Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Der Autor
Inschrift
Erste Geschichte - Zutritt für Unbefugte erlaubt
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Zweite Geschichte - Fremd unter Anderen
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Dritte Geschichte - Eine Andere Kraft
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Copyright

Der Autor

Sergej Lukianenko, 1968 in Kasachstan geboren, studierte in Alma-Ata Medizin, war als Psychiater tätig und lebt nun als freier Schriftsteller in Moskau. Er ist der populärste russische Fantasy- und Science-Fiction-Autor der Gegenwart, und war als Drehbuchautor an den Verfilmungen von »Wächter der Nacht« und »Wächter des Tages« beteiligt. Den zweiten Band der Serie, »Wächter des Tages«, hat er gemeinsam mit seinem ukrainischen Schriftstellerkollegen Wladimir Wassiljew geschrieben.

 

Mehr zu den »Wächter«-Büchern und -Filmen unter:

www.lukianenko.ru

Prolog

Der Hauseingang flößte keinen Respekt ein. Das Zahlenschloss hing heraus und funktionierte nicht, überall auf dem Fußboden lagen platt getretene Kippen billiger Zigaretten. Im Fahrstuhl prangten unzählige hirnlose Graffiti, in denen das Wort Spartak genauso oft vorkam wie saftige Vulgärausdrücke; die Knöpfe waren von Zigaretten durchgebrannt und die Löcher sorgsam mit hart gewordenem Kaugummi verklebt.

Auch die Wohnungstür im dritten Stock fügte sich ins Bild: Erbärmliches Kunstleder, noch aus Sowjetzeiten, billige aufgesetzte Ziffern aus Aluminium, die jeden Moment von den schräg hineingedrehten Schrauben zu fallen drohten.

Natascha zögerte einen Moment, bevor sie die Klingel drückte. Wie dumm, irgendwelche Hoffnungen zu hegen und hierher zu kommen. Wenn sie schon so dämlich sein musste, zu Magie Zuflucht zu suchen, dann hätte sie die Zeitung aufschlagen, den Fernseher einschalten oder Radio hören sollen. Seriöse Einrichtungen, erfahrene Übersinnliche mit internationalen Diplomen … Aber was soll’s, letztendlich war das natürlich genauso ein Schwindel. Vielleicht wäre dann jedoch wenigstens die Atmosphäre angenehmer gewesen, die Leute respektabler. Vielleicht wäre sie nicht in diesem Nest von Versagern gelandet.

Trotzdem drückte sie schließlich auf den Klingelknopf. Es wäre schade um die Zeit, die sie für den Weg hierher gebraucht hatte.

Ein paar Minuten lang glaubte sie, die Wohnung sei leer. Dann hörte sie hastige Schritte, wie sie charakteristisch für einen Menschen in Eile sind, der aufpassen musste, die ausgelatschten Pantoffeln nicht zu verlieren. Der kleine primitive Spion verdunkelte sich kurz, dann klapperte das Schloss und die Tür ging auf.

»Natascha, ja? Komm rein, komm rein …«

Leute, die sie sofort duzten, mochte sie nicht. Gewiss, sie selbst bevorzugte diese Form der Anrede auch. Aber sollte man nicht wenigstens der Ordnung halber vorher um Erlaubnis bitten?

Inzwischen zog die Frau, die die Tür geöffnet hatte, sie bereits hinein, indem sie Natascha ohne zu fackeln am Arm packte, wobei sich auf ihrem nicht mehr jungen, grell geschminkten Gesicht eine derart aufrichtige Gastfreundschaft widerspiegelte, dass Natascha nichts dagegenzusetzen hatte.

»Eine Freundin von mir hat mir gesagt, Sie würden …«, fing Natascha an.

»Ja, ich weiß, ich weiß doch, meine Liebe.« Die Frau winkte ab. »Ach, du brauchst die Schuhe nicht auszuziehen, ich wollte nämlich gerade sauber machen … Oder warte, ich hol dir doch Hausschuhe.«

Natascha sah sich um, konnte ihren Ekel dabei aber kaum verbergen.

