Eltern machen überall in der Welt merkwürdige Dinge: Eskimo-Väter geben ihren Neugeborenen rohes Fleisch zu essen, in Afrika tragen Mütter ihren Nachwuchs so lange auf dem Rücken, bis die Kleinen ihr Studium beendet haben, und in den USA achten Daddy und Mum jeden Morgen penibel darauf, dass die Kindergartentasche komplett gepackt ist: Taschentücher, Apfel, Schusswaffe.
Deutsche Eltern schütteln über solche Bräuche zu Recht den Kopf, aber ich kann ihnen versichern: Im Ausland versteht auch nicht jeder auf Anhieb, warum auf jedem zweiten deutschen Kombi „Laura an Bord” oder „Finn fährt mit” steht. Was wollen die Fahrzeughalter damit sagen? „Es sind Kinder im Auto – also fahrt bitte anderswo drauf?”
Deutschland gilt als sehr kinderfreundliches Land: Man bekommt Kindergeld, es gibt genügend Schulen, und Kampfhunden ist es verboten, in öffentliche Sandkästen zu kacken. Drei von vielen guten Gründen, die meine damals noch kinderlosen Eltern dazu bewogen, ihre Heimat zu verlassen und nach Deutschland auszuwandern. Sie wollten Kinder haben, und sie wollten ihren Kindern ein gutes Leben ermöglichen. Darum packten sie 1970 ihre Siebensachen und reisten von Antakya/Arsch der Welt nach Frankfurt/Main.
Meine Eltern sind Türken. Als sie in Deutschland ankamen, waren sie erst einmal schockiert. In Deutschland war alles anders als in ihrer Heimat: Es gab Kirchen statt Moscheen, die Frauen trugen keine Kopftücher, und ein Döner-Sandwich kostete zwanzigmal so viel wie in der Türkei! Wer möchte freiwillig in so einem Land leben?
Vieles war fremd, und doch blieben meine Eltern in Deutschland. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an die seltsamen Umstände, und sie waren fast zur Ruhe gekommen, als eines Tages das Leben von Edip und Besima Yanar erneut komplett auf den Kopf gestellt wurde: Am 20. Mai 1973 erblickte ich das Licht der Welt. Und ab diesem Moment war für meine Eltern nichts mehr, wie es vorher war!
Die Geburt war ziemlich traumatisch für mich. Ich kam schließlich aus einer komfortablen, behaglichen Welt, nämlich aus meiner Mutter! Die vergangenen neun Monate waren für mich wie ein traumhafter All-inclusive-Urlaub gewesen: Gleichbleibend hohe Temperaturen, ich hatte immer genug zu essen, und ich hing den ganzen Tag im Wasser rum – selbst der exklusivste Ferienclub nimmt sich dagegen wie Guantanamo aus!
Doch dann musste ich plötzlich auschecken: Es kühlte von einer Sekunde auf die andere empfindlich auf 34 Grad ab, ich sah in gleißendes Licht, und ich blickte auf fremde, maskierte Menschen! Zur Begrüßung wurde mir erst einmal kräftig auf den Hintern gehauen – willkommen in Deutschland! Aber bevor ich dem maskierten Prügelknaben seinen Klaps zurückgeben konnte, lernte ich meine Mutter kennen. Sie legte mein Gesicht auf ihre Brust, umschlang mich mit ihren Armen und lächelte verklärt. Ich wusste sofort: Falls es noch mehrere solcher weiblichen Wesen gibt, konnte diese Welt so schlecht nicht sein! Und tatsächlich durfte ich in den folgenden 37 Jahren immer wieder feststellen: Die Welt ist voll von solchen bezaubernden, weiblichen, verklärt lächelnden Wesen! Jedes Mal, wenn ich heute mein Gesicht an eine Frauenbrust schmiege, denke ich dankbar zurück an jenen 20. Mai 1973!
Mein Vater war übrigens bei der Geburt dabei. Für einen türkischen Vater war das damals alles andere als üblich. Aber er verhielt sich fantastisch und machte genau das, was für jeden deutschen Vater im Kreißsaal selbstverständlich ist: Er übergab sich und fiel in Ohnmacht!
Ich war nicht das einzige Kind, das an diesem Tag in jenem Krankenhaus geboren wurde: Im benachbarten Kreißsaal kam mein Kumpel Hakan zur Welt. Er ist nur fünf Minuten jünger als ich. Hakans Geburt war allerdings wesentlich komplizierter als meine. Die anwesenden Ärzte, Schwestern und Hebammen werden diesen Tag wohl nie vergessen, denn etwas so Ungewöhnliches hatte bis dahin noch niemand erlebt: Als der Arzt mit der Geburtszange kam, soll eine hohe Stimme aus Hakans Mutter herausgerufen haben: „Isch komm her ned raus!”
