Um für eine angemessen dramatische Beleuchtung dieser Geschichte zu sorgen, habe ich, wie ich gern zugebe, hier und da ein bisschen an den Mondphasen herumgeschoben. Der geneigte Leser darf aber versichert sein, dass ich hinterher alles wieder zurechtgerückt habe.
Ein Buch zu schreiben ist, abgesehen von vielem anderem, auch eine lange Reise mit guten Freunden, eine Art Pilgerfahrt. Wir sind uns unterwegs begegnet, haben uns zwischendurch wieder getrennt, haben zusammen gegessen, uns Geschichten und Witze erzählt und einander unsere Vorstellungen und Meinungen mitgeteilt. Daher sind auch meine Freunde in den Stoff dieses Romans mit eingewoben.
Mein herzlicher Dank gilt Dr. John Harland und Janet Harland, denen dieses Buch gewidmet ist – für ihre langjährige Freundschaft und ihre zahllosen wunderbaren Anregungen.
Mein Dank gebührt auch Nora und Don Ivey, die mir nicht nur ihre Gestfreundschaft gewährt, sondern persönlich dafür gesorgt haben, dass einer meiner lebenslang gehegten Träume in Erfüllung ging.
Ich danke meinen Lektoren: Bill Massey von Orion Books in London, Kate Miciak von Random House in New York sowie Kristin Cochrane von Doubleday Canada in Toronto. Ein besonderer Dank geht an Loren Noveck und Connie Munro von Random House New York, meine Schlussredakteurinnen, die unauffällig hinter den Kulissen schuften und viel von der Arbeit übernehmen, für die ich anschließend die Lorbeeren ernte.
Ich danke Denise Bukowski, meiner Agentin, und Susan Morris von der Bukowski Agency, die furchtlos und tüchtig mit dem ganzen Drumherum jonglieren.
Ich danke Brad Martin, CEO von Random House Canada, für sein anhaltendes Vertrauen.
Ein Dank an Susan Corcoran und Kelle Ruden von Random House New York sowie an Sharon Klein von Random House Toronto für ihre phänomenale Unterstützung.
An Natalie Braine, Jade Chandler, Juliet Ewers, Jessica Purdue und Helen Richardson von Orion Books, London, die mir viele Sorgen abgenommen haben.
An Jennifer Herman und Michael Ball, die dafür gesorgt haben, dass die Meilen nur so dahinflogen, und die mich stets wohlbehalten abgeliefert haben.
An meinen alten Freund Robert Nielsen von Potlatch Publications, der einige meiner frühesten Prosaversuche veröffentlicht hat und sich genauso über unser Wiedersehen gefreut hat wie ich.
An Ted Barris, Autor und langjähriger Freund, dessen zielstrebige Tatkraft mich stets aufs Neue inspiriert.
An Marion Misters von Sleuth of Baker Street in Toronto, und Wendy Sharko von The Avid Reader in Cobourg, die mich erneut in meiner Heimatstadt willkommen geheißen haben.
An Rita und Hank Schaeffer, die mich in Montreal verwöhnt haben.
An Andreas Kessaris vom Paragraphe Bookstore in Montreal.
An die Random House-»Ladies von Westminster«: Cheryl Kelly, Lori Zook, Sherri Drechsler, Pam Kaufman, Judy Pohlhaus, Camille Marchi, Sherry Virtz, Stacey Carlinia, Emily Bates, Amiee Wingfield und Lauren Gromlowicz, in deren Gesellschaft Lesen und Lachen kein Ende fanden.
An Kim Monahan, Randall Klein und David Weller von Random House in New York City.
Vielen Dank auch Tony Borg, Mary Rose Grima, Dr. Joe Rapa, Doris Vella und Dr. Raymond Xerri, denen vermutlich gar nicht recht bewusst ist, was sie alles für mich getan haben. Ich werde ihnen die vielen guten Taten und Liebenswürdigkeiten während der Arbeit an diesem Buch nie vergessen.
Mein Dank geht auch an Mary Jo Anderson, Stan Ascher, Andrea Baillie, Tim Belford, Rebecca Brayton, Arlene Bynon, Stephen Clare, Richard Davies, Anne Lagace Dowson, Mike Duncan, Vanessa Gates, Kathleen Hay, Andrew Krystal, Sheryl MacKay, Hubert O’Hearn, Mark Perzel, David Peterson, Ric Peterson, Craig Rintoul, M.J. »Mike« Stone, Scott Walker, Lisa Winston und Carolyn Yates, die mir vieles leicht machten, weil sie die richtigen Fragen stellten.
