Der Anachronismus

ist für den Historiker

die unverzeihlichste

Sünde von allen.

Jacques Rancière

liografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2022 Dr. Hans-Dieter Langer

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 978-3-7562-9990-4

Inhaltsverzeichnis

Einführung:
Frankenberg/Sa. - von der Urwaldsiedlung zur Stadt

Hat schon einmal ein Häuslesanierer in seinen vier Wänden ein ähnliches Bestandsphänomen entdeckt wie es sich im nachstehenden Foto darstellt?

Selbst ein hochrangiger sächsischer Landesarchäologe fand keine Worte, außer Ich sehe keine Mühle!, obgleich die drei Bögen nachträglich ausgemauert worden sind und die rechte Öffnung einst dem Durchlass eines Wassergrabens diente. So nahm die Story des Kulturdenkmals Badergasse 4 in Frankenberg/Sa. ihren legendären Lauf.

Die urig anmutende Bogen-Stützen-Konstruktion verführte die Phantasie und Wissbegierde des Autors weit zurück bis zu den verbrieften regionalen Anfängen deutscher Zeit. Im Gefolge menschlicher Schicksale, in deren Zentrum der berühmte Cuneko de civitate Saxonum gestanden ist, gerieten die Historien der beiden Städte Frankenberg und Freiberg in den Fokus umfangreicher Urkundenrecherchen und kritischer Literaturbewertungen. Im Ergebnis stehen zwei Bergstädte und ein gegenüber Freiberg deutlich aufgewertetes Frankenberg, dessen Urbanisierung von einem Verhüttungsstandort der frühesten sächsischen Bergbauperiode ausging. Die sichersten Beweismittel für diese These fanden sich in Form eines Mühlgrabenverlaufs, im Bauwerksbestand der Badergasse 4 sowie als sagenhafte Bodenfunde, die dem mittelalterlichen Bergwerk Bliberg auf dem Berg Treppenhauer zugeordnet werden konnten.

Vielleicht ist es der Tatsache geschuldet, dass man sich zwar als Physiker im Fachmetier der Historiker, Archäologen, Bauarchäologen, Bergbauhistoriker und Heimatforscher völlig frei von einschlägigen Zwängen bewegen kann. Doch gerät man unweigerlich mit den Genannten in Konflikt, wenn es ums Eingemachte geht. Der Autor musste sich sogar in massiver Gegenwehr auf personalisierte Kritik an der teilweise irreführenden Geschichtsdarstellung des Establishments einlassen. Wenn es nämlich um die Aufarbeitung einer Stadtentwicklung und die Bewertung der Vergangenheit von Regionen geht, so haben Dünkelhaftigkeit, Geltungsbedürfnis und Hegemoniestreben jedenfalls keinen Platz. Vor allem das heutige Frankenberg - diese umtriebige sächsische Stadt - hat die Erinnerung daran verdient, dass sie auf ihrem urbanen Höhepunkt im ausgehenden Mittelalter von den Wettinern mit päpstlicher Unterstützung feindlich übernommen und in den Schatten der gefeierten Bergstadt Freiberg gedrängt worden ist. Die tieferen Gründe und die eigene Kompetenz glaubt der Autor wie folgt zu haben:

Nun soll im vorliegenden Werk nicht das klassische Wiederkauen, das Umsortieren und/oder das Neufassen dominieren, womit die Geschichte der Menschheit immer wieder Arbeit, Brot und Ansehen den Fachleuten liefert, bis sie womöglich völlig entstellt daherkommt. Vielmehr sollen dort - wo sie existieren - die Fakten auf den Tisch und dort - wo zwar Zweifel angebracht sind, aber auch Wahrscheinlichkeiten bestehen - die Legenden schonungslos erzählt werden. Um nun nicht ganz auf wackeligem Boden aufzubauen, beginnt das Buch im ersten Abschnitt unterhaltsam mit absolut realen Erlebnissen bei der Sanierung des geschichtsträchtigen Kulturdenkmals Badergasse 4. So sollen auch manchem Interessierten, der ebenfalls ein wohnliches Kleinod aus dem Dornröschenschlaf erwecken möchte, ein paar Erfahrungen im Umgang mit zwar fragiler, doch liebenswerter Bausubstanz übermittelt werden. Im nächsten Abschnitt geht es dann freilich zur Sache, und man wird anderen Bauwilligen nicht gerade empfehlen können, ebenfalls jeden Arbeitsschritt zu dokumentieren, alle Dachziegel umzudrehen oder die begleitende Arbeit von archäologischen Fachleuten anzuschieben und dann argwöhnisch zu beobachten bzw. sogar eigene bauarchäologische und archäologische Aktionen bis hin zum Sieben sämtlicher Bodenaushübe zu veranstalten. Im zweiten Abschnitt und in allen weiteren begegnen uns Akteure, die einerseits Historie hin und wieder nach eigenem Maßstab aufarbeiten und andererseits jene, die insbesondere als ReichsministerialeSchieckel die Urgeschichte wirklich gemacht haben. Der tief beeindruckte Autor mußte es demgemäß wagen, gelegentlich an erstere Denkzettel zu verteilen, aber vor allem letzteren Denkmale zu errichten. Wer dies alles tut, wird unweigerlich vom Wurzelwerk der einschlägigen Legenden konfrontiert. Hat man dann noch die Kraft, darin die mögliche Wahrheit ergründen zu wollen, da kann es allerdings leicht zu einem Rauschbefall der eigenen Legenden-Phantasie kommen. So geschah es dem Autor, und so kam es zu diesem Buchprojekt, das in diesem legendären Sinne fast das erste Jahrtausend einer sächsischen Kleinstadt (mit schlesischen und niedersächsischen Bezügen) überdeckt und würdigt.

Die legendäre Betrachtungsweise der deutschen Ostbesiedlung aufgrund des Datenmangels hat der Physiker von den Historikern gelernt. Deshalb ein Wort des Schülers an seine Lehrmeister: Man sollte nicht hadern, sondern eher die in seinem Buch enthaltenen wissenschaftlichen Anregungen aufgreifen. Zudem nehme man zur Kenntnis, dass beiden sächsischen Städten, Frankenberg und Freiberg, das Berggeschrei vorausging und somit beide in besonderer Weise an Sachsens Glanz beteiligt sind! Und was damals das Silber und das Blei ausmachten, sind es gegenwärtig oft - wie im Fall der Badergasse 4 in Frankenberg - nur unscheinbare Kulturspuren einer 800jährigen Geschichte, die es zu beleuchten gilt.

