DRITTES VIERTEL: TEAMBUILDING UND ZEITMANAGEMENT

ERSTES VIERTEL: MEIN GROßWERDEN

FAZIT „AUSLAUFEN“

HALBZEIT

IMPRESSUM

INHALT

PROLOG „WARMLAUFEN“

KAPITEL 1:  15 Monate Wahnsinn

ERSTES VIERTEL: MEIN GROßWERDEN

KAPITEL 2:  Warum Hockey? Meine Anfänge im Sport

KAPITEL 3:  Wie ein Moment alles verändern kann

KAPITEL 4:  Mein UHC

KAPITEL 5:  Druck und Ehrgeiz im Jugendbereich

1. PAUSE

KAPITEL 6:  Warum Titel unvergleichbar sind und ihre eigene Geschichte haben

ZWEITES VIERTEL: NATIONALTEAM

KAPITEL 7:  Wellenbewegungen. Performen, wenn es drauf ankommt – der WM-Titel 2006

KAPITEL 8:  Mythos Olympia. Vom Paparazzi-Touristen zum ersten Gold 2008

KAPITEL 9:  Wer Leistung bringt, darf auch feiern

KAPITEL 10:Rio 2016 und der Ärger mit dem Deutschen Olympischen Sportbund

HALBZEIT

KAPITEL 11:Gute Verlierer gibt es nicht – respektvolle schon

DRITTES VIERTEL: TEAMBUILDING UND ZEITMANAGEMENT

KAPITEL 12:Priorisieren ist gefragt. Was ich aus meiner dualen Karriere lernen konnte

KAPITEL 13:Teamstruktur und Feedbackkultur 

KAPITEL 14:Was Teams erfolgreich macht

KAPITEL 15:Ganz oben – und dann? Wie ein Teamprozess von vorn beginnt

3. PAUSE

KAPITEL 16:Vier Saisons im indischen Wahnsinn

VIERTES VIERTEL: MONOSPORTKULTUR

KAPITEL 17:Champion des Jahres. Wie ich zum Sportverrückten wurde und warum der Fußball alles überschattet

KAPITEL 18:Geld verändert alles. Gold – und auf einmal ist der Hauptsponsor weg

KAPITEL 19:Die deutsche Sportkultur. 15 Minuten Ruhm für den Randsport – und wie das Ausland mit dem Thema umgeht

KAPITEL 20:Verbände in der Pflicht. Warum Sportarten ihre Geschichten erzählen müssen

FAZIT „AUSLAUFEN“

KAPITEL 21:Mein Appell an die deutsche Sportwelt

DANKSAGUNG

K A P I T E L   1

15 MONATE WAHNSINN

Es gab keinen Knall, und es gab auch keinen Schmerz in dem Moment, der meine Karriere in das Vorher und das Nachher teilt. Ich bin einfach irgendwie hängen geblieben mit meinem Knie, als ich mich an meinem Gegenspieler Sebastian Biederlack vorbeischlängeln wollte. Ich stürzte, stand wieder auf, spielte weiter. Etwas schwammig fühlte es sich an, das rechte Knie, aber das war nichts, was mich daran gehindert hätte, dieses Testspiel gegen den Club an der Alster zu beenden. Schließlich sollte eine Woche später die Feldbundesligasaison 2011/12 beginnen, und ich war in der Form meines Lebens.

Zehn Tage zuvor war ich mit den deutschen Herren Europameister geworden, bei der Heim-EM in Mönchengladbach. Das war, nach dem WM-Triumph von 2006, der nächste Coup im eigenen Land, und für mich war es ein ganz besonderes Turnier. Im Juni 2011 hatte sich meine damalige Freundin und heutige Frau Stephanie von mir getrennt, nach acht Jahren Beziehung. Zusammengekommen waren wir, bevor meine Leistungssportkarriere richtig Fahrt aufnahm, und deshalb war es das erste Mal, dass ich mit der Bürde spielte, im Privatleben einen schweren Einschnitt erlebt zu haben.

Man kann also durchaus behaupten, dass Steph mitverantwortlich für all das war, was in den 15 Monaten des Wahnsinns, wie ich sie rückblickend nenne, auf mich einstürzte. Sie hatte mich mit ihrer Entscheidung, mich zu verlassen, zum ersten Mal in meinem Leben dazu gebracht, mich selbst zu hinterfragen. Und ein bisschen Selbstreflexion hatte ich wahrlich mehr als nötig. Ich machte an der SRH Fernhochschule Riedlingen ein Fernstudium in Wirtschaftspsychologie und befand mich in einer Findungsphase, die nicht nur mein Privatleben, sondern auch den Sport mit einschloss.

Vor der Trennung von Steph hatte ich nie etwas darum gegeben, was andere von mir hielten oder wie ich auf mein Umfeld wirkte. 2006 hatte ich, als 21-Jähriger, im WM-Finale, das wir 4:3 gewannen, ein Tor gegen Australien geschossen, 2008 hatte ich mit dem Uhlenhorster HC erstmals die Euro Hockey League gewonnen, und danach war ich in Peking Olympiasieger geworden. Das waren alles frühe Erfolge, die ich nie richtig verarbeitet hatte. Als Weltmeister und Olympiasieger fühlte ich mich unverwundbar, in Zeitungsinterviews sagte ich so Sachen wie, ich könne auf den Mond fliegen und den Mann im Mond umdribbeln. Kurz: Ich gab mich als Freak, der meinte, sich nicht an Regeln halten zu müssen, und der sein Ding machte. Und ich dachte nicht daran, dass andere ein Problem damit haben könnten. Ich war der coole Mo, das junge Supertalent. Dass meine bisweilen zynische, auf jeden Fall aber ziemlich selbstsichere Art bei vielen Menschen negativ ankommen könnte, damit rechnete ich nicht.

Ich konnte lange nicht verstehen, warum viele mich nicht mochten oder sich doch sehr reserviert zeigten. Ich dachte: Ich bin doch immer nett! Erst als Steph mich verlassen hatte, wurde mir klar, dass ich etwas ändern musste.

Zwar nicht meinen Charakter – man kann sich nicht verbiegen, darum geht es auch gar nicht –, aber ich musste an meinem Auftreten arbeiten. Ich hatte mich in den Monaten vor der EM zu einem arroganten Besserwisser entwickelt, der andere kritisierte, ohne sich selbst je zu hinterfragen. Mein Ziel war stets der größtmögliche Erfolg, aber mein Auftreten war, so wurde mir klar, alles andere als zielführend. Ich musste es anders anpacken. Es lag an mir, etwas zu verändern.

