Buch
Nach ihrer Trennung soll Christine entweder aus ihrem Haus ausziehen oder ihren Mann auszahlen. Wer aber gewährt einer Hausfrau Ende vierzig ein Darlehen oder stellt sie ein? Doch die Maierhofener Frauen halten zusammen und helfen Christine, ihr Haus in ein Bed & Breakfast umzuwandeln. Und sie wird Single-Wochenenden ausrichten, an denen man nicht nur das Landleben, sondern auch neue Menschen kennenlernt. Sogar Marketingexpertin Greta ist begeistert: Im Juni findet doch der große Kochwettbewerb statt – und wie wäre es, wenn Christine ein Team zusammenstellte, das daran teilnimmt? So könnte jeder Topf seinen Deckel finden …
Autorin
Petra Durst-Benning wurde 1965 in Baden-Württemberg geboren. Seit über zwanzig Jahren schreibt sie historische und zeitgenössische Romane. Fast all ihre Bücher sind SPIEGEL-Bestseller und wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. In Amerika ist Petra Durst-Benning ebenfalls eine gefeierte Bestsellerautorin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Hunden südlich von Stuttgart auf dem Land.
Weitere Informationen unter: www.durst-benning.de
Von Petra Durst-Benning bereits erschienen:
Kräuter der Provinz; Das Weihnachtsdorf
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Petra Durst-Benning
Band 3 der Maierhofen-Reihe
Roman
Der Ort Maierhofen ist meiner Fantasie entsprungen, etwaige Ähnlichkeiten mit anderen Orten, aber auch Namensähnlichkeiten sind rein zufällig.
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkterstr. 28, 81673 München
Redaktion: Gisela Klemt
Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
ED · Herstellung: nott
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-20005-3
V005
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»Wir alle wollen lieben und uns geliebt fühlen. Aber wir sollten dabei akzeptieren, dass es sich mit der Liebe wie mit den Jahreszeiten verhält. Der Sommer währt nicht ewig, und wenn der Herbst kommt, kommt mit ihm das Verblühen. Viele halten dies für das Ende der Liebe. Doch genauso gut kann die Liebe wieder aufblühen wie Blumen im Frühling.
Die Liebe ist das schönste Geschenk, das man geben und empfangen kann. Wer den Glauben an die Liebe verliert, verliert auch immer ein bisschen den Glauben an sich selbst. Mutig ist der, der es wagt, sich ihrem Zauber nicht zu verwehren.«
Christine aus Maierhofen
Es hatte die ganze Nacht hindurch geschneit. Auch jetzt, am späten Vormittag im Januar, rieselten noch dicke, watteweiche Flocken vom Himmel herab. Kein Laut drang von draußen ins Haus, kein Vogelgesang, kein Motorengeräusch, nichts.
Gedankenverloren schaute Christine von ihrer Tageszeitung durch die raumhohe Fensterfront ihres Wohn-Esszimmers hinaus in den Garten. Über jedes Gehölz, jeden Rosenstock, sogar über den Weiher, der sich ans Ende des Gartens anschloss – über alles hatte der Winter seine weiße Decke gelegt. Kleine Erhebungen, große Hügel, dazwischen kleine Täler – der Garten sah fast aus wie die in der Ferne sichtbaren verschneiten Alpen, nur im Miniaturformat. Wenigstens waren ihre Rosen durch den Schnee gut vor der Kälte geschützt. Die Kletterrose an der Veranda mit den zartrosa Blüten, wie feinstes Porzellan! Ihre gelben Strauchrosen, die nach dem Maler Emil Nolde benannt worden waren. Und die historischen Rosen mit dem unglaublichen Duft. Ach, wenn es nur schon Sommer wäre und alles blühen würde!, dachte Christine sehnsüchtig. Dann hätte sie genügend im Garten zu tun und würde ihre Zeit nicht nur mit Schneeschippen verbringen müssen.
Doch der Winter würde das Allgäu noch lange fest im Griff haben. Nur wer unbedingt musste, setzte sich dieser Tage in seinen Wagen oder brachte Einkäufe und Erledigungen zu Fuß hinter sich oder ging mit dem Hund spazieren. Ansonsten vergruben sich die Menschen in ihren Häusern.
Der Januar war keine gute Zeit, um allein zu sein, das hatte Christine inzwischen erkannt. Es gab nichts mehr, was einen von der Einsamkeit ablenken konnte, keine Weihnachtsvorbereitungen, keine Feiertage, keine Gäste.
Und keine Touristen weit und breit.
Nicht nur das Wohngebiet, in dem Christines Haus stand, sondern ganz Maierhofen war wie ausgestorben. Dabei hatte sich der Ort dank einer großen Kampagne im letzten Jahr von einem verschlafenen Dorf zu einem kulinarischen Mekka für Feinschmecker gewandelt. Jung und Alt hatten Hand in Hand gearbeitet, um dieses kleine Wunder zu vollbringen, auch sie, Christine, hatte sich mit viel Freude engagiert. Sogar ein großes Genießerfest, zu dem Tausende von Touristen von nah und fern gekommen waren, hatte es gegeben! Im Dezember hatte außerdem ein Weihnachtsmarkt der besonderen Art stattgefunden, einer, der das Herz der Menschen erwärmte und ihnen nicht nur das Geld aus den Taschen zog wie andernorts. Und wieder waren die Menschen nach Maierhofen geströmt! Im leer stehenden SPAR-Laden war zudem ein Genießerladen eröffnet worden, in dem es nun sämtliche regionalen Feinschmeckerprodukte zu kaufen gab. Der gute Allgäuer Bergkäse, der vor Ort gebrannte Kräuterschnaps, die verschiedenen Öle aus der Maierhofener Ölmühle, der Honig … Es hatte erst eine Auswärtige – Greta, eine Werbefachfrau aus Frankfurt – kommen müssen, um den Maierhofenern klarzumachen, wie viel Gutes bei ihnen und in ihrer Umgebung wuchs und hergestellt wurde.
Schaute man heute jedoch auf die zugeschneiten Straßen, fiel es einem schwer, sich an die Menschenmengen zu erinnern, die sich im letzten Jahr zum großen Genießerfest und Weihnachtsmarkt durch die Gassen gedrängt hatten. Oder an die saftig grünen Wiesen, auf denen die Kühe weideten, aus deren Milch die Sennerin Madara den würzigen Bergkäse machte.
Jetzt bloß nicht in Trübsal verfallen, mahnte sich Christine stumm. Abrupt schlug sie die Zeitung zu. Nun waren mindestens zwei Stunden Schneeschippen angesagt! Sie erhob sich, und die beiden braunen Labradore Jack und Joe, die ursprünglich ihren Töchtern gehört hatten, um die sich heute jedoch Christine kümmerte, sprangen sogleich aus dem Tiefschlaf auf.