Eine nicht unbedingt kleine, aber unglaublich zugemüllte Diele. An der Decke baumelte eine trübe Glühbirne, die, obwohl sie mal gerade mit 30 Watt funzelte, die allgemeine Unordnung erkennen ließ. An der Garderobe hingen Unmengen von Kleidern, zur Freude der Motten sogar ein Winterpelz aus Bisam. Das Linoleum von verwaschener grauer Farbe löste sich vom Boden ab. Offensichtlich wollte die Hausfrau schon seit einer ganzen Weile sauber machen.

»Du heißt Natascha, Töchterchen? Ich bin Dascha.«

Dascha war fünfzehn, zwanzig Jahre älter als sie. Mindestens. Sie hätte tatsächlich gut und gern Nataschas Mutter sein können – nur dass man sich einer solchen Mutter lieber gleich den Strick nahm! Eine fette Frau mit ungewaschenem stumpfen Haar, grell lackierten Fingernägeln – und natürlich blätterte der Lack bereits ab –, in einem ausgewaschenen Kittel und mit ausgetretenen Latschen an den nackten Füßen. Mein Gott, selbst die Zehennägel waren lackiert! Wie vulgär!

»Sie sind eine Kräuterfrau?«, fragte Natascha. Um sich innerlich zuzuschreien: Und ich bin eine Idiotin!

Dascha nickte. Nach einigem Stöbern zog sie aus einem wüsten Schuhberg ein Paar Gummilatschen. Die bescheuertsten Dinger, die die Menschheit je erfunden hatte, mit zahllosen hochstehenden Gumminoppen innen drin. Der Traum eines Yogi. Ein Teil dieser Gumminägel fehlte schon seit langem – was freilich nicht zu ihrer Bequemlichkeit beitrug.

»Zieh die an!«, schlug Dascha fröhlich vor.

Wie hypnotisiert streifte Natascha ihre Sandalen ab und zog die Latschen an. Lebt wohl, ihr Perlons. Ohne Laufmaschen würde sie hier bestimmt nicht wieder rauskommen. Selbst bei diesen berühmten Omsa mit dem sagenhaften Lycra nicht. War eben doch alles auf der Welt Beschiss, den sich durchtriebene Blödmänner ausdachten. Und auf den kluge Leute aus irgendeinem Grund immer wieder hereinfielen.

»Ja, eine Kräuterfrau«, meinte Dascha, während sie aufmerksam darüber wachte, ob Natascha sich die Latschen anzog. »Das habe ich von meiner Großmutter. Und von meiner Mutter. Die waren alle Kräuterfrauen und haben alle den Menschen geholfen. Das liegt bei uns in der Familie … Gehen wir in die Küche, Natascha, die andern Zimmer sind nicht aufgeräumt …«

Während Natascha sich innerlich ein weiteres Mal selbst verwünschte, folgte sie Dascha. Die Küche entsprach genau ihren Erwartungen. Ein Berg von schmutzigem Geschirr im Spülbecken, ein verdreckter Tisch, von dem bei ihrem Erscheinen eine Kakerlake träge herunterkroch und unter der Tischplatte verschwand. Klebriger Fußboden. Die Fenster warteten natürlich noch auf den Frühjahrsputz, die Lampe starrte vor Fliegendreck.

»Setzt dich!« Mit einer geschickten Bewegung zog Dascha einen Hocker unterm Tisch hervor, den sie an einen Ehrenplatz schob – zwischen dem Tisch und dem Kühlschrank, einem krampfhaft zuckenden »Saratow«.

»Danke, aber ich bleib lieber stehen.« Natascha wollte sich auf gar keinen Fall hinsetzen. Der Hocker flößte ihr noch weniger Vertrauen ein als der Tisch oder der Fußboden. »Dascha … Darja?«

»Darja.«

»Darja, ich wollte eigentlich nur erfahren . . .«

Die Frau zuckte mit den Schultern. Drückte auf den Knopf des elektrischen Teekessels, womöglich des einzigen Gegenstandes in dieser Küche, der nicht aussah, als stamme er aus einem Müllhaufen. Sie sah Natascha an. »Wirklich? Was willst du denn noch erfahren, meine Liebe? Es ist doch alles klar zu erkennen, liegt ganz offen da . . .«