Schieckel, H.: Herrschaftsbereich und Ministerialität der Markgrafen von Meissen im 12. und 13. Jahrhundert: Untersuchungen über Stand und Stammort der Zeugen markgräflicher Urkunden, Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 7, Böhlau, Leipzig (1956)

1. Die Rettung des Kulturdenkmals Badergasse 4 in Frankenberg/Sa.

Dem Abschnitt 1 liegt mit geringfügiger Überarbeitung der folgende bereits vom Autor und seinem Sohn, Falk-Uwe Langer, veröffentlichte Aufsatz zugrunde:

Langer, F.-U., Langer, H.-D.: Das Kulturdenkmal Badergasse 4 in Frankenberg - Ein Beitrag zur Geschichte und Gegenwart eines Straßenzuges sowie seiner Bewohner, Beiträge zur Regional- und Stadtgeschichte von Frankenberg/Sachsen und Umgebung, Heft I, S. 8-22 (2012) und Heft II, S. 14-24 (2013)

1.1 Ein Prolog

Einträchtig standen sie beieinander, die acht Wohn- und Wirtschaftsgebäude entlang der Badergasse - fünf zur linken, drei zur rechten Seite der Straßenpflasterung. Sie waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts allesamt Eigentum von Handwerkern und Handelstreibenden, Vertretern einer regional versorgenden Gewerblichkeit: Zwei Schuhmacher, zwei Webermeister, eine Fleischer- sowie eine Bäckerfamilie, eine Schneiderei, ein Kolonialwarengeschäft. Selten genug bewohnte nur eine einzige Familie das Hausensemble (so wie im Falle von Badergasse 2, dem schmalsten und niedrigsten der Gebäude, Bild 1.1). Mehrheitlich teilten sich etliche, ja sogar bis zu einem halben Dutzend Mietparteien die Räume bis dicht unter das Dach. Man muss sich die Platzverhältnisse zum Zeitpunkt der Erwähnung in den Adressbüchern der Jahrhundertwende1.1 - 1890 sowie 1895/96 - am Beispiel von Hausnummer 3 bildhaft vergegenwärtigen: Das Gebäude zählte insgesamt ca. 35 Quadratmeter Grundfläche, das heißt, jedem Bewohner (Schuhmachermeister J. E. Helbig mit Familie als Besitzer, eingemietet eine Zigarrenarbeiterin, ein Schuhmachergeselle, ein Schneidermeister sowie zwei ältere, verwitwete Damen) standen bei zwei Stockwerken durchschnittlich kaum 5 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Wie beengt und gedrängt doch die Lebenswelten und Glücksansprüche der einfachen Menschen um 1900, nebeneinander bestehend, gewesen sind! Man stelle sich zudem das Türenschlagen, Holztreppenklappern (die Toilette auf dem Hof), die Gerüche im Hausflur und die Geräusche aus den durch dünne Wände geteilten Wohnungen vor…

Architektonisch verkörperten die Häuser an der Badergasse den Geschmack der Bautätigkeit nach dem Stadtbrand des Jahres 17881.2, 1.3. Das Schadensfeuer vom 30. März dieses Jahres war von einem Grundstück am nahe gelegenen Mühlgraben ausgegangen und hatte das zentrale Stadtgebiet frontal in Mitleidenschaft gezogen. Begünstigt durch eine landesweite Spendensammlung und ausgestattet mit den Zahlungen der Feuerversicherung, wuchs am Marktplatz sowie in den angrenzenden Straßenzügen innerhalb weniger Jahre die bis in die Gegenwart erhaltene Bebauung empor1.4. Die sogenannte Altstadt von Frankenberg empfing ihre prägende Ausformung. Wie gesagt, exemplarisch spiegelte die bauliche Disposition der Badergasse mit ihrem Primat der Zweigeschossigkeit bei unterschiedlichen Bauweisen (Fachwerk und Massivbau) die Konstruktionsprinzipien sowie Gestaltungsvorlieben des kleinstädtischen Bürgertums um 1800 wider. Nicht allein in den Wohnungen, sondern auch im Rückraum der Grundstücke herrschte gemäß den Bildern 1.1 und 1.2 Beengtheit angesichts flächengreifender Nutzungsfunktionen. Schuppen- und Wirtschaftsgebäude, Stallungen und Gewerbebauten verdichteten sich auf gedrängtem Raume zu einem Konglomerat des Baulichen, das in seiner Unübersichtlichkeit sicher verwirrend erschienen ist. Von Rasen, Garten, Spielplatz, Freiraum keine Spur! Das Flurstück Nr. 526 der Badergasse 4 beispielsweise reichte nach hinten lediglich eine knappe Wegbreite über die Fläche des Wohngebäudes hinaus, das heißt unmittelbar hinter dem Hause begann das Nachbargrundstück mit der Flur-Nr. 525! In Ermangelung entsprechender Pflege und Instandhaltung degradierte sich das zentrale und dennoch abseitig gelegene Gässchen bereits Ende der 1980er Jahre zum städtebaulichen Notstandsquartier. Die Häuser 1, 2 und 3 standen leer. Bereits in den 1970er Jahren ist das einstmals pittoresk anmutende Gehöftensemble Badergasse 7 zugunsten eines gesichtslosen Gewerbehofes (zuletzt Lehmann & Co. Metallbearbeitung) abgerissen worden - Mitte in Bild 1.1 - und niemand erinnerte sich daran, dass hier einst der letzte Müller von Frankenberg wohnte: Elias Coltitz, der Pächter der Untermühle. Vor nicht allzu langer Zeit hatten in der Nr. 6, in den Bildern 1.1 und 1.2 vorn links, nacheinander ein Bäckergeschäft, eine Kolonialwarenhandlung sowie eine Schuhmacherei ihre Pforten geöffnet, und bestenfalls hielt der blühende, inzwischen freilich etwas welk gewordene Vorgarten von Frau Oehme (Flur-Nr. 528) noch die Erinnerung an pulsierende Gewerbezeiten wach.

Begünstigt durch eine städtebaulich ordnende Förderpolitik des Staates - ein Verfahren, das in manchen Städten leider zu regelrechtem `Kahlschlag` ortsbildprägender Baustrukturen geführt hat - wurde bis zum Jahre 1994 das siechende Häusertrio Nr. 1 bis 3 (Bilder 1.1 und 1.3) ersatzlos niedergelegt. Das Gebäude Hausnummer 4 (links im Bild 1.3) sollte folgen, doch hier konnte sich zunächst einmal der gesetzlich privilegierte Denkmalschutz mit einer Versagung behaupten. Der vergleichsweise günstige bauliche Zustand Mitte 2009 (Leerstand damals erst seit anderthalb Jahren) sowie die fassadenseitige und innenräumliche Disposition mit Barocktüren, Säule im Treppenhaus, Porphyrgewänden - allerdings noch ohne Kenntnis einer seinerzeit noch `verkleideten` straßenseitigen Fachwerkkonstruktion - hatten zu dieser Entscheidung geführt.