»Natürlich dürft ihr mit raus«, sagte Christine und ging in Richtung Garderobe. Im selben Moment läutete es an der Tür.
Christines Augen leuchteten auf. Kam womöglich Therese auf einen Sprung vorbei? Oder Greta? Schneeschippen hin oder her – Zeit für eine Tasse Kaffee mit ihren Freundinnen hatte sie immer. Voller Vorfreude öffnete sie, flankiert von den beiden Hunden, die Haustür.
Im nächsten Moment wich sie wieder zurück. »Du?«
»Hast du jemand anderen erwartet?« Ohne ein Hallo oder Grüß Gott ging Herbert an ihr vorbei ins Haus, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Die Hunde hatten früher bei jedem Besuch des Herrchens einen Freudentanz aufgeführt, doch jetzt duckten sie sich zur Seite weg.
Christine, die gerade noch auf ein bisschen Ablenkung und Gesellschaft gehofft hatte, folgte ihm seufzend. Es gab Besuche, auf die sie wirklich gut verzichten konnte.
»Übrigens, das mit Cathrin … Es war nicht das erste Mal, dass ich dich betrogen habe. Du hast bloß nie etwas mitbekommen!«, sagte Herbert unvermittelt, kaum dass er in das Wohnzimmer trat.
Christine zuckte zusammen, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen. Unwillkürlich sah sie sich nach etwas um, woran sie sich festhalten konnte. Sie ließ sich auf dem erstbesten Stuhl am Esstisch nieder, auf dem noch ihre leere Kaffeetasse stand.
Es hatte also noch mehr Geliebte gegeben … Wer? Wann? Und wo? Die Fragen brannten auf ihrer Zunge wie zu heißes Essen. Doch sie würde einen Teufel tun und nachfragen. Erniedrigt hatte sie sich wahrlich schon genug.
Statt sich ebenfalls zu setzen, blieb Herbert stehen, die Hände geballt, als wappne er sich nicht nur für eine verbale, sondern auch körperliche Auseinandersetzung. Befürchtete er, sie würde mit bloßen Fäusten auf ihn losgehen? Fast musste Christine lachen. Sah er nicht, dass sie kurz davor war loszuheulen? Bloß nicht, mahnte sie sich stumm, bloß nicht. Damit hätte sie Herbert nur in die Hände gespielt.
Mit rauer Stimme sagte sie: »Was soll das jetzt? Was willst du von mir? Es wäre mir wirklich lieber, du würdest Bescheid sagen, ehe du vorbeikommst.«
Mein Noch-Ehemann hat es echt drauf, dachte Christine bitter. Immer dann, wenn sie glaubte, sich nach der Trennung endlich einigermaßen gefangen zu haben, kam er daher und zerschlug ihre mühsam gewonnene Balance mit einer spitzen Bemerkung, einer schmerzenden Beleidigung oder wie jetzt, mit einer lässig dahingeworfenen »Beichte«.
Auf zittrigen Beinen stand sie wieder auf und öffnete die Terrassentür. Luft, sie brauchte Luft. Einen Moment lang sich sammeln. Einmal durchatmen, bloß nicht wieder vor ihm zerbröseln wie bei seinem letzten Besuch.
Jack und Joe nutzten die Chance, durch die offene Terrassentür hinauszustürmen und so der feindseligen Stimmung zu entkommen. Kaum draußen, tobten sie ausgelassen durch den Schnee.
Den Schalter umlegen, einfach so. Wenn mir das nur auch so leichtfallen würde, dachte Christine traurig. Der Tag war für sie gelaufen, das wusste sie schon jetzt.
Herbert schaute sie von oben herab an. »Ich will das Haus verkaufen. Steffi und Sibylle sind längst ausgezogen und kommen garantiert nicht wieder. Ein so großer Kasten für eine Person – völliger Schwachsinn ist das!«
»Wie bitte?« Christine glaubte nicht richtig zu hören. »Das hier ist mein Zuhause! Das Haus gehört mir ebenso wie dir, wir haben es gemeinsam gebaut. Du kannst mich doch nicht einfach wie einen Hund auf die Straße setzen!« Ihre Stimme brach bei den letzten Worten.
Ein Albtraum. Einer von der üblen Sorte, nach der sie morgens schweißgebadet aufwachte. Seit Herbert sie vor einem Dreivierteljahr verlassen hatte, wurde sie regelmäßig von düsteren Träumen geplagt.
»Von ›wie einen Hund auf die Straße setzen‹ kann ja wohl nicht die Rede sein, ich bitte dich lediglich, dir eine hübsche kleine Wohnung zu suchen.« Sein Ton war aggressiv, sein Blick unwirsch. »Und wo wir gerade dabei sind … Einen Job kannst du dir auch gleich suchen. Glaub nicht, dass ich noch jahrelang für deinen Unterhalt aufkomme! Ich habe mich erkundigt, ich kann erwarten, dass du arbeiten gehst und für dich selbst sorgst.«
Jedes Wort ein Peitschenhieb.
Christine hatte auf einmal zu viel Spucke im Mund und einen bitteren Geschmack wie nach abgestandenem Bier. Hastig schluckte sie gegen den Brechreiz an.
»Was habe ich dir getan? Warum bist du so gemein?«, fragte sie, und die Tränen, die sie so mühselig bis jetzt zurückgehalten hatte, rannen nun doch ihre Wangen hinab.