Mit diesen Gedanken beschäftigte ich mich während der Vorbereitung auf die EM intensiv. Umso glücklicher war ich dann, dass es tatsächlich funktionierte. Ich hatte mir vorgenommen, als Leader, als Führungsspieler zu agieren, aber gleichzeitig mannschaftsdienlicher zu spielen, meine Mitspieler mehr in mein Spiel einzubeziehen, ohne meine eigenen Stärken zu vergessen. Aufgrund der privaten Probleme war der Sport mehr denn je ein Ventil für mich. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf Hockey und gab alles für den Erfolg.

Mit 26 Jahren, die ich damals alt war, hatte ich das optimale Leistungssportleralter erreicht. Mit unserem Konditionstrainer Rainer Sonnenburg hatte ich sehr viele zusätzliche Trainingseinheiten absolviert und befand mich athletisch auf einem sehr hohen Niveau. Dazu kam die Erfahrung, die ich in den vielen internationalen Turnieren, die ich mittlerweile gespielt hatte, gesammelt hatte. Nicht zuletzt aber waren wir eine großartige Mannschaft. In der Vorrunde schlugen wir Belgien und Spanien jeweils mit 3:1 und Russland mit 7:0. Im Halbfinale gewannen wir die Regenschlacht gegen England mit 3:0, das Spiel stand wegen Starkregens und überflutetem Platz kurz vor dem Abbruch, aber wir wollten unbedingt am selben Abend zu Ende spielen und schafften es mithilfe von Bierbänken, das Wasser vom Kunstrasen zu schieben.

Im Finale machten wir dann gegen unseren Erzrivalen Niederlande im ausverkauften Warsteiner Hockeypark ein unfassbar geiles Spiel, siegten 4:2 – ich traf kurz vor der Pause per Siebenmeter zum 2:1: Es war sportlich ein absolutes Sahnestück, das wir als Team ablieferten. Ich wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt und hatte auch selber das Gefühl, das höchste Level meines sportlichen Könnens erreicht zu haben. Die Flucht vor den privaten Sorgen in den Sport hatte sich für mich ausgezahlt. Oder anders ausgedrückt: Die Auseinandersetzung mit mir selbst hatte mich zumindest zu einem besseren Hockeyspieler werden lassen.

Dass dieser Prozess damit nicht abgeschlossen sein, sondern erst beginnen würde – damit hatte ich natürlich nicht gerechnet. Wie im Hockey üblich, begann 14 Tage nach dem EM-Finale bereits die Bundesligasaison. Nach einer Woche Pause ging es für meine Nationalmannschaftskollegen und mich wieder ins UHC-Training und in das zu Beginn erwähnte Testspiel gegen Alster. Ich spürte, dass ich meine EM-Form hatte konservieren können, und schwebte förmlich über den Platz. Drei Tore schoss ich in der ersten Halbzeit, mir gelang wirklich alles. 20 Minuten vor Schluss fädelte ich beim Zweikampf mit Sebastian Biederlack ein, blieb hängen und stürzte. Nach dem Spiel sagte ich unserer Physiotherapeutin, dass mein rechtes Knie ein wenig instabil wirke, und sie empfahl mir, eine Kernspintomografie machen zu lassen. Also ging ich am nächsten Morgen in die MRT-Praxis eines Hamburger Krankenhauses. Ich hatte überhaupt keine schlechte Vorahnung, sondern dachte, dass es maximal darum ginge, ein paar Tage mit dem Training auszusetzen. Im Wartezimmer daddelte ich gelangweilt an meinem Telefon herum, als der Arzt mich aufrief, um mir lapidar mizuteilen, dass mindestens ein Teilriss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie vorliege.

Ich hatte mir als Jugendlicher oft die Bänder im Fuß gerissen, weil mein Körper im Wachstum recht instabil war. Ich hatte diverse Knochenbrüche erlitten – Handgelenke, Nase, einmal sogar eine Schädel- und Jochbeinfraktur, als ich in der Halle das Knie eines Gegenspielers ins Gesicht bekam. Aber das waren alles Verletzungen, die mich nicht länger als einen Monat beschäftigt hatten. Und nun sollte ich plötzlich einen Kreuzbandriss haben? Das, wovor Sportler sich so fürchten, weil es in der Regel mindestens ein halbes Jahr Pause bedeutet? Ich stand unter Schock, konnte nicht einmal heulen, obwohl mir genau danach zumute war.

Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss: Es sind nur noch zehn Monate bis London! Und nur noch acht, bis die Nominierungen bekannt gegeben werden! Es ist verrückt, dass man in solchen Momenten nicht in erster Linie daran denkt, was eine solche Verletzung für den eigenen Körper bedeutet oder welche Auswirkungen es auf das Alltagsleben haben wird. Der alles beherrschende Gedanke war zunächst: Du musst es unbedingt in den Olympiakader schaffen! Und danach kamen sofort auch die Zweifel: War es das jetzt, vielleicht für immer?

Glücklicherweise stellte sich heraus, dass nur das vordere Kreuzband betroffen war. Oftmals gehen mit Kreuzbandrissen auch Totalschäden im Knie einher, die nicht nur sehr schmerzhaft sind, sondern auch Operationen und im Anschluss daran lange Rehabilitationszeiten erfordern. Bei mir war die Substanz so gut, dass ich nach drei Wochen Pause, nach denen die Schwellung im Knie vollständig verschwunden war, ohne OP mit der Reha anfangen konnte. Das war am 29. September 2011. Zuvor war ich von Arzt zu Arzt gelaufen, um verschiedene Meinungen über das weitere Vorgehen einzuholen, und auf Anraten unseres UHC-Vereinsarztes Jörg Huhnholz und des Hamburger Kniespezialisten Carsten Lütten hatte ich mich schließlich gegen eine Operation entschieden.

Für mich war klar, dass mein vorderes Kreuzband nicht wieder so zusammenwachsen würde, dass es die Haltefunktion ausfüllen könnte, für die es in unserem Körper vorgesehen ist. Das bedeutete, ich musste die Muskulatur um die betroffene Region herum so stark aufrüsten, dass sie die Funktion des Kreuzbandes mit übernehmen konnte. Rund 25 Prozent der Halte- und Stützarbeit verrichtet das Kreuzband, also wusste ich, was mein Ziel war: mindestens 25 Prozent.