Bild 1.1: Flurstücke und Hausnummern der Badergasse

Bild 1.2: Das Gemälde von G. Haberland zeigt die Grundstücke 6 bis 8 (linke Seite von links) und 3, 4, 5 (rechte Seite) im Jahr 1950.

Bild 1.3: Hofseiten der Badergasse Nr. 3 (rechts) und der Nr. 4

Als die Denkmalschützer aus dem Landratsamt sowie dem Landesamt für Denkmalpflege das wiederholte Abrissgesuchen der Frankenberger Wohnungsgesellschaft (WGF mbH) niederschlugen, war ihnen bewusst, dass ein dritter Anlauf bei fortdauernder Perspektivlosigkeit den Verlust des Hauses erzwingen würde. Und nirgendwo eine Hoffnung in Gestalt eines dringend erhofften Interessenten in Sicht!

Selbstverständlich boten die Häuser Nr. 3, 4 und 5 (im Bild 1.4 von links) auch von der Straßenseite nicht gerade eine einladende Ansicht. Wir zitieren jedoch den zuständigen, damals 41jährigen Denkmalpfleger und jetzt darin wohnenden Eigentümer Falk-Uwe Langer: „Manchmal in der Welt schaut mich ein todgeweihtes Gebäude mit vertraulichen Augen an. Dann empfinde ich eine tiefe Zärtlichkeit für die bauliche Kultur an diesem Ort. Nicht überall kann ich auf einen solchen Inbegriff des Bauwerksgedankens zugehen, denn vielerorts versperren verschlossene Türen den Weg. Aber in diesem Falle kannte ich durch die beiden Begehungen mit Herrn Schmidt (WGF) auch raumseitig die gegebenen Strukturen und sagte mir: `Wenn schon kein And´rer, dann halt ich selber; ja, ich will!`“ Im Haus Ellen in Niederwiesa herrschte inzwischen geruhsamer Alltag, wenn auch noch so manche Nacharbeit zur denkmalgerechten Sanierung dieses Hauses anstand, meinten die Eltern, Ellentraud und Hans-Dieter Langer. Da wurde der elterlich-häusliche Frieden plötzlich gestört. Der Sohn, Falk-Uwe, kam aus seinem damaligen Wohnort Chemnitz zu Besuch, und was er sagte, das hat sich tief in den grauen Zellen der überraschten Alten eingeschrieben: „Ich kann das Haus nicht sterben sehen. Ich will es kaufen und darin wohnen. Helft Ihr mir?“ Du lieber Himmel!

Bild 1.4: Ehemalige Häuserreihe der Badergasse mit den Nummern 3 bis 5 (von links)

1.2 Sanierung des Kulturdenkmals Badergasse 4 in Frankenberg

1.2.1 Eine allgemeine Bestandsaufnahme bei der Erstbegehung

Im Dezember 2009 fand eine Erstbegehung von Sohn und Vater Langer statt, um den Bestand in Augenschein zu nehmen: Kann man dieses - dem Abbruch preis gegebene - Bauwerk mit vernünftigem Aufwand wiederherstellen? Sind die absehbaren Baumaßnahmen überschaubar? Kann man hier in Eigenleistung wesentliche Beiträge leisten? Ist das Kulturdenkmal wirklich zu retten? Nach der Besichtigung waren sich der Sohn als Kaufinteressent und künftiger Nutzer, sowie der Vater als potentieller Helfer einig: Das Haus ist in wesentlichen Teilen grundsolide!!! Wohlgemerkt, die Einschätzung beruhte auf dem, was man in zwei Stunden visuell begutachten und mit einem handlichen GANN-Feuchtemessgerät sowie mit einem Gipserbeil allenfalls `ertasten` konnte. Ganz entscheidend ging es natürlich um Feuchteschäden, somit insbesondere den Zustand des Dachtragwerkes, der Deckenbalken, der Dielen sowie der Fenster- und Türgewände. Im Erdgeschoss interessierte zudem vor allem der Salzbefall des Mauerwerkes, der sich jedoch in Grenzen hielt. Immerhin - abgesehen vom Putz bis in ca. 1 m Höhe - konnte man im Erdgeschoss einschätzen, dass ein Teil der oberen Putzflächen erhalten werden könnte. Abschreckend sind dagegen auf jeden Fall die sagenhaften Müllberge innen und außen gewesen (Bild 1.5).

Bild 1.5: Müllberge im Haus (oben) sowie in Hof und Garten (unten)

1.2.2 Ein mutiges Arrangement der Akteure angesichts des Bestands

So kam es zum Kauf des Objektes, wie es kommen musste, weil niemand ein wirkliches Hindernis entdeckte. Selbst die Mutter, Ellentraud Langer, die schließlich absehbar in den Folgejahren alles auszubaden hatte, verliebte sich auf Anhieb in diese überaus romantische Bausubstanz, wenn es ihr auch schauderte, denn hier regierte schon lange der Marder! Bei aller Trostlosigkeit des schweren Anfangs verloren jedoch der Bauherr und seine freiwilligen Helfer niemals den Mut und das Ziel aus den Augen: Rettung des Kulturdenkmals Badergasse 4 und baldmöglich wohnliche Nutzung! Man war sich darüber im Klaren, die Bausubstanz stammte weitgehend vom Wiederaufbau nach dem Stadtbrand im Jahr 1788, hatte also mindestens etwa 220 Jahre auf dem Buckel. Wie es sich im Zuge der Bauarbeiten zudem später herausstellte, fand zwischenzeitlich keine grundhafte Sanierung statt. Nicht zu übersehen waren allerdings nutzungsbedingte Um- und Anbauten sowie stückweise Erneuerungen der Dachdeckung, die das Kulturdenkmal sichtlich verunstalteten.

Die Dachhaut stellte sich überraschend vom Typ der Biber-Spließ-Deckung heraus, die im Freistaat Sachsen heute eher sehr selten anzutreffen ist. Jede Längsfuge wurde einst mit einem mindestens 5 cm breiten Holz-Spließ unterlegt, und die Biber-Dachziegel wurden im Drittelverband gedeckt (Bild 1.6). Diese als Spardeckung verstandene Variante soll heute, wenn überhaupt, nur noch bei Gebäuden untergeordneter Nutzung angewendet werden. Die Spließe im Bestand waren selbstverständlich völlig überaltert, doch nicht sie erwiesen sich als eigentliche Ursache von feuchtebedingten Schäden, die sich an einigen Stellen durch sämtliche Holzkonstruktionen bis in das Erdgeschoss hinzogen, sondern gemeine Nachlässigkeiten. Da und dort ein halber Dachziegel im Verband bzw. Biberverluste im Ortgang stellten sich als maßgebliche Schadensursachen heraus, die man hätte leicht durch rechtzeitige Ausbesserung verhindern können. Überaus beunruhigend erschien freilich die Stahlkonstruktion (Bild 1.7), die man als provisorische Giebelsicherung nach dem Abbruch des Nachbargebäudes Badergasse 3 vor etwa 12 Jahren errichtet hatte. Beide Häuser in der Bebauungsreihe besaßen somit eine gemeinsame Giebelwand, die nun als Abschlussgiebel der Badergasse 4 umfunktioniert worden ist. Die aufwändige Abstützung galt nur dem unteren Teil der Giebelwand, die einst mit Granulitsteinen und Lehmmörtel bis ins Obergeschoß ausgeführt worden war.