An Skip Prichard und George Tattersfield von der Ingram Book Company in La Vergne, Tennessee, und an Claire Tattersfield, die mir die Ehre erwies, die Schule zu schwänzen, damit ich ihr Buch signieren konnte, sowie an Robin Glennon für die Ausrichtung eines denkwürdigen Tages.
An meine Schriftstellerkollegen Annabel Lyon, Michael McKinley, Chuck Palahniuk und Danielle Trussoni dafür, dass sie mich auf einem Teil des Weges begleitet haben.
An Paul Ingram von Prairie Lights Books in Iowa City, Iowa, und an Wes Caliger. Obwohl er noch am Tag vor meiner Ankunft Präsident Obama unterhalten musste, nahm Paul mich so herzlich auf, wie es sich ein Schriftsteller nur wünschen kann.
An meinen »bösen Zwilling« Barbara Peters von The Poisened Pen in Scottsdale, Arizona, die immer wieder die erstaunlichsten Handlungseinfälle auf meiner Mailbox hinterlässt.
Im Gedenken an meinen guten Freund David Thompson von Murder by the Book in Houston, Texas, dessen viel zu früher Tod im September 2010 der Krimiwelt einen ihrer Eckpfeiler geraubt hat. David war bekannt für sein enzyklopädisches Wissen im Bereich Kriminalliteratur und wurde sowohl von Autoren wie von Lesern sehr geschätzt.
Ich danke Davids Frau, McKenna Jordan von Murder by the Book, und McKennas Mutter, Brenda Jordan, für ihre unzähligen Gefälligkeiten.
Dank an Barb Hudson, Jennie Turner-Collins und Michael Fraser von Joseph-Beth Booksellers in Cincinnati, Ohio, sowie an Kathy Tirschek, die mich immer dort hinbrachte, wo ich hinmusste.
Liebe Grüße an die Brysons: Jean, Bill, Barbara, John, Peter und David, die immer für mich da waren.
An die Ball Street Gang: Bob und Pat Barker, Lillian Barker Hoselton, Jane McCaig, Jim Thomas und das Ehrenmitglied Linda Hutsell-Manning: nach einem halben Jahrhundert wiedervereint. Thomas Wolfe hat sich geirrt: Es führt doch ein Weg zurück.
An Evelyn und Leigh Palmer sowie an Robert Bruce Thompson, der mir in chemischen Fragen geholfen hat. Alle verbliebenen Irrtümer nehme ich natürlich auf meine Kappe.
Außerdem stehe ich zumindest teilweise in der Schuld der Bücher, die mich zur Erfindung der Humpler-Sekte inspiriert haben: History and Antiquities of Dissenting Churches and Meeting Houses, in London, Westminster, and Southwark; Including the Lives of Their Ministers, from the Rise of Nonconformism to the Present Time, Walter Gibson, London, 1814, und The History of Baptism, Robert Robinson, Boston, 1817.
Und schließlich, wie immer, in Liebe meiner Frau Shirley, die mir den Rücken freihält, indem sie alles, wozu ich nicht komme, mit Freuden erledigt, ganz abgesehen davon, dass sie auch noch mein persönlicher Computerservice ist. Niemand macht ausgeleierte Tastaturen geschickter wieder flott und entfernt dabei auch gleich die Krümel.
Alan Bradley
Als Übersetzer bedanken wir uns ganz herzlich bei Herrn Dr. Henning Böckemeier, der uns als Krimifan und Doktor der Chemie bei den kniffligen (und auch weniger kniffligen) chemischen Experimenten und Erläuterungen Flavias mit geballtem Fachwissen aus der Patsche geholfen hat. Sollte sich doch noch der eine oder andere Chemiefehler eingeschlichen haben, so ist er garantiert auf unserem eigenen Mist gewachsen.
Gerald Jung und Katharina Orgaß
Du machst mir Angst«, murmelte die Wahrsagerin. »Meine Kristallkugel war noch nie so dunkel. «
Sie umfasste die Kugel mit beiden Händen, als sollte ich nicht sehen, welche schauerlichen Dinge darin herumwaberten. Meine Kehle schnürte sich zu, als hätte mir jemand Eiswasser in den Mund gegossen.
Am Rand des Tisches mit der schwarzen Samtdecke flackerte eine schlanke Kerze, deren fahles Licht sich in den baumelnden Messingohrringen der Wahrsagerin brach und in den finsteren Winkeln des Zeltes verlor.
Schwarze Haare, schwarze Augen, schwarzes Kleid, rot geschminkte Wangen, roter Mund und eine Stimme, wie man sie nur bekommt, wenn man eine halbe Million sehr starke Zigaretten geraucht hat.
Als wollte sie meinen Verdacht bestätigen, wurde die Frau urplötzlich von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt und rang verzweifelt nach Luft. Es hörte sich an, als hätte sich ein großer Vogel in ihren Lungen verfangen, der jetzt wild flatternd zu entkommen versuchte.