Zum Glück hatten mein Athletikcoach Rainer Sonnenburg und der Trainingswissenschaftler Norbert Sibum vom Olympiastützpunkt vom ersten Tag an keinen Zweifel daran – und sie ließen auch keinen zu –, dass ich bis zu den Olympischen Spielen in London wieder fit sein würde. Und deren Optimismus habe ich mir dann zu eigen gemacht. Rainer hat mich durch diese Zeit gepusht, mit ihm hatte ich fachlich wahrscheinlich den besten Mann an meiner Seite gehabt. Ich habe während der Reha kein einziges Mal daran gedacht, aufzugeben. Mir war immer klar: Wenn ich alles investiere, was möglich ist, dann packe ich es.

Tatsächlich habe ich vom 29. September an alles andere beiseitegeschoben und mich voll und ganz auf die Genesung konzentriert. Ich habe ein Urlaubssemester eingelegt, um jeden Tag meine zwei Trainingseinheiten durchziehen zu können, immer nach dem gleichen Muster: Morgens fuhr ich zum Olympiastützpunkt, hatte dort zwei Stunden Physiotherapie, Aquajogging, Lymphdrainage oder trainierte den Oberkörper, und nachmittags wiederholte sich das Ganze. Zwölf Einheiten pro Woche, 20 bis 25 Stunden Training, und das vier Monate lang, von Anfang Oktober bis Ende Januar. Nur am Wochenende gab es einen freien Tag.

Man mag sich vielleicht wundern, dass diese Eintönigkeit mich, der am Hockey vor allem das Spielen liebt, nicht mürbe gemacht hat. Aber zum ersten Mal hatte ich die Gelegenheit, über den Hockeykosmos-Tellerrand zu schauen. Am Olympiastützpunkt trainieren Schwimmer, Ruderer, Beachvolleyballer, und weil ich nach dem Vormittagstraining oft zum Mittagessen dort blieb, lernte ich in dieser Zeit viele andere Sportler besser kennen. Freundschaften wie die mit den Topschwimmern Steffen und Markus Deibler, Ruder-Olympiasieger Eric Johannesen oder Beachvolleyball-Ass Laura Ludwig sind damals entstanden. Das „Team Hamburg“ füllte sich für mich in der Reha-Phase, in dem alle Olympia-Kaderathleten der Stadt gefördert werden, mit Leben.

Und es gab noch einen angenehmen Nebenaspekt. In der Zeit zwischen Mittagessen und Nachmittagstraining war ich fast täglich auf dem Golfplatz im Golfclub Hamburg-Walddörfer, um allein ein paar Bälle zu schlagen. Manchmal nur auf der Driving Range, manchmal spielte ich aber auch neun Löcher. Hier fand ich die nötige Ruhe, um mich auf mich selbst zu konzentrieren – eine sehr wichtige Zeit, denn beim Hockey und in der Reha war ich immer von vielen Menschen umgeben. (Und ganz nebenbei lernte ich das Golfspielen, das heute zu meinen größten Hobbys zählt.)

Zum Hockey hielt ich in dieser Phase eher Abstand. Natürlich ging ich an den Wochenenden zu den UHC-Spielen, aber mich quälte es, nur zuschauen zu können. Ich teilte mir damals eine Wohnung am Turmweg mit Alessio Ress und Bene Sperling, die damals beim Club an der Alster, einem unserer größten Konkurrenten aus der Bundesliga, spielten. Aber statt mit ihnen darüber zu reden, verbrachte ich viele Stunden im Café „Swedish Cream“ an der Rothenbaumchaussee, wo ich meinen inneren Frieden zu finden hoffte.

Viele Athleten sagen, dass die Reha nach einer Verletzung nicht nur körperlich immens anstrengend ist, sondern auch mental. Jeden Tag muss man sich aufs Neue motivieren, Übungen zu machen, die keinen Spaß bringen. Zum Glück war es bei mir nicht so extrem. Immer mit meinem Ziel vor Augen, habe ich keine einzige Trainingseinheit versäumt. Aber abends zog ich nicht nur einmal um die Häuser – ich hatte ja keinen Wettkampf, keine Verantwortung für das Team –, um beim Vormittagstraining mit einer Alkoholfahne aufzutauchen.

Man sagt uns Hockeyspielern ja nicht zu Unrecht nach, dass wir im Feiern ganz vorn dabei sind, und ich werde an anderen Stellen in diesem Buch auch noch darauf eingehen. Fakt ist, und das habe ich in jener Zeit besonders gespürt, dass Teamsportler häufig eine bessere Mischung aus Anspannung und Entspannung finden, während Einzelsportler sich oft viel zu sehr unter Druck setzen und aus Angst, an körperlicher Leistungsfähigkeit einzubüßen, keine Ventile zulassen, um Druck abzubauen. Ich bin überzeugt, dass der positive Effekt, den es für den Kopf hat, wenn man mal über die Stränge schlägt, viel wichtiger ist als der negative Effekt für die körperliche Leistungsfähigkeit.

Wichtig ist, dass man danach die nötige Anspannung wieder aufbauen kann. Durch das Training in der Reha spürte ich, wie ich von Tag zu Tag fitter wurde. Daraus zog ich meine Motivation, sodass der Frust über die schwere Verletzung fast in Euphorie umschlug. Und als im Februar 2012 der Fitnesstest der Nationalmannschaft in Mannheim anstand, hatte ich nicht 25 Prozent mehr Haltekraft aufgebaut, sondern 40 Prozent.

Ich konnte unter Vollbelastung alle Übungen mitmachen. Bundestrainer Markus Weise hatte, zum ersten und auch einzigen Mal, für den Lehrgang ein Punktesystem eingeführt, mit dem er alle Bereiche, die getestet wurden, bewertete. Nachdem die Champions Trophy 2011 in Neuseeland nicht gut gelaufen war, wollte er sichergehen, dass sich niemand auf dem EM-Titel 2011 ausruhte. Ich hatte mit Abstand die besten Werte, und das passte zu meinem Selbstgefühl. Ich war nach den vier Monaten Rehatraining körperlich so gut drauf wie nie zuvor – und eigentlich auch nie wieder danach in meiner Karriere.

Ich erinnere mich, wie mich Stefan Kermas, der damalige Assistent Weises und heutige Bundestrainer, beiseite nahm und mir sagte, wie beeindruckend er meine Performance fand. Das hat mir noch mal mehr Kraft gegeben. Tatsächlich habe ich nur in einer einzigen Situation kurz an meine Verletzung gedacht, bei einer Sprintübung mit 180-Grad-Richtungswechsel in vollem Tempo. Da überlegte ich kurz, ob mein Knie halten würde, aber ich machte trotzdem mit, und alles ging gut.

