nichts mehr zu sagen. Ich half ihm aus der Situation und sprach das Zauberwort: »Bier?« Er nickte, nahm ganz selbstverständlich meine Hand und führte mich zur Bar.

Johnny war nicht mein Musiker. Johnny war nicht mal Musiker. Nein, Johnny war Johnny und Tattookünstler. Auf dem Gebiet auch selbst äußerst aktiv, wie sein Unterarm deutlich bewies. Johnny war 27 und seit drei Jahren in Aus­­tralien unterwegs, wie er mir bei einem Bier erzählte. Er lebte aus einem Rucksack, jobbte hier und da, meistens als Burgerwender, und schlief bei Leuten auf der Couch, auch mal im Auto oder eben auf der Straße. Je nach Wetterverhältnissen. Johnny war Lebenskünstler und hatte das zweitsüßeste Grübchen, das ich je gesehen hatte. Meine Holländerinnen beobachteten mich kichernd aus der Ferne und waren sichtlich beeindruckt von meinem »Aufriss«. Schon allein deshalb konnte ich es mir nicht verkneifen, Johnnys Angebot, mit ihm noch auf eine andere Party zu gehen, anzunehmen.

Er griff nach meiner Hand und ich zwinkerte »meinen Mädels« noch mal im Sinne von »Wartet nicht auf mich!« zu.

Die »Party«, zu der Johnny mich führte, fand in dem Burgerladen statt, in dem er tagsüber arbeitete. Als wir ankamen, war gerade eine Eierschlacht in vollem Gange. Ich sah mich suchend nach einem mit Wackelpudding gefüllten Plastikpool um, wurde aber von dem Inhaber des Burgerladens abgelenkt. Er rief einen Waffenstillstand aus, um lallend eine flammende Rede auf seine loyalen Mitarbeiter, aber vor allem auf sich selbst zu halten. Leider wurde ihm ausgerechnet beim dramaturgischen Höhepunkt, nämlich den 350 verkauften Burgern in nur einer einzigen Nacht, furchtbar übel und er übergab sich kurzerhand in die Frittenschale neben sich. Ohne lange zu fackeln, verließen alle ach so loyalen Mitarbeiter unter Ekelschreien die »Party«. Alle außer Johnny und mir. Ich fand das zwar auch furchtbar ekelhaft, aber irgendwie tat dieser kleine, verschwitzte Mann, der eben noch so fröhlich mit Eiern um sich geworfen hatte, mir leid.

Während ich unbeholfen in der Gegend herumstand, wusste Johnny, was zu tun war. Den eigenen Ekel unterdrückend, brachte er dem Spucker ein Geschirrtuch und ein Glas Wasser. Dann klopfte er ihm, wie Männer das wohl so machen, kameradschaftlich auf die Schulter und versprach, ihm morgen beim Aufräumen zu helfen. In diesem Moment wusste ich, Johnny war ein guter Kerl.

Als sich der arme Tropf daraufhin dankbar zeigte und wenigstens beim zweiten Mal schon in die Spüle kotzte, war dennoch mein Bedarf an sich übergebenden Menschen für den Abend gedeckt.

Johnny und ich verbrachten die restlichen Stunden der Nacht Arm in Arm am Strand. Die Möglichkeit, zu ihm oder zu mir zu gehen, bestand nicht, wurde von uns aber auch gar nicht in Erwägung gezogen. Nicht deshalb, weil ich keinen Mann in mein Vierbettzimmer einladen oder die Nacht auf einer verwanzten WG-Couch verbringen wollte, sondern weil wir das Meer hatten. Das Meer, den Strand, den Sternenhimmel und die Wärme einer australischen Nacht. Und trotz dieses Romantik-Klischees und der auf Beidseitigkeit beruhenden Anziehung spielten wir nicht mal mit dem Gedanken, zwischen Felsen versteckt mit Sand im Po miteinander zu schlafen. Wir lagen einfach nur da, eng aneinandergedrückt, küssten und unterhielten uns oder starrten schweigend in den Himmel.