Bild 1.6: Abdeckung eines Teils der Fugen zwischen den Dachziegeln mit Holzspließen

Bild 1.7: Der Giebel war provisorisch mit einer Stahlkonstruktion und mit Dachpappe gesichert.

Die marode Ziegelmauer im Spitzgiebel-Bereich hatte man jedoch abgebrochen und durch eine provisorische Verbretterung einer Holzkonstruktion ersetzt. Als Schutzhaut auf dieser ausgesprochenen Wetterseite dienten eine Doppellage aus einer PE-Folie und Dachpappe, die zudem durch Auskragen die ca. 70 cm breite Mauerkrone schützen sollte. Diese bestand merkwürdigerweise aus ca. sechs Lagen von unförmigen Lehmziegeln. Man hatte hier also die Mauer nachträglich ergänzt. Alterung, Sturmschäden und Bäume führten zu einer massiven Zerstörung der Folie und der Dachpappe, so dass aus dem Lehmziegelverband eine unförmige, ziemlich haltlose Pampe geworden ist. Hieraus entwickelten sich einerseits weitere Feuchteschäden im Gebäudeinneren, andererseits ein Biotop, in dem sich Ameisen, Insekten, Algen, Moose, niedere Pflanzen und eben sogar Bäume eingenistet hatten. Letztere dehnten ihr bizarres Wurzelwerk auch an der angrenzenden Innenwand derart aus, dass ein später herbei gerufener Sachverständiger an der Nase herumgeführt worden ist: „Das ist der gemeine Hausschwamm! Hier an der Gebäudeecke müssen im Umkreis von ca. 2,5 m sämtliche Holzbestandteile ersetzt werden!“, hieß es zum Entsetzen des neuen Hauseigentümers. Doch Irrtum, es waren tatsächlich nur Wurzeln! Eine eher wirklich abschreckende Besonderheit bot sich, wie gesagt, im künftigen Hof- und Gartenbereich, wo sich eine meterdicke ausgedehnte Deponie angesammelt hatte. Diese war zudem von mächtigem Holunder-Gestrüpp überwuchert, das in den letzten Jahrzehnten alle Freiheitsgrade genoss.

1.3 Das Sanierungskonzept

Das Fazit der ersten und der weiteren Begehungen lautete im Groben wie folgt:

  • Sicherung der Giebelwand ohne Stahlkonstruktion,
  • Erneuerung der Dachhaut, einschließlich der Fledermaus-Gauben, so wie Aufbau einer Dachabdeckung der auskragenden Giebel-Mauer krone,
  • Neuaufbau der Verschalung des Spitzgiebels,
  • Erneuerung bzw. Aufarbeitung nahezu sämtlicher Oberflächen (u.a.Wandputze, Lehmdecken, Fußböden, Schwellen, Treppen) innen und außen,
  • Erneuerung aller Medienanschlüsse und -leitungen, einschließlich Heizung und Schornsteinsanierung,
  • Aufarbeitung bzw. Erneuerung von Holzeinbauten (Türen/Türgewände, Treppenaufgänge, Fachwerk-Innenwände),
  • Umfangreiche Abbruch-, Aufarbeitungs- und Wiederaufbau-Maßnahmen (Anbau, Mauerstützen am Giebel, Fassaden, Natursteingewände, Gartenbauwerke),
  • Aufarbeitung von drei und Neuerstellung von 11 Doppelfenstern mit entsprechenden Beiarbeiten,
  • Trockenlegung.

Damit war klar, dass die anstehende, nun unbedingt grundhafte Sanierung mit dem Ziel einer wohnlichen Nutzung sämtliche Bauteile im Bestand betraf sowie viele bauliche Veränderungen und eine Hof- und Garten-Neugestaltung zur Folge haben musste. Damit aber nicht genug, denn der Anspruch ging weit darüber hinaus. Die Rettung des Kulturdenkmals war von Anfang an so angelegt, dass - bei begleitender historischer und archäologischer Forschung - ein Beispielprojekt denkmalgerechter Sanierung bis ins Detail realisiert wird. Davon ist daher absehbar nahezu jeder Arbeitsschritt betroffen gewesen und bedurfte zuvor ständiger Abstimmung. Bei aller Sorgfalt der Voruntersuchungen stellten sich freilich im Arbeitszeitraum Überraschungen ein, die völlig neue Einsichten bescherten und die weitere Vorgehensweise entscheidend beeinflussten. Dies betraf insbesondere die unvorhergesehene, beim Putzabschlagen erfolgte Freilegung des straßenseitigen Fachwerkes sowie und vor allem der urig anmutenden Naturstein-Bögen im Giebelmauerwerk. Die veranlassten archäologischen Untersuchungen belegten ja schließlich später jene dramatischen Entdeckungen, wonach die Giebelmauer viel älter ist als die beiden einst ihr zugeordneten Häuser Nr. 3 und Nr. 4 und dass tief im Boden unter dem Haus Nr. 4 Bauteile anstehen, die einen bereits historisch erschlossenen Verdacht erhärten: Am heutigen Standort Badergasse 4 befand sich einst das Maschinenhaus der Untermühle von Frankenberg, die samt Mühlgraben im 12. Jahrhundert von Bergleuten geschaffen worden sein soll, zu 1300 erstmals urkundlich im Besitz der berühmten Investorenfamilie Kunecke1.5 (siehe auch Abschnitt 2 und 5), erwähnt worden ist und im Jahr 1614 vom letzten, vornehmen Eigentümer, dem Kurfürsten Johann Georg I. zu Sachsen (1585-1656), aufgehoben wurde1.4, 1.6, 1.7. Somit war ein völlig neues denkmalpflegerisches Vorgehen angesagt, und die Problemberge türmten sich. Trotzdem und gerade deshalb wurde das Projekt beherzt und freudig in Angriff genommen, wenn auch Bild 1.8 eher Skepsis verbreiten mag.