Hakan und Kaya – zwei von vielen türkischen Kindern, die damals in Frankfurt das Licht der Welt erblickten. Und wir sind froh, dass sich unsere Eltern für klassische türkische Namen entschieden haben. Wenn sie nach den Modenamen 1973 gegangen wären, hätte ich „Michael Yanar”, „Markus Yanar” oder „Thomas Yanar” geheißen – wenn nicht sogar „Nicole Yanar”!
Alle Eltern werden es bestätigen: Ein Kind verändert das Leben komplett! Das galt vor allem für meinen Vater. Spätestens als mein Bruder und ich auf der Welt waren, kam er überhaupt nicht mehr mit! Er musste zwangsläufig Kontakt zu anderen Eltern aufnehmen, und es war für ihn eine verkehrte Welt, die er da kennenlernte – eine Welt, in der Väter die Kinder wickelten und die Mütter die Schnauzbärte trugen!
In dieser verdrehten Welt versuchte mein Vater, für sich und seine Kinder etwas von dem zu bewahren, das ihm vertraut war, und das war seine Sprache: Er wollte mit uns Kindern zu Hause Türkisch sprechen. Das funktionierte nicht besonders gut, denn mein Türkisch war immer schon schlecht. Lange Zeit dachte ich, „Ankara” wäre die Bezeichnung für eine regenfeste Outdoor-Jacke mit Kapuze!
Mein Vater schimpfte oft mit mir: „Kaya, die Türkei ist deine Heimat. Du bist Türke, du bist kein Deutscher! Sprich Türkisch!”
„Ja, Papa!”
„DAS HEISST: EVET, BABA!”
„Okay, Papa.”
„AAAAAAAAAH!”
Wenn meine Mutter nicht dazwischengegangen wäre, hätte ich mir wahrscheinlich eine international verständliche Ohrfeige eingefangen!
Obwohl mein Vater genau wusste, dass ich kaum Türkisch verstand, schimpfte er oft auf Türkisch mit mir: „Eschol eschek!”
Und ich stand nur da: „Hund? Katze? Maus? …. Mama, was sagt der? Kannst du das übersetzen?”
Meine Mama übersetzte es mir: „Kaya, er sagt, du seist der Sohn eines Esels!” Ich empfand das damals schon als ungewöhnliche Beschimpfung – vor allem wenn sie aus dem Mund des Vaters vom Sohn eines Esels kommt!
Als mein Vater bemerkte, dass mein Türkisch selbst für seine Beschimpfungen nicht reichte, probierte er es auf Deutsch – komischerweise war das für mich fast genauso schwer zu verstehen!
Denn mein Vater war zwar ein studierter und gebildeter Mann, aber mit der deutschen Sprache hat er sich immer schwergetan. Und ich kann es verstehen: Wer nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen ist, kann sie nur sehr schwer erlernen. Das ist nicht so einfach wie Englisch: Da hat man das Schwierigste hinter sich, wenn man die Worte „Yes”, „No”, „Coke” und „Fuck” unfallfrei aufsagen kann! Zumindest bin ich als Schüler mit diesem Vokabular ohne Probleme drei Wochen durch England gekommen.
Aber für Menschen, die nicht in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, ist die deutsche Sprache, wie mein Vater sagen würde: „Arsch!” Mein Vater konnte so schlecht Deutsch sprechen, dass er mich noch nicht mal richtig auf Deutsch beleidigen konnte! Wenn er es trotzdem versuchte, musste ich immer lachen – was ihn natürlich noch mehr verärgerte!
Wenn ein Deutscher sein Gegenüber beleidigen möchte, dann sagt er „Trottel”, „Depp” oder „Blödmann”. Mein Vater konnte das nicht. Wenn er mich beleidigen wollte, sagte er: „Was gibt’s, du Arschkopf?”
„Arschkopf.” Großartig! Poesie pur! Und natürlich zum Schreien komisch! Am liebsten würde ich meinem Vater für „Arschkopf” den deutschen Comedy-Preis verleihen! Wir zwei „Arschköpfe”, also mein Bruder und ich, haben meinen Vater oft extra geärgert, nur damit wir etwas zu lachen hatten: „Kommt heute was Lustiges im Fernsehen, Erkan?”
„Nö, Kaya.”
„Okay, dann lass uns Papa ärgern!”
Mein Vater war unglaublich streng – aber in Verbindung mit „Arschkopf” wurde jede seiner Drohungen zur Lachnummer. Also haben wir ihn mit seinem schlechten Deutsch verarscht – das war unsere Rache für seine Strenge: „Papa, darf ich ins Kino?”