Es fühlte sich gut an und ich war sehr erleichtert, dass er nicht anfing, mir Sternengebilde zu erklären, denn dafür war ich seit jeher zu kurzsichtig und seit Langem zu alt. Ich amüsierte mich lieber über Johnnys Revolver-Tattoos links und rechts von seinem Bauchnabel und schwor ihm, dass er das spätestens, wenn er in meinem Alter wäre, bitter bereuen würde. Johnny nahm es mir nicht übel und musste selbst ein bisschen schmunzeln über seine Revolver, die von Rosen umrankt direkt auf sein bestes Stück zeigten. Dann flüsterte mir Johnny ins Ohr, wie hübsch er mich fände. Und ich, ich hörte einfach nur sehr aufmerksam zu.

Als die ersten Surfer in den frühen Morgenstunden den Strand stürmten, verabschiedete ich mich von Johnny. Wir tauschten Nachnamen aus, um über Facebook in Kontakt zu bleiben, aber ich wusste, dass wir uns nicht wiedersehen würden. Johnny war der erste Mann, dessen Aufmerksamkeit ich seit langer Zeit genießen konnte. Nicht mehr und nicht weniger.

Ich schlenderte zurück in mein Hostel, nahm eine heiße Dusche, packte meine Sachen und schlich mich davon, bevor eine der drei holländischen verkaterten Grazien ihre Augen öffnen würde.

In dem Moment, in dem ich die Autotür hinter mir zufallen ließ, fing es an in Strömen zu regnen und ich fühlte mich in meiner Entscheidung, keine weiteren Stunden mit Eierschlachten oder Jelly Wrestling zu verbringen, bestätigt. Außerdem kannte ich mich: Noch zwei weitere Nächte mit dem unkonventionellen Johnny und ich würde mich doch nur wieder verlieben.

Ob das mein Verstand war, der da zu mir sprach?

Abenteuer für Anfänger

Nach Brisbane, Agnes Waters und einer Tour durch den Cape Hillsborough Nationalpark ließ ich 1300 Kilometer später mein Auto allein in Airlie Beach zurück und bestieg einen Katamaran Richtung Whitsunday Islands.

Im Gegensatz zu allen anderen Touristen dachte ich gar nicht daran, von diesem Katamaran aus in die Fluten zu springen, um zu schnorcheln. Meine Furcht vor dem um diese Jahreszeit aktiven »Box Jellyfish« war viel zu groß. Und berechtigt, denn diese Qualle gilt als das giftigste Meerestier der Welt. Das Gift ihrer Nesselzellen in den drei Meter langen Tentakeln (ekelhaft!) reicht für gut zweihundert Menschen. Jedes Jahr sterben mehr Menschen an dieser gemeinen, weil durch ihren durchsichtigen Körper auch im klaren Wasser gut getarnten Qualle als durch Haiangriffe. Wusste das hier denn keiner außer mir?

Diese Frage schien Matthew, den ersten Matrosen (glaube ich zumindest, denn er schrie immer am lautesten), sehr zu amüsieren. Er lachte laut auf und versicherte mir, dass mir im sogenannten »Stinger Suit«, einem atmungsaktiven Ganzkörperanzug, der sogar mit Kapuze und Handschuhen versehen war, rein gar nichts passieren könnte. Als ich immer noch den Kopf schüttelte, erinnerte er mich daran, dass ich sogar für die Schnorcheltour bezahlt hätte.

Was war das hier? Geld oder Leben? Inklusive oder nicht, ich wollte nicht von einer Qualle ins Jenseits befördert werden. Außerdem war es unmöglich, so nahe am Great Barrier Reef eine Bootstour ohne Schnorcheltrip zu buchen. Ich wollte nicht ins Wasser, Liebeskummer hin oder her, auf Suizid hatte ich keine Lust. Dazu war ich bei Weitem nicht abenteuerlustig genug.

Matthew wiederum fand, das hätte nichts mit abenteuerlustig zu tun. Es wäre völlig verantwortungslos, am Great Barrier Reef gewesen zu sein, ohne sich das Unterwasserparadies angesehen zu haben. Er lächelte mir mit den typisch strahlend weißen Zähnen zu und schloss seine Rede sehr vorhersehbar mit: »No worries!« War ja klar. Ich hätte wirklich gern nachgegeben, aber wie sollte ich einem Mann vertrauen, der sich mit »Nenn mich Matt, mate!« vorstellte?