»Soll ich Hilfe holen?«, fragte ich.
Ich war ziemlich sicher, dass ich noch vor zehn Minuten Dr. Darby auf dem Kirchhof gesehen hatte. Der Doktor war auf der Kirmes umhergeschlendert und hatte an jedem Stand ein Schwätzchen gehalten. Aber ehe ich aufstehen konnte, hatte die Wahrsagerin ihre braune Hand auf meine gelegt.
»Nein«, sagte sie, »nicht nötig. Das habe ich öfters.«
Sie hustete wieder.
Ich wartete geduldig ab, bis sie damit fertig war.
»Wie alt bist du?«, fragte sie schließlich. »Zehn? Zwölf?«
»Elf«, erwiderte ich. Sie nickte bedächtig, als hätte sie es ohnehin schon die ganze Zeit gewusst.
»Ich sehe … einen Berg«, fuhr sie erstickt fort, »… und das Gesicht … der Frau, die du einmal sein wirst.«
Im Zelt war es warm und stickig, aber mir gefror das Blut in den Adern. Bestimmt hatte die Wahrsagerin in ihrer Kristallkugel Harriet erblickt!
Harriet ist meine Mutter. Sie kam beim Bergsteigen ums Leben; ein Unfall, als ich noch ganz klein war.
Die Wahrsagerin drehte meine Hand um und bohrte ihren Daumen in meine Handfläche. Meine Finger spreizten sich unwillkürlich und krümmten sich dann krallenartig.
Dann ergriff die Frau meine Linke. »Mit dieser Hand bist du auf die Welt gekommen«, verkündete sie, wobei sie nur einen flüchtigen Blick in die Handfläche warf und dann meine Rechte nahm. »Und diese Hand verdankst du dir selbst.«
Sie betrachtete die Handfläche skeptisch im flackernden Kerzenschein. »Der unterbrochene Stern auf deinem Mondberg verweist auf einen wachen Verstand, der sich gegen sich selbst wendet – einen Verstand, der auf Wegen der Finsternis wandelt.«
Nicht unbedingt das, was ich hören wollte.
»Erzählen Sie mir von der Frau, die Sie auf dem Berg gesehen haben. Die Frau, die ich mal sein werde.«
Hustend zog sich die Wahrsagerin das bunte Tuch um die Schultern, als müsste sie sich vor einem unsichtbaren bitterkalten Wind schützen.
»Bestreich meine Handfläche mit Silber.« Sie hielt mir die schmuddelige Hand hin.
»Aber draußen auf dem Schild steht, dass es einen Shilling kostet, und den habe ich schon bezahlt«, wandte ich ein.
»Botschaften aus dem Jenseits kosten extra, weil sie sehr viel Kraft kosten.«
Am liebsten hätte ich schallend gelacht. Für wen hielt sich die alte Hexe? Andererseits hatte sie Harriet in ihrer Kugel erblickt, und ich wollte auf keinen Fall die Gelegenheit verschenken, womöglich ein paar Worte mit meiner verstorbenen Mutter wechseln zu können.
Ich kramte meinen letzten Shilling heraus, und als ich ihr die Münze in die Hand drückte, funkelten ihre Augen so lebhaft wie die Knopfaugen einer Krähe.
»Sie will nach Hause … die Frau … friert und will nach Hause. Du sollst ihr dabei helfen.«
Ich sprang auf und knallte dabei mit den nackten Knien gegen die Tischunterseite. Die lose aufliegende Tischplatte schwankte und rutschte weg, die Kerze fiel in die auf dem Boden gestauten staubigen schwarzen Vorhänge.
Schon stieg ein gekräuselter Rauchfaden auf, die Flamme wurde blau, dann rot und schließlich orange. Entsetzt sah ich zu, wie das Feuer die Stofffalten erfasste.
Im Nu stand das ganze Zelt in Flammen.
Ich wünschte, ich hätte die Geistesgegenwart besessen, der Wahrsagerin ein nasses Tuch über das Gesicht zu werfen und sie ins Freie zu zerren; stattdessen sprang ich durch den Zelteingang nach draußen wie eine Raubkatze durch einen brennenden Reifen, rannte los und blieb erst hinter dem Kokosnussstand wieder stehen, wo ich hinter dem Leinwandvorhang keuchend nach Luft schnappte.
Jemand hatte ein altes Grammophon aufgezogen, aus dem die Stimme von Danny Kaye über den Kirchhof schallte, auch wenn sie durch den engen Schlund des bemalten Trichters jämmerlich näselnd klang:
»Oh I’ve got a lov-ely bunch of coconuts.