»Warum bist du so gemein?«, äffte Herbert sie nach. »Im Gegensatz zu dir bin ich lediglich praktisch veranlagt. Und ich habe keine Lust, dir weiterhin dein Luxusleben zu finanzieren. Ich muss schließlich auch schauen, wo ich bleibe.«
»… ›jetzt, wo ich eine anspruchsvolle Geliebte habe‹«, hätte Christine seinen Satz am liebsten beendet, stattdessen sagte sie: »Wer wollte denn all die Jahre, dass ich zu Hause bleibe? Dir hat es doch immer gut gefallen, eine Frau zu haben, die rechtzeitig dein Essen auf den Tisch bringt und deine Hemden bügelt. Ich weiß noch genau, wie du dich angestellt hast, als ich dir anbot, dir bei der Buchhaltung zu helfen! Das hätte mir Spaß gemacht und Kosten für die Steuerberaterin gespart. Aber nicht einmal Belege und Rechnungen hast du mich sortieren lassen. Mit nichts, was mit dem Autohaus zu tun hat, sollte ich in Berührung kommen! Keine Ahnung, was du all die Jahre vor mir verbergen wolltest.« Sie klang nicht nur verbittert, sie fühlte sich auch so. Verbittert, verraten und verkauft. »Und dann im letzten Jahr, als ich bei der Organisation des Kräuter-der-Provinz-Festivals geholfen habe, hast du Zeter und Mordio geschrien! Ich würde mich nicht mehr genug um dich kümmern, du kämst zu kurz! Am Ende hast du mir sogar verboten, dort weiter mitzuarbeiten.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Und nun kommst du daher und wirfst mir vor, auf deine Kosten ein ›Luxusleben‹ geführt zu haben?«
Am liebsten hätte sie sich in den Arm gekniffen, um zu sehen, ob sie nicht doch träumte, so irreal kam ihr die ganze Situation vor. Sie sollte aus dem Haus ausziehen, in dem sie ihre Kinder großgezogen hatte? In das sie ihr ganzes Herzblut, ihre ganze Liebe gesteckt hatte? Und was war mit Maierhofen? Sollte sie den Ort am besten auch gleich verlassen? Hier kannte jeder jeden, hier lebten ihre besten Freundinnen, hier war sie zu Hause.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Das Haus gehört auch mir, ich lasse nicht zu, dass es so einfach verkauft wird. Was ich dir anbieten kann, ist, dass ich die Kosten für den Unterhalt übernehme.«
»Und wovon willst du die bezahlen?«, erwiderte Herbert spöttisch. »Da müsstest du ja erst einmal einen Dummen finden, der dir einen Job gibt.«
Der nächste Hieb. Mit der Treffsicherheit eines Billardspielers, der Schwarz aus jeder noch so verzwickten Lage heraus lochen konnte, sprach Herbert aus, was Christine inzwischen selbst längst wusste: Niemand wollte sie haben.
Seit dem vergangenen Herbst hatte sie sich unzählige Male beworben – vergeblich.
»Hast du noch mehr solche Schnapsideen?« Herbert trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Seine ganze Körpersprache sagte aus, dass ihm das Gespräch schon viel zu lange dauerte.
»Ich habe einige Bewerbungen laufen, da wird sich schon was ergeben. Glaubst du, mir macht es Spaß, von dir abhängig zu sein? Keine Sorge, ich werde schon für die Kosten aufkommen, wie – das braucht dich nicht zu kümmern«, sagte Christine mit bemüht ruhiger Stimme. »Ich bitte dich lediglich noch um ein bisschen Zeit.«
»Zeit! Davon hast du in der Vergangenheit mehr als genug gehabt und hast doch nie etwas zustande gebracht«, sagte er spöttisch.
Christine atmete tief durch. Jetzt reichte es. So verwirrt und niedergeschlagen sie auch war, sie hatte endgültig genug von ihm! Und diesen Ton brauchte sie sich auch nicht bieten zu lassen, oder? Sie hatte den Mund schon zu einer Erwiderung geöffnet, als er genervt sagte: »Also gut, ich komme noch bis Ende März für Strom, Wasser, Telefon und den ganzen anderen Kram auf. Entweder du bist dann ab dem ersten April in der Lage, selbst zu zahlen, oder ich rücke mit einem Makler an.«
Herbert war schon lang gegangen, als Christine noch immer wie belämmert an ihrem Esstisch saß. »Übrigens, das mit Cathrin … Es war nicht das erste Mal, dass ich dich betrogen habe.« Noch immer hallten seine Worte wie ein Echo in ihrem Kopf. Wie dumm und blind war sie nur gewesen …
Längst hätte sie die Tür schließen sollen, durch die immer mehr kalte Winterluft strömte, der Wohnraum war schon völlig ausgekühlt. Wenn das Herbert wüsste, einfach so zum Fenster hinaus heizen, was für eine Idiotie! Nein, was für ein »Schwachsinn« – das wäre seine Wortwahl gewesen.
Mit den müden Bewegungen einer alten Frau stand Christine auf, ging zur Terrassentür und rief die Hunde, die gerade gierig Schnee fraßen, ins Haus. Na prima, damit war bei beiden eine Magenverstimmung garantiert, dachte sie resigniert.
Nur mit Mühe gelang es ihr, die Terrassentür zuzumachen, sie musste rütteln und drücken zugleich. Der Holzrahmen war verzogen. Früher, als Herbert noch hier gewohnt hatte, wäre so etwas nicht vorgekommen. Die Haustechnik, der Rasenmäher, der kleine Heizlüfter im oberen Bad – immer hatte er alles sorgfältig repariert und in Schuss gehalten. Nur mit ihrer Ehe war er nicht pfleglich umgegangen, die hatte er einfach weggeworfen!, dachte Christine wütend.
Im nächsten Moment wurde ihre Miene wieder sanfter, als sie die beiden Hunde sah, die es sich mit größter Selbstverständlichkeit vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatten. Keine Minute später war ihr Schnarchen zu hören. So im Hier und Jetzt leben zu können … Manchmal waren Tiere wirklich schlauer als Menschen.
Und nun? Verloren setzte sich Christine aufs Sofa und zog eine ihrer geliebten Wolldecken, die aus Dutzenden von Häkelquadraten bestand, zu sich heran. Sie brauchte dringend Wärme, ihr Inneres war so ausgekühlt wie der Raum nach dem langen Lüften.
Ihr Blick blieb auf einem der Häkelvierecke haften. Es bestand aus einer gelben Blume, die umrahmt wurde von bunten Runden gehäkelter Stäbchen und Luftmaschen. Auf einmal kam ihr die Handarbeit vor wie das Sinnbild ihres ganzen Lebens: Sie spiegelte eine farbige, fröhliche heile Welt vor, die es in Wahrheit so offenbar nie gegeben hatte.
Sie blinzelte, um den Bann, den die Häkelei auf sie ausübte, zu brechen. Krampfhaft zwang sie sich, ihren Blick durch den Wohn-Essraum schweifen zu lassen, an den sich die offene Küche anschloss.
Als sie das Haus vor über fünfundzwanzig Jahren gebaut hatten, waren so große offene Räume noch nicht üblich gewesen, ihre und Herberts Eltern hatten ihre Pläne mit Kopfschütteln und Missbilligung kommentiert. Eine Küche musste man schließen und die Hausfrau gleich mit wegsperren können, war damals die landläufige Meinung unter Hausherren gewesen. Doch Herbert und sie waren sich einig gewesen – sie wollten ein bisschen Moderne ins ländliche Maierhofen holen, und wenn es nur in dieses Haus war!