Ich sagte erneut »Nein, danke« und schob auch ein »No worries« hinterher, vorsichtshalber und weil »Fair enough« gerade irgendwie nicht passte. Matt lächelte jetzt nicht mehr, sondern sagte: »Geh und hol deine Ausrüstung!« Das klang gar nicht mehr australisch, sondern sehr bestimmend. Und nachdem ich inzwischen die Einzige war, die noch im Trockenen saß, während alle anderen schon im Unterwasserparadies tollten und mit Quallen kämpften, beschloss ich trotz all meiner Bedenken, ganz deutsch, mich der Mehrheit anzuschließen. Unter einer Bedingung: »Matt mate« müsste mitkommen. Und meine Hand halten.

Und so geschah es. Matt und ich schnorchelten Hand in Hand über bunte Korallenriffe, bewunderten Seesterne, Fische, große, kleine und vermutlich ein paar giftige, die uns überraschenderweise nicht töteten. Fair enough!

Zurück im Trockenen bedankte ich mich bei Matt dafür, dass er mir in den Arsch getreten hatte. Stolz auf meinen neu entdeckten Mut holte ich mir zur Belohnung einen Weißwein aus der Kühlbox, der ebenso inklusive war. Wenn schon, denn schon.

Auf dem Weg zurück ins Trampolin des Katamarans rutschte ich aus, flog vor versammelter Mannschaft auf die Nase und verstauchte mir den Knöchel. Matt kam ganz aufgeregt herbeigeeilt. Ich lächelte nur und sagte: »No worries!« Das Leben steckt wirklich voller Gefahren. Meistens da, wo man sie nicht erwartet.

Mit einer Kühlbandage um den Knöchel stieg ich als Einzige auf Long Island aus. Der Name sagte mir zu. Genau dort wollte ich einfach nur ein paar Tage in der Sonne verbringen. Möglichst liegend und ohne große Abenteuereinlagen, einfach nur ein bisschen meine Wunden lecken, körperlich wie seelisch.

Ich brachte die Tage damit zu, in der Sonne zu liegen und zu lesen, Cocktails am Pool zu trinken oder vorbeihüpfende Wallabys zu beobachten. Abends trank ich Bier oder, weil der Name nun mal Programm ist, zwei bis fünf weitere Long Island Cocktails. Dabei betrachtete ich den Sonnenuntergang, der aussah wie eines dieser Motive, die man früher in der Bravo als Poster oder Bettwäsche bestellen konnte.

Nach einer Woche auf diesem Kleinod der Whitsunday Islands war nicht nur mein Knöchel längst wieder in Ordnung, sondern ich auch schon fast überhaupt nicht mehr unglücklich. Schweren, aber geheilten Herzens verließ ich die Insel.

In den nächsten Tagen schaffte ich es noch an Cairns vorbei, nach Port Douglas bis zum Cape-Tribulation-­Nationalpark, in dem ich meinen ersten Kasuar, den größten flugunfähigen Vogel, sah. Ein Einzelgänger, außer zur Paarungszeit. Verwunderlich, dass die nicht in Berlin lebten.

Nach ein paar Tagen Sydney samt Blue Mountains hatte ich endgültig genug von Australien, der Einöde, den 18-jährigen Backpackern, dem ewig eintönigen »No worries« und dem ganzen »Fair enough«. Ich sehnte mich nach einer Ganzkörpermassage und flog nach Indonesien.

Super BH!

In Jakarta angekommen, verstand ich zum ersten Mal, was es mit dem Wort »Verkehrsinfarkt« auf sich hatte. Für nur wenige Kilometer vom Flughafen zu meinem Hostel in der Jalan Jaksa brauchte ich mit dem Taxi geschlagene zweieinhalb Stunden. Hätte ich kein Gepäck dabeigehabt, wäre ich zu Fuß gegangen und schneller gewesen. Oder überfahren worden. Diese Stadt trieb mich nach nur einer Stunde bereits völlig in den Wahnsinn. Von insgesamt 48 Stunden in Jakarta verbrachte ich mindestens 24 Stunden im Stau.

Nach zwei Tagen stieg ich auf Schienen um, um diesen Moloch so schnell wie möglich zu verlassen. Nach vielen Stunden im Expresszug samt indonesischem Karaoke-Unterhaltungsprogramm auf einem lautstark eingestellten Fernseher, der niemanden außer mich zu stören schien, erreichte ich das friedliche Örtchen Yogkakarta. Es war ruhig hier. Doch selbst New York hätte im Vergleich zu Jakarta wie ein verschlafenes Kaff gewirkt.