Einen Moment lang hatte Natascha den unerklärlichen, quälenden Eindruck, in der Küche sei nicht genug Licht. Alles wurde grau, das krankhafte Gemurre des Kühlschranks verstummte ebenso wie der Lärm der Autos, der vom nahen Prospekt herüberdrang. Sie strich sich über die Stirn, die mit eisigem Schweiß überzogen war. Das kam alles von der Hitze. Der Sommer, die Hitze, die lange Fahrt in der Metro, das Gedränge im Oberleitungsbus … Warum hatte sie auch kein Taxi genommen? Ihren Fahrer hatte sie mit dem Wagen fortgeschickt – gut, es wäre ihr peinlich gewesen, auch nur anzudeuten, wohin sie wollte. Und warum. Aber weshalb hatte sie kein Taxi genommen?

»Dein Mann hat dich verlassen, Nataschenka«, sagte Darja zärtlich. »Vor zwei Wochen. Mit einem Mal. Hat seine Sachen gepackt, sie in einen Koffer geworfen und ist gegangen. Ohne jeden Streit, ohne jede Auseinandersetzung. Er hat dir die Wohnung überlassen, das Auto. Ist zu seiner Geliebten gezogen, einem Luder mit schwarzen Augenbrauen, einem jungen Flittchen … dabei gehörst du selbst noch nicht zum alten Eisen, Töchterchen.«

Diesmal reagierte Natascha gar nicht mehr auf das »Töchterchen«. Sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, was sie ihrer Freundin gesagt hatte und was nicht. Die »schwarzen Augenbrauen« hatte sie bestimmt nicht erwähnt. Obwohl: dunkelhäutig war die Frau, mit schwarzem Haar … Erneut packte Natascha wahnsinnige, blinde Wut.

»Auch warum er gegangen ist, weiß ich, Nataschenka … Verzeih mir, dass ich dich Töchterchen genannt habe, schließlich bist du eine starke Frau, die sich kein X für ein U vormachen lässt. Aber ihr seid ja für mich alle wie die eigenen Töchter … Ihr hattet keine Kinder, nicht wahr, Nataschenka?«

»Nein«, flüsterte Natascha.

»Warum nicht, meine Liebe?« Die Kräuterfrau schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Dabei hat er sich doch so eine kleine Tochter gewünscht, oder?«

»Ja . . .«

»Dann hättest du ihm eine schenken sollen«, meinte Darja achselzuckend. »Ich hab übrigens fünf Kinder. Zwei sind zur Armee gegangen, meine beiden Ältesten. Eine meiner Töchter ist verheiratet und hat ein Kind, die andre lernt. Dann ist da noch mein Jüngster, dieser Lausebengel …« Darja winkte ab. »Aber setz dich doch endlich . . .«

Widerwillig nahm Natascha auf dem Hocker Platz. Fest presste sie ihre Tasche auf die Knie. »Es hat halt nicht sollen sein«, kam sie weiteren Vorstößen Darjas zuvor. »Und selbst wenn ich ein Kind zur Welt gebracht hätte, hätte ich deswegen meine Karriere nicht aufgeben wollen.«

»Das kann ich ja verstehen.« Die Kräuterfrau hatte nichts einzuwenden. Sie wischte sich mit den Händen übers Gesicht. »Du hast deinen Willen … Was machen wir jetzt? Du möchtest ihn doch zurück? Also, weshalb ist er gegangen? Seine Geliebte ist bereits von ihm schwanger … und hat sich dafür mächtig angestrengt. Sie macht, was er sagt, bedauert ihn, lässt sich im Bett was einfallen … Du hast einen guten Mann gehabt, um so einen reißt sich jede. Möchtest du ihn zurückhaben? Trotz allem?«

Natascha biss sich auf die Lippen. »Ja.«

»Zurückhaben kannst du ihn«, meinte die Kräuterfrau seufzend. »Das ja.« Ihr Ton hatte sich plötzlich auf kaum zu fassende Weise verändert, klang jetzt schwer, drückend. »Nur dass es schwierig wird«, fuhr sie fort. »Ihn zurückzuholen ist kein Problem. Aber ihn zu halten, wird nicht einfach!«