1.4 Ausgewählte Sanierungsmaßnahmen in der Rückschau

Die Liste der Sanierungsmaßnahmen ist so lang, dass man an dieser Stelle eine Auswahl treffen muss und allenfalls eine gewisse Chronologie zu beachten hat. Wie so oft bei der Rettung von Bauwerken war mit dem Dach zu beginnen. Da aber dazu ein umlaufendes Gerüst notwendig ist, musste zunächst die Stahlkonstruktion der provisorischen Giebelsicherung fallen, nicht aber, ohne zuvor eine fachmännische Endsicherung durchzuführen. Zwischendurch wurde ein Gerät zur elektrophysikalischen Gebäudetrockenlegung vom Typ Drymat/Niederwiesa eingebaut. (Man dachte damals so: Sollte sich dieses umstrittene Verfahren bewähren, worüber Zwischenmessungen der Wandfeuchte letztlich zu entscheiden hatten, so wäre dies eine überaus schonende Maßnahme, insbesondere bezüglich der empfindlichen Giebelmauer, ansonsten: Geld-zurück-Garantie!) Zu allen zuvor genannten Maßnahmen brauchte man jedoch ohnehin ein Gerüst. Somit stolperte der Gerüstbauer zähneknirschend zwischen Mauern, Stahlstützen und Baumstämmen herum, um seine Standardmaße in Stellung zu bringen. Heraus kam eine seltsame Konstruktion, die sicher manchen Passanten zum Erstaunen brachte. Es sah beinahe so aus, als hätte man den Baum an der Hausecke eingerüstet (Bild 1.9). Tja, ein Wort zu dem Baum: Hier wurde am Kulturdenkmal Naturschutz praktiziert, denn der an beidem interessierte neue Eigentümer bestand beim Kauf darauf, dass die Weide Vertragsgegenstand in dem Sinne wurde, dass sie ihr Leben lang Bestandsschutz per Grundbucheintrag geniest. Übrigens war sie bis zu den Baumaßnahmen Schlafplatz eines Eulenvogels. (Leider ist das Tier nach der Bauzeit nicht wieder zurückgekommen.) Nun ging es zur Sache. Die uralte Natursteinmauer des Giebels erlebte zum ersten Mal durchgängige `Nadelstiche`, um dann Zug um Zug durch eine Firma vom Fach Gebäudesicherung mit Gewinde-Stahlstangen an die Deckenbalken und mit Stahlbändern an Balken und Sparren des Bestands angeschraubt zu werden. Es ist übrigens bei einer Mauerdicke von 70 cm im Obergeschoss verständlich, dass der Bohrmeister auch einmal infolge rätselhafter Balkenlagen danebentraf.

Bild 1.8: Der Bauherr, Falk-Uwe Langer, mit seiner fleißigen Mutter, Ellentraud Langer, sind hier bei der Bauberatung in einer Arbeitspause aufgenommen worden (oben), während der Vater, Hans-Dieter Langer, soeben nicht am moralischen Tiefpunkt, sondern an einem tiefen zugänglichen Ort der Müllablagerungen die `Spreu vom Weizen` trennte, ohne zu ahnen, dass er sich in einem umgenutzten Umlaufgraben einer Wassermühle befand.

Bild 1.9: Das merkwürdige Gerüst galt nicht dem Baum, sondern war den ungünstigen Gegebenheiten der provisorischen Giebelsicherung geschuldet. Im Foto sind auch die durchgehende Fuge zwischen Giebelmauer und Straßenfassade sowie der Zustand des Fachwerkes zu erkennen.

Letztlich muss man sich darauf verlassen, dass die Mauer vielleicht schon 800 Jahre (!!!) überstanden hat. Zwischendurch wurde das Gerüst genutzt, um den Altputz abzuschlagen. Allmählich kamen dabei Mauerstrukturen zum Vorschein, wie man sie halt von alten Beständen kennt: Man bewundert eine bunte Vielfalt baulicher Veränderungen, und die unbekannte Geschichte breitet sich aus. Sind Ziegel im Natursteinmauerwerk beteiligt, so fällt natürlich der Farbkontrast besonders ins Auge. Doch niemand nahm im gegebenen Fall vorerst sonderlich Notiz davon, dass sich hier ein richtiges denkmalpflegerisches und vor allem ein enormes stadtgeschichtliches Geheimnis verbarg. Nun waren aber endlich die schweren Stahlstützen der provisorischen Sicherung dran, indem der Schweißbrenner zum Einsatz kam. Hier bewährte sich der ziemlich große Gerüstabstand, den man ja gerade wegen ihnen einhalten musste, denn das eine oder andere frei geschweißte Teil stürzte ungewollt zentnerschwer in die Tiefe. Die Erschütterungen setzten nun allerdings tief reichende historische Einsichten in Gang, denn jetzt rieselten auch Vormauerungen, und es kamen erstmals die Steinbögen des Giebels plastisch zum Vorschein. Der erste naive Eindruck: Es könnten die Reste der Kappengewölbe eines Hochkellers vom Nachbarhaus gewesen sein, denn noch immer galt die Giebelmauer als ehemaliger Teil der abgebrochenen Badergasse 3, die zudem älter als die Badergasse 4 (und die wiederum älter als die Badergasse 5) gewesen sein soll. Einstweilen waberte jedenfalls dieser falsche Eindruck in den Köpfen fort, denn jetzt konzentrierte man sich erst einmal auf das Dach. Ganz klar, aus Gründen des konsequenten Denkmalschutzes ging es darum, wieder ein Spließe-Dach mit historischen Biberschwanz-Dachziegeln zu erstellen. Doch welcher Dachdecker traute sich zu dieser Tat? Woher die Altziegel nehmen? Welchen Abschluss auf der Giebelseite wählen? Wie dort die notwendige Überdachung der Mauerkrone und der Mauerstützen (Fassadenreste der Badergasse 3) einbinden?

In diesem brisanten Fragenkatalog gingen solche Themen, wie die denkmalgerechte Erneuerung der Fledermaus-Dachgauben, die Sanierung des Schornsteines oder der Austausch von Balkenköpfen beinahe unter. Warum wohl? Weil sich das historische Dachtragwerk in Gänze als grundsolide präsentierte! So begann die Neueindeckung auf der Straßenseite bereits, während der Zimmermann noch an den geschädigten bzw. neuen Holzteilen (Gauben!) hantierte und der Maurer dem schwebenden (!) Schornstein (Bild 1.10) endlich ein Fundament gab und dessen Kopf erneuerte. Es ist jedenfalls von grundlegender Bedeutung, dass in solchen Fällen Dachdecker, Zimmerleute und Maurer Hand in Hand arbeiten!

Bild 1.10: Der Schornstein `schwebte` auf einem Ziegelbogen, der unter dieser hohen Last drauf und dran war, den Geist aufzugeben.