There they are a-standing in a row …«
Als ich mich nach dem Zelt der Wahrsagerin umdrehte, sah ich, wie Mr Haskins, der Totengräber, und ein anderer Mann, den ich nicht kannte, einen Zuber Wasser mitsamt den Äpfeln zum Apfelschnappen drin in die Flammen kippten.
Halb Bishop’s Lacey begaffte die schwarze Rauchsäule, riss die Augen weit auf und schlug die Hände vor den Mund, aber fast alle standen untätig da.
Dr. Darby führte die Wahrsagerin schon zum Erste-Hilfe-Zelt der Johanniter. Die gebeugte Gestalt der Alten wurde unablässig von Hustenanfällen geschüttelt. Wie klein sie bei Tageslicht aussieht, dachte ich, und wie blass.
»Ach da steckst du, du widerliche kleine Zecke. Wir haben dich schon überall gesucht!«
Das war Ophelia, die ältere meiner beiden Schwestern. Feely war siebzehn und hielt sich für eine zweite Jungfrau Maria, allerdings wäre ich jede Wette eingegangen, dass Maria nicht dreiundzwanzig Stunden am Tag damit verbracht hatte, sich im Spiegel zu begaffen und mit einer Pinzette an ihren Augenbrauen herumzufuhrwerken.
Bei Feely ging man am besten sofort zum Gegenangriff über. »Nenn mich gefälligst nicht ›Zecke‹, blöde Kuh! Wie oft muss dir Vater noch sagen, dass sich das nicht gehört?«
Feely wollte mich am Ohr ziehen, aber ich duckte mich und wich ihr aus. Im Ausweichen war ich richtig gut – eine aus der Not geborene Fähigkeit.
»Wo ist Daffy?«, fragte ich in der Hoffnung, ihre boshafte Aufmerksamkeit von mir abzulenken.
Daffy ist meine andere Schwester. Sie ist zwei Jahre älter als ich und mit dreizehn schon eine ausgewachsene Foltergehilfin.
»Die frisst gerade wieder ein Buch, was sonst?« Feely deutete mit dem Kinn auf ein paar in Hufeisenform aufgestellte Flohmarkttische, auf denen der Frauenverein und der Altardienst von St. Tankred mit vereinten Kräften einen Riesenstapel aus gebrauchten Büchern und allerlei Haushaltskram aufgetürmt hatten.
Feely schien die qualmenden Überreste des Wahrsagerinnenzeltes gar nicht wahrgenommen zu haben. Wie üblich hatte sie aus Eitelkeit ihre Brille zu Hause gelassen, aber es war genauso gut möglich, dass sie der Vorfall einfach nicht interessierte, so wie alle anderen praktischen Dinge.
»Guck mal!« Sie hielt sich zwei schwarze Ringe an die Ohren. Sie musste einfach immer angeben. »Pariser Jett – aus Lady Trotters Nachlass. Glenda hat sich gefreut, dass sie noch einen Sixpence dafür bekommen hat.«
»Zu recht«, sagte ich. »Pariser Jett ist schließlich nur Glas.«
Was auch stimmte. Kürzlich hatte ich in meinem Chemielabor eine hässliche viktorianische Brosche eingeschmolzen und festgestellt, dass sie komplett aus Silikaten bestand. Feely würde es wahrscheinlich gar nicht auffallen, dass der Klunker verschwunden war.
»Englischer Jett ist viel interessanter«, fuhr ich fort. »Der besteht nämlich aus fossilen Überresten von Schuppentannen, und …«
Doch Feely schlenderte bereits weiter, denn sie hatte Ned Cropper entdeckt, den Rotschopf, der als Schankkellner im Dreizehn Erpel arbeitete und soeben mit einer gewissen muskulösen Anmut Holzstäbe nach einem Ziel warf. Mit dem dritten Stab brach er die Tonpfeife der Tante-Sally-Figur mittendurch, und Feely stand gerade rechtzeitig neben ihm, um den Preis in Empfang zu nehmen, einen Teddybären, den ihr der knallrot anlaufende Ned feierlich überreichte.
»Hast du was gefunden, das nicht ins Feuer gehört?«, fragte ich Daffy. Meine Schwester hatte die Nase in eine Buchschwarte gesteckt, die nach den Stockflecken zu schließen gut und gern eine Erstausgabe von Stolz und Vorurteil sein konnte.
Leider war das ziemlich unwahrscheinlich. Im Krieg waren ganze Bibliotheken zur Papierverwertung abgegeben worden, sodass heutzutage nicht mehr viel für den Flohmarkt übrig war. Alle Bücher, die am Ende der Sommersaison noch nicht verkauft waren, würden in der Guy-Fawkes-Nacht aus dem Keller unter dem Gemeindesaal gekarrt, auf den Dorfanger gekippt und den Flammen übergeben werden.