»Trotzdem will ich es.«

»In jeder von uns, mein Töchterchen, steckt eine eigene Magie. « Darja beugte sich über den Tisch. Ihre Augen schienen sich förmlich in Natascha zu bohren. »Einfache, ursprüngliche, weibliche Magie. Das hast du mit deinem Ehrgeiz völlig vergessen. Aber das darfst du nicht! Deshalb helfe ich dir. Aber wir müssen das Ganze in drei Etappen bewerkstelligen.« Sie schlug leicht mit der Faust auf den Tisch. »Erstens: Ich gebe dir einen Trank. Das ist keine große Sünde … Der Trank wird dir deinen Mann wiederbringen. Das ja, aber dass er bleibt, bewirkt der Trank nicht.«

Natascha nickte unsicher. Die Einteilung des Ganzen in »drei Etappen« wirkte irgendwie unangemessen – vor allem bei dieser Frau und in dieser Wohnung.

»Zweitens … Die Geliebte darf das Kind nicht zur Welt bringen. Wenn das passiert, wirst du deinen Mann nie halten können. Hier müssen wir eine große Sünde begehen und die unschuldige Leibesfrucht vergiften …«

»Was reden Sie denn da!«, empörte Natascha sich. »Ich habe nicht die Absicht, vor Gericht zu landen!«

»Gift ist dabei nicht im Spiel, Nataschenka. Ich wedel mit den Händen …« Die Kräuterfrau demonstrierte es gleich. »… dann klatsche ich … Und das war’s, das war die ganze Sünde. Wie willst du denn dafür vor Gericht kommen?«

Natascha schwieg.

»Aber diese Sünde will ich nicht auf mich nehmen.« Darja bekreuzigte sich in aller Form. »Wenn du willst, helfe ich dir, aber vor Gott verantworten musst du dich dafür!«

Offenbar fasste Darja das beredte Schweigen als Zustimmung auf. »Drittens«, fuhr sie fort. »Du bringst selbst ein Kind zur Welt. Dabei helfe ich dir auch. Du kriegst eine Tochter, eine schöne und schlaue Tochter, dir zur Hilfe und deinem Mann zur Freude. Dann hat all dein Leid ein Ende.«

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Natascha leise. »Können Sie das alles . . .«

»Also pass auf.« Darja erhob sich. »Wenn du ja sagst, fangen wir an. Dann kommt morgen dein Mann zurück, und übermorgen verliert seine Geliebte ihren Bastard. Geld nehme ich dir erst ab, wenn du selber schwanger bist. Aber das wird kein Pappenstiel sein, das sage ich dir gleich, bei Gott dem Allmächtigen. «

»Und wenn ich Sie betrüge und Ihnen das Geld nicht bringe? « Natascha setzte ein schiefes Lächeln auf. »Schließlich ist dann ja schon alles erledigt …«

Sie verstummte. Die Kräuterfrau schaute sie streng und schweigend an. Mit leichtem Mitgefühl, wie eine Mutter ihre dumme Tochter. »Du wirst mich nicht betrügen, Nataschenka. Wenn du darüber nachdenkst, kommst du selbst dahinter, dass du mich besser nicht betrügst.«

Natascha schluckte den Kloß herunter, der ihr im Hals steckte. »Das heißt ein Erfolgshonorar?«, versuchte sie zu scherzen.

»Was für eine tüchtige Geschäftsfrau du doch bist«, sagte Darja ironisch. »Wer soll denn so eine scharf kalkulierende und schlaue Frau lieben? Ein Weib muss immer auch dumm sein … ach … Also nach Erfolg. Drei Erfolgen.«

»Wie viel?«

»Fünf.«

»Wieso fünf?«, setzte Natascha an und stockte. »Ich dachte, es würde viel billiger werden!«

»Wenn du nur deinen Mann zurückwillst, wird es billiger. Nur dass er dann nach einer gewissen Zeit wieder weg ist. Ich biete dir aber richtige Hilfe an, ein sicheres Mittel.«

»Einverstanden.« Natascha nickte. Irgendwie kam ihr das Ganze leicht irreal vor. Ein Händeklatschen – und das ungeborene Kind sollte nicht mehr da sein? Ein weiteres Händeklatschen – und sie würde dem geliebten Dummkopf selbst eine Tochter schenken?