„Ich geb dir gleich Kino!”
„Danke, dass du mir gleich ein ganzes Kino gibst!”
An einem anderen Tag probierte mein Bruder die gleiche Masche – mit Erfolg: „Papa, kriege ich ein Fahrrad?”
„Ich geb dir gleich Fahrrad!”
„Das muss nicht gleich sein – das reicht auch Weihnachten!”
Irgendwann hat mein Vater uns durchschaut, und er hat mich schlimm zurückverarscht. Ich war sieben Jahre alt – ein Alter, in dem Kinder permanent Fragen stellen, die ihre Eltern nicht beantworten können: „Was sind Wolken?”, „Kommen Tiere in den Himmel?”, „Warum gucken alle Leute ›Dallas‹?” oder „Wie viel wiegt Dänemark?”
Und bei einer dieser Fragen hat er mich erwischt. Ich fragte ihn: „Papa, ich weiß, ich bin ein Junge, aber darf ich auch mal mit Puppen spielen?” Und er antwortete: „Klar darfst du das! Aber erst, wenn du alt genug bist, um sie selber aufzublasen!” Seitdem lache ich nicht mehr, wenn mein Vater mich „Arschkopf” nennt!
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe meinen Vater geliebt! Er war ein toller Papa, aber er war auch streng – sehr streng. Türkische Väter sind strenger als deutsche Väter. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ein Lieblingsspruch meines Vaters war: „Ey, wenn du das kaputtmachst, mach ich dich kaputt!”
Dieser Ausspruch kommt definitiv autoritärer rüber als das deutsche Pendant: „Du, Moritz-Ansgar, das war jetzt zwar meine Lieblingstasse gewesen, die du da deiner Schwester an den Kopf geworfen hast, aber Schwamm drüber, du!” Bei dem Spruch „Wenn du das kaputtmachst, mach ich dich kaputt” macht man sich als Kind schon mal vor Angst in die Hose – und kriegt zusätzlich noch Ärger mit der Mama, die das Zeug wieder rauswaschen muss!
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich zum ersten Mal den Unterschied zwischen deutschen und türkischen Vätern bewusst wahrnahm! Bis dahin hatte ich gedacht, dass alle Väter ihre Kinder „Arschkopf” nennen, ihren Kindern „Kino geben” und sich beim Scrabble freuen, wenn sie dreimal hintereinander das „Ü” ziehen. Aber dann stellte ich fest: Andere Väter sind anders als mein Papa!
Ich war ungefähr fünf Jahre alt und spielte mit meinen Kumpels Hakan, Ranjid und Francesco im Sandkasten. Alles war damals schon so wie heute: Francesco baggerte erfolglos die anderen Mütter an („Isse stehe auf Signoras mit Erfahrung!”), Ranjid hing stundenlang auf der Wippe in der Luft, während auf der anderen Seite seine Kuh Benytha saß (die damals natürlich noch ein Kälbchen war), und auch Hakan war schon genauso wie heute, nur dass er mit dem Dreirad unterwegs war – und nicht mit dem Dreier! Hakan hatte einen Sandkuchen gebacken. Gut, das ist nichts Ungewöhnliches, das machen andere Kinder auch. Aber Hakan bestand darauf, dass man ihn auch probierte: „Guckt ihr hier – krasser Sandkuchen. Ranjid, aufessen!”
Aber Ranjid stand der Sinn nicht nach Sandkuchen: „Nö, danke! Keinen Hunger ...”
„FRISS!”
„Na gut!”
Und Ranjid stopfte sich das Zeug in den Mund. „Das hat gar nicht so schlecht geschmeckt”, erinnert sich Ranjid heute, „es fehlte nur ein bisschen Curry!”
Punkt sieben Uhr abends mussten alle Kinder zu Hause sein, denn sieben Uhr war Abendessenszeit in Deutschland, egal, ob für Deutsche, Türken, Italiener oder Inder. Die Mütter hatten üppig gekocht (Ranjids Mutter konnte ja nicht wissen, dass ihr Sohn schon drei Kilo Sand intus hatte), und warteten nun auf ihre Kinder.
Aber Kinder haben ein anderes Zeitgefühl. Für die ist sieben keine Uhrzeit, sondern eine Tätigkeit im Sandkasten! Auf gut Deutsch (sorry, Papa, aber „auf gut Türkisch” wäre hier einfach falsch): Wir trödelten!
Um Viertel nach sieben kam die Vorhut: die Mütter! Arabische Mütter, spanische Mütter, italienische Mütter, deutsche Mütter, und natürlich die beste Mutter der Welt: meine Mutter! Sie setzten zu ihren typischen Rufen an:
„Jürgen!”
„Manfred!”
„Conny!”