Mit schief gelegtem Kopf musterte ich den Stapel, den Daffy schon beiseitegelegt hatte: Reise zu den Aussätzigen in Sibirien, Plinius’ Naturgeschichte, Das Martyrium der Menschheit und die ersten beiden Bände der Geschichte meines Lebens von Giacomo Casanova – eine ausgemachte Ansammlung von Schwachsinn. Vielleicht mit Ausnahme des Plinius, der ein paar ziemlich mitreißende Aufsätze über Gifte verfasst hatte.
Ich wanderte an den Tischen entlang und fuhr mit dem Zeigefinger über die mit dem Rücken nach oben aufgereihten Bücher: Ethel M. Dell, E. M. Delafield, Warwick Deeping …
Mir war früher bereits aufgefallen, dass die Namen der meisten historischen Giftmischer mit einem C anfingen – hier wiederum standen lauter Autoren mit D. War ich einem der großen ungelösten Rätsel des Universums auf der Spur?
Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich: Dickens … Doyle … Dumas … Dostojewski – ihre Werke hatte ich alle schon mal gesehen, meistens in Daffys Händen.
Daffy wollte später selbst Schriftstellerin werden. Mit einem Namen wie Daphne de Luce konnte sie da eigentlich nichts falsch machen!
»He, Daf!«, rief ich. »Stell dir vor, was ich eben …«
»Klappe!«, blaffte sie. »Du sollst mich doch nicht ansprechen, wenn ich lese.«
Wenn ihr danach war, konnte meine Schwester ein richtiger Stinkstiefel sein.
Das war nicht immer so gewesen. Als ich noch klein war, hatte Vater Daffy dazu abgestellt, sich mein Nachtgebet anzuhören, und sie hatte mir beigebracht, das Gebet in Quatschsprache aufzusagen. Dabei hatten wir uns natürlich in den Daunenkissen gewälzt, bis wir vor Lachen fast geplatzt wären.
»Gobod sebegne Vabater, Febeely, Mibiss Mubullebet ubund Dobogger – Abamen!«
Doch im Lauf der Jahre hatte sich unser Verhältnis verändert.
Ein bisschen gekränkt griff ich nach einem Buch, das ganz oben auf den anderen lag: Ein Spiegel für London und ganz Engelland. Das war doch was für Feely – schließlich ging es um einen Spiegel. Vielleicht sollte ich das Buch kaufen und in den Schrank legen, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich eines Tages das Bedürfnis haben würde, Feely etwas zu schenken oder sie mit einer Friedensgabe zu besänftigen. Es gibt ja nichts, was es nicht gibt, dachte ich.
Als ich in dem Band blätterte, stellte ich fest, dass es kein Roman war, sondern ein Theaterstück: lauter Dialoge. Eine Person namens Adam redete mit einem Clown:
»… ein Krug Bier ohne ein Frauenzimmer, meiner Treu, das wär ja wie ein Ei ohne Salz oder ein Hering ohne Senf.«
Wenn das nicht passt!, dachte ich. Ned streichelte meiner Schwester gerade den Nacken, und Feely tat, als bemerkte sie es nicht. Mehr als einmal hatte ich Ned im Hinterhof des Dreizehn Erpel sitzen sehen, vor sich einen Krug Bier und neben sich Mary Stoker, die Tochter des Wirts. Ohne einen Krug Bier und weibliche Gesellschaft wirkte Ned geradezu unvollständig. Warum war mir das nicht schon eher aufgefallen? Vielleicht war es mir ergangen wie Doktor Watson in Ein Skandal in Böhmen: Ich hatte alles gesehen, aber nichts begriffen. Darüber musste ich irgendwann mal nachdenken.
»Warst du das?«, fragte Daffy unvermittelt. Sie deutete auf das niedergebrannte Wahrsagerinnenzelt, vor dem immer noch ein Grüppchen Schaulustiger stand. »Das sieht mir doch ganz nach Flavia de Luce aus.«
»So ein Pech«, konterte ich. »Eigentlich wollte ich dir helfen, deine Bücher heimzutragen, aber jetzt kannst du sie allein schleppen.«
»Komm schon!« Sie zog mich am Ärmel. »Hab ein Einsehen. Wenn du so hässlich zu mir bist, erklingt in meiner Brust Mozarts Requiem, und mir steigen die Tränen in die Augen.«
Ich spazierte pfeifend davon, aber ihre Unverschämtheit sollte sie noch büßen.
»Aua! Lass mich los, Brookie! Du tust mir weh!«
Das Wehgeschrei kam von der Münzwurfbude, und als ich Colin Prouts Stimme erkannte, blieb ich stehen und spitzte die Ohren.