Und es ist da noch weiteres Teamwork angesagt gewesen als es zum Beispiel um die Rückgewinnung der alten Dachdeckung für die Hofseite ging. In diesem Fall können die Dachziegel beim Abbruch zweckmäßig zwischen den alten Dachlatten nach innen gereicht werden, um sie auf den Dielen abzulegen. Man beachte aber die nun für längere Zeit erhöhten statischen Belastungen, die niemals geplant worden sind: Werden die alten Deckenbalken halten? Denn selbst dann, wenn alle Beteiligten im angesammelten Staub der Jahrhunderte fast ersticken, wer hat schon Lust, die Dachziegel vom zweiten Dachgeschoss zur Reinigung (Altmörtel!) nach unten zu tragen, um sie später zur Wiederverwendung erneut nach oben zu schaffen? Die Dacharbeiten zogen sich zum Leidwesen des Dachdeckers freilich ungewöhnlich lange, lange hin, weil fast jeder Ziegel gebohrt und angeschraubt (!) werden musste, nachdem der jeweilige Spließ im Mörtelbett unterlegt worden war. Auch hielt man sich wegen der einschlägigen Komplikationen an den vier Fledermaus-Gauben lange Zeit auf, allerdings mit Erfolg (Bild 1.11). Die früher übliche, zeitsparende Vermörtelung eines Spließe-Daches von unten entfiel nämlich, denn selbstverständlich kam zuvor unter die neuen Dachlatten die heute vorschriftsmäßige Unterspannbahn. Parallel liefen weitere wichtige Maurerarbeiten. Da war zunächst die Mauerkrone des Giebels. Sie ist in Eigenleistung wiederhergestellt worden, wobei immerhin - nach Beseitigung des erwähnten Lehmziegel-Breis - knapp 6 m3 (!) Mauerwerk wieder neu aufzurichten waren. Dabei wurden ineinander verhakte Betonfertigteile verwendet, um in 7 m Höhe wenigstens stückweise das Ringanker-Prinzip umzusetzen. Auch die Mauerstützen (Restmauerwerk des abgebrochenen Nachbarhauses) an den Giebelrändern erforderten einen erheblichen Mehraufwand. Sie mussten nämlich aus Gründen erheblicher Instabilität vollständig abgebrochen und wiederaufgebaut werden. Es stellte sich zudem heraus, dass auch die hofseitige Fassaden-Ziegelmauer von der Naturstein-Giebelmauer durch eine komplette Fuge getrennt ist, vgl. die Bilder 1.9 und 1.12, doch vorerst wurde auch dieses bedeutsame Vorzeit-Signal völlig ignoriert. Im Grunde genommen wiesen nämlich diese Leerräume zwischen dem Giebelmauerwerk und den beiden Fassadenmauern sowie deren geringe Verzahnung mit den Restmauerstützen erneut auf jene bauarchäologische Ausnahmesituation hin.

Es drängte nun die Zeit, um die Verbretterung (mit Unterspannbahn) des Spitzgiebels auszuführen sowie die Unterkonstruktion für die Überdachung der Kronen von Giebelmauer und Mauerstützen herzustellen, denn auch hier war der Dachdecker gefragt, um die komplizierten Einbindungen der Verblechungen und Ziegelabdeckungen fachgerecht zu realisieren (Bild 1.12). Inzwischen arbeitete nämlich das Dachdecker-Handwerk auf der Hofseite. Die wiederverwertbaren Dachziegel waren aufgebraucht, und es kamen jetzt formgleiche, aufgearbeitete Altziegel von fremden Dächern zum Einsatz. Ein großer Teil dieser Ziegel hatte eine lange Reise hinter sich, denn sie wurden aus Brandenburg angeliefert, und andere durften von einem nachbarten Abbruchhaus in Eigeninitiative gewonnen werden. So vereint das sanierte Dach der Badergasse 4 heute auf der Hofseite gut sichtbar nicht nur die Erinnerung an vergangene Zeiten der Spließeverwertung, sondern zudem an Ziegeleien und Häuserdächer in verschiedenen deutschen Landen. Was mag wohl alles in ihrem Schutz geschehen sein? Eines ist gewiss, die unbekannten Menschen, die sich einst aus Gründen der Kosteneinsparung für das Spließedach an dieser Stelle in Frankenberg entscheiden mussten, waren sicher glücklich, denn sie hatten soeben die schrecklichen Folgen des Stadtbrandes im Jahr 1788 überwunden, der sie zeitweilig völlig mittel- und obdachlos gemacht hatte.

Bild 1.11: Nach Fertigstellung des Spließedaches war das Kulturdenkmal Baderdergasse 4 in Frankenberg endgültig gerettet und bietet seither einen prachtvollen Anblick deutscher Handwerkskunst.

Bild 1.12: Das Foto zeigt die Verbretterung des Spitzgiebels sowie die Konstruktion der Mauerabdeckung mit dem komplizierten Übergang zum Dach.

1.5 Intermezzo

Auf einer Baustelle passieren täglich auch `possierliche Storys`. Der Bauherr meinte, man müsse sie aktuell aufschreiben, weil sie sonst ganz einfach untergehen. So entstand die nachstehende Niederschrift von Hans-Dieter Langer in der Ich-Form: „Im Sanierungsfall eines Hauses gilt das Dach allgemein als größtes Sorgenkind. Auch gehört es zu den gewichtigsten Ausgabenposten. Man kann die Baumaßnahmen nicht bei Kälte und Schnee, aber auch nicht bei Regen beginnen. Erst wenn zudem ein ungetümes Gerüst den Baukörper teilweise überragt, kann es zur Sache gehen. In unserem Fall der denkmalgerechten Deckung teilweise mit Handstrich-Ziegeln und komplett mit Spließen kam auch noch ein Beschaffungsproblem hinzu. So wurden Gott und die Welt in Bewegung gesetzt, um im Frühling 2010 endlich das Problem zu lösen. Demgemäß angespannt waren alle Beteiligten als es dann endlich so weit gewesen ist. Nach langem Hin-und-Her-Gezeter im Vorfeld verursachte ein überraschender Anruf - „Morgen, 15.00 Uhr, werden die Ziegel in Gitterboxen auf Europaletten geliefert. Sie müssen die sieben Mal 600 kg selbst abladen lassen. Der Lkw hat keinen Kran!“ - bei mir daher einige Aufregung. Gemäß einem meiner Grundsätze (auf Nummer sichergehen), entschied ich mich, das Kranauto des nahen Baumarktes zu engagieren, und - für den Notfall - in der Firma gegenüber einen Gabelstapler zugesagt zu bekommen. Ohne übrigens in beiden Fällen die Sicherheit zu haben, dass es auch um 15.00 Uhr tatsächlich klappt, rückte der Termin unaufhaltsam heran, … und er verstrich gewissermaßen völlig lautlos. Nichts!