Auch die offenen Bücherregale statt einer verglasten Schrankwand waren damals etwas Neues gewesen, genau wie die Wand mit den vielen gerahmten Fotografien. Herberts und ihr Hochzeitsfoto. Die Taufbilder von Steffi und Sibylle, ihre Einschulungsbilder, die Fotos von ihren Abi-Abschlussfeiern … Jedes Mal war Christine in die zehn Kilometer entfernte Kreisstadt gefahren und hatte einen besonders schönen Bilderrahmen ausgesucht, um das jeweilige Ereignis für immer festzuhalten. Bildnisse einer heilen Familienwelt. »Warum kaufst du dir nicht ein großes Ölgemälde?«, hatte ihre Mutter sie öfter gefragt. »Ein Blumenstrauß in einer Vase. Oder die Alpen mit Sonnenuntergang, das würde etwas hermachen!« Doch Christine hatte auf den Fotografien bestanden. Sie waren ihr ureigener Altar, ihre Trophäensammlung, die ihre Erfolge als perfekte Ehefrau und Mutter für jedermann dokumentierte.
Dass Herbert ihre Anstrengungen für die Familie viel weniger wichtig nahm als sie selbst, war ihr nicht entgangen. Der arme Mann, so viel Arbeit! Kein Wunder, dass er da nicht jedes gestickte Tischdeckchen bewundern kann – so oder ähnlich hatte sie seine Gleichgültigkeit stets entschuldigt.
Abrupt entfernte sie das Hochzeitsfoto von der Wand und steckte es in die erstbeste Schublade. Das helle Viereck dort, wo das Foto gehangen hatte, schaute sie vorwurfsvoll an. Christine wandte den Blick ab. Es war besser so.
Auf einmal kam es ihr vor, als sehe sie ihr Haus mit den Augen eines Fremden.
Die selbstgenähten Kissen in farblich abgestimmten Stoffen, die liebevoll zur Jahreszeit passenden Blumen-Arrangements auf der Fensterbank, die Trockenkräutersträußchen, aufgehängt an einem Eisengestell über der Küchentheke – sie hatte sich mit allem so viel Mühe gemacht. Und sie war geschickt darin, das wusste sie. »Bei euch sieht es aus wie bei ›Schöner Wohnen‹«, hatte so mancher Gast bewundernd gesagt. Wie ihr Haus auf andere wirkte, war für Christine jedoch immer zweitrangig gewesen. Ihre Töchter und ihr Mann sollten Wohligkeit, Wärme und Geborgenheit spüren, darum war es ihr gegangen, Tag für Tag. Das war ihre Aufgabe gewesen, das hatte ihr Spaß gemacht und ihrem Leben einen Sinn verliehen.
Und auf den ersten Blick war tatsächlich alles wunderschön. Doch in Wahrheit war alles nur eine Farce. All die Jahre war ihr Leben eine einzige Farce gewesen.
Der Gedanke ließ sie laut aufschluchzen. Eine Fata Morgana. Etwas, was allein sie wahrgenommen hatte. Denn während sie ein Kissen genäht oder ein Familienfoto gerahmt hatte, hatte Herbert es mit seiner blonden Empfangsdame getrieben. Oder mit einer Kundin. Nein, so weit wäre er nicht gegangen. Oder doch? Warum hatte sie nichts gemerkt? War sie wirklich so dumm, wie Herbert ihr vorwarf? War sie so in ihrer Schöner-Wohnen-Bilderbuchwelt versunken, dass sie die Realität nicht mehr erkannte?
Ihr Blick wanderte weiter. Die luxuriös fallenden Blumen-Vorhänge, selbstgenäht natürlich. Die Bar, in der Herbert seine teuren Whiskys aufbewahrt hatte. Sie waren das Erste gewesen, was er bei seinem Auszug im vergangenen Juni eingepackt hatte. Das Bücherregal, randvoll mit den ganzen romantischen Schmonzetten, die sie wie eine Süchtige verschlungen hatte. Eigentlich gehörten die Autorinnen verhaftet, dachte sie verdrießlich. Auch sie gaukelten ihren Leserinnen etwas vor, was mit der Realität nichts zu tun hatte. Zumindest hatte noch keine ihrer Freundinnen erlebt, dass nach einer durchzechten Nacht plötzlich der Traummann splitterfasernackt im Wohnzimmer stand. Oder dass die frustrierte Hausfrau beim langweiligen Familienurlaub in den Sylter Dünen ihren Mister Right traf. Ehebrüche? Wenn überhaupt, dann waren es die Frauen, die einen begingen! Und zwar mit einem zwanzig Jahre jüngeren Puddingschneckchen. Und falls doch mal eine der Romanheldinnen von ihrem Mann verlassen wurde, war sie spätestens fünfzig Seiten später wieder glücklich verliebt.
Warum konnte sie sich an so etwas kein Beispiel nehmen? Angesichts dessen, dass ihre Trennung doch ebenfalls so klischeehaft gewesen war, dass sie sich für einen Roman eignete!
»Es gibt eine andere Frau. Ich verlasse dich. Noch heute!« So schnell, wie man einen Pfannkuchen in der Luft wendet, hatte Herbert ihr die Wahrheit ins Gesicht geschleudert. Es war ausgerechnet der Tag des großen Maierhofener Genießerfests gewesen. Ihre Freunde hatten auf sie gewartet, gemeinsam hatten sie feiern wollen. Doch statt das Fest zu genießen, hatte Christine wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa gesessen, erstarrt, fassungslos. Ein böser Traum, gleich erwache ich, hatte sie auch damals gedacht.
Aber sie war nicht erwacht, bis zum heutigen Tag, fast ein Dreivierteljahr später.
Er, der erfolgreiche Geschäftsmann, wollte es noch einmal mit einer jungen Frau wissen. Nicht, dass Herbert es mit diesen Worten ausgedrückt hätte. Ihr, seiner Ehefrau, hatte er die Schuld für sein Fremdgehen gegeben! Durch ihr ehrenamtliches Engagement für das große Genießerdorf-Projekt habe sie ihn, den armen Ehemann, zu sehr vernachlässigt, und das über Monate hinweg. Da war es doch kein Wunder, dass er Trost in den Armen einer anderen suchte.
Sogar ihre Töchter gaben ihr die Schuld am Scheitern ihrer Ehe. In ihren Augen war sie eine langweilige Hausfrau, die irgendwann den Anschluss verpasst hatte. Ein bisschen Rückhalt und Solidarität – darauf hatte sie gehofft, doch beide Töchter hatten sich auf Papas Seite geschlagen. Sie waren sogar mit Herbert über Weihnachten verreist – in die Karibik –, dabei hatte sie, Christine, sich so sehr auf ein gemeinsames Fest mit den Töchtern gefreut.