Weil ich mit dem Rücken zur Kirchhofmauer stand und von der Plane der Losbude verdeckt wurde, konnte ich ungehindert lauschen, ja, durch eine Lücke im Gerümpel hinter der Bude konnte ich die Szene sogar ausgezeichnet beobachten.
Colin wand sich an Brookie Harewoods ausgestrecktem Arm wie ein Riesenfisch mit Brille. Sein Nasenfahrrad saß schief, die blonden Haare waren zerzaust wie eine Heumiete, und er riss nach Atem ringend den wulstlippigen Mund auf.
»Lass mich los! Ich hab doch nix gemacht!«
Mit der anderen Hand hatte Brookie ihn am durchhängenden Hosenboden gepackt und wirbelte ihn jetzt im Kreis herum, damit er sich das qualmende Zelt ansehen konnte.
»Wer soll’s denn sonst gewesen sein, hä?« Brookie schüttelte den Jungen im Takt der Worte kräftig durch. »Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Und wo Feuer ist, sind auch Streichhölzer. Und wo Streichhölzer sind, ist auch Colin Prout nicht weit.«
Colin versuchte in seine Hosentasche zu greifen. »Zähl sie doch nach! Sind noch genauso viele drin wie gestern. Drei Stück. Ich hab kein einziges verbraucht!«
Brookie ließ ihn los, und Colin plumpste zu Boden, wälzte sich auf den Rücken, stützte sich auf die Ellenbogen, förderte aus seiner Hose eine Schachtel Streichhölzer zutage und hielt sie seinem Peiniger dramatisch fuchtelnd entgegen.
Brookie reckte witternd die Nase, als müsste er sich orientieren. Mit der verdreckten Mütze, den Gummistiefeln, dem langen Mantel und dem Wollschal, den er trotz des sommerlichen Wetters wie eine scharlachrote Schlange um seinen Stiernacken geschlungen hatte, glich er einem Rattenfänger aus einem Roman von Dickens.
Colin rappelte sich auf, und die beiden schlenderten davon, wobei Colin sich den Staub abklopfte und betont lässig die Achseln zuckte, als hätte ihm das Ganze gar nichts ausgemacht.
Wahrscheinlich hätte ich mich zu erkennen geben und gestehen sollen, dass ich für das Feuer verantwortlich war. Ich hätte verlangen sollen, dass Brookie den Jungen laufen ließ, und wenn er sich geweigert hätte, hätte ich den Vikar holen oder einen anderen Erwachsenen zu Hilfe rufen können. Aber das tat ich nicht. Weil ich mich nämlich schlicht und einfach vor Brookie Harewood fürchtete.
Brookie war der Tunichtgut von Bishop’s Lacey.
»Brookie Harewood?«, hatte Feely entrüstet ausgerufen, als Mrs Mullet eines Tages vorgeschlagen hatte, Brookie könne Dogger doch beim Unkrautjäten und beim Trimmen der Hecken von Buckshaw helfen. »Der Kerl ist ein Mutterschnorrer und Schmarotzer – kommt nicht in Frage, dass so jemand hier herumstrolcht. Womöglich tut er uns was an!«
»Was ist ein Mutterschnorrer?«, wollte ich wissen, als Feely aus der Küche stolziert war.«
»Frag mich nicht, Miss Flavia«, hatte Mrs M geantwortet. »Seine Mutter ist jedenfalls Malerin drüben in Malden Fenwick. «
»Malerin? Malt sie Wände an, oder malt sie Bilder?«
»Wände? Gott bewahre! Nein, sie malt Bilder. Vornehme Herrschaften zu Pferde und all so was. Vielleicht malt sie dich eines schönen Tages ja auch noch mal. Zusammen mit Miss Ophelia und Miss Daphne.«
Daraufhin hatte ich nur verächtlich geschnaubt und das Weite gesucht. Falls irgendwann jemand mein Porträt malen sollte, mit Ölfarbe und Firnis und allem Drum und Dran, dann natürlich in meinem Chemielabor bei der Arbeit!
Ich würde, umgeben von Reagenzgläsern, Vakuumglocken und Erlenmeyerkolben, von meinem Mikroskop aufschauen, so wie mein längst verstorbener Großonkel Tarquin de Luce auf dem Porträt in der Bildergalerie von Buckshaw. Und wie Onkel Tar würde ich ein verärgertes Gesicht machen. Aber Pferde und vornehme Herrschaften – nein danke.
Ein letztes Rauchwölkchen hing noch über dem Kirchhof, aber die meisten Neugierigen waren weitergezogen. Der schwelende Umriss des Wahrsagerinnenzeltes war deutlich zu erkennen. Mich interessierte jetzt aber vielmehr das, was hinter dem versengten Kreis im Gras stand: ein kunterbunt bemalter Zigeunerwagen.