Was war geschehen? Ohne Telefon ist man ja in einem tiefen Tal der Ahnungslosen. Passend zum Erlebten erwies sich indes abends gegen 19.00 Uhr am heimatlichen Festnetz-Telefon der Vorgang als Posse. Im zuständigen Logistik-Unternehmen bei Trebsen wurde zwar noch gearbeitet, allerdings war jetzt der Diensthabende überrascht: Ach ja, eine beauftragte Transportfirma habe soeben abgesagt. Also braucht die Nachrichtenübermittlung heute gelegentlich doch noch etwas mehr als die Lichtgeschwindigkeit, und die Ziegel lagerten noch immer unberührt irgendwo im verschlafenen Brandenburg. Dann erneut: „Morgen, 15.00 Uhr, wird geliefert!“. Hatten wir das nicht schon einmal? Klar, man könnte skeptisch sein. Denn jetzt mussten die Karten beim Empfänger neu gemischt werden. Ein

Baumarkt beliefert schließlich sachsenweit und Kunden sind nicht gleich Kunden. Der Großkunde geniest nicht nur in dieser Branche - trotz Mengenrabatt - eine eindeutige Vormachtstellung gegenüber dem `Krutscher`. Trotzdem, es gelang mit dem Segen der Obrigkeit und mit seiner Funktelefon-Nummer in der Tasche, den Fahrer des Kranautos zu sensibilisieren, dass es auch in der Badergasse zu Frankenberg ums Ganze geht. Zudem war der Fahrer des Ziegel-Autos nun ebenfalls elektromagnetisch eingefangen, denn jetzt belästigte mich `Handwerker am Bau` ganztags das scharf gemachte Handy in der Hosentasche. Mehrere Anrufe seit dem Morgengrauen dienten längst als Positionsmeldungen der Odyssee, die sich nun zwischen Trebsen, Brandenburg und wieder Trebsen entwickelte. Tja, Frankenberg spielte leider auch diesmal nur eine Nebenrolle, wenn auch bei vollem Bewusstsein. Zum Glück lud das Baumarkt-Kranauto gegen 16.00 Uhr gerade in Oederan ab, so dass dessen Fahrer klar feststellen konnte, „dass es heute nichts mehr wird“.

Wozu auch, zu dieser Zeit war die Ziegelladung gerade mal bei Potsdam auf südlichem Kurs, aber immerhin. Also, Absage an den Frankenberger Fahrer, und gute Nacht in Trebsen, wo ja der andere ohnehin vorbeifahren musste, um dort zu Bett zu gehen. Also hing man im nächsten Morgengrauen wieder am Telefon: „Um zehn Uhr!“ Dieses ultimativ klingende Orakel wurde trotz aller Rückschläge erneut ernst genommen, denn nun war die Ladung im sächsischen Nahbereich. Ein Knicklader stand diesmal in Frankenberg zur Verfügung und bekam am Vorabend bereits vorsorglich die Gabeln angeschirrt. Eigentlich konnte nun nichts mehr schiefgehen. Daher wurde auf das Einschalten und lästige Tragen des Handys auf der Baustelle verzichtet. Stattdessen wurden zur fraglichen Zeit die Ohren gespitzt, denn es herrschte im Viertel Friedhofsstille. Doch es verging auch der 10.00 Uhr-Glockenschlag der nahen Kirche, ohne dass ein dumpfes Motorgeräusch den frühen Morgen gestört hätte. Schon wieder nichts???

Um 11.00 Uhr lagen die Nerven blank. Ein Anruf in der Logistik-Zentrale brachte schließlich des Rätsels Lösung: Der Fahrer wartete seit einer Stunde (!) am Frankenberger Markt (also nur etwa 300 m von der Badergasse 4 entfernt), hieß es. Warum und worauf er dort wartete blieb bis zuletzt im Dunkeln. Dafür ließ er es sich dann in einem weiteren, nun direkten Telefonat nicht zu einem angeratenen, kleinen Umweg über die Farikstraße bewegen, sondern steuerte geradewegs auf den 900-Abzweig der engen Badergasse am Baderberg zu. Genau dies riet ich ihm doch ab und empfahl stattdessen die Zufahrt über die Umgehungsstraße! Immerhin wurde telefonisch noch schnell eine vorherige Begehung des Verkehrsraumes an der Baustelle vereinbart, um das riskante Manöver am Baderberg und in der Einbahnstraße den Entladeplatz vor der Anfahrt festzulegen. Zu alledem kam es freilich nicht, denn bevor ich die paar Meter bis zum vereinbarten Treffpunkt zurücklegte, hatte sich das Gespann am Gassenabzweig - in den sich noch nie ein großer Lkw mit Anhänger gewagt hatte - bereits schier unwiderruflich eingekeilt: Der linke Spiegel zwei Zentimeter von der linken Hauswand, die Vorderkante des ewig langen Anhängers einen halben Meter vom Granitstein an der rechten Gebäudeecke (vom Fahrer aus gesehen), dahinter hupender Pkw-Stau bis auf den Marktplatz, alles Einbahnstraßen! Erste Frage des Fahrers an mich: „Kommen wir durch?“ Schöne Bescherung, wenigstens ich brachte den Mut auf, hinten nachzusehen. Nächste Erkenntnis: Ein Zurück undenkbar! Nun erfolgte eine zweite Mutung mit visuellen Mitteln und ohne die geringste Ahnung, was so ein langer Hänger mit starren Hinterrädern und stark eingeschlagener Vorderachse macht, wenn das ganze Gebirge so weiter rollt. Denke, denke! Vage Schlussfolgerung: „Sie haben zwei Zentimeter zu Ihren Gunsten und zwei Zentimeter zu Ihren Ungunsten! Sie müssen Sich das anschauen!“ Nun endlich verließ dieser Mann die Kabine, schaute … und fragte schließlich erneut mich: „Schaffen wir das?“ Na bitte, endlich ein klares Wort, so dass auch ich nicht mehr wusste, was zu tun war. Obgleich es auch hätte sein können, dass das rechte Hinterrad des Hängers letztlich durchs Parterre des Eckhauses bricht, fragte ich zurück - einer Eingebung folgend - ob der Fahrer auf die Lampe da hinten verzichten könne. „Die besteht aus Gummi!“, rief der triumphierend zurück. Ich wollte noch, verdutzt, nach anderen Teilen fragen, aber da saß der Mann schon wieder am Steuer. Deshalb mein letzter Aufschrei: „Bitte ganz, ganz langsam fahren!“ (Die Anwohner sollten Zeit zur Flucht haben.) Als typische Antwort - wer hat das nicht schon in der Fahrschule erlebt? - sprangen die 40 Tonnen mit einem mächtigen Satz erst einmal ein Stück nach vorn … dann Stillstand. Jetzt war jedoch, leider nur noch für mich, die Lage klar überschaubar, zwei Zentimeter im Minusbereich!!! Noch 200 Millimeter bis Buffalo, während das Fahrzeug jetzt 40 davon pro Sekunde zurücklegte. Dann …einige Zentner Granit neigten sich zur Seite, während der seit alters her hier stehende Berandungsstein von der Hartgummi-Leuchte liebkost wurde, der eigentlich die Warnfunktion oblag. Dann die hintere Stoßstange, ein elastisches Biegen, schließlich ein Krachen (Abriss der Alu-Konstruktion!), noch ein Rungs (der Stein kam zum Stand!) und … das laute Ungetüm mit 4.200 Dachziegeln an Bord hatte endlich freie Fahrt.