»Nimmst du die Sünde auf dich?«, fragte die Kräuterfrau nachdrücklich.

»Was soll denn das schon für eine Sünde sein«, entgegnete Natascha, in der jetzt Ärger hochstieg. »Diese Sünde hat doch wohl jede Frau schon mindestens einmal begangen! Außerdem ist sie vielleicht gar nicht schwanger!«

Die Kräuterfrau versank in Gedanken, schien auf etwas zu lauschen. »Doch …« Sie schüttelte den Kopf. »Und anscheinend wirklich ein Töchterchen.«

»Ich nehm alles auf mich«, meinte Natascha immer verärgerter. »Alle Sünden. Welche auch immer. Abgemacht?«

Die Kräuterfrau sah sie streng und missbilligend an. »So geht das nicht, mein Töchterchen. Was heißt hier ›alle Sünden‹? Wer weiß, was ich dir dann noch anhänge? Meine eigenen Sünden und die von andren …, die müsstest du dann vor Gott verantworten. «

»Das klären wir dann schon.«

»Ach, diese Jugend«, seufzte Darja. »Diese dumme Jugend. Als ob er sich mit den menschlichen Sünden herumschlagen sollte. Jede Sünde hinterlässt eine Spur, an diesen Spuren orientiert sich dann auch das Gericht … Doch genug davon, du brauchst keine Angst zu haben. Ich hänge dir keine fremden Sünden an.«

»Da mach ich mir auch gar keine Sorgen.«

Die Kräuterfrau schien sie schon gar nicht mehr zu hören. Im Sitzen lauschte sie aufmerksam auf irgendetwas. Dann zuckte sie die Achseln. »Gut … Machen wir uns an die Arbeit. Deine Hand!«

Unsicher streckte Natascha die rechte Hand aus, den teuren Brillantring voller Sorge im Blick. Wenn er auch nur schwer vom Finger zu ziehen war . . .

»Oi!«

Die Kräuterfrau pikte sie so schnell und geschickt in den kleinen Finger, dass Natascha nicht einmal etwas merkte. Wie erstarrt saß sie da, sah auf den anschwellenden roten Tropfen. Ohne viel Federlesens warf Darja die winzige Lanzette – ein flaches Ding mit spitzem Stachel – auf einen unabgewaschenen Teller mit eingetrockneten Borschtschresten. Solche Nadeln benutzte man auch in Labors.

»Keine Angst, bei mir ist alles steril, es sind Einwegnadeln.«

»Was erlauben Sie sich eigentlich!« Natascha wollte ihre Hand zurückziehen, doch Darja packte sie mit einer unerwartet kräftigen und zielsicheren Bewegung.

»Halt still, du dummes Mädchen! Sonst muss ich noch mal piken!«

Sie zog ein Apothekerfläschchen aus dunkelbraunem Glas aus der Tasche. Die Beschriftung auf dem Etikett war verwaschen, aber nicht vollständig, sogar die ersten Buchstaben ließen sich noch erkennen: Na …. Geübt schraubte Darja es auf, stellte das Fläschchen unter Nataschas kleinen Finger und klopfte den Finger gegen den Flaschenrand. Der Tropfen landete in dem Fläschchen.

»Manche Menschen glauben«, sagte die Kräuterfrau zufrieden, »dass der Trank umso besser wirken würde, je mehr Blut drin ist. Das stimmt nicht. Das Blut muss eine gewisse Qualität haben, die Menge spielt überhaupt keine Rolle …«

Die Kräuterhexe öffnete den Kühlschrank. Holte eine Fünfziggrammflasche Wodka Priwet heraus. Natascha fiel wieder ein, dass ihr Fahrer ihr dieses »Reanimationsmittel« irgendwann einmal empfohlen hatte.