Der buttergelbe Wagen hatte blutrote Fensterläden, und die gewölbte Verkleidung ließ mich an einen Brotlaib denken, der über den Rand der Backform quillt. Von den Rädern mit den schmalen Speichen bis zum schiefen Blechschornstein, von den Bogenfenstern bis zu den kunstvoll geschnitzten Türrahmen sah der Wagen aus wie einem Märchentraum entsprungen. Um das romantische Gesamtbild abzurunden, graste ein altes Pferd mit Senkrücken zwischen den Grabsteinen am anderen Ende des Kirchhofs.
Es war ein typisches Zigeunerpferdchen, wie man es manchmal auf den Fotos in Country Life sah. Mit den zottigen Hufen, dem struppigen Schwanz und der langen Mähne, die ihm ins Gesicht hing (und unter deren Fransen es neckisch-verschämt hervorschaute wie Veronica Lake), wirkte das Tier wie eine Kreuzung aus Clydesdale-Kaltblut und Einhorn.
»Flavia, meine Liebe«, sprach mich jemand von hinten an. Es war Denwyn Richardson, der Vikar von St. Tankred. »Dr. Darby wäre dir sehr zu Dank verpflichtet, wenn du rasch loslaufen und uns aus der Küche einen Krug kalte Limonade holen würdest.«
Hoffentlich bekam er ein schlechtes Gewissen, als er mein nicht sonderlich begeistertes Gesicht sah. Warum werden elfjährige Mädchen eigentlich immer wie Dienstboten herumgescheucht?
»Ich würde ja selber gehen, aber der gute Doktor fürchtet, dass mein Talar die alte Frau womöglich einschüchtert, und deswegen …«
»Aber gern, Herr Vikar«, rief ich erfreut – und meinte es auch so. Mein kleiner Auftrag würde mir Zutritt zum Erste-Hilfe-Zelt verschaffen.
Im Handumdrehen stand ich in der Küche des Gemeindesaals (»Verzeihung, aber es handelt sich um einen medizinischen Notfall!«) und war mit einem Krug eisgekühlter Limonade wieder draußen. Wieselflink schlüpfte ich mit meiner Beute ins schummrige Zelt der Johanniter und goss Limonade in einen angeschlagenen Becher.
»Hoffentlich ist Ihnen nichts passiert«, sagte ich und reichte der Wahrsagerin den Becher. »Natürlich bezahle ich Ihnen das Zelt. Die Sache tut mir wirklich leid.«
»Lass gut sein«, sagte Dr. Darby. »Sie sagt, es war ein Unfall. «
Beim Trinken beobachtete mich die Alte argwöhnisch mit rot geränderten Augen.
»Dr. Darby …« Der Vikar streckte den Kopf durch den Zelteingang wie eine Schildkröte, damit man seinen Pastorenkragen nicht sah. »Wenn Sie vielleicht einen Augenblick … Mrs Peasley von der Kegelbahn fühlt sich ganz komisch, meint sie.«
»Komme schon.« Der Doktor griff sich seine schwarze Tasche. »Erholen Sie sich erst mal von dem Schreck, altes Mädchen«, wandte er sich an die Wahrsagerin. Zu mir sagte er: »Bleib bei ihr. Ich bin gleich wieder da.«
»Entweder es ist überhaupt nichts los …«, sagte er beim Hinausgehen halblaut vor sich hin.
Erst stand ich eine Weile betreten da, musterte meine Schuhspitzen und überlegte dabei fieberhaft, was ich sagen sollte. Ich traute mich nicht, der alten Frau in die Augen zu sehen.
»Ich bezahle Ihnen das Zelt«, wiederholte ich. »Auch wenn es tatsächlich ein Unfall war.«
Ein Hustenanfall packte sie, und ich musste mir eingestehen, dass der Brand ihren ohnehin strapazierten Lungen nicht eben gut bekommen war. Verlegen wartete ich ab, bis sie zu japsen aufhörte.
Anschließend trat wieder peinliche Stille ein. »Die Frau …«, sagte die Alte schließlich, »die Frau auf dem Berg. Wer ist das?«
»Meine verstorbene Mutter. Sie hieß Harriet de Luce.«
»Und der Berg?«
»Irgendwo in Tibet, glaube ich. Sie ist vor zehn Jahren beim Bergsteigen verunglückt. Zu Hause auf Buckshaw reden wir nicht oft darüber.«
»Buckshaw sagt mir nichts.«
»Da wohne ich. Südlich vom Dorf.«
»Aha!« Sie sah mich mit funkelnden Augen an. »Das große Haus. Mit den beiden nach hinten geklappten Flügeln.«
»Genau. Ganz in der Nähe der Flussbiegung.«
»Dort hab ich schon mal Rast gemacht. Aber ich wusste nicht, wie sich der Ort nennt.«
Rast gemacht? Ich staunte.