„Svea!”
„Ahmet!”
„Annika!”
„Aishe!“
„Roberta!”
„Philippa!”
„Thomas!”
„Kai-Uwe!”
„Pedro!”
„Steffi!”
„Kaya!”
„Erkan!”
„Francesco!”
„Ranjid!”
„Hakan! Du Arsch!”
Achtzehn Kinderköpfe schauten kurz hoch und sahen ihre Mütter am Rand des Sandkastens stehen. Hakan wusste sofort, was zu tun war: „Konkret weiterspielen!”
Und das taten wir. Um halb acht wurde es dann ernst: Da kamen die Väter! Arabische Väter, spanische Väter, italienische Väter, deutsche Väter – und natürlich der strengste Vater der Welt: mein Vater! Sie riefen nicht – sie schauten nur durch ihre zu Sehschlitzen zusammengekniffenen Augen. Wie im Western! Sie scharrten mit den Hufen und schwiegen. Eiskalt. Es trat Totenstille ein. Man hörte nur den Wind – und Benytha, die gerade einen riesigen Kuhfladen in den Sand setzte. Dann begannen die Väter wie auf Kommando loszubrüllen, und jedes Kind sprang panisch auf, packte wortlos sein Eimerchen und sein Schäufelchen und rannte angsterfüllt zu seinem Papa, der den Jungen sofort am Handgelenk griff und Richtung Ausgang zerrte.
Nur der deutsche Vater brüllte nicht. Und damit bewies er mir, dass deutsche Väter anders sind als türkische. Denn der deutsche Vater stand ganz ruhig da und sagte: „Kai-Uwe kommst du mal her? Nein, ich renne dir nicht hinterher! Du kommst zu mir!”
Kai-Uwe kam tatsächlich angedackelt. Und dann folgte der Satz, den ich bis an mein Lebensende nicht vergessen werde; ein Satz, wie er niemals über die Lippen eines türkischen Vaters kommen würde; ein typisch deutscher Satz: „Kai-Uwe, wir müssen reden!”
Kai-Uwe war vier Jahre alt! Was sollte der reden? „Papa Hunga habe?” „Papa A-A macht?” „Nicht ohne meinen Anwalt?” Wir anderen Kinder waren total geschockt – und unsere Väter auch!
„Die wollen was machen?”
„Keine Ahnung, ich hab ‘reden’ verstanden! Aber das kann ja nicht sein!”
„Was ist das: ‘reden’? Ist das so was wie Folter?”
„Na ja”, habe ich mir gedacht, „man kann ja mal was Neues probieren”, und ich zog meinen Vater am Ärmel und sagte: „Papa, wir müssen reden!” Seine Antwort hätte ich mir auch denken können: „Ich geb dir gleich reden!”
Alles in allem war ich aber sehr zufrieden mit meinen Eltern. Ich lebte gern mit ihnen zusammen. Mit beiden. Gleichzeitig. Das muss man den jungen Leuten heute erklären: Früher kam es vor, dass Eltern zusammenlebten, in ein und demselben Haus! So wie es ursprünglich mal gedacht war.
Nicht umsonst gibt es vom Wort „Eltern” keinen Singular. Ich finde es wichtig, mit beiden Elternteilen aufzuwachsen. Ich kenne Menschen, die nur beim Vater aufwuchsen – denen fehlt was: Die wissen nicht, dass man Socken auch wechseln kann. Dafür kennen sie die Namen sämtlicher Ersatztorhüter von Eintracht Braunschweig seit 1966 auswendig und können zur Not mit einer Tiefkühlpizza und einem Kasten Bier vier Wochen lang überleben.
Und diejenigen Kumpels, die nur von ihrer Mutter erzogen wurden, haben auch einen an der Waffel: Die können zwar tolle Salatsoßen machen und Spannbettlaken falten, aber wenn sie eine Glühbirne auswechseln müssen, rufen sie vorsichtshalber erst mal beim Technischen Hilfswerk an.
Meine Eltern haben es verhältnismäßig richtig gemacht. Sie haben sich zwar auch getrennt, aber erst, als mein Bruder und ich die wichtigsten Lebensgrundlagen bereits begriffen hatten. Meine Eltern sind keine Ausnahme. Scheidung ist bei Türken total in. Seit 2005 ist laut türkischem Familiengericht die Scheidungsrate um 40 Prozent gestiegen. 40 Prozent! Davon können die meisten DAX-Unternehmen nur träumen!
Ich habe aus der Geschichte meiner Eltern gelernt. Im Guten wie im Schlechten. Die guten Dinge will ich übernehmen, und die schlechten vermeiden.
Darum ist für mich Scheidung absolut kein Thema – zumindest solange ich noch ledig bin!