Bereits ein halbes Jahr nach dem Kreuzbandriss flog ich also Anfang März 2012 mit dem Olympiakader zum Zentrallehrgang nach Südafrika. In Kapstadt konnte ich spielerisch und athletisch alle Anforderungen erfüllen – und fühlte mich wieder als vollwertiges Mitglied der Nationalmannschaft. Es war eine Mischung aus Stolz, Glück und Erleichterung, die sich in mir breitmachte. Ich hatte mir und allen anderen bewiesen, dass ich es ohne Operation nach London schaffen konnte.

Ausruhen konnte ich mich auf diesem Glücksgefühl keineswegs, denn der Weg nach Olympia führte über die Rückrunde in der Feldbundesligasaison. Als Krönung gewannen wir mit dem UHC zum dritten Mal die Euro Hockey League. Und mit dieser Euphorie ging es dann im August nach London. Meine drei Olympiateilnahmen sind selbstverständlich separate Kapitel wert. Aber das Gold in England muss hier Erwähnung finden, weil es in dem sportlichen und privaten Wellenbad, das die 15 Monate Wahnsinn darstellten, der sportliche Höhepunkt war. Ich persönlich habe dort gut gespielt, aber nicht überragend, die Leistung bei der EM 2011 erreichte ich nicht ganz.

Dafür funktionierte das Team umso besser, ich erinnere mich am liebsten an das Halbfinale gegen Weltmeister Australien, das wir mit 4:2 gewannen. Ich spielte mit Tobi Hauke, Christopher Wesley, Jan-Philipp Rabente und Oliver Korn im Mittelfeld, und wir verloren über die gesamte Spielzeit so gut wie keinen Ball. Das war eins der drei besten Länderspiele meiner Karriere, und es führte mir vor Augen, wie eng im Sport Erfolg und Enttäuschung beieinanderliegen: Eine verrückte Zeit der Extreme, und der Olympiasieg war auf der Verrücktheitsskala der höchste Ausschlag nach oben.

Das Sahnehäubchen auf meiner persönlichen Torte sollte allerdings im Dezember 2012 folgen. Ich war zur Saison 2012/13 gemeinsam mit meinen Nationalmannschaftskollegen Oskar Deecke und Oliver Korn zum Club de Campo nach Madrid gewechselt, weil ich gern ein Jahr im Ausland spielen wollte. Diese Entscheidung hatte ich in Kapstadt getroffen. Weil in Spanien die Feldsaison bis in den Dezember dauert, waren Oskar, Olli und ich die einzigen drei Olympiasieger von London, die Markus Weise in seinen Perspektivkader für die Champions Trophy in Melbourne berief. Wir steckten nicht in der Vorbereitung auf die Hallensaison, sondern waren noch voll mit Feldhockey beschäftigt.

Und so kam es, dass ich im fernen Australien nach einem Gruppenspiel gegen Neuseeland die höchste persönliche Auszeichnung erhielt, die es im Hockey gibt: die des Welthockeyspielers des Jahres. Seit ich 2007 zum ersten Mal für die Wahl zum Junioren-Welthockeyspieler nominiert worden war, träumte ich von diesem Titel. Als mir der damalige argentinische Weltverbandspräsident Leandro Negre die Medaille überreichte, war das die Krönung. Aber wie fühlt es sich an, als bester Hockeyspieler der Welt gekürt zu werden? Nun, um für so einen Titel nominiert zu werden, muss es ein Gesamtpaket geben: der EHL-Sieg mit dem UHC, der Olympiasieg mit Deutschland, dazu die Geschichte meines Comebacks – das alles hatte den Ausschlag dafür gegeben, diese Wahl gewinnen zu können. Aber der beste Einzelspieler war ich nicht. Ein Benny Wess beispielsweise hätte es mindestens genauso verdient gehabt – er war der beste Außenverteidiger der Welt. Sein Problem war, dass er „nur“ ein unheimlich guter Hockeyspieler war. Es ist ein bisschen wie im Fußball, wo auch keiner an Ronaldo und Messi vorbeikommt, obwohl das objektiv gesehen unfair ist. Aber es geht eben um das Gesamtpaket, und das passte bei mir einfach. (Wobei ich mich ausdrücklich nicht mit Ronaldo und Messi vergleichen möchte. Höchstens mit Andres Iniesta, aber dazu später mehr.)

Ich persönlich finde, dass ich es 2011 viel eher verdient gehabt hätte, denn bei der EM war ich so stark wie nie. Damals wurde jedoch der Australier Jamie Dwyer gewählt, obwohl er fast das ganze Jahr verletzt war und nur bei der Champions Trophy in Neuseeland glänzte, die ich mit meinem Kreuzbandriss verpasste. Aber Jamie hat mir danach eine sehr liebe Nachricht geschrieben, dass er mir den Titel gönne.

Und wie wird ein solcher Titel gefeiert? Eigentlich eher unspektakulär. Es gibt keine Gala in Zürich oder irgendeine große Zeremonie. Die Übergabe fand einfach so direkt nach einem Gruppenspiel der Champions Trophy statt. Ich war mit meinem UHC-Teamkollegen Tom Mieling auf einem Zimmer, wir haben ein Foto von uns mit der Auszeichnung gepostet. Ein Preisgeld gibt es natürlich auch nicht, man erhält eine Medaille, die schon am ersten Abend kaputt gegangen ist. Heute weiß ich leider gar nicht mehr, wo sie ist. Ich bin ein sehr schlechter Sammler von Erinnerungsstücken. Außer meinen drei Olympiamedaillen habe ich nichts aufbewahrt, was mich an die Stationen meiner Karriere erinnert.

Der Bundestrainer hielt eine sehr nette und bewegende Ansprache, in der er daran erinnerte, dass er mir 2010 gesagt hatte, ich hätte das Potenzial zum Welthockeyspieler, müsse dafür aber noch einiges an Leistung drauflegen. Und dass er stolz sei, dass ich das habe umsetzen können. Und das war es auch schon. Das Turnier ging weiter, und als neuer Welthockeyspieler war es umso schwieriger, dem Erwartungsdruck standzuhalten, da jetzt alle noch genauer auf mich schauten.