»Die Dame hat mir und meinem Rom erlaubt, unser Lager in einem Wäldchen am Fluss aufzuschlagen. Mein Rom brauchte dringend eine Verschnaufpause.«
»Die Stelle kenne ich!«, rief ich. »Sie heißt hier bei allen nur ›das Gehölz‹. Dort wachsen lauter Holunderbüsche und …«
»Beeren.«
»Moment mal«, sagte ich. »Welche Dame denn? Seit Harriets Tod wohnt dort keine Dame mehr.«
Die Alte redete weiter, als hätte sie mich gar nicht gehört.
»Die Dame war sehr schön. Sie sah dir ähnlich.« Sie betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen. »Jetzt, wo ich dich richtig sehe.«
Ihre Miene verdüsterte sich. Bildete ich es mir nur ein, oder sprach sie immer lauter?
»Aber dann hat man uns fortgejagt«, sagte sie zornig. »Es hieß, wir wären nicht erwünscht. In dem Sommer ist Johnny Faa gestorben.«
»Johnny Faa?«
»Mein Rom. Mein Mann. Mitten auf der Straße ist er umgefallen, hat die Hand an die Brust gedrückt – so – und den Gadjo verflucht, der uns weggejagt hat.«
»Wie hieß denn der Mann?« Ich fürchtete mich schon vor der Antwort.
»Hab ihn nicht gefragt. Aber steif wie ein Ladestock auf Stelzen war er, dieser Teufel!«
Das konnte nur Vater gewesen sein! Nach Harriets Tod hatte er die Zigeuner von unserem Grundstück vertrieben.
»Und Sie glauben, dass Johnny Faa … also Ihr Mann … deswegen gestorben ist?«
Die Alte nickte tieftraurig. »Weil er sich nicht ausruhen konnte?«
»Ja. Und ich brauche jetzt auch Ruhe, hat der Doktor gesagt. «
Ich hatte eine Eingebung, und schon platzte ich damit heraus: »Sie können doch mit nach Buckshaw kommen! Bleiben Sie, so lange Sie wollen. Das geht bestimmt … Versprochen! «
Mir war natürlich klar, dass es einen Riesenkrach mit Vater geben würde, aber das war mir egal. Harriet hatte diesen Leuten einst Zuflucht gewährt, und ich als ihre Tochter konnte nicht anders handeln.
»Ihren Wohnwagen können wir im Gehölz unterstellen«, sagte ich. »Es braucht ja keiner zu wissen, wo Sie sind.«
Sie schaute mich verunsichert und misstrauisch an. Ich streckte ihr die Hand hin.
»Schlagen Sie ein, altes Mädchen. So ein Angebot kommt so schnell nicht wieder.« Dr. Darby war wieder ins Zelt geschlüpft und zwinkerte mir zu. Der Doktor war einer der ältesten Freunde meines Vaters, und ich wusste, dass auch er den Ärger schon vorhersah, aber er hätte der Alten nicht zugeraten, wenn er die Aussichten nicht für erfolgversprechend gehalten hätte. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen.
Er stellte seine schwarze Tasche auf den Tisch, kramte darin herum und holte eine zugekorkte Flasche heraus.
»Nehmen Sie das vorschriftsmäßig gegen Ihren Husten ein.« Er reichte der Alten die Flasche. Sie schien misstrauisch.
»Nehmen Sie schon! Wissen Sie nicht, dass es Unglück bringt, wenn man sich einem studierten Arzt widersetzt? Ich helfe Ihnen auch mit dem Pferd. Früher hatte ich auch eins.«
Er spielte mal wieder den knorrigen, altgedienten Landarzt. Demnach waren wir, medizinisch ausgedrückt, über den Berg.
Die Leute beobachteten mit gereckten Hälsen, wie uns der Doktor zum Wohnwagen geleitete. Im Nu hatte er das Pferd angeschirrt, und die Alte und ich nahmen auf dem Brett Platz, das zugleich als Türschwelle und als Kutschbock diente.
Die Alte schnalzte mit der Zunge, und die Dorfbewohner bildeten eine Gasse, als sich der Wohnwagen mit einem jähen Ruck in Bewegung setzte und dann gemächlich über den Kirchhofweg rumpelte. Von meinem Hochsitz aus blickte ich in die vielen emporgewandten Gesichter hinab, konnte aber weder Feely noch Daffy in der Menge erspähen.
Gut so, dachte ich. Höchstwahrscheinlich saßen die beiden in einer Bude und stopften sich hemmungslos mit Scones voll.