Ich ließ mich in einem Becak, einer Art Beiwagen, der vor ein Fahrrad gespannt wurde, zum Lotus-Hostel fahren. Es befand sich direkt hinter einer Moschee. Die wenigen Stunden Schlaf, die ich gehabt hätte, wurden mir von Moskitos und dem Imam zunichte gemacht. Dieser Mann betete nicht, sondern schrie seine Koranverse geradezu in die Nacht hinaus, wobei er nach jedem dritten Wort niesen musste. Das war irgendwie lustig und angesichts meiner traurigen Unterkunft mit dem verblassten Obstkorbplakat, das lieblos und viel zu hoch an die schlecht gepinselte blaue Schimmelwand geklebt war, konnte ich nicht anders, als mich einem befreienden Lachanfall hinzugeben.

Um vier Uhr morgens stand ich auf, packte meine Kamera und eine Flasche Wasser ein und fuhr mit einem Sammeltaxi zum Borobudur, einer der größten buddhistischen Tempelanlagen Südostasiens.

Aus der Ferne wirkte die Anlage wie ein Raumschiff aus einem Science-Fiction-Film, gelandet mitten im grünen Tropenherz Indonesiens. Ein hochhausgroßer Koloss aus dunkler Materie, pockennarbig übersät mit Kanten, Löchern und Rissen. Ich schleppte mich die Treppen durch die engen Gänge nach oben, bis in das neunte Stockwerk. Auf meinem Weg begegnete ich zahlreichen wunderschönen, aus Stein geschlagenen Buddhastatuen. So manche kopflos. Andere schienen zu schlafen, mit geschlossenen Augen zu beten, in die Ferne oder direkt in meine Augen zu blicken.

Oben angekommen, ließ ich mich neben einem kopflosen Buddha nieder, beobachtete, wie sich der Morgennebel langsam verzog und die Sonne das steinerne Gebäude, umgeben von zwei Vulkanen, in ein goldenes Licht tauchte. Zum ersten Mal hatte ich so richtig Lust auf eine Zigarette.

Ich überlegte, mir eine zu schnorren, wurde aber in meinem perfiden Plan gestört, als mich eine Gruppe indonesischer Schulmädchen bat, ein Foto mit mir schießen zu dürfen. Mit mir? Nicht mit dem wunderschönen kopflosen Buddha neben mir? Ich nahm ihn wenigstens mit auf das Foto und schmiss mich in Pose, umklammert von einer kichernden Indonesierin. Eine kleine Blondine, allein auf dem Borobudur, schien hier die weitaus größere Attraktion für die einheimischen Besucher zu sein. Doch mit einem Foto war es nicht getan. Ich stand mindestens eine halbe Stunde Model und legte Klick für Klick meinen Arm um ein schüchternes Mädchen nach dem anderen. Dabei fühlte ich mich ein bisschen wie Bridget Jones und fragte mich, ob diese Indonesierinnen wohl auch jemals Liebeskummer hätten oder ich ihnen mal meinen BH zeigen sollte. »Super BH!«, würden sie sagen und dann würden wir alle zusammen Like a Virgin singen und tanzen.

Irgendwie war ich gerade glücklich. Und im Gegensatz zu Bridget nicht im Gefängnis. Das war gut.

Bevor ich zurückfuhr, nahm ich all meinen Mut zusammen und aß eine ganze Portion Nasi Guri. Reis, toter Fisch, gepresste Sojabohnen, ein hart gekochtes Ei, eingelegt in Sambal-Chili-Sauce, die mir die Tränen in die Augen trieb. Ja, die kleinen Tränenöffnungen waren weiterhin fleißig, aber nicht mehr aus Kummer. Ich hatte sogar Schwierigkeiten, mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Vielmehr tauchte dann das Gesicht von Johnny auf, wie es gerade einem vorbeifliegenden Ei auswich.

Ich kann mir grundsätzlich keine Gesichter merken. Möglicherweise hängt das auch mit dem Angularis-Syndrom zusammen? Zumindest konnte ich mich nach diesen Wochen des Reisens nicht mehr wirklich an das Gesicht »meines« Musikers erinnern. Sobald ich es versuchte, sah ich nur zwei Augen, die als weiße Punkte im Dunkeln an mir vorbeisahen, mit einer Denkblase, in der stand: »Möchten Sie Ihre iTunes-Mediathek aktualisieren?« Bei diesem Gedanken musste ich tatsächlich lachen.