Ein paar Tropfen Wodka kamen auf den Wattebausch, den Natascha gehorsam gegen ihren Finger drückte. Die Kräuterhexe hielt Natascha die Flasche hin. »Willst du?«

Aus irgendeinem Grund malte sich Natascha lebhaft aus, wie sie morgen früh aufwachen würde – am andern Ende der Stadt, ausgeraubt, vergewaltigt und ohne jede Erinnerung an das, was geschehen war. Sie schüttelte den Kopf.

»Na, ich genehmige mir einen.« Darja setzte das »Reanimationsmittel« an die Lippen und trank den Wodka in einem Schluck aus. »So arbeitet es sich doch gleich … viel besser. Und du … du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Raub ist nicht mein Metier.«

Einige Tropfen, die noch in der Flasche waren, gab Darja ebenfalls in das Apothekerfläschchen mit dem Trank. Dann fügte die Kräuterhexe, ohne sich um den neugierigen Blick Nataschas zu scheren, Salz, Zucker, heißes Wasser aus dem Teekessel und ein Pulver mit starkem Vanillegeruch hinzu.

»Was ist das?«, fragte Natascha.

»Hast du Schnupfen? Vanille.«

Die Kräuterhexe hielt ihr das Fläschchen hin. »Nimm das.«

»Und das ist alles?«

»Ja. Gibt das deinem Mann zum Trinken. Schaffst du das? Du kannst es ihm in den Tee mischen oder in Wodka, auch wenn das nicht gerade empfehlenswert ist.«

»Und wo soll da die … Zauberei sein?«

»Was für Zauberei?«

Erneut kam sich Natascha wie eine Idiotin vor. »Da ist ein Tropfen meines Bluts drin«, platzte sie fast schreiend heraus. »Ein Tropfen Wodka, Zucker, Salz und Vanille!«

»Und Wasser«, fügte Darja hinzu. Sie stemmte die Hände in die Hüften. Sah Natascha voller Ironie an. »Was hast du denn erwartet? Getrocknete Krötenaugen? Piroleier? Oder soll ich da reinrotzen? Worauf kommt es dir an? Auf die Zutaten oder auf die Wirkung?«

Natascha schwieg, überrumpelt von dieser Attacke. Darja hingegen fuhr fort, ohne ihre Belustigung zu verbergen. »Mein liebes Mädchen … Wenn ich Eindruck bei dir hätte schinden wollen, dann hätte ich das geschafft. Mit Sicherheit. Aber es kommt nicht auf das an, was in dem Fläschchen ist, sondern darauf, wer den Inhalt zusammengemischt hat. Mach dir keine Gedanken, geh nach Hause und gib es deinem Mann zu trinken. Er kommt doch noch ab und ab bei dir vorbei?«

»Ja … heute Abend. Er hat angerufen, dass er ein paar Sachen holen müsse …«, murmelte sie.

»Soll er sie ruhig holen, nur muss er dabei auch seinen Tee trinken. Morgen schleppt er seine Sachen dann wieder an. Natürlich nur, wenn du willst.« Darja grinste. »Also gut …, bleibt noch das Letzte. Nimmst du diese Sünde auf dich?«

»Ja.« Natascha merkte mit einem Mal, dass ihr das Lachen im Halse stecken blieb. Irgendetwas war hier gar nicht komisch. Die Kräuterfrau gab sich zu ernst. Und wenn ihr Mann morgen wirklich zurückkommen würde . . .

»Dein Wort, meine Tat …« Darja breitete langsam die Arme aus. Sprach eine komplizierte Formel: »Wasser so rot, dazu fremde Not, fauliger Samen, Frucht ohne Namen … Was war, ist nicht mehr, was nicht war, wird nicht sein … Ins Nirgendwo entschwinde, dass keine Spur man finde, nach meinem Willen, auf mein Wort …« Ihre Stimme senkte sich zu einem raunenden Flüstern herab. Eine Minute lange bewegte die Kräuterfrau die Lippen. Dann klatschte sie kräftig in die Hände.

Anscheinend war die Phantasie mit Natascha durchgegangen, denn sie meinte plötzlich, durch die Küche fege eisiger Wind. Ihr Herz raste, ihre Haut kribbelte.