Der Abend hielt für mich aber noch einen weiteren und viel bedeutenderen Erfolg bereit, denn erstmals seit unserer Trennung im Juni 2011 erhielt ich eine persönliche Nachricht von Steph, um die ich in den Monaten zuvor gekämpft hatte. Bis dahin hatte sie jeden Kontakt gemieden. Das war der Beginn der Annäherung, die uns im Sommer 2013 wieder zusammenführte.

Waren die 15 Monate Wahnsinn von September 2011 bis Dezember 2012 die wichtigste Phase in meiner persönlichen Entwicklung? Auch wenn drei sportliche Highlights innerhalb dieser Zeit dafür sprechen, waren viele Wochen auch gar nicht schön, es war viel Kampf und Krampf, Schweiß und Quälerei notwendig. Dennoch glaube ich, dass ich damals erkannt habe, was mir wirklich wichtig ist im Leben. Ich habe gespürt, was mir mein Sport bedeutet, aber auch, wie wichtig mir Familie und Freunde sind. Ich hatte sehr viel Zuspruch, allen voran von meinem engsten Vertrauten Mo Falcke, mit dem ich über alles reden konnte.

Aber vor allem habe ich gelernt, mich selbst kritisch zu sehen. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, einmal im Leben den Punkt zu erreichen, an dem man sich und sein bisheriges Tun hinterfragt und etwas verändert. Es war mir eben nicht egal, was andere von mir halten, ich war nicht so sehr mit mir im Reinen. Die Egal-Haltung war eine ziemlich narzisstische Attitüde. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, brauchte es sehr viel Selbsterkenntnis. Für mich war es in der Phase interessant zu sehen, wie Veränderungen, die ich bewusst vornehmen wollte, auch von meinem Umfeld wahrgenommen wurden. Deshalb kann ich sagen, dass die 15 Monate Wahnsinn viel zu dem beigetragen haben, der ich heute bin. Was auf dem Weg dorthin passierte und wie all das meinen Blick auf den Sport und die Gesellschaft geprägt hat – davon möchte ich euch in diesem Buch berichten.

K A P I T E L   2

WARUM HOCKEY? MEINE ANFÄNGE IM SPORT

In Deutschland, sagt man, spielt jeder Junge irgendwann in seinem Leben einmal Fußball im Verein. Nun, dann bin ich wohl eine dieser Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Ich mag Fußball sehr, und ich habe wirklich unendlich viele Stunden mit Kicken verbracht. Aber eben immer nur zum Spaß, denn im Verein gab es für mich nur zwei Sportarten: Hockey und Tennis. Das mag niemanden verwundern, der weiß, dass mein Heimatverein Uhlenhorster HC nur diese beiden Sportarten anbietet. Trotzdem hätte es genügend Möglichkeiten gegeben, in einer Millionenstadt wie Hamburg in einem Klub in meiner Nähe Fußball zu spielen. Für mich stellte sich diese Frage nie.

Hockey, das war der Sport, den mein Vater Peter liebte, deshalb war mein Weg wohl vorherbestimmt. Er hatte es selbst zwar nicht in die Bundesliga geschafft, aber für den Klipper THC, einen der Traditionsklubs im Hamburger Nordosten, und für unseren UHC in der Zweiten Hockey-Bundesliga gespielt. Deshalb war es für mich von Anfang an selbstverständlich, mit auf den Platz zu gehen. Natürlich habe ich daran keine aktiven Erinnerungen mehr, aber wie solche frühkindlichen Erfahrungen unterbewusst prägen, sehe ich heute selbst an meiner Tochter Emma, die mit ihren drei Jahren in den Spielpausen auch schon über den Kunstrasen flitzt und erste Schlagversuche macht. So war das bei mir auch.

Meine ersten Trainingseinheiten im UHC-Kindergarten hatte ich als Sechsjähriger. Früher ging es nicht, da wir zweieinhalb Jahre in Hirscheid, einer Kleinstadt nahe Bamberg, gelebt hatten. Dort war Hockey kein Thema, aber als wir 1989 nach Hamburg zurückkehrten, konnte ich endlich mit dem Hockey anfangen. Wir wohnten damals in Wellingsbüttel, nur durch einen Gartenzaun von der Anlage des noblen Clubs an der Alster getrennt. Ich hätte also genauso gut dort landen können. Aber mein Vater war halt UHC-ler, und so hatten wir – mein Bruder Jonas ist zwei Jahre jünger als ich – zwar zehn Minuten Fahrtweg zum Training mehr, spielten dafür aber im Herzensverein unseres Vaters. Und das sollte einige Jahre lang so bleiben.

Ich erinnere nicht viel aus der ganz frühen Zeit, Hockey stand da sowieso noch nicht im Fokus. Aktiv setzen meine Erinnerungen erst im C-Knaben-Bereich ein. Da war ich sieben Jahre alt und hatte einen Trainer, der mich nachhaltig geprägt hat. Siegfried „Siggi“ Lück ist der Vater unseres heutigen Klubwirts Steffen Lück. Mittlerweile ist er über 80, kommt aber immer noch zu den Heimspielen der UHC-Herren und sagt mir nach dem Spiel, was falsch gelaufen ist. Siggi hat eine echte Berliner Schnauze, und seine Sprüche haben sich tief in mein Bewusstsein eingebrannt. „Da sind ja meine Rennschnecken schneller“, rief er immer, wenn wir im Training zu langsam liefen. Und er liebte es, uns den „Bauerntrick“ beizubringen: Mit Tempo auf den Gegner zulaufen, den Ball auf der einen Seite an ihm vorbeilegen und auf der anderen Seite vorbeilaufen. Den haben wir wirklich in jedem Training geübt.

Lücki war ein Trainer der alten Schule, eine Respektsperson – und zugleich ein Vertrauter wie ein Großvater. Er versuchte immer, uns zu pushen und das Beste aus uns herauszuholen, aber dabei den Spaß nicht zu vergessen. Immer gut gelaunt konnte man ihm wirklich nie böse sein. Was ich von einigen anderen meiner Trainer nicht sagen kann, aber dazu später mehr. Rückblickend behaupte ich, dass er ein wichtiger Faktor dafür war, dass ich so lange beim Hockey geblieben bin, denn er vermittelte mir, dass Sport in erster Linie mit Spaß zu tun haben sollte.