Wer weiß, wofür das gut war, dachte sie nun. Wahrscheinlich hätte sie sich auch unterm Tannenbaum anhören müssen, dass sie nicht fit war, wenn es um politische Weltfragen ging. Und dass sie sich viel zu wenig schminken würde. Dass sie viel öfter mit dem Papa sonntags in den Tennisclub hätte gehen sollen, statt das Mittagessen vorzubereiten. Männer mochten zwar gern einen gut geführten Haushalt, aber kein Hausmütterchen, so wäre das nun mal! Und eigentlich wäre es ein Wunder, dass die Ehe überhaupt so lang gehalten habe. Nach jedem der Telefonate, bei denen ihre Töchter ihr so etwas vorhielten, war Christines Selbstbewusstsein weiter zerkrümelt wie ein zu trocken geratener Marmorkuchen.
Dabei war ihr ganzes Leben, ihr Alltag, jede Stunde des Tages auf Herbert zugeschnitten gewesen. Nun, da er weg war, dehnten sich ihre Tage öde vor ihr aus wie eine Wüstenlandschaft. Sie wusste einfach nichts mit sich anzufangen.
Mit Scham dachte Christine an die peinlichen Szenen, die sie ihrem Mann bei früheren Besuchen gemacht hatte. Während er nur schnell die Kreissäge hatte holen wollen, klammerte sie sich an ihn und bettelte, er möge zu ihr zurückkommen. Wenn das ihre Freundinnen wüssten! Die würden sie für verrückt erklären.
Wenigstens diese Zeiten waren vorbei, dachte Christine bitter. Sie schaute auf die Hunde, deren Pfoten im Schlaf hektisch zuckten. Am liebsten hätte auch sie sich die Häkeldecke über den Kopf gezogen und darauf gewartet, dass der Tag verging. Besser schlafen als weinen oder mit dem Schicksal hadern. Aber heute konnte sie sich weder das eine oder andere erlauben.
Wie sollte sie bis Anfang April einen Job finden und Geld verdienen, wo ihr das in all den vergangenen Monaten nicht gelungen war?
Ihr Blick fiel auf den Ordner, den sie ins Regal zu den Kochbüchern in der Küche gestellt hatte. Neben den farbigen Buchrücken fiel er wenigstens nicht gleich ins Auge.
Absagen, nichts als Absagen.
Maierhofen ging es zwar nach seiner Wiederbelebung im letzten Jahr sehr viel besser als in den Jahren zuvor, als das Dorf immer weiter ausgeblutet war. Doch neue Jobs waren deswegen noch lange nicht in Sicht. Dabei hatten rund um den Marktplatz und entlang der Hauptstraße ein paar neue Läden aufgemacht, zu Christines Freude war sogar ein Handarbeitsladen dabei! In einem Wollladen zu arbeiten, das war schon immer ihr Traum gewesen … Natürlich hatte sie dem Geschäft gleich am Eröffnungstag einen Besuch abgestattet und das üppige Angebot an Wolle und Garnen bewundert. Doch die Ladeninhaberin war ihr kühl, fast abweisend vorgekommen, und so hatte Christine sich nicht getraut zu fragen, ob sie eventuell eine Aushilfe benötigte. Auch in den alteingesessenen Maierhofener Läden wie Monika Ellwangers Schreibwarenladen mit Poststelle oder dem Elektrogeschäft von Elvie Scholz wurde trotz Aufschwung niemand benötigt. Und in dem neu geschaffenen Maierhofener Genießerladen, in dem es regionale Produkte von Bauern und Kleinerzeugern zu kaufen gab, arbeiteten alle Helfer – auch Christine – nur stundenweise und auf unentgeltlicher Basis.
So war Christine nichts anderes übrig geblieben, als sich in der Kreisstadt zu bewerben.
Der dortige Drogeriemarkt hatte letzten Oktober gleich drei Mitarbeiterinnen gesucht. Die Regale mit den Lippenstiften und Seifen aufzufüllen oder Kunden beim Kauf von Hundefutter und Putzmittel zu beraten – das hätte sie schon hinbekommen! Voller Eifer hatte Christine sich von ihrer Freundin Greta bei der Bewerbung helfen lassen. Greta war Expertin in Sachen Marketing und Werbung, und das sah man Christines Unterlagen auch an – sie waren tipptopp. Doch über die Tatsache, dass Christine nie einen Beruf erlernt hatte, konnten auch Gretas eleganter Klemmhefter und das stylische Deckblatt nicht hinwegtäuschen. Man suche eine ausgebildete Kraft, keine Aushilfe, das habe doch groß und breit in der Anzeige gestanden, hatte die junge Filialleiterin ihr erklärt, als sich Christine persönlich vorstellte. Diese hatte bedrückt genickt.
Beim Pächter des Freibadkioskes im Nachbarort und bei einer Spedition, die jemanden für ihr Lager suchte, hatte sie sich ebenfalls beworben. Sie hatte auch auf eine Anzeige geschrieben, in der eine Halbtagskraft für eine Reinigung gesucht wurde. Sogar als Zeitungsausträgerin hätte sie gearbeitet. Den Job habe man einer Realschülerin gegeben, hieß es jedoch auf ihre Nachfrage hin am Telefon. Dass man einer Schülerin mehr Verlässlichkeit zutraute als ihr – das hatte Christine den Rest gegeben.
Seit dem Herbst nichts als Absagen. Inzwischen stand für Christine fest: Für eine wie sie gab es keine bezahlte Arbeit.
Ehrenamtliche Arbeit dagegen konnte sie immer haben! Der alten Nachbarin im Alltag behilflich sein, einen Kuchen backen fürs Fest vom Tennisverein, beim Dorfprojekt mitmischen … Alles umsonst und draußen. Dafür war eine wie sie gerade gut genug.
Dass sie zwei Kinder großgezogen, ein großes Haus organisiert und ihrem Mann den Rücken freigehalten hatte, interessierte niemanden. Dass sie gute Kräutersalze herstellte – als Hobby natürlich – und eine versierte Gastgeberin war, die selbst eine Tischrunde mit zwölf oder mehr Gästen nicht aus der Ruhe brachte, war auch kein Kriterium bei ihrer Jobsuche.
Und nun?
Christine richtete sich auf, dann holte sie tief Luft. Genug lamentiert! Sie brauchte einen Job und musste dringend Geld verdienen. Sonst saß sie spätestens Anfang April auf der Straße. Mittellos und mit zwei großen Hunden. Sie selbst hatte nicht den geringsten Plan, wie sie das verhindern konnte. Aber so schnell gab sie nicht auf.
Christine griff zum Telefon und wählte die eingespeicherte Nummer ihrer besten Freundin Therese. Schnee schippen konnte sie später immer noch …
»Ich bin nichts und ich kann nichts! Und jetzt will Herbert mir auch noch das Haus wegnehmen.« Verzweifelt warf Christine beide Hände in die Luft.