Darja schien mit dem Kopf etwas abzuschütteln. Dann sah die Kräuterfrau Natascha an. »Das war’s«, meinte sie nickend. »Geh jetzt, meine Liebe. Geh nach Hause, mein Töchterchen, und warte auf deinen Mann.«

Natascha stand auf. »Und was ist … wenn ich . . .«, setzte sie an.

»Wenn du schwanger bist, denkst du von allein an mich. Ich werde drei Monate warten. Danach werde ich nicht lange fackeln. «

Natascha nickte. Sie schluckte den Kloß herunter, der ihr schon wieder im Hals steckte. Aus irgendeinem Grund glaubte sie nun alles, was ihr von dieser Quacksalberin versprochen worden war – und begriff mit schmerzlicher Klarheit, dass es ihr in drei Monaten, wenn wirklich alles klappen sollte, unendlich leid um das Geld tun würde. Sie würde alles einem Zufall zuschreiben wollen. Für den man dieser verdreckten Scharlatanin ja wohl keine fünftausend Dollar geben musste!

Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass sie es tun würde. Vielleicht würde sie die Bezahlung bis zum letzten Tag hinauszögern, aber sie würde Darja das Geld geben.

Denn sie würde sich an dieses leichte Klatschen der ungepflegten Hände und diese Welle der Kälte erinnern, die sich plötzlich in der Küche ausgebreitet hatte.

»Geh jetzt«, wiederholte die Kräuterfrau mit leichtem Nachdruck. »Ich muss mich um mein Essen kümmern und die Wohnung sauber machen. Also sieh zu …«

Natascha ging in die dunkle Diele, schlüpfte voller Erleichterung aus den Latschen und zog ihre Schuhe an. Die Strümpfe hatten es offenbar überlebt – immerhin etwas, denn gehofft hatte sie nicht darauf.

Sie sah die Kräuterfrau an, versuchte Worte zu finden, um ihr zu danken, noch nach etwas zu fragen, vielleicht würde ihr sogar ein Scherz über die Lippen kommen …

Aber Darja wirkte völlig entgeistert. Die Augen der Kräuterfrau hatten sich geweitet, sie starrte auf die verschlossene Tür und fuchtelte leicht mit den Händen vor sich in der Luft herum. »Wer …?«, flüsterte sie. »Wer … wer?«

Im nächsten Moment flog hinter Natascha krachend die Tür auf. Im Korridor drängten sich plötzlich lauter Menschen: zwei Männer, die die Kräuterfrau fest bei der Hand gepackt hielten, und einer, der schnellen Schritts und ohne sich umzusehen in die Küche ging – offensichtlich kannte er den Grundriss der Wohnung genau. Neben Natascha stand eine junge schwarzhaarige Frau. Alle Männer trugen einfache und irgendwie absichtlich unauffällige Kleidung: Shorts, in denen aufgrund der außergewöhnlichen Hitze neunzig Prozent der männlichen Bevölkerung Moskaus herumliefen, und T-Shirt. Natascha durchzuckte mit einem Mal der überraschende und beängstigende Gedanke, diese Kleidung könne eine besondere Variante der unauffälligen grauen Anzüge der Herren vom Geheimdienst sein.

»Wie hässlich«, sagte die junge Frau missbilligend, während sie Natascha ansah und den Kopf schüttelte. »Wie gemein, Natalja Alexejewna.«

Im Unterschied zu den Männern trug sie dunkle Jeans und eine Jeansjacke. An einer silbernen Kette um ihren Hals funkelte ein Anhänger, an den Fingern blitzten mehrere massive Silberringe: aufwendig gearbeitete Stücke mit dem Kopf eines Drachen oder eines Tigers, um die sich Schlangen oder seltsame, an die Buchstaben eines unbekannten Alphabets erinnernde Ornamente wanden.

»Wovon reden Sie . . .«, fragte Natascha mit brechender Stimme.

Statt zu antworten zog die Frau schweigend Nataschas Tasche auf und holte das Fläschchen heraus. Hielt es ihr unter die Nase. Und schüttelte abermals vorwurfsvoll den Kopf.