Einmal hat er uns für den zweitrangigen Pokalwettbewerb angemeldet anstatt für die Meisterschaftsrunde. Heute würden 20 Eltern versuchen, den Trainer dafür zu feuern, dass er die Mannschaft freiwillig für den schwächeren Wettbewerb meldet. Aber für uns war das eine tolle Erfahrung, weil wir mehr Spiele und am Ende sogar den Pokal gewannen. Lücki hatte uns damit gezeigt, dass Erfolg in der Jugend zwar wichtig, aber nicht alles ist. Natürlich wollten wir erfolgreich sein und unsere Spiele gewinnen. Aber vorrangig ging es darum, in einer Gemeinschaft etwas zu erleben. Und das war für mich der Reiz am Hockey im Verein.

Im Hockey hatte ich meinen Freundeskreis. Viele meiner Kumpels aus der Schule waren auch beim UHC. Mein bester Freund, Alex Plum, der in unserer Straße wohnte, spielte auch in meinem Team, wir fuhren gemeinsam mit dem Rad zum Training. Jedes Jahr hatten wir ein Pfingstturnier in Berlin, an dem rund 100 Mannschaften aller Altersklassen teilnahmen. Für mich war das immer der Höhepunkt des Jahres. Mit mehreren UHC-Teams ging es in einem Reisebus nach Berlin, und als einer der Kleinen durfte ich für die älteren Jahrgänge, die im Bus hinten saßen, kleine Liebesbriefe zu den Mädchenteams nach vorn tragen. Mann, was war ich stolz!

An diese Zeit erinnere ich mich sehr gern zurück, weil es einfach darum ging, Zeit mit seinen Freunden zu verbringen und nebenbei auch noch Hockey zu spielen. Im B-Knaben-Bereich hatten wir mal ein Endrundenspiel der Hamburger Meisterschaft auf Naturrasen gegen Großflottbek, den Erzrivalen aus dem Hamburger Westen. Dort spielte Philip Witte, mit dem ich 2008 in Peking Olympiasieger werden sollte. Vor dem Spiel waren wir zusammen in ein an den Platz angrenzendes Maisfeld gestürmt und hatten dort mit unseren Hockeyschlägern Maiskolben heruntergeschlagen. Erst als unsere Trainer laut nach uns riefen, merkten wir, dass wir auf den Platz mussten. Die Prioritäten waren also klar gesetzt, und diese Unbeschwertheit habe ich sehr genossen.

Im Alter zwischen sieben und 16 hatte ich keinerlei Vision davon, was ich im Hockey mal erreichen wollte. Abseits meiner eigenen Spiele war dieser Sport Nebensache. An die Olympischen Spiele 1992, 1996 und 2000 habe ich viele Erinnerungen, weil ich sie im Fernsehen verfolgt habe, aber Hockey habe ich gar nicht geschaut. Ich kannte auch keinen der Bundesliga- oder Nationalspieler. Mein Sportheld war Boris Becker, was sicherlich auch daran lag, dass ich besser Tennis als Hockey spielte.

Ich hatte mit sieben Jahren angefangen, das Racket zu schwingen. Einer meiner Teamkameraden war Mischa Zverev, der heute erfolgreicher Profi ist und dessen Vater Alexander uns trainierte. Für den UHC nahm ich an Mannschaftswettkämpfen und an Hamburger Meisterschaften teil. Tennis war mir so wichtig, dass ich vor Medenspielen, die unter der Woche stattfanden, in der Schule kaum stillsitzen konnte, weil ich so aufgeregt war. Einmal konnte mich meine Mutter nicht zur vereinbarten Zeit aus der Schule abholen und zum Tennis fahren, weil sie einen schweren Hörsturz erlitten hatte. Ich war verzweifelt und lief, in Tränen aufgelöst, siebeneinhalb Kilometer zu Fuß nach Hause, um von dort mit dem Rad in den Klub zu rasen. Immerhin kam ich noch rechtzeitig, um Doppel spielen zu können.

Mit 15, als die Schulzeit auf dem Gymnasium langsam in die entscheidende Phase ging, stellte meine Mutter mich vor die Wahl: Hockey oder Tennis? Beides war zeitlich einfach nicht mehr miteinander vereinbar, und auch wenn ich Tennis liebte und ich darin wahrscheinlich mehr Talent hatte, fiel mir die Entscheidung für Hockey leicht. Beim Tennis hatte ich nicht viele Freunde. Mit Mischa verstand ich mich gut – ich verfolge seine Karriere und die seines zehn Jahre jüngeren und inzwischen noch erfolgreicheren Bruders Sascha mit großem Respekt. Aber Hockey war meine Welt: Da waren die Jungs, mit denen ich abhängen wollte. Dieses Miteinander war und ist mir enorm wichtig, ich wollte immer lieber mit meinen Freunden spielen als gegen sie.

Nie habe ich ein Training versäumt. Hockey, das ist für mich gleichzeitig Ort des mentalen Abschaltens wie auch des körperlichen Auspowerns, und dieses Zusammenspiel ist für mich unglaublich entspannend. Deshalb habe ich auch schon zwei Tage nach dem Tod meines Vaters, auf den ich im nächsten Kapitel näher eingehen werde, den Hockeyschläger wieder in die Hand genommen; und am Tag, als mein Schwiegervater starb, ein Hallenbundesligaspiel gegen Braunschweig bestritten. Gerade in solchen Phasen ist Hockey für mich immer ein Ventil gewesen, das Geschehene zu verarbeiten. Und gleichzeitig auch das perfekte Zeichen, dass das Leben weiter geht, den Blick immer nach vorn gerichtet. Die Entscheidung für den Hockeysport habe ich kein einziges Mal bereut, obwohl ich manchmal schon gern wissen würde, wie weit ich es im Tennis hätte bringen können.

Bisweilen sinniere ich darüber – allein oder im Gespräch mit anderen Sportlern –, ob die Entscheidung zwischen Einzel- und Mannschaftssport eine Charakterfrage ist. Mit dem Golfprofi Martin Kaymer hatte ich eine sehr interessante Diskussion. Als ich ihn fragte, ob er sich bei Olympia neben dem Einzelwettkampf nicht auch einen Teamwettbewerb wünschen würde, um die Chance auf eine weitere Medaille zu haben, antwortete er, dass das der Horror für ihn wäre: die Vorstellung, dass ein Anderer mit einem schlechten Tag seine eigene Leistung kaputtmachen könnte. Darüber hatte ich bis dahin nie nachgedacht. Im Teamsport nimmt man in Kauf, dass Fehler, die jedem passieren können, dazugehören und man sie entweder gemeinsam ausbügelt oder verarbeitet.