Therese und Greta tauschten unbemerkt einen Blick. Christines Ex war wirklich ein Schuft!
Kurz nach dem Telefonat mit Christine hatte Therese Greta und Magdalena angerufen. »Wir müssen uns treffen, heute Abend noch, Christine braucht unsere Hilfe«, hatte sie gesagt. Magdalena hatte leider einen Termin in der Stadt, aber Greta versprach, sofort zu kommen.
Nun saßen sie am ehemaligen Stammtisch der Goldenen Rose zusammen. Therese hatte Gläser und eine Flasche Spätburgunder auf den Tisch gestellt, ihre Cousine Greta eine Riesenschachtel Pralinen aus der Tasche gezogen. Die Besten von Lindt. Manchmal half nichts anderes.
Für Therese als Wirtin war es am einfachsten, wenn ihre Mädelsabende hier stattfanden und nicht bei Greta, Christine oder Magdalena. Im Gasthaus konnten sie sich in aller Ruhe unterhalten, gleichzeitig bekam Therese mit, wenn eine ihrer Bedienungen Hilfe benötigte oder anderweitig Not am Mann war.
Wie jeden Abend waren sämtliche Tische der Goldenen Rose reserviert, manche sogar doppelt. In einem der Nebenzimmer feierte der Besitzer der Maierhofener Ölmühle seinen fünfzigsten Geburtstag, er hatte einen Alleinunterhalter engagiert, dessen engagierte Gesänge durch die Wand zu ihnen drangen.
Früher, vor ihrer schweren Erkrankung, bei der es um Leben und Tod gegangen war, wäre Therese alle paar Minuten aufgesprungen, um überall nach dem Rechten zu schauen. Oder sie hätte sich erst gar nicht auf dieses Treffen außer der Reihe eingelassen, schließlich war nicht Mittwoch, ihr üblicher Tag. Aber inzwischen hatte sie gelernt, dass es Wichtigeres gab als das Geschäft. Ihre Gedanken wanderten zwar immer wieder in die Küche zu Sam, der heute Abend ganz schön rotieren musste, dennoch zählten hier und jetzt nur Christines Sorgen. Dass die Freundin so sehr unter der Trennung von ihrem Mann leiden würde, hätte sie nie geglaubt. Herbert Heinrich war in ihren Augen ein langweiliger und arroganter Kerl. Wie die Freundin es all die Jahre mit ihm ausgehalten hatte, war ihr schleierhaft.
»Und vorhin hat Sibylle angerufen und noch in dasselbe Horn geblasen wie Herbert. Sie sehe es genauso wie der Papa, mit einer kleinen Wohnung wäre ich viel besser dran als mit dem Haus. Dabei ist es doch ihr Elternhaus! Aber wundern tut’s mich nicht. In den Augen meiner Töchter bin ich die größte Versagerin aller Zeiten. Und vielleicht haben sie sogar recht …« Christine schluchzte los.
»Blödsinn. Deine Töchter leben aber seit Jahren ihr eigenes Leben, da ist es doch klar, dass sie nicht allzu viel von dem mitbekommen, was hier in Maierhofen läuft«, sagte Therese und ärgerte sich, dass sie die zwei verwöhnten Mädchen auch noch in Schutz nahm. Aber Christine zuliebe hätte sie das Blaue vom Himmel heruntergelogen.
Niemand konnte sich so richtig erklären, warum Christines Töchter so garstig zu ihrer Mutter waren. Christine war immer für die beiden dagewesen, sie hatte alles für sie getan. Ein Jahr Auslandsaufenthalt in Amerika? Kein Problem. Nächtelang hatte Christine im Internet Infos eingeholt über Visa, Austauschorganisationen und Einreisebestimmungen. Als eine der beiden – war es Steffi oder Sibylle gewesen? – eröffnet hatte, ab jetzt Vegetarierin zu sein, hatte die Mama eifrig Rezepte studiert und Gemüsebratlinge gebacken. Zwei Hunde mussten her? Aber natürlich! Selbstverständlich war es auch Christine gewesen, die sich um die Hunde gekümmert hatte, als die jungen Mädchen nach kurzer Zeit den Spaß an den Tieren verloren. Doch trotz aller Liebe und Hingabe behandelten die Töchter ihre Mutter wie einen alten Putzlappen.
Aber war es denn ein Wunder, wenn sie es so und nicht anders vom Vater vorgelebt bekommen hatten?, dachte Therese nun wütend. Statt ständig nur an ihre Familie zu denken, hätte sich Christine besser auch mal um sich selbst gekümmert. Vielleicht hätte ihr das dann sogar den Respekt der undankbaren Bande eingebracht.
»Genau, mach dich nicht selbst so schlecht«, sagte nun auch Greta.
Christine holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich damit die Tränen aus den Augen. Ob sie die erste Praline aus der Packung nehmen sollte?, fragte sich Therese derweil. Die erste war immer die beste. Beherzt griff sie nach einem dunklen Schokoladenherz, das mit Blattgold dekoriert war.
»Mich nicht schlechtmachen – das ist leichter gesagt als getan. Ihr hättet mal hören sollen, wie Herbert mich heute wieder beschimpft hat! Ich sei eine faule Kuh, die sich auf seine Kosten einen schönen Lenz macht. Dabei bin ich schon seit Monaten auf Arbeitssuche, allein schon deshalb, weil mir daheim die Decke auf den Kopf fällt«, sagte Christine, etwas gefasster. »Seit Herbert weg ist, weiß ich mit meiner Zeit nichts anzufangen. Aus lauter Langeweile habe ich schon sämtliche Schubladen aufgeräumt, sogar die Geschenkbänder habe ich entwirrt und sortiert. Meine Stoffe liegen in Reih und Glied im Nähregal, nach Farben geordnet. Wenn wenigstens Frühjahr wäre und frische Kräuter auf den Wiesen wachsen würden, könnte ich neue Gewürzsalze herstellen. Aber jetzt im Winter …«
Unwillkürlich wanderten die Blicke der drei Freundinnen aus dem Fenster, wo der verschneite Marktplatz von Maierhofen verwaist dalag.
Christine warf erst Therese, dann Greta einen verzweifelten Blick zu. »Ich fühle mich so überflüssig … Wenn die paar Stunden Aushilfe im Genießerladen nicht wären, wäre ich vor lauter Einsamkeit längst verrückt geworden.« Sie begann erneut leise zu weinen.
»Du hast doch uns«, sagte Therese eilig und streichelte Christines Hand. »Wie wäre es, wenn du das Ganze als eine Chance für dich betrachtest? So, wie ich es mit dem verdammten Krebs getan habe. Du kennst doch den schlauen Spruch ›Jedem Neuanfang wohnt ein Zauber inne …‹« Therese hielt die Luft an.