»Gefunden!«, schrie der Mann aus der Küche. »Liegt alles zutage, Leute.«

Einer der Männer, die die Kräuterfrau festhielten, seufzte. »Darja Leonidowna Romaschowa!«, näselte er mit gelangweilter Stimme. »Im Namen der Nachtwache sind Sie verhaftet.«

»Was für eine Nachtwache?« In der Stimme der Kräuterfrau schwang eindeutig ihr Unverständnis mit, klang aber auch Panik an. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Sie haben das Recht, auf unsere Fragen zu antworten«, fuhr der junge Mann fort. »Jede magische Handlung von Ihrer Seite wird als feindlicher Akt betrachtet und ohne Vorwarnung geahndet. Sie haben das Recht, um Regelung ihrer persönlichen menschlichen Verpflichtungen nachzusuchen. Ihnen wird zur Last gelegt … Garik?«

Der Gerufene kam aus der Küche zurück. Wie im Traum registrierte Natascha, dass er ein ausgesprochen intelligentes, nachdenklich-trauriges Gesicht hatte. Solche Männer hatten ihr schon immer gefallen …

»Meiner Meinung nach die üblichen Sachen«, sagte Garik. »Gesetzwidrige Beschäftigung mit schwarzer Magie. Manipulationen des menschlichen Bewusstseins dritten oder vierten Grades. Mord. Steuerhinterziehung … aber das geht uns nichts an, damit sollen sich die Dunklen rumschlagen.«

»Ihnen wird gesetzwidrige Beschäftigung mit schwarzer Magie, Manipulation des menschlichen Bewusstseins und Mord vorgeworfen«, wiederholte der Mann, der Darja gepackt hielt. »Sie kommen jetzt mit uns mit.«

Die Kräuterfrau stieß einen durchdringenden, schrecklichen Schrei aus. Unwillkürlich starrte Natascha auf die sperrangelweit aufstehende Tür. Selbstverständlich war es naiv darauf zu hoffen, dass Nachbarn zu Hilfe kommen würden. Aber die Miliz konnten sie doch rufen, oder?

Die seltsamen Besucher reagierten in keiner Weise auf den Schrei. Nur die junge Frau runzelte die Stirn. »Was sollen wir mit der tun?«, fragte sie und nickte in Nataschas Richtung.

»Ihr den Trank abnehmen und die Erinnerung löschen.« Ohne jedes Mitleid blickte Garik Natascha an. »Soll sie doch glauben, es sei niemand zu Hause gewesen.«

»Das ist alles?« Die junge Frau holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und zündete sich genüsslich eine an.

»Was hätten wir denn sonst für Möglichkeiten, Katja? Sie ist ein Mensch, was sollten wir mit der schon anfangen?«

Das alles war nicht einmal schrecklich. Sondern ein Traum, ein Albtraum … und Natascha verhielt sich wie in einem Traum. Mit einer abrupten Bewegung riss sie der jungen Frau die kostbare Flasche aus der Hand und stürzte zur Tür.

Etwas warf sie zurück. Als sei sie gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Natascha schrie auf und fiel vor der Kräuterfrau zu Boden, während das Fläschchen ihr aus den Händen flog und unerwartet leicht an der Wand zerschlug. Eine winzige Pfütze aus einer klebrigen farblosen Flüssigkeit breitete sich auf dem Linoleum aus.

»Tigerjunges, sammel die Scherben für den Bericht ein«, sagte Garik ruhig.

Natascha fing an zu weinen.

Nein, nicht aus Angst, obwohl Gariks Ton keinen Zweifel ließ: Sie würden ihre Erinnerung löschen. In die Hände klatschen oder irgendwas andres tun – und sie löschen. Danach würde sie auf der Straße stehen, in der felsenfesten Überzeugung, die Tür zur Wohnung der Kräuterfrau sei für sie verschlossen geblieben.

Sie weinte und beobachtete, wie auf dem dreckigen Boden ihre Liebe zerfloss.

Durch die offene Tür stürmte jemand vom Hausflur herein. »Kinder, wir kriegen Besuch!«, hörte Natascha eine alarmierte Stimme, drehte sich aber nicht einmal um. Wozu auch? Sie würde ja sowieso alles vergessen. Alles würde sich zerschlagen, in spitzen Scherben zerstieben, im Schmutz zerfließen.

Für immer.