Ein Einzelsportler denkt anders, und deshalb bin ich mir auch sicher, dass ich im Tennis nie so weit gekommen wäre wie im Hockey. Mir täte es nicht gut, mich zu viel mit mir selbst zu beschäftigen. Vor allem aber brauche ich die Gemeinschaft, um mich überhaupt zum Training zu motivieren, wenigstens dann, wenn Schläger und Ball nicht berührt werden, sondern Kondition oder Kraft gebolzt werden müssen. Wenn ich diese vielen hundert Einheiten, die ich in meiner Laufbahn absolviert habe, nur für mich hätte machen müssen, dann hätte ich wahrscheinlich maximal zehn Prozent hinter mich gebracht. Zu wissen, dass die anderen Jungs auch da sind, und dass sie erwarten können, dass ich mich für sie quäle, hat mich immer wieder den inneren Schweinehund überwinden lassen.

Wenn Ball und Schläger im Spiel waren, dann war sowieso alles gut. Den Impuls, den Hockeyschläger an den Nagel zu hängen, habe ich tatsächlich nicht ein einziges Mal gehabt. Nur einmal war ich kurz davor. Mit 16 Jahren als B-Jugend-Spieler fühlte ich mich von meinem damaligen Trainer Frank Hänel so ungerecht behandelt, dass ich das erste und einzige Mal in meinem Leben meine Mutter bat, ein Gespräch mit einem meiner Coaches zu führen. Das tat sie auch, kam aber mit der Antwort zurück, dass ich mich entspannen könne. „Der Trainer sagt, so lange er dich anschreit, könntest du sicher sein, dass er dich gut findet. Erst wenn er dich links liegen lässt, musst du dir Sorgen machen.“ Das reichte mir als Antwort, damit kam ich klar.

Ansonsten gab es keine Sinnkrisen in meiner Jugend, was wohl auch daran lag, dass ich ein untypischer Teenager war. Angesichts des Rufs als Partytier, den wir Hockeyspieler irgendwie alle haben, mag das vielleicht sonderbar klingen, aber ich war nie der große Rebell, sondern eigentlich ziemlich brav. Bei einem Schulausflug in der sechsten Klasse sind wir mal vor der Scientology-Kirche in der Hamburger Innenstadt hängen geblieben. Keiner wusste, was das war, und irgendwann kam ein Scientologe raus und fragte, ob wir nicht mal reinkommen wollten. Alle sind mitgegangen, nur ich nicht. Warum, weiß ich nicht, es fühlte sich einfach falsch an, dort hineinzugehen. Ich rief stattdessen von einer Telefonzelle aus meine Mutter an, damit sie mich abholte. Sie war stolz, dass ich nicht mitgegangen war. Und ich war stolz, weil Mama stolz war. Natürlich hatte ich auch meinen eigenen Kopf und habe Mist gebaut. Einmal habe ich mit einem Kumpel Mercedessterne von parkenden Autos abgebrochen und sie in der Schule verteilt. Warum? Weiß ich nicht. Wahrscheinlich dachte ich, das wäre cool. Ebenso wie an dem Tag, als wir ein Klassenzimmer mit Deospray einnebelten und ein Lehrer mit Hausstauballergie deshalb einen schweren Asthmaanfall bekam. Aber grundsätzlich war ich relativ angepasst. Als Jugendlicher blieb ich nie länger weg, als ich durfte, hatte aber trotzdem nicht das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. Ich konnte auf Schulpartys gehen und trotzdem am nächsten Tag auf dem Hockeyplatz gut spielen. Verzicht kannte ich nicht, mir hat es immer Spaß gemacht, auch weil ich meinen Freundeskreis ja im Sport hatte und wir uns gegenseitig bestärkten. Die Hockeywelt war mein zweites Zuhause und das Verständnis, was man gegenseitig füreinander aufbrachte, machte meinen Freundeskreis aus..

Jeder Sportart haften Klischees an, und über Hockey sagt man, es sei ein elitärer Sport für Leute, die ihre Poloshirts mit hochgestelltem Kragen tragen. Hab ich zwar wirklich selten getan, aber es gab früher einige Jungs, die sogar Haarspray benutzten, damit der Stehkragen selbst im Bett noch aufrecht stand. Sicherlich ist es auch nicht wegzudiskutieren, dass Hockeyspieler mehrheitlich aus einem sozial starken Umfeld kommen. Die finanziellen Hürden durch die nicht unerheblichen Jahresbeiträge in den Vereinen sind hoch, keine Frage. Aber ob man deswegen von Ausgrenzung sprechen muss?

Mit der Frage, wann ich gemerkt habe, dass ich es im Hockey in die Weltklasse schaffen könnte, werde ich häufiger konfrontiert. Die Antwort darauf ist: eigentlich erst, als ich kurz davor war, den Schritt zu machen. In meiner Kindheit und Jugend stand tatsächlich, wie eingangs beschrieben, der Spaß im Vordergrund. Die Tatsache, dass ich in keiner Jugend-Nationalmannschaft gespielt habe, unterstreicht das. Ich stand mit dem UHC auch niemals in einer Endrunde um die deutsche Meisterschaft.

Einmal, im A-Knaben-Alter, waren wir ganz kurz davor, es in der Halle zu packen. Im Spiel um Platz drei bei der nordostdeutschen Meisterschaft hätten wir gegen Rissen gewinnen müssen. Wir führten 4:0, und ein Rissener Spieler hatte, was in dieser Altersklasse höchst selten war, eine Rote Karte gesehen, weil er unseren Torhüter Maxi Paulus mit einem Roundhouse-Kick gegen den Brustpanzer umgetreten hatte. Wir spielten also in Überzahl, schafften es aber trotzdem noch, das Spiel 4:5 zu verlieren – irgendwie sinnbildlich für meine damalige Mannschaft. Wir waren zwar nicht schlecht, aber unsere Priorität war die Hamburger Meisterschaft. Alles, was darüber hinausging, konnten wir uns nicht vorstellen.

So war der Hamburger Hallenmeistertitel mit den B-Knaben lange der einzige Titel, den wir gewinnen konnten – bis wir es in unserem letzten Jahr im A-Jugend-Bereich noch einmal schafften: 2001, als wir in der Halle des Clubs an der Alster im Finale gegen den Großflottbeker THGC spielten, die damals klarer Favorit waren, weil sie den Eckenspezialisten John Patrick Appelt in ihren Reihen hatten. Bei uns stand mit Dirk Feldmann ein Feldspieler im Tor, weil unser Keeper Maxi Paulus, der heute in den USA ein Imperium von mehr als 40 Hotels leitet, zum Studieren ins Ausland gegangen war. Dirk hielt beim Stand von 5:4 für uns eine Schlussecke sensationell, sodass wir die große Überraschung schafften. Das war mein größter Erfolg im Jugendbereich!