»Ein Zauber? Das alles ist ein reiner Albtraum! Ich war doch früher so glücklich …« Christine schluchzte noch lauter.
Therese spürte Gretas vorwurfsvollen »Musste-das-sein?«-Blick auf sich und zuckte hilflos mit den Schultern. Sie wusste auch nicht, warum jeder ihrer Versuche, Christine ein wenig aufzumuntern, ins Leere lief. Ob es daran lag, dass sie selbst so glücklich war? Mehr noch, sie war frisch verliebt. In Sam, ihren Koch, ausgerechnet …
Ein typischer Fall von »Tausendmal berührt, tausendmal nichts passiert …« Allein bei dem Gedanken huschte schon wieder ein Lächeln über ihr Gesicht. Doch als sie das zusammengesunkene Häufchen Elend neben sich sah, schwand es wieder. Um etwas zu tun zu haben, griff sie nach einer Schnapspraline. Der Alkohol rann tröstlich warm in ihren Magen hinab.
»Bis du einen richtigen Job gefunden hast, könntest du mir bei der Organisation des nächsten Kräuter-der-Provinz-Festivals helfen. Du weißt schließlich mit am besten, worum es dabei geht«, sagte Greta und schob sich einen Whiskeytrüffel in den Mund. »Und dann ist da noch der große Kochwettbewerb, der in der Woche vor dem Festival stattfindet. Das meiste wird dabei zwar von der Redaktion von Meine Landliebe geregelt, aber alles, was es bei uns vor Ort zu organisieren gibt, liegt in meinen Händen. Dabei könnte ich Hilfe echt gut gebrauchen.«
Christines Miene hellte sich zum ersten Mal an diesem Abend auf.
»Christine braucht keine Arbeitsbeschaffung, sondern einen Job, bei dem sie gutes Geld verdient«, sagte Therese ein wenig unwirsch. Sie trank einen Schluck Spätburgunder, der nach der viel zu süßen Schnapspraline unangenehm sauer schmeckte.
»Stimmt. Leider«, sagte Christine, und die düstere Wolke schob sich erneut vor ihr Gesicht.
»Im Augenblick bin ich mit meinen Bedienungen gut aufgestellt«, sagte Therese. »Aber falls sich da was ändert …« Christine würde sie jederzeit einstellen.
Die Freundin warf ihr einen dankbaren Blick zu.
Der Alleinunterhalter nebenan stimmte Rivers of Babylon an, die Geburtstagsgesellschaft fiel sogleich ein.
Therese seufzte lautlos auf. Freud und Leid – manchmal war es nur durch eine Wand voneinander getrennt.
»Du bist doch so kreativ und handwerklich begabt – warum lässt du dir nicht von Monika Ellwanger zeigen, wie das mit den Schmiedearbeiten funktioniert?«, fragte Greta, an der Thereses Rüffel abgeperlt war wie Wasser von dem Gefieder einer Ente. Der Ton zwischen den beiden Cousinen war manchmal ein wenig ruppig, aber immer ehrlich und herzlich. »Du könntest schöne Dinge herstellen, schmiedeeiserne Vögel und Schildkröten und andere Figuren für den Garten. Dieser Dekokram verkauft sich immer sehr gut. Hey, wenn es sein muss, organisiere ich für Maierhofen auch noch einen Künstlermarkt!« Grinsend schob sich Greta eine Nougatstange in den Mund.
Erleichtert stellte Therese fest, dass es ihrer Cousine mit dieser Bemerkung gelang, Christine wenigstens ein kleines Lächeln abzuringen.
»Es ist echt lieb von dir, dass du mir so viel zutraust«, erwiderte Christine und legte spontan eine Hand auf Gretas rechten Arm. »Aber ich muss einfach nur schnell Geld verdienen, ob ich mich damit auch noch selbst verwirkliche, ist mir egal. Nur – wer sollte ausgerechnet mich nehmen, da hat Herbert schon recht …«
»Jetzt reicht es aber wirklich!«, sagte Therese heftig. Ihre Wut auf Herbert wuchs immer weiter an. Warum hatte er nicht einfach seinen Hut genommen und einen Anwalt den Rest regeln lassen? Warum musste er in regelmäßigen Abständen so blöd daherkommen und Christine fertigmachen?
»Du bist so eine tolle Frau! Und du kannst viel mehr, als dir bewusst ist. Du hast einen Garten, der aussieht, als seien bei dir fünf Gärtner beschäftigt. Du kannst göttlich kochen und backen, auf deine selbst hergestellten Kräutersalze schwört sogar ein Spitzenkoch wie Sam. Du …«
»Im Genießerladen sind deine Kräutersalze ebenfalls der Renner!«, warf Greta ein.
»Du bist ein Organisationstalent und kannst gut mit den Leuten, und du spürst immer, wo Not am Mann ist«, nahm Therese ihren Faden wieder auf.
»Stimmt! Ohne dich wäre zum Beispiel bei dem Festival vieles nicht so rundgelaufen. Wenn ich nur daran denke, wie sich die anderen anfangs quergestellt haben, als es darum ging, ob wir die Naturkosmetik von Susanne Siebert aus dem Nachbarort mit ins Sortiment aufnehmen! Wie du damals mit Fingerspitzengefühl zwischen allen vermittelt hast, war einfach klasse«, ergänzte Greta erneut. »Solche so genannten soft skills sind im Berufsleben sehr gefragt.«
»Soft skills!« Christine lachte bitter auf. »Ich weiß höchstens was über Softeis. Bei anderen spüre ich vielleicht, wenn etwas nicht in Ordnung ist, aber dass in meinem Leben etwas nicht in Ordnung war, habe ich nicht gemerkt. Wahrscheinlich wusste das ganze Dorf vor mir, dass Herbert eine andere hat.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte Therese heftig. »Niemand hat etwas gewusst, und selbst wenn …« Sie brach ab.
»Was wenn?«, hakte Christine sogleich nach. »Dann hättet ihr mir nichts gesagt, oder? Aus lauter Rücksicht auf die ach so dumme Christine …« Ihre Stimme triefte vor Spott.
Doch Therese winkte ab. »Wenn du dir unbedingt leidtun willst, bitte!«
»Nicht streiten, ja? Das bringt doch nichts«, sagte Greta sanft und hielt Christine und Therese die Pralinenschachtel hin.
Einen langen Moment war nur das Rascheln zu hören, mit dem Christine eine Marzipanpraline aus der Goldfolie wickelte. Statt jedoch die Praline zu essen, legte sie sie abrupt wieder fort.