In bester Erinnerung bleibt zum so Erlebten noch der Eindruck von den wabbeligen Einwegpaletten (von wegen euro-stabil!), deren dünne Folie-und Holzleisteneinfassungen - im Angebot vollmundig als `Gitterboxen` deklariert - auf ihrem letzten Weg sichtlich auseinander zu brechen drohten. Jeweils 600 kg (!) Dachziegel murmelten, ja kreischten darin ganz erbärmlich auf den Traggabeln. Hatten sie doch als sogenannte Handstrich-Produkte an 200 Jahre auf dem Buckel. Doch auch der Fahrer des Knickladers beherrschte die Situation meisterlich.

1.6 Die Phase der Entdeckungen im Baufortschritt

1.6.1 Bauhistorische und archäologische Besonderheiten

Jetzt endlich konnte das Gerüst auf der Straßenseite genutzt werden, um den Fassadenputz abzuschlagen. Und wieder gab es eine deftige Überraschung: Ein Fachwerk kam zum Vorschein (vgl. die Bilder 1.4, 1.7, 1.9, 1.13-1.24). Das war unerwartet, denn die Fassade auf der anderen Seite hatte sich von Anfang an als Ziegelaufbau gezeigt, wenn auch die unterschiedliche Fensteranzahl auffiel, doch die ebenso großen Fenster auf der Straßenseite ließen keinen einschlägigen Verdacht aufkommen, denn es handelt sich um ein städtisches Fachwerk! Was auch immer die Vorgänger im Schilde führten, indem sie das Haus mit zweierlei Ansichten ausstatteten, für den neuen Eigentümer bedeutete es eine weitere Unsicherheit. Die aus Erfahrung genährte Befürchtung, nun doch plötzlich mit erheblichen Holzschäden konfrontiert zu sein, erwies sich jedoch wieder als völlig unbegründet; alles, alles grundsolide! Letzteres galt übrigens ebenso für die ansonsten stets gefährdete Fachwerkschwelle wie für die im gegebenen Fall prächtig geformten Traufbalken auf beiden Seiten. So ist auch dieser zusätzliche Sanierungsabschnitt in das Programm mit aufgenommen worden, wobei nur die Ausbesserung der Lehmgefache und das schwierige Anbringen (Winkel, Fuge!) eines Abtropfbrettes unter der Schwelle dem Fachmann überlassen wurde. (Auf eine Verblechung wurde am Kulturdenkmal verzichtet, weil die Fachwerkhäuser früher diese nicht kannten.) Zum Schluss bekam die Straßenfassade im Obergeschoss noch ein Gesicht: Die neuen Kastenfenster wurden eingebaut (Bild 1.13). An dieser Stelle sei festgehalten - wie im Foto ersichtlich - dass man sich im gesamten äußeren und inneren Bereich konsequent an die denkmalpflegerischen Sanierungsvorgaben hielt. Insbesondere seien Lehm- und Kalktraßputze, porenoffene Anstriche und dem Luftaustausch zugängliche Fugenabdeckungen genannt. Rissfugen in den sichtbaren Fachwerk-, Trauf- und Deckenbalken sind grundsätzlich nicht verfüllt worden.

Nun konnte auf der Straßenseite das Gerüst fallen, denn das Erdgeschoss trug tiefe `Wunden`, die der `Heilung` bedurften. Das Werkstatttor aus der DDR-Kfz-Ära des Hauses hatte aus der Sicht des Denkmalschützers ausgedient. Erneut griff also ein Eigentümer in die Vorgängersubstanz tief ein, doch diesmal ging es darum, den ursprünglichen Bauzustand wiederherzustellen. So bekamen zunächst der Maurer und dann der Steinmetz viel Arbeit, denn die zwei Fenstergewände aus Chemnitzer Porphyrtuff mussten neu hergestellt und eingebaut werden (Bild 1.14). Niemand sollte sich jedoch um die Bemaßung einen Kopf machen, weil sich die Ziegel-Stützbögen der alten Fensteröffnungen im Granulit-Mauerwerk noch klar abzeichneten. Und nun wird niemals mehr ein Auto den großen Erdgeschoss-Raum dahinter befahren, aber welche Nutzung dann??? `Galerie Frankenberg`, `Vereinszimmer`, `Erinnerungsort Altfrankenberg`? lautete dafür die eher anfangs spöttische Devise. Keiner ahnte freilich, wie nahe man damit der möglichen Realität kam, denn der Schatz im Untergrund ward noch nicht erahnt, geschweige denn gehoben.

Einstweilen verlagerte sich dann immerhin das Geschehen auf die Giebelseite. Es stellte sich dort heraus, dass die zwei mittleren Bogenstützen nicht wie die beiden äußeren in der Ebene der Giebel-Außenfläche lagen, sondern einst im unteren Bereich ein Stück zurück versetzt aufgemauert worden sind, und man verbrauchte bei den späteren Baumaßnahmen zum Flächenausgleich sehr, sehr viel Putzmaterial. In Verbindung mit den beiden großen Tragsteinen der Bogenabschlüsse wirkten diese Bauteile wie gewollt geschaffene urige Kapitelle, nachdem man sie von allen Ausgleichsmassen befreite und die maroden Vorsatzschalen aus den Bogennischen entfernte (Bild 1.15). Gerade durch das plastische Hervortreten dieser baulichen Gegebenheiten wurde man sich nun langsam des außergewöhnlich hohen Maueralters bewusst, und erst jetzt reifte der Gedanke, wonach die Bögen einst offen gewesen sein könnten und die Mauer in grauer Vorzeit als Giebel eines besonderen Gebäudes fungierte.

Bild 1.13: Dieses neue, alte `Gesicht` (neue Holz-Kastenfenster!) der Straßenfassade brachte dem Kulturdenkmal Badergasse 4 die Bezeichnung `Blaues Haus` ein.

Bild 1.14: Mit Rückbaumaßnahmen im Erdgeschoß der Straßenfassade (linke Front, hier im Vergleich zur original belassenen Eingangssituation) wurde der ursprüngliche Bauzustand des 17. Jahrhunderts wiederhergestellt. Die stilvolle Haustür aus DDR-Zeiten ist aufgearbeitet worden.