Was mich betraf, so zählte ich in meiner Mannschaft zwar sicherlich zu den besten Spielern und war letztlich der Einzige, der es später in den Bundesligakader schaffte. Aber in Hamburg gehörte ich nicht zu den absoluten Topspielern. Körperlich eher schlaksig und schmächtig spielte ich keine feste Position; wie fast jeder Junge liebte ich es, Tore zu schießen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Den Job als Innenverteidiger kann ich nur annehmen, weil ich die Strafecken und Siebenmeter schießen darf und so immer wieder auch Tore erzielen kann.

Auf der Mittelfeldposition spielte ich mich eigentlich erst nach dem Wechsel zu den Herren fest. Es machte mir schon immer Spaß, das Spiel zu gestalten und aus dem offensiven Mittelfeld heraus torgefährlich zu agieren. Dass man auf der Position an fast allen Spielsituationen beteiligt war, gefiel mir. Ein Defensivmonster war ich nie, mir lag das kreative Element mehr am Herzen; wohl auch, weil meine Stärke darin liegt, eine gute Spielübersicht zu haben, ein gutes Auge für Passwege und -lücken, die andere oft nicht sehen. Außerdem bin ich schwer vom Ball zu trennen, weil ich das Tempo gut verschleppen und meinen Körper gut zwischen Ball und Gegner stellen kann.

All diese Fähigkeiten haben sich tatsächlich erst im Erwachsenenbereich entwickelt. Mein Durchbruch kam meiner Wahrnehmung nach, als ich als 17-Jähriger mein erstes Bundesligaspiel bestreiten durfte. Eigentlich war ich mit der A-Jugend unterwegs zum Zeltturnier in Mönchengladbach, als am Samstagabend der Herren-Cheftrainer Frank Hänel, der mich in der Jugend so getriezt hatte, bei unserem Coach anrief und mich für den darauffolgenden Tag zum Spiel gegen Neuss anforderte.

Also stieg ich in den Zug und reiste zurück nach Hamburg. Mein Bruder hatte mir, das erinnere ich noch genau, als Motivation einen Klebestreifen an die Küchenwand geklebt, auf dem stand: „UHC – Neuss 1:0, Torschütze M. Fürste“. So kam es dann zwar nicht, wir siegten 2:1, aber ich spielte kaum und schoss auch kein Tor. Dennoch: Der Anfang war gemacht, und das war der Moment, in dem ich spürte, dass ich mehr erreichen wollte. Zur Saison 2002/03 gehörte ich fest zum Bundesligakader und habe im ersten Saisonspiel beim 3:3 bei Rot-Weiß Köln mein erstes Tor geschossen.

Und genau so hat sich meine Karriere über die Jahre gestaltet: Immer dann, wenn der nächste Schritt möglich war, konnte ich auch die nötige Leistung abrufen, weil ich ein realistisches Ziel vor Augen hatte. Ich gehörte im Sport nie zu denjenigen, die an das große Ganze gedacht haben. Mir hat es geholfen, dass es erst sehr spät um Leistung ging. Ich habe in meiner Zeit im Herrenbereich Spieler erlebt, die in der Jugend neun deutsche Endspiele in Serie gespielt hatten, bevor sie in den Herrenbereich wechselten. Wie willst du denen dann erklären, dass es das Größte ist, mit den Herren ein Finale zu spielen?

Für mich war es das aber. Als ich Bundesligaspieler war, träumte ich keineswegs vom Nationalkader. Der war für mich genauso weit weg wie die Fußballnationalmannschaft. Der Fokus lag darauf, ein guter Bundesligaspieler zu werden und irgendwann ein Endspiel mitmachen zu dürfen. So bin ich Schritt für Schritt weitergekommen und alles hat seinen Lauf genommen.

Bevor ich davon aber ausführlicher berichte, muss ich noch erklären, warum sich dieses Buch in 21 Kapitel gliedert. Die 21 ist meine Rückennummer, seit ich sieben Jahre alt bin. Damals wurden im Training die Trikots verteilt. Natürlich wollte ich eine der coolen einstelligen Nummern ergattern, aber mein Vater hatte sich verspätet, und ich kam erst an, als alle anderen schon gewählt hatten. Ich war völlig fertig und heulte. Mein Vater aber schaffte es, mir die 21 schmackhaft zu machen, indem er mir erklärte, dass beim HSV, seinem und unserem Lieblingsverein, ein Mittelfeldspieler namens Harald Spörl diese Rückennummer trüge und es doch wohl das Tollste der Welt wäre, wenn ich auch diese Nummer hätte. Fand ich dann auch toll, obwohl mir Harald Spörl nie besonders aufgefallen war. So ging ich freudestrahlend zum Trainer und wünschte mir die 21.

Seitdem habe ich im UHC diese Rückennummer gebucht. In der Nationalmannschaft musste ich dagegen bis 2012 warten, um sie zu bekommen. 2006, vor der Heim-WM in Mönchengladbach, weigerte sich der damals vierte Torwart, mein heutiger guter Freund Max Weinhold, sie herauszugeben, obwohl er nicht mal im Kader stand! Und weil er danach „leider“ so gut wurde, dass er es bis zum Stammtorwart brachte und uns zwei Goldmedaillen bescherte, musste ich bis zu seinem Karriereende warten. Bis dahin trug ich für Deutschland die Neun, die im UHC mein Bruder Jonas hatte. Ein guter Ersatz!

Im Ernst: Ich bin nicht abergläubisch, habe auch im UHC schon mal mit anderen Rückennummern gespielt, wenn ich mal wieder so schusselig war und mein Trikot vergessen hatte. Aber ich verbinde schon viele Emotionen mit dieser Zahl. Wer meine Freunde fragt, was sie mit der 21 verbinden, werden sie meinen Namen nennen. Vor zehn Jahren habe ich mir die zwei Ziffern auf den linken Oberarm tätowieren lassen, trage sie so immer bei mir. Wenn ich hin und wieder einen Casinobesuch starte, setze ich immer einen Chip auf die 21. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ein anderer mit „meiner“ Zahl gewinnen würde.

Und letztlich erinnert mich die 21 natürlich auch an meinen Vater, den ich so früh verloren habe. An den Menschen, der meinen Weg in den Sport geebnet und der mir all das mitgegeben hat, wovon ich auf den kommenden Seiten mehr erzählen möchte.