»Du hast doch von deinen Eltern etwas geerbt«, begann Therese schließlich von Neuem. »Kannst du Herbert nicht auszahlen und das Haus behalten?«
Christine winkte ab. »Das sind gerade mal zwanzigtausend Euro. Mein Notgroschen für wirklich schlechte Zeiten«, sagte sie ironisch. Doch gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Das Geld reicht vorn und hinten nicht, um Herbert auszuzahlen. Und keine Bank der Welt gibt mir ein Darlehen, solange ich keinen Job vorweisen kann. Und selbst dann …« Sie schüttelte den Kopf.
Erneut breitete sich gedankenverlorenes Schweigen aus, während Pralinenschachtel und Weinflasche immer leerer wurden.
»Eigentlich hat Herbert ja recht, wenn er sagt, dein Haus sei zu groß für dich allein«, sagte Greta unvermittelt.
Sowohl Therese als auch Christine schauten die Werbefrau schockiert an.
»Warum eröffnest du kein Bed & Breakfast? ›Urlaub im Landhaus‹« – sie zeichnete mit beiden Händen ein langgezogenes Viereck in die Luft, als würde sie eine Werbeanzeige einrahmen –, »so etwas gefällt den Leuten, da bin ich mir ganz sicher. Und Maierhofen braucht dringend weitere Übernachtungsmöglichkeiten, jetzt, wo wir nicht nur das Kräuter-der-Provinz-Festival, sondern ganzjährig alle möglichen Genießerangebote haben. Es zeichnet sich bereits eine gute Resonanz ab, ab März werden die Leute nur so nach Maierhofen strömen! Und wegen des Kochwettbewerbs von Meine Landliebe bekomme ich auch schon täglich Anrufe.«
Der Stolz in Gretas Stimme war nicht zu überhören. Und Therese konnte es ihr nicht verdenken. Dieser Kochwettbewerb, der alljährlich in einer anderen Region Deutschlands stattfand, war eine sehr renommierte Angelegenheit, über die in vielen Medien berichtet wurde. Dass ausgerechnet das kleine Maierhofen dieses Jahr Austragungsort sein durfte, war ein echter Zugewinn für das Dorf.
Acht Teams aus ganz Deutschland würden anreisen, um unter dem Motto »Echt genial – 100 Prozent regional« ein mehrgängiges Menü zu kochen, welches von einer fünfköpfigen Jury bewertet werden sollte. Dem Gewinnerteam winkte ein wertvoller Preis, was genau, wusste Therese nicht. Was sie aber wusste, war, dass der Koch der Goldenen Rose mit in der Jury sitzen würde. Ihr wunderbarer Sam … Therese spürte, wie es in ihrem Bauch warm und wohlig wurde.
Geschäftig sagte sie: »Greta hat recht, wir brauchen dringend weitere Übernachtungsmöglichkeiten! Meine Gastzimmer sind von März bis Ende September ausgebucht, ich muss täglich Leuten am Telefon erklären, dass nichts mehr frei ist. So sieht es übrigens bei fast all unseren Zimmervermietern aus. Inzwischen überlegt sogar Rosi, ob sie auf ihrem alten Hof nicht doch auch ein, zwei Gästezimmer anbieten kann«, sagte Therese, und an dieser Stelle erlaubte sie sich ein offenes Lächeln. Dass im letzten Jahr aus so manch verwaistem Maierhofener Kinderzimmer ein lukratives Bed & Breakfast-Zimmer geworden war, machte sie glücklich. Niemand hätte gedacht, dass es ihnen gelingen würde, Touristen hierherzulocken – wo doch die Alpen mit ihren grandiosen Bergen nur fünfzig Kilometer entfernt lagen. Jahrzehntelang war Maierhofen ein Ort gewesen, an dem man auf dem Weg in den Urlaub vorbeifuhr. Inzwischen war dies dank Greta anders …
»Denk doch nur, mit einem Bed & Breakfast würdest du zwei – ach was –, etliche Fliegen mit einer Klappe schlagen!«, sagte Greta. »Du hättest wieder eine Aufgabe, könntest für Gäste Frühstück zubereiten, vielleicht auch eine Brotzeit. Du wärst nicht mehr allein. Dein schönes Haus wäre wieder belebt. Und du würdest dein eigenes Geld verdienen!« Dem Triumph in ihrer Stimme war anzuhören, dass sie an ihrer eigenen Idee Feuer gefangen hatte.
Christine blinzelte. »Ich weiß nicht …«, sagte sie zaghaft, doch Therese sah ihrer Freundin an, dass es hinter deren Stirn ratterte, als würde sie mit ihrem Geländewagen über eine Buckelpiste fahren. »Ist das nicht furchtbar kompliziert? Da gibt es bestimmt Dutzende von Gesetzen und Vorschriften zu beachten.«
Therese winkte ab. »So schwierig ist das bestimmt nicht.«
»Elsbeth oder eine der anderen Frauen können dir genau sagen, worauf es dabei ankommt. Das kriegst du hin!«, sagte auch Greta beschwörend.
Und tatsächlich, nach einem kurzen Moment des Schweigens, kam es von der Freundin gedehnt: »Die beiden Mädchenzimmer würden vielleicht wirklich hübsche Gästezimmer ergeben. Vor Sibylles Fenster steht doch der Kirschbaum, wenn der blüht, sieht das wunderschön aus … Und mein Nähzimmer könnte ich auch zum Gästezimmer ummodeln. Ich würde sogar meinen Schlafraum hergeben und in der kleinen Kammer schlafen, wo ich immer die Bügelwäsche liegen habe, wenn ich damit Geld verdienen könnte.« Sie blinzelte erneut, als würden vor ihrem inneren Auge schon konkrete Bilder entstehen. »Gäste bewirten, das würde mir wirklich Spaß machen …«
Therese juchzte auf. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre aufgesprungen, um mit beiden Frauen einen Freudentanz zu vollführen. Es war so schön, Freundinnen zu haben! Aber sie wollte Christine nicht durch zu viel Euphorie verschrecken, schließlich war Gretas Idee noch zart und zerbrechlich wie ein junger Spross, der nach dem langen Winter aus dem kalten Erdboden ragte. Doch ihre Sorge war unnötig, denn in Christines Blick lag zum ersten Mal seit langer Zeit weder Verzweiflung noch Einsamkeit, sondern Hoffnung und Freude.
»Casa Christine«, murmelte sie vor sich hin, und es kam Therese vor, als wären die beiden Worte süßer als jede Praline.
»Ein Bed & Breakfast – eigentlich liegt die Idee so nah.« Christine lachte auf. »Warum nur bin ich nicht selbst darauf